Wahrnehmung

Aus Kinaesthetics-Online-Fachlexikon
Status mit Fachliteratur angelegt
AutorIn/RedakteurIn N. N./Dagmar Panzer
Letzte Änderung 19.06.2024


Zusammenfassung:
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Wahrnehmung. Erläutert wird ihre Abhängigkeit von den Sinnessystemen, die einem Lebewesen zur Verfügung stehen, und insbesondere vom wahrnehmenden Individuum. Wahrnehmung darf nicht als eine objektive Abbildung der Welt verstanden werden, sondern ist ein zirkulärer Prozess des in Bezug auf Information geschlossenen Individuums.

Wahrnehmung in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“

Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat ist in das vierte Kapitel „Theoretische Grundlagen von Kinaesthetics“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel „Leben bedeutet Bewegung“ und „Schwerkraft und Bewegung“ beleuchten die grundlegende Bedeutung der Bewegung und der Schwerkraft für das Leben. Das dritte Unterkapitel „Zirkuläre Selbstregulationsprozesse als Grundlage des menschlichen Verhaltens“ beschreibt die Zirkularität bzw. die Feedback-Control-Theorie als Verhaltensgrundlage. Das Zitat ist der Text des anschließenden vierten Kapitels „Geschlossenheit und Individualität der Wahrnehmung“.

Wer nimmt bei dieser Begegnung was wahr? Zeichnen Sie mit Pfeilen ein, worauf die einzelnen Akteure im gleichen Moment ihre Aufmerksamkeit richten könnten.
4.4. Geschlossenheit und Individualität der Wahrnehmung
Es leuchtet ein, dass eine Ameise, eine Fledermaus oder ein Delphin die Welt wohl ganz anders wahrnehmen als wir. Neurobiologische Forschungen zeigen auf, dass die Wahrnehmung jedes Lebewesens davon abhängig ist, über welche Sinnessysteme es verfügt und für welches Spektrum von Reizen diese Systeme aufgrund ihrer Struktur empfindlich sind. Grundsätzlich vermittelt die gesamte Sinneswahrnehmung einem Lebewesen ein ‚stabiles‘ und zusammenhängendes Bild seiner selbst und seiner Umgebung. Das Zusammentreffen mit Reizen (Licht, Schall, Berührung, Bewegung usw.) ist also eine Voraussetzung der Wahrnehmung. Die Reize bestimmen aber nicht, wie ein Lebewesen sie wahrnimmt. In wissenschaftlicher Formulierung spricht man davon, dass lebende Systeme prinzipiell ‚informationally closed‘, d. h., in Bezug auf Information geschlossen sind. Die Wahrnehmung darf nicht als eine objektive Abbildung einer gegebenen Umgebung betrachtet werden. Vielmehr ‚errechnet‘ jedes Individuum fortlaufend das Bild seiner Welt. Wie im vorangehenden Kapitel beschrieben, vollzieht sich dieses Errechnen in zirkulären Prozessen, an denen nicht nur das Wahrnehmungssystem und das Nervensystem, sondern ebenso das Bewegungssystem beteiligt sind.
Grundsätzlich ist somit davon auszugehen, dass jeder einzelne Mensch die Welt auf seine individuelle Art und Weise wahrnimmt. Natürlich ist es für die Entwicklung des Menschen wichtig, dass er lernt, die Welt über Interaktion und Kommunikation ‚gleich‘ oder ähnlich wie seine Eltern oder Bezugspersonen wahrzunehmen. Da wir ähnliche Strukturen aufweisen, die eine sehr differenzierte Interaktion und Kommunikation ermöglichen, können wir wahrscheinliche Aussagen darüber machen, wie andere Menschen die Welt erleben. Doch insbesondere im Kontakt mit Menschen mit Demenz oder Behinderung, aber auch in Alltagssituationen kann sich uns der Gedanke aufdrängen, dass ein anderer Mensch die Welt offensichtlich anders wahrnimmt als wir selbst.“

Text der zugehörigen Infobox „Wie entsteht die Welt, die ich wahrnehme?“:

