Autopoiese (Autopoiesis)

Aus Kinaesthetics-Online-Fachlexikon

Zusammenfassung:
Das erste Kapitel dieses Artikels ist mit Fachliteratur angelegt. Sie thematisiert auf der Grundlage der Autopoiese die Autonomie der Verhaltensregulation und die operative und informationelle Geschlossenheit von Lebewesen.

Danach wird die Bedeutung des Begriffs Autopoiese (Autopoiesis) bei Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela sowie bei Niklas Luhmann behandelt. Die Darstellung beruht zuerst auf dem von Maturana/Varela gemeinsam verfassten Buch „Der Baum der Erkenntnis“. Sie zeigt die grundsätzliche Bedeutung der Autopoiese, der Selbsterzeugung, als Merkmal des Lebendigen und ihre enge Verbundenheit mit dem Begriff Autonomie auf. Dann werden autopoietische Einheiten erster und zweiter Ordnung thematisiert und schließlich strukturelle Koppelungen dritter Ordnung bzw. soziale Phänomene. Danach wird die Autopoiesis bei Luhmann und die Kritik Maturanas an seiner Übertragung des Begriffs auf gesellschaftliche und ökonomische Phänomene dargestellt.

Abschließend wird das Thema kommentiert und ausgewertet sowie insbesondere auf die Verwendung des Begriffs Interaktion bei Maturana/Varela eingegangen. Diese unterscheidet sich von der in der Kinästhetik aktuellen Betrachtungsweise. Nach Hinweisen auf weiterführende Literatur und KOFL-Artikel folgen zum Schluss Angaben zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs.

Autopoiese in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“

Status mit Fachliteratur angelegt
AutorIn/RedakteurIn N. N./Stefan Marty-Teuber
Letzte Änderung 25.04.2024

Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat ist in das vierte Kapitel „Theoretische Grundlagen von Kinaesthetics“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel sind „4.3. Zirkuläre Selbstregulationsprozesse als Grundlage des menschlichen Verhaltens“ und „4.4. Geschlossenheit und Individualität der Wahrnehmung“. Das Zitat ist der Text des fünften Unterkapitels „Autonomie der Verhaltenssteuerung“.

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4.5. Autonomie der Verhaltenssteuerung
Das in Kapitel 4.3. dargestellte Erklärungsmodell der Selbstregulation bedeutet gleichermaßen, dass Lebewesen ihr Verhalten immer selbst und von innen heraus steuern. Wie sich ein anderer Mensch als Individuum an unser Verhalten anpasst und auf es reagiert, können wir grundsätzlich von außen nicht steuern oder bestimmen. Unser Verhalten kann die Körperspannung eines anderen Menschen zwar beeinflussen, aber in jedem Moment reguliert nur er selbst diese von innen heraus. Lebewesen sind in diesem Sinne als autonom (griechisch, ‚eigengesetzlich‘) zu betrachten.
Was damit gemeint ist, lässt sich an einem wesentlichen Unterschied zwischen der belebten und der unbelebten Natur zeigen: Wenn Sie mit Ihrem Fuß einen Stein treten, bestimmt – unter anderen bekannten und berechenbaren Faktoren – die Energie dieses Trittes seine Reaktion und er wird mehr oder weniger weit davonkullern. Wenn Sie einen Menschen oder einen Hund treten, beruht seine Reaktion auf diese ‚Störung‘ wesentlich auf ihm selbst und ist nicht vorhersagbar. Der Hund wird vielleicht davonrennen, möglicherweise schnappt er aber auch nach Ihrem Fuß. Oder mit einem anderen Beispiel ausgedrückt: Sie können einen Menschen nicht wie einen Kleiderschrank von A nach B bewegen (vgl. Karikatur oben).
In wissenschaftlicher Sprache kann man hier von einer Autopoiese (griechisch, ‚Selbsterschaffung‘, vgl. Infobox) oder operationalen Geschlossenheit im übertragenen Sinn sprechen. Diese Ausdrücke bezeichnen grundsätzlich die Tatsache, dass Lebewesen die Bestandteile, aus denen sie bestehen, fortlaufend nur aus sich selbst heraus produzieren. Bezüglich dieser Operationen ist das System ‚Lebewesen‘ geschlossen. Im obigen Beispiel gilt das Gleiche im übertragenen Sinn für die Operationen bzw. das Verhalten des Menschen, der einen Fußtritt bekommt: Seine Reaktion wird wesentlich von ihm selbst bestimmt.“

