Bewegungskompetenz

Aus Kinaesthetics-Online-Fachlexikon
Status mit Fachliteratur angelegt
AutorIn/RedakteurIn N. N./N. N.
Letzte Änderung 27.09.2018


„Bewegungskompetenz“ in „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“

Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat umfasst den Beginn des dritten Kapitels „Bewegungskompetenz – das zentrale Thema“ und zeigt den Text des ersten Unterkapitels „Was ist Bewegungskompetenz?“.

Annäherung an eine Definition
Der Begriff Bewegungskompetenz spielt eine zentrale Rolle in Kinaesthetics. Er wird in diesem Rahmen folgendermaßen verstanden:
Für Menschen und Tiere ist es überlebenswichtig und eine Grundbedingung des Lebens, ihre Bewegungskompetenz bzw. die individuellen Möglichkeiten der eigenen Bewegung zu entwickeln. Da wir uns selbst im Laufe des Lebens verändern und ebenso unsere Lebensumstände, müssen wir lernen, unsere Bewegung an diese Veränderungen und Prozesse anzupassen, um zu überleben. Unsere Bewegungskompetenz ist somit besonders dann gefordert, wenn sich unsere eigenen Voraussetzungen durch unsere Entwicklung, durch Erkrankung oder Unfall ändern oder wenn wir unter veränderten, neuen und ungewohnten Bedingungen ein Ziel erreichen wollen. In ähnlicher Weise erfordern auch die Interaktionen mit anderen Menschen ständige spontane Anpassungsleistungen und stellen eine besondere Herausforderung an unsere Bewegungskompetenz dar.
Darum betrachtet Kinaesthetics grundsätzlich die Bewegungskompetenz, d. h. die Gestaltungs- und Anpassungsmöglichkeiten der eigenen Bewegung, aus der Perspektive der Gesundheits- und Persönlichkeitsentwicklung. Die Entwicklung der Bewegungskompetenz ist ein individueller Lern- und Erfahrungsprozess, der die grundlegenden Möglichkeiten und Bedingungen der Bewegung betrifft. Jeder Mensch hat eine erfahrungsbasierte, bewusste oder unbewusste Lerngeschichte bezüglich der eigenen, grundlegenden Bewegungsmöglichkeiten. Dabei geht es um Fragen wie: ‚Wo habe ich welchen Spielraum in meinem Körper? Wie kann ich mit einer angemessenen Anstrengung meine Bewegung in der Schwerkraft kontrollieren? Wie hängt meine Anstrengung mit der Zeit, die ich mir für eine Bewegung nehme, und mit dem Raum, den ich nutze, zusammen?‘
Die Entwicklung der Bewegungskompetenz geht immer mit der Entwicklung von mehr oder weniger Wahlmöglichkeiten einher. Der Variantenreichtum, mit dem wir unsere Bewegung – bewusst oder unbewusst – in ganz alltäglichen Aktivitäten an die jeweilige Situation anpassen, beeinflusst wesentlich die Entwicklung unserer Bewegungskompetenz und dadurch unsere Gesundheitsentwicklung und Lebensqualität. Konkret zeigt sich also eine hohe Bewegungskompetenz in der individuellen und situativ angepassten Vielfalt an Bewegungsmustern im Alltag und darin, dass diese produktiv weiterentwickelt werden können. Vor diesem Hintergrund grenzt sich der Begriff Bewegungskompetenz von der quantitativen Betrachtung der Bewegungsleistung (z. B. ‚Wie schnell kann ich laufen, wie hoch springen?‘) ab. Desgleichen bemisst sich Bewegungskompetenz nicht daran, ob jemand spezifische motorische Fertigkeiten (z. B. Schreiben, Klavierspielen, Tanzen, Schreinern) lernen kann. Darum kann nach dem Verständnis von Kinaesthetics auch ein Mensch, der aufgrund einer Behinderung weder laufen noch schreiben lernen kann, mit seinen individuellen Voraussetzungen in der selbstständigen oder unterstützten Bewältigung seines Alltags eine sehr hohe Bewegungskompetenz entwickeln.
Zusammenfassend bezeichnet der Begriff Bewegungskompetenz also die Kompetenz eines Menschen, sein Potenzial an grundlegenden Bewegungsmöglichkeiten bei der Verwirklichung einer persönlichen oder gemeinsamen Absicht im gegebenen Moment entwicklungs- und gesundheitsfördernd ausschöpfen zu können.“

Der Text der zugehörigen Infobox „Der Begriff Kompetenz“:

„‚Kompetenz‘ wird auch in anderen Bereichen verwendet und unterschiedlich definiert. Im Bildungsbereich kann Kompetenz als die erlernte Fähigkeit zu einem erfolgreichen Verhalten in der konkreten Praxis definiert werden. Hier haben sich die Begriffe Selbstkompetenz oder personale Kompetenz, Sozialkompetenz, Fach- und Methodenkompetenz breit durchgesetzt und sind allgemein gebräuchlich.“

Der Text der zugehörigen Infobox „Die Qualität der Bewegung“:

„Besonders im Sport werden andere Kriterien angelegt, um die Qualität der Bewegung zu beurteilen. Über die beste Bewegung verfügt, wer am schnellsten 100 Meter laufen kann, am meisten Tore schießt, die schwierigsten Bewegungen sicher und kunstvoll ausführt. Hier geht es meistens um die Bewegungsleistung in sehr spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die intensiv trainiert werden müssen. Kinaesthetics hingegen interessiert sich auf einer ganz grundlegenden Ebene für die Qualität der Bewegung des Menschen.“
„Bewegungskompetenz als Lernprozess
Bewegungskompetenz ist dem Menschen nicht als feste Größe angeboren, die sich in vorgegebenen Bahnen entwickelt. Jeder Mensch entwickelt seine Bewegungskompetenz individuell, einesteils für sich allein, besonders aber durch seine Interaktionen mit anderen Menschen. Dies wird in den ersten Lebensjahren sehr deutlich, in denen das Kind hauptsächlich durch seine Bewegungsinteraktionen mit den Eltern, Betreuungspersonen und anderen Kindern seine Bewegungsmöglichkeiten entdeckt und seine eigenen Bewegungsmuster entwickelt.
Die Entwicklung der Bewegungskompetenz ist ein lebenslanger, ununterbrochener Lernprozess, der uns in der Regel nicht bewusst ist. Wie bewusst und wie weit ein einzelner Mensch seine Bewegungskompetenz entwickelt und zu welchen Fertigkeiten er sie nutzt, hängt also mit seiner individuellen Lerngeschichte und der Geschichte seiner Bewegungsentwicklung zusammen. ‚Bewusst“ meint dabei die gezielte Beschäftigung mit der eigenen Bewegung oder eine gelenkte Achtsamkeit, ob sie nun sprachlich reflektiert wird oder nicht (vgl. auch Kapitel 3.4.).
Eine Grundlage für die Entwicklung der Bewegungskompetenz bildet die individuelle Sensibilität eines Menschen für die Wahrnehmung von Unterschieden in der eigenen Bewegung. Diese Wahrnehmung von Unterschieden wird in Kinaesthetics im Kontext der Steuerung der Bewegung in der Schwerkraft betrachtet. Gemäß der Feedback-Kontroll-Theorie beruht die Bewegungssteuerung auf dem Zusammenspiel des Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystems (vgl. Kapitel 4.3. und 5.5.).
Alle Prozesse und Aktivitäten des Lebens – vom Herzschlag, der Verdauung, dem Sitzen, dem Gehen bis hin zum Sprechen und Denken – beruhen direkt auf der willkürlich steuerbaren Bewegung oder sind aufs Engste mit ihr verbunden. Darum ist die Entwicklung der Bewegungskompetenz eine grundlegende und unumgehbare Herausforderung des Lebens und steht in einem engen Zusammenhang mit der persönlichen Gesundheitsentwicklung.
Komponenten der Bewegungskompetenz
Im Folgenden werden aus der Perspektive der Erfahrbarkeit die Komponenten und Faktoren beschrieben, die im Zusammenspiel die Bewegungskompetenz ausmachen und helfen, sie bewusst zu entwickeln. Auf der Grundlage der Feedback-Kontroll-Theorie (vgl. Kapitel 4.3.) beleuchten die ersten beiden Komponenten dieses Modells die Faktoren der Sensibilisierung der Wahrnehmung und der Entwicklung einer differenzierten Bewegung, die dritte Komponente die Faktoren der Verhaltenssteuerung. Sie werden aus der Ich-Perspektive dargestellt.
Differenziert wahrnehmen: Die Verfeinerung der Sensibilität meiner Bewegungswahrnehmung
Ich kann Unterschiede, die ich durch die Ausführung oder Variation einer Aktivität selbst erzeuge, durch eine fokussierte Lenkung der Achtsamkeit bewusst wahrnehmen. Ich kann einen solchen Fokus in verschiedenen Aktivitäten über einen immer längeren Zeitraum halten. Andererseits bin ich imstande, den Fokus während einer Aktivität bewusst zu wechseln. Dadurch nehme ich Eigenschaften meiner eigenen Bewegung in einer einzelnen Aktivität unter verschiedenen Blickwinkeln wahr.
Differenziert variieren: Die Erweiterung meines persönlichen Gestaltungsspielraumes
Ich kann eine Aktivität bewusst gestalten, diese Gestaltung variieren und mich mit ihr sowie den zugrunde liegenden Bewegungsmustern auseinandersetzen. Ich bin in der Lage, Aktivitäten bewusst z. B. schneller oder langsamer, mit mehr oder weniger Anstrengung auszuführen oder die Richtung der Bewegung meiner Körperteile bewusst zu variieren.
Viabel handeln: Die Entwicklung produktiver Verhaltensmöglichkeiten
Ich kann gleichzeitig eine komplexe Herausforderung des Alltags bewältigen, auf die Qualität meiner eigenen Bewegung achten und dadurch mein Verhalten passend und zum Ziel führend steuern. Ich bin imstande, meine eigene Bewegung bewusst und produktiv an meine individuellen Voraussetzungen, an diejenigen von InteraktionspartnerInnen sowie an die Absicht und den Verlauf der Situation anzupassen. Ich bin in der Lage, die Achtsamkeit auf meine Bewegung im Verlauf einer Situation differenziert zu lenken und so die eigene Bewegung möglichst optimal am Kriterium von Lernen und Entwicklung zu orientieren.“

Der Text der zugehörigen Infobox „Viabel/Viabilität“:

„Der Philosoph Ernst von Glasersfeld (1917–2010) führte diese Begriffe im Rahmen des von ihm begründeten ‚radikalen Konstruktivismus‘ in die wissenschaftliche Diskussion ein. Sie bezeichnen die Lösung eines Problems, die sich nicht an der Idee der (‚wissenschaftlichen‘) Wahrheit, an der Idee von richtig und falsch orientiert, sondern an der Gang- oder Brauchbarkeit im Kontext der Problemstellung und der verfolgten Absicht – im Wissen, dass es viele gangbare Lösungswege gibt. Glasersfeld braucht das Wort ‚passend‘ (bezüglich Kontext und Absicht) als Synonym von ‚viabel‘.“

Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2018): Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 30–33.