„Der Neurobiologe F. J. Varela (1946–2001) formulierte das Resultat seiner Forschungsarbeiten über das Sehen in einem Interview ungefähr so: ‚Ist da draußen etwas (z. B. Licht), das zu meinem Auge kommt? – Nein: Es gibt keine Beziehung zwischen dem Licht und dem Farbsehen. Die Unterschiede, die wir wahrnehmen und als verschiedene Farben bezeichnen, spiegeln nicht eine äußere, objektive Realität, sondern beruhen auf der Art und Weise, wie wir strukturell ‚zusammengesetzt‘ sind.
Wie entsteht die Welt, die ich wahrnehme? – Im ‚Zusammenprall‘ (‚clash‘) zwischen unserer Struktur und dem Milieu, in das wir buchstäblich eintauchen, entsteht die Welt. Wir sind so gebaut, dass aus dem Zusammentreffen der Aktivitäten des Gehirns und der Aktivitäten des Auges ein stabiles Bild der Welt, eine konstante visuelle Realität entsteht. Die Funktion des Hirns kann nicht als Informationsaufnahme beschrieben werden.‘ (Reichle 2005[1])“

Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023): Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 46.

Wahrnehmung in „Aufbaumodul Demenz 1: Sich und die Welt wahrnehmen – Arbeitsunterlagen“

Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 1: Sich und die Welt wahrnehmen“. Das erste Zitat stammt aus dem Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 1“ der Einleitung.

‚Sie lebt in einer anderen Welt‘
Der Zustand einer Person mit Demenz wird oft mit den Worten beschrieben, dass sie in einer anderen Welt lebe. Damit will jemand ausdrücken, dass seine eigene Wahrnehmung der Welt bzw. die ‚normale‘, allgemein gängige Wahrnehmung offensichtlich nicht mit derjenigen der betreffenden Person mit Demenz übereinstimmt. Was für diese wahr und richtig ist – woran sie auch ihr ganzes Verhalten orientiert – entspricht immer wieder weder den persönlichen noch den gängigen Vorstellungen und Normen.
Eine große Herausforderung für die Bezugspersonen ist, dass sich das Alltagsverhalten von Menschen mit Demenz verändert und die gewohnten Bahnen verlässt. Gleichzeitig wird die Kommunikation darüber, wie man den gemeinsamen Alltag gestalten möchte, immer schwieriger. Eine zentrale Grundlage dieser Veränderungen ist die Wahrnehmung. Eine Person mit Demenz handelt so, wie sie sich selbst, ihr Umfeld und die aktuelle Situation wahrnimmt, wie sie es als richtig und wahr empfindet. Sie handelt nicht aus Unvermögen oder Bösartigkeit so, wie sie handelt, sondern in einer für sie sinnvollen Weise. Diese beruht darauf, wie sich ihr persönlich gerade jetzt die Welt darstellt – und das kann im Gegensatz dazu stehen, wie ihre Bezugspersonen die ‚gleiche‘ Welt wahrnehmen.
Jeder Mensch lebt in einer anderen Welt
Aus der Sicht der Kinästhetik lebt grundsätzlich jeder Mensch bzw. jedes Lebewesen in seiner individuellen Welt, weil jedes Lebewesen sich selbst und seine Umwelt auf seine ganz individuelle Art und Weise wahrnimmt. Jedes Lebewesen ist sozusagen ein geschlossenes Universum. Auf der wissenschaftlichen Ebene beschäftigt sich die Kybernetik damit, wie lebende Systeme sich selbst bzw. ihr Verhalten kontrollieren und steuern. In diesem Rahmen wurde entdeckt, dass die Selbstregulation auf geschlossenen Regelkreisen beruht. Das bedeutet, dass die Wahrnehmung der Welt nicht außen vorgegeben ist. Unsere Sinne vermitteln uns kein objektives Abbild der Welt. Aus der Perspektive der Kybernetik ist es vielmehr so, dass jeder Mensch für und in sich selbst diesen Akt des Erkennens oder der persönlichen Konstruktion seiner Welt fortlaufend ausführen muss. Und ebenso fortlaufend passt er sein Verhalten in der Welt auf der Grundlage dieser persönlichen Konstruktion seiner Welt an.“

Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) : Aufbaumodul Demenz 1: Sich und die Welt wahrnehmen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-46-8. S. 7.

Die folgenden Zitate stammen aus den Begleittexten zum „Teil 1: Erfahrbare Eigenschaften der Wahrnehmung“.