Der Text der zugehörigen Infobox „Autopoiese: Die Geschlossenheit von Lebewesen in Bezug auf Operation und Information“:

„Die beiden Neurobiologen H. Maturana (*1928) und F. J. Varela (1946–2001) beschreiben aufgrund ihrer Forschungen die Autopoiese als die zentrale Eigenschaft von Lebewesen (Maturana; Varela 2015). Sie meinen damit, dass jedes Lebewesen sich fortlaufend einzig und allein aus sich selbst heraus erschafft, von der molekularen und zellulären Ebene bis hin zu derjenigen des ganzen Organismus. Lebewesen sind in diesem Sinne operativ geschlossen und autonom. Entsprechend kann die Art und Weise, wie sich Lebewesen Informationen über ihre Umgebung verschaffen, nicht so beschrieben werden, dass sich bestimmte Reize der Umgebung direkt im Gehirn abbilden. Auch hier sind Lebewesen autonom, produzieren und ‚errechnen/konstruieren‘ fortlaufend ihre individuelle Welt. Im Wissenschaftsbetrieb entwickelte sich aufbauend auf diesen Beschreibungen z. B. der Konstruktivismus.“

Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023): Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 47.

Autopoiese (Autopoiesis) bei Maturana/Varela

Status vorläufig abgeschlossen
AutorIn/RedakteurIn Stefan Marty-Teuber/Joachim Reif
Letzte Änderung 25.04.2024

Autopoiese (Selbsterzeugung) als Kriterium des Lebendigen

In ihrem gemeinsam verfassten Buch „Der Baum der Erkenntnis“[1] führen die beiden chilenischen Neurobiologen Humberto R. Maturana (*1928) und Francisco J. Varela (1946–2001) im zweiten Kapitel mit der Überschrift „Die Organisation des Lebendigen“ den Begriff Autopoiese ein. Autopoiese ist für sie eine neue „Antwort auf die Frage nach dem Kriterium des Lebendigen“[2]. Lebewesen sind in ihren Strukturen unterschiedlich, gleichen sich aber in ihrer Organisation , d. h., in charakteristischen Relationen oder Beziehungen ihrer „Teile“, die sie als zur Klasse des Lebendigen zugehörig definieren[3]. Gemäß den beiden Autoren ist das Eigentümliche dieser Organisation die Autopoiese, nämlich dass ein abgegrenztes System sich selbst und insbesondere seine Abgrenzung gegenüber seinem Milieu durch seine geschlossene rekursive Dynamik erzeugt und erhält. In streng wissenschaftlichem Sinn wird die autopoietische Organisation als charakteristisches Merkmal alles Lebendigen auf der Ebene der Zelle aufgezeigt.

„Unser Vorschlag ist, dass Lebewesen sich dadurch charakterisieren, dass sie sich – buchstäblich – andauernd selbst erzeugen. Darauf beziehen wir uns, wenn wir die sie definierende Organisation autopoietische Organisation nennen (griech. autos = selbst; poiein = machen). Im wesentlichen ist diese Organisation durch gewisse Relationen gegeben, die wir aufzählen werden und die auf der zellulären Ebene noch leicht zu verstehen sein werden.“[4]

Eine ausgezeichnete Zusammenfassung dafür, was mit Autopoiese im ursprünglichen Sinn gemeint ist, liefert Maturana an anderer Stelle (vgl. unten „Maturanas Kritik am Autopoiesis-Begriff von Luhmann“).

Autopoiese und Autonomie

Die beiden Forscher verbinden den Ansatz der Autopoiese eng mit der traditionellen „Frage nach der Autonomie des Lebendigen“[5]. Autonomie meint dabei die Fähigkeit eines Systems, „seine eigene Gesetzlichkeit beziehungsweise das ihm Eigene zu spezifizieren“[6]. Verständlich wird diese Autonomie durch das Verständnis der Organisation, die Lebewesen als Einheiten definiert.