„Teil 1: Erfahrbare Eigenschaften der Wahrnehmung
Einführung
Der erste Teil dieses Aufbaumoduls beschäftigt sich mit einigen Eigenschaften der menschlichen Wahrnehmung. Diese Eigenschaften können Sie in sich selbst in Erfahrung bringen, sei es im Kursraum oder für sich.
Sich selbst und seine Umgebung mit seinen Sinnen wahrnehmen zu können, ist für jedes Lebewesen eine überlebenswichtige Fähigkeit. Die menschliche Wahrnehmung ist als Ganzes hochkomplex, und es ist unglaublich, wie viele unterschiedliche Sinneswahrnehmungen wir gleichzeitig bewusst und unbewusst verarbeiten.
Die Wahrnehmung ist für eine Person mit Demenz genau wie für uns die zentrale Grundlage der Lebensgestaltung. Eine Person handelt so, wie sie sich selbst, ihre Umgebung und die aktuelle Situation wahrnimmt, wie sie es als richtig und wahr empfindet, wie sich ihr persönlich im aktuellen Moment die Welt darstellt.
Für die individuell angepasste Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz ist es deshalb wichtig, ein grundsätzliches, erfahrungsbasiertes Verständnis davon zu entwickeln, wie die menschliche Wahrnehmung ‚funktioniert‘ und welche Merkmale oder Eigenschaften sie hat. Dies kann helfen, das eigene Verhalten in Unterstützungssituationen vor diesem Hintergrund zu reflektieren und verständnisvoll an die jeweilige Person anzupassen.
Nachfolgend werden einige erfahrbare Merkmale oder Eigenschaften der Wahrnehmung beschrieben.
Wahrnehmung als fortlaufender und individueller Prozess im Hier und Jetzt
Eine Eigenschaft der Wahrnehmung ist, dass sie als überlebenswichtige Grundfunktion jedes Lebewesens nie ‚abgeschaltet‘ ist. Bewusst oder unbewusst sind wir fortlaufend damit beschäftigt, uns selbst in unserer Umgebung wahrzunehmen. Wir können nicht aufhören wahrzunehmen. Dabei nehmen wir unsere Umgebung nicht als Abbildung einer objektiven Realität wahr. Wir erschaffen unsere persönliche Wirklichkeit mit unseren Sinnen auf unsere individuelle Weise im Hier und Jetzt. Wir können die gleichen Dinge wie andere Menschen wahrnehmen, aber nie in genau gleicher Weise wie sie, weil die Wahrnehmung ein individueller Prozess in der Gegenwart ist.
[...]
Die Abbildung illustriert eindrücklich das Thema des Vorder- und Hintergrunds der Wahrnehmung: Je nachdem sieht die BetrachterIn des Bildes entweder zwei einander zugewandte schwarze Gesichter vor einem grauen Hintergrund oder ein graues Gefäß vor schwarzem Hintergrund. Interessant ist, dass man zwischen diesen beiden ‚Interpretationen‘ der Darstellung bewusst wechseln kann, aber immer nur das eine oder das andere sieht. Ob die BetrachterIn ein Gefäß oder Gesichter sieht, ist allein von ihr abhängig.
Die ständige Dynamik zwischen Vorder- und Hintergrund
Beispiel: Jemand sitzt im Büro und arbeitet. Im Vordergrund steht die Arbeit am Bildschirm, gleichzeitig nimmt die Person aber z. B. wahr, wie die KollegIn vorbeigeht, dass ein Telefon läutet oder der Magen knurrt. [im Original alles kursiv]
Das ständige dynamische Spiel zwischen Vorder- und Hintergrund ist eine weitere Eigenschaft der Wahrnehmung. Wir können unsere Wahrnehmung bewusst auf etwas lenken, das dadurch im Vordergrund steht und unsere volle Aufmerksamkeit erhält. Gleichzeitig nehmen wir in dieser Situation im Hintergrund mit allen unseren Sinnen alles Mögliche wahr: Wir erschaffen uns immer auch eine Unmenge weiterer Informationen über uns selbst und unsere Umgebung. Dies geschieht ‚nebenbei‘ oder halb- bis unbewusst.
Wenn wir im Alltag unsere Wahrnehmung auf etwas fokussieren, geraten immer wieder Hintergrundwahrnehmungen in den Vordergrund. Diese lassen wir je nach ihrer Bedeutung für unsere aktuelle Situation gleich wieder in den Hintergrund rücken. Wir kehren zu unserem Fokus zurück. Oder aber unser Magenknurren lässt uns auf die Uhr schauen, und wir gehen in die Mittagspause.