„Dies ist deshalb notwendig, weil gerade die Berücksichtigung der Lebewesen als autonome Einheiten uns aufzuzeigen erlaubt, wie ihre üblicherweise als geheimnisvoll und unfaßbar angesehene Autonomie verständlich wird, wenn und indem auf ihre sie als Einheit definierende autopoietische Organisation verwiesen wird.“[7]

Bemerkenswert ist, dass Autonomie in diesem Sinn eine grundsätzliche Eigenart des Lebendigen ist, von der ein Lebewesen nicht mehr oder weniger haben kann: Jedes Lebewesen wird grundsätzlich als autonom (eigengesetzlich) betrachtet. Diese Definition der Autonomie gerät in einen Widerspruch mit der Verwendung des Begriffs im Sinn der Selbstbestimmung, die in der Soziologie oder in Lebensqualitätsmodellen gängig ist. Letztere Verwendung hat Fremdbestimmung als Gegenbegriff und erlaubt im Gegensatz zur Begriffsbestimmung bei Maturana/Varela ein Mehr oder Weniger.

Autopoietische Einheiten erster und zweiter Ordnung

Mit einer naturwissenschaftlichen Argumentation erläutern Maturana und Varela die Autopoiese von Zellen als Hauptmerkmal des Lebens und bezeichnen diese als autopoietische Einheiten oder Systeme erster Ordnung (vgl. Autopoietische Einheiten erster Ordnung). Diese Grundidee übertragen sie im vierten Kapitel mit der Überschrift „Das Leben der ‚Metazeller‘“ auf vielzellige Lebensformen, sogenannte Metazeller. Sie werden als Einheiten beschrieben, die aus Zellen, also aus autopoietischen Einheiten erster Ordnung, bestehen und „in deren Struktur eng verknüpfte Zellanhäufungen zu erkennen sind“[8]. In Bezug auf ihre Struktur wandeln sich vielzellige Lebewesen in ihrer Lebensgeschichte. Die Geschichte dieses ständigen Wandels, die sogenannte Ontogenese[9], schließt dabei in einem Zyklus immer eine Stufe ein, in der sie aus einer Zelle bestehen.

„Es ist offenbar, daß die Ontogenese eines Metazellers durch den Bereich der Interaktionen, der diesen als ganze Einheit kennzeichnet, bestimmt wird und nicht durch die individuellen Interaktionen der den Metazeller bildenden Zellen. In anderen Worten: Das Leben eines vielzelligen Individuums als Einheit vollzieht sich zwar im Operieren seiner Bestandteile, es ist aber nicht durch die Eigenschaften der Bestandteile bestimmt. Alle multizellulären Individuen sind jedoch Ergebnis der Teilung und Aufspaltung einer Gattung von Zellen, welche zum Zeitpunkt der Befruchtung einer einzigen Zelle oder Zygote [kursiv] entstehen, wobei diese wiederum Produkt einiger Organe oder Teile eines multizellulären Organismus ist. Würden keine neuen Individuen erzeugt, so gäbe es kein Fortbestehen der Stämme. Und dafür, daß es neue Individuen gibt, muß ihr Entstehungsbeginn auf eine [kursiv] Zelle zurückgehen.“[10]

Die Metazeller, zu denen u. a. alle Pilze, Pflanzen, Tiere und somit der Mensch zählen, bezeichnen sie als „autopoetische Systeme zweiter Ordnung [kursiv im Originaltext]“[11]. Bewusst offen gelassen wird aufgrund der unsicheren Kenntnislage die Frage, ob Metazeller bzw. Organismen in streng wissenschaftlichem Sinn als autopoietische Einheiten verstanden werden können, die mit denjenigen erster Ordnung vergleichbar sind.

„Aber wie können wir die Bestandteile und Relationen in einem Organismus beschreiben, so daß seine Organisation im Sinne einer molekularen Autopoiese sichtbar wird? Im Falle der Metazeller haben wir bis heute eine viel ungenauere Kenntnis der molekularen Prozesse, welche sie als den Zellen vergleichbare autopoietische Einheiten definieren könnten.“[12]

Verwiesen wird auf den engen Zusammenhang zwischen der operationalen Geschlossenheit ihrer Organisation und der Autopoiese.

„Wir können aber sagen, daß sie [die Metazeller] eine operationale Geschlossenheit [kursiv] ihrer Organisation aufweisen: Ihre Identität ist durch ein Netz von dynamischen Prozessen gekennzeichnet, deren Wirkungen das Netz nicht überschreiten.“[13]

Soziale Phänomene: Koppelungen dritter Ordnung

Die Voraussetzung für vielzellige Lebensformen bzw. autopoietische Einheiten zweiter Ordnung ist, dass sich einzelne Zellen enger verbinden und Anhäufungen bilden (vgl. oben). Um solche engen Verbindungen von Zellen – sei es mit anderen Zellen oder mit dem umgebenden Milieu – zu bezeichnen, verwenden Maturana und Varela den Begriff der strukturellen Koppelung.

„Daß sich zwei (oder mehr) autopoietische Einheiten in ihrer Ontogenese gekoppelt haben, sagen wir, wenn ihre Interaktionen einen rekursiven [kursiv] oder sehr stabilen Charakter erlangt haben.“[14]

Im achten und neunten Kapitel mit den Überschriften „Die sozialen Phänomene“ und „Sprachliche Bereiche und menschliches Bewusstsein“ übertragen Maturana und Varela ihre Grundideen mit Bezugnahme auf die auf Gruppen von Organismen mit einem Nervensystem. Dabei nehmen sie explizit Bezug auf die Mechanismen autopoietischer Systeme zweiter Ordnung[15]. Solche Gruppen beschreiben sie als strukturelle Koppelungen dritter Ordnung durch Ko-Ontogenese.

„Es ist jedoch möglich [kursiv], daß die Interaktionen zwischen Organismen im Verlauf ihrer Ontogenese einen rekursiven Charakter annehmen. Das führt notwendig zum gemeinsamen strukturellen Driften dieser Organismen: eine Ko-Ontogenese, an der die Organismen durch ihre gegenseitige strukturelle Koppelung beide beteiligt sind, wobei jeder seine Anpassung und Organisation bewahrt. Wenn dies geschieht, dann bringen die gemeinsam driftenden Organismen einen neuen phänomenologischen Bereich hervor, der besonders komplex werden kann, wenn ein Nervensystem vorhanden ist. Um die Phänomene, die aus dieser strukturellen Koppelung dritter Ordnung [kursiv] entstehen, geht es in diesem und im folgenden Kapitel.“[16]

Als Phänomene dieses neuen Bereichs beschreiben Maturana und Varela u. a. die Rollenverteilung von Tieren bei der Zeugung und Aufzucht von Nachkommen[17], das Sozialverhalten von Insekten als „klassischen und bemerkenswertesten Fall einer so engen Koppelung dritter Ordnung“[18], das Fluchtverhalten, die Jagd oder die Gruppenorganisation durch vielfältige Interaktionen bei sozialen Wirbeltieren wie Antilopen, Wölfen oder Primaten[19]. Erwähnt werden aber auch soziale Phänomene wie Kommunikation, Kulturelles, Altruismus und Egoismus oder die Nachahmung und die Erhaltung gelernten Verhaltens[20].

Das ganze neunte Kapitel des Buches widmet sich dem sprachlichen Bereich, der bewusst von vorausgehend beschriebenen sozialen Phänomenen getrennt wird.

„Angeborenes Verhalten ist abhängig von den Strukturen, die im Verlauf der Entwicklung des Organismus unabhängig von seiner individuellen Ontogenese entstehen. Erworbenes kommunikatives Verhalten ist abhängig von der individuellen Ontogenese des Organismus und von seiner besonderen Geschichte von sozialen Interaktionen.“[21]

Bemerkenswert ist, dass für die detaillierte Beschreibung von Koppelungen dritter Ordnung bzw. von sozialen Phänomenen die Begriffe „Autopoiese/autopoietisch“ in den entsprechenden Kapiteln nicht verwendet werden.

Autopoiesis bei Luhmann

Der deutsche Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) übernahm den Begriff Autopoiesis und verwendet ihn als Leitidee seiner Systemtheorie, die er als „Theorie autopoietischer, selbstreferentieller, operativ geschlossener Systeme“[22] bezeichnet.

Seine Systemtheorie gilt allgemein als epochale Wende in der Geschichte der Gesellschaftstheorie oder Soziologie. Luhmann unterscheidet hauptsächlich zwischen biologischen, psychischen und sozialen Systemen, wobei in seinem Verständnis ein einzelner Mensch oder auch eine Gruppe von Menschen kein System bildet, sondern ein Konglomerat, ein Gemisch von unterschiedlichen Typen von Systemen ist[23].

Systeme werden dabei nicht durch ihre Dinglichkeit, sondern durch ihre dynamischen Operationen definiert. Diese Operationen betreffen einerseits die Differenzierung der systemeigenen Umwelt und die Autopoiesis. In enger Anlehnung an die Beschreibungen von Maturana/Varela ist damit gemeint, dass ein autopoietisches System sich selbst, also das, woraus es besteht, in operativer Geschlossenheit aus dem, woraus es besteht, erzeugt und fortlaufend reproduziert.[24] Für Luhmann ist die operative Geschlossenheit zusammen mit gleichzeitiger Offenheit gegenüber der Umwelt, die eine Grundvoraussetzung ist, ein wichtiger Aspekt autopoietischer Systeme[25].

Luhmann war es bewusst, dass Maturana mit dieser Verwendung des Begriffs Autopoiese in der Soziologie nicht einverstanden war; eine Einigung konnten die beiden diesbezüglich nicht erreichen.

„Ich habe mit Maturana relativ lange Diskussionen darüber geführt und er hat immer gesagt, wenn man von der Autopoiesis der Kommunikation spreche, müsse man das zeigen können. […] Ich glaube, dass das keine großen Schwierigkeiten macht. […] Opposition findet man nur dort, wo Maturana es ablehnt, Kommunikationssysteme als soziale Systeme zu bezeichnen. Es gibt ein starkes emotionales Moment auf seiner Seite. Er möchte die Menschen nicht ausser Acht lassen und hat auch nicht die Beweglichkeit in soziologischen oder linguistischen Fragen, die es ihm ermöglichen würde zu sehen, wie man den Menschen wieder hineinbekommt. Er will nicht darauf verzichten, mit dem Ausdruck ‚soziale Systeme‘ konkrete Menschen zu meinen, die Gruppen bilden und dergleichen. Nur da liegt die Differenz.“[26]

Maturanas Kritik am Autopoiesis-Begriff von Luhmann

In seinem Buch „Die Gewissheit der Ungewissheit“[27] veröffentlicht Bernhard Pörksen (*1969) verschiedene Gespräche mit namhaften Forschern zum Konstruktivismus; eines davon hat er mit Maturana geführt. In diesem wundert sich Pörksen, dass Maturana bis zum dritten Tag des Gesprächs nicht auf den Begriff Autopoiese zu sprechen gekommen ist. Darauf liefert Maturana eine Begründung in Form einer sehr schönen Zusammenfassung seines Verständnisses der Bedeutung des Begriffs.

„Der Grund besteht schlicht darin, dass ich den Begriff nur dann gebrauche, wenn er nötig und angebracht ist. Autopoiesis [kursiv] bedeutet ‚Selbsterschaffung‘ und setzt sich aus den beiden griechischen Wörtern autós [kursiv] (‚selbst‘) und poieín [kursiv] (‚produzieren‘ bzw. ‚erschaffen‘) zusammen. Das Konzept der Autopoiesis liefert die Antwort auf die Frage, was ein lebendes System ausmacht: Man hat in der Geschichte der Biologie behauptet, dass das Lebendige durch die Fähigkeit zur Fortpflanzung oder Fortbewegung, dass es durch eine bestimmte chemische Zusammensetzung, einen spezifischen Aspekt des Stoffwechsels oder irgendeine Kombination dieser verschiedenen Kriterien charakterisiert sei. Ich schlage dagegen ein anderes Kriterium vor. Wenn man ein lebendes System betrachtet, findet man stets ein Netzwerk von Prozessen oder Molekülen, die auf eine Weise miteinander interagieren, die ihrerseits zur Produktion von Molekülen führt, die durch ihre Interaktion ebendieses Netzwerk der Produktion von Molekülen erzeugen und in seinem Umfang begrenzen. Ein solches Netzwerk nenne ich autopoietisch. Wenn man also auf ein Netzwerk stößt, dessen Operationen es im Ergebnis selbst hervorbringen, hat man es mit einem autopoietischen System zu tun. Es produziert sich selbst. Dieses System ist für die Zufuhr von Materie offen, jedoch – wenn man die Dynamik der Beziehungen, die es hervorbringen, betrachtet – geschlossen. Kurzum, das Konzept der Autopoiesis verwende ich, um das Schlüsselmerkmal des Lebendigen zu beschreiben, das ist alles. Wenn es nicht um dieses Problem, sondern um andere Themen geht, dann gibt es aus meiner Sicht auch keinen Anlass, das Wort zu verwenden und über Autopoiese zu sprechen.“[28]

Nach weiteren Ausführungen und Präzisierungen auf Fragen von Pörksen geht Maturana auf die Verwendung des Begriffs bei Luhmann ein und erläutert die oben erwähnte Kritik genauer.

„Niklas Luhmann geht jedoch nicht von Molekülen aus, die Moleküle erzeugen, sondern alles dreht sich um Kommunikationen, die Kommunikationen produzieren. Er glaubt, es handele sich um eine vergleichbare Situation. Das ist nicht korrekt, denn Moleküle erzeugen Moleküle ohne fremde Hilfe, ohne Unterstützung. Aber Kommunikationen setzen Menschen voraus, die kommunizieren. Kommunikationen produzieren nur mithilfe von lebenden Systemen Kommunikationen. Durch die Entscheidung, Moleküle durch Kommunikationen zu ersetzen, werden die Menschen als Kommunizierende ausgeklammert. Sie bleiben außen vor und gelten als unwichtig, sie bilden lediglich den Hintergrund und die Basis, in die das soziale System – verstanden als ein autopoietisches Netzwerk aus Kommunikationen – eingebettet ist.“[29]

Kommentare, Auswertung und offene Fragen

Autopoiese (Autopoiesis) bei Maturana/Varela und Luhmann

Bemerkenswert ist, dass Maturana/Varela die Autopoiese anhand der lebenden Zelle in wissenschaftlicher Schlüssigkeit aufzeigen. Sie selbst sagen aus, dass diese Schlüssigkeit bei autopoietischen Einheiten oder Systemen zweiter Ordnung aufgrund der mangelnden wissenschaftlichen Kenntnislage (noch) nicht möglich sei. Bei strukturellen Koppelungen dritter Ordnung verwenden sie den Begriff Autopoiese/autopoietisch nicht mehr.

Dass sie diese drei Ebenen hingegen als durch ähnliche oder vergleichbare Phänomene verbunden betrachten, zeigt sich z. B. darin, dass im Inhaltsüberblick, der jedem Kapitel vorangestellt wird, vom Begriff Einheit über Organisation und Struktur zur Autopoiese (2. Kapitel), dann zu Einheiten 2. Ordnung (4. Kapitel) und schließlich zu Einheiten 3. Ordnung (8. Kapitel) geschritten wird. Zugleich zeigt der Inhaltsüberblick in hervorragender Weise, wie engmaschig die ganze Systematik und die Beziehungen der Begrifflichkeiten des Buches gedacht sind.

Vor diesem Hintergrund ist für jeden Laien nachvollziehbar, dass die Übernahme des Begriffs durch Luhmann nicht im Sinn von Maturana/Varela sein kann: Luhmann ist als Soziologe ja insbesondere an sozialen Systemen interessiert, die bei Maturana/Varela zwar als Einheiten, aber nirgendwo als autopoietische Einheiten oder Systeme bezeichnet werden.

Andererseits muss man nicht SoziologIn sein, um zu begreifen, welche neuen Perspektiven es ermöglicht, soziale Gruppen als autopoietische System zu verstehen, die sich durch ihre je eigenen Rituale bzw. Operationen definieren, erhalten und sich gegenüber anderen Gruppen abgrenzen usw. Auf jeden Fall ist klar, dass dank Luhmann sehr viel kybernetisches Gedankengut – er greift mit seiner Systemtheorie z. B. auch auf Gregory Bateson oder Heinz von Foerster zurück, um nur zwei Beispiele zu nennen – eine weitere Verbreitung gefunden hat und ins allgemeine Bewusstsein von SoziologInnen, WirtschaftlerInnen, JuristInnen usw. gelangt ist.

Gerade die Kybernetik hat aufgezeigt, welche letztinstanzliche Bedeutung das einzelne, verkörperte Individuum mit all seinen Erfahrungen und Entwicklungen in Bezug auf das Weltverständnis und das Verhalten hat, konkreter ausgedrückt, dass es grundsätzlich nicht von außen direkt gesteuert oder determiniert werden kann, sondern immer nur sich selbst reguliert. Vor diesem Hintergrund mag einem mit Maturana der „Ausschluss“ der Bedeutung des einzelnen Menschen in der Systemtheorie von Luhmann als berechtigte Kritik erscheinen.

Die Verwendung des Begriffs Interaktion in der Autopoiese-Beschreibung von Maturana/Varela

Aus der Sicht der Kinästhetik ist die Verwendung des Begriffs Interaktion in den Erläuterungen der Autopoiese bei Maturana/Varela auffällig. Grundsätzlich passt in der Kinästhetik die gängige Definition, dass Interaktion eine Wechselbeziehung zwischen HandlungspartnerInnen bezeichnet. Maturana/Varela halten fest, dass sie Interaktionen zwischen autopoietischen Einheiten nicht von Interaktionen einer autopoietischen Einheit mit seinem – aus der Sicht der BeobachterIn – leblosen Milieu unterscheiden; für eine Zelle stellt beides eine „Quelle von Interaktionen“[30] dar.

Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht allerdings ein wesentlicher Unterschied zwischen Interaktionen zwischen Menschen und Aktionen von Menschen mit toter Materie. Bewegungserfahrungen sind eine wichtige Grundlage der Kinästhetik. In einer persönlichen Bewegungserfahrung kann man diesen fundamentalen Unterschied leicht erfahren. Er zeigt sich deutlich, wenn man die eigenen Möglichkeiten und Erfahrungen, wenn man mit lebloser Materie agiert, z. B. einen Sessel irgendwo anders hinstellt, mit denjenigen vergleicht, wenn man mit einem anderen Menschen interagiert – den man z. B. nicht in gleicher Weise irgendwo anders hinstellen kann. In der Kinästhetik ist diese Unterscheidung für die förderliche Unterstützung von anderen Menschen über Berührung und Bewegung entscheidend.

Weiterführende Literatur und Medien

  • Varela, Francisco J.; Maturana, Humberto R.; Uribe, R. (1974): Autopoiesis: The organization of living systems, its characterization and a model. In: Biosystems. Volume 5, Issue 4. S. 187–196. doi:10.1016/0303-2647(74)90031-8.
  • Maturana, Humberto R.; Pörksen, Bernhard (2008): Vom Sein zum Tun. Die Ursprünge der Biologie des Erkennens. 2. Auflage. Systemische Horizonte. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag. ISBN 978-3-89670-669-0. S. 97–108: „Die Autopoiesis des Lebendigen“.
  • Maturana, Humberto R. (2000): Biologie der Realität. Übersetzung: Wolfram Köck. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1502. Frankfurt am Main: Suhrkamp. ISBN 3-518-29102-5. S. 106–112: „Lebende Systeme: Autopoiese“.

Vergleiche auch

Zum Begriff

Bedeutungsüberblick

Herkunft und Bedeutung

Autopoiese ist die deutsche Entsprechung des spanischen Begriffs „autopoiesis“. Es handelt sich um einen Neologismus, d. h., um eine wissenschaftliche Neubildung eines Wortes. Es setzt sich zusammen aus den griechischen Wörtern autós „selbst“ und poíesis „das Machen, Tun, Schaffen, Hervorbringen; die Dichtung, Poesie“. Letzteres ist eine Substantivbildung zum griechischen Verb poieín „machen; dichten“. Autopoiese heißt also sozusagen „die Selbstmachung“ oder besser „Selbsthervorbringung, Selbsterschaffung, Selbsterzeugung“. In diesem Sinn führten die beiden Biologen Humberto R. Maturana (*1928) und Francisco J. Varela (1946–2001) in ihrem Buch „Der Baum der Erkenntnis“ aus dem Jahr 1984 den Begriff in die breite wissenschaftliche Diskussion ein. Mit ihm bezeichneten sie das Hauptcharakteristikum des Lebens auf der Ebene einer Zelle oder eines Organismus. Der Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) übertrug den Begriff in die Gesellschaftstheorie und bezeichnete gesellschaftliche Bereiche wie die Politik oder die Wissenschaft als autopoietische Systeme, die eigengesetzlich ihre jeweilige Wirklichkeit erschaffen, erhalten und sich gegenüber anderen Systemen abgrenzen.

Die Verwendung des Fachbegriffs in der Kinästhetik orientiert sich sowohl an der ursprünglichen, von Maturana/Varela geprägten Bedeutung als auch an der Übertragung durch Luhmann.

Die Bedeutungen von Autopoiese nach dem „Duden Online-Wörterbuch“

Nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ hat Autopoiese folgende Bedeutung:
„Fähigkeit, sich selbst erhalten, wandeln, erneuern zu können“.

Diese Bedeutungsangabe orientiert sich mehr an der Verwendung des Begriffs bei Luhmann als bei Maturana/Varela: Es fehlt ihr die ursprüngliche Idee der Selbsterzeugung oder -erschaffung.

Einzelnachweise

  1. Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (2009): Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Aus dem Spanischen von Kurt Ludewig in Zusammenarbeit mit dem Institut für systemische Studien e. V. in Hamburg. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag (Fischer Taschenbücher 17855). ISBN 978-3-596-17855-1.
  2. ebd., S. 49.
  3. ebd., S. 49 f.
  4. ebd., S. 50 f.
  5. ebd., S. 55.
  6. ebd., S. 55.
  7. ebd., S. 56.
  8. ebd., S. 98.
  9. ebd., S. 84.
  10. ebd., S. 91.
  11. ebd., S. 98.
  12. ebd., S. 99.
  13. ebd., S. 100.
  14. ebd., S. 85.
  15. ebd., S. 197.
  16. ebd., S. 85.
  17. ebd., S. 197 ff.
  18. ebd., S. 200.
  19. ebd., S. 205 ff.
  20. ebd., S. 209 ff.
  21. ebd., S. 223.
  22. Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft1360). ISBN 3-518-28960-8. S. 79.
  23. Berghaus, Margot (2011): Luhmann leicht gemacht. Eine Einführung in die Systemtheorie. 3., überarbeitete und ergänzte Auflage. Köln: Böhlau. ISBN 978-3-8252-2360-1. S. 32 f.
  24. ebd., S. 50–52.
  25. ebd., S. 56–60.
  26. Luhmann, Niklas (2017): Einführung in die Systemtheorie. Herausgegeben von Dirk Baecker. 7. Auflage. Systemische Horizonte. Heidelberg: Carl-Auer Verlag. ISBN 978-3-89670-839-7. S. 109.
  27. Pörksen, Bernhard (2002): Die Gewissheit der Ungewissheit. Gespräche zum Konstruktivismus. Mit Heinz von Foerster … [u. a.]. Reihe Konstruktivismus und systemisches Denken. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag. ISBN 978-3-89670-227-0.
  28. ebd., S. 103.
  29. ebd., S. 106.
  30. Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (2009): Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Aus dem Spanischen von Kurt Ludewig in Zusammenarbeit mit dem Institut für systemische Studien e. V. in Hamburg. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag (Fischer Taschenbücher 17855). ISBN 978-3-596-17855-1. S. 85.