[...]
Wahrnehmen ist Unterscheiden
Wie können wir den Spannungszustand unserer Muskeln wahrnehmen? Wir nehmen ihn durch die Unterschiede wahr, die wir durch die Anspannung und Entspannung der Muskeln selbst produzieren.
Dass die Wahrnehmung auf individuellen, selbsterzeugten Unterscheidungen beruht, ist eine weitere bemerkenswerte Eigenschaft. Wir können uns selbst und die Welt nur aufgrund von Unterschieden wahrnehmen, die wir selbst erzeugen.
Aufgrund solcher selbst erzeugter Unterscheidungen beschreiben wir unsere Wahrnehmungen grundsätzlich in entsprechenden Gegensätzen (entspannt – angespannt, schnell – langsam, hell – dunkel, laut – leise usw.). Für eine differenzierte Gestaltung unseres Alltags müssen wir Abstufungen oder Grade dieser Gegensätze unterscheiden können (von ziemlich entspannt bis völlig entspannt, ziemlich dunkel bis sehr dunkel usw.). Dadurch können wir uns selbst oder die Welt in feinen Abstufungen dieser Gegensätze wahrnehmen.
Was aber z. B. für die eine Person überlaute Musik ist, ist für die andere vielleicht ganz und gar passend. Was für die eine Person ein kräftiger Händedruck ist, ist für die andere vielleicht ein übermäßiges Zudrücken, für eine dritte völlig normal.
Bemerkenswert ist, dass die Empfindung der Abstufung oder des Grades sehr individuell und ganz und gar von der einzelnen Person abhängig ist.
Gesetzmäßig braucht es aber bei lauter Musik einen großen Unterschied der Lautstärke, damit wir sie überhaupt als lauter oder leiser empfinden können. Bei leiser Musik wird es durch eine geringere Veränderung der Lautstärke möglich, einen Unterschied wahrzunehmen. Wenn wir eine hohe Körperspannung haben, braucht es eine größere Veränderung der Muskelspannung, damit wir überhaupt einen entsprechenden Unterschied feststellen können. Wir können somit viel feinere Spannungsunterschiede wahrnehmen, wenn wir eine tiefe Körperspannung haben.
Aus kinästhetischer Perspektive ist diese physiologische Tatsache nennenswert. Sie ergibt sich aus der natürlichen Funktionsweise der Wahrnehmung oder genauer der körperlichen Rezeptoren oder Organe der Wahrnehmung: Je intensiver ein Reiz ist, desto größere Unterschiede braucht es, damit diese überhaupt wahrgenommen werden können.
[...]
Wahrnehmen bedeutet fortlaufendes individuelles Einordnen
Beispiel: Wenn wir zu Hause sind, ordnen wir fortlaufend mehr oder weniger bewusst unsere Wahrnehmungen ein: Das ist das Geräusch des tropfenden Wasserhahns in der Küche, das ist das Licht eines draußen vorbeifahrenden Autos, das sind die Kinder, die nach Hause kommen, das der Hund, der sich seufzend anders hinlegt, oder das der Magen, der knurrt usw. Sogar im Schlaf nehmen wir wahr, dass und wie wir liegen oder uns auf die andere Seite drehen. Wir nehmen die Geräusche im Zimmer, im Haus und draußen wahr und stufen sie fortlaufend als ‚normal‘ ein – oder eben nicht, was zum Erwachen führt. [im Original alles kursiv]
Dass die Wahrnehmung mit einer fortlaufenden bewussten oder unbewussten Einordnung des Wahrgenommenen einhergeht, ist eine weitere bemerkenswerte Eigenschaft.
Wir stellen alle Wahrnehmungen ständig in unseren persönlichen Kontext und Sinnzusammenhang und ordnen sie bewusst oder unbewusst ein (‚Dieses Geräusch kommt vom Wasserhahn, dieses vom Hund usw.‘). Die Grundlage für dieses individuelle Einordnen sind unsere Lern- und Erfahrungsgeschichte bzw. die daraus resultierenden persönlichen Annahmen.
Gerade weil viele Wahrnehmungen eher unbewusst eingeordnet werden, wird diese ununterbrochene Leistung oft unterschätzt. Bewusst wird sie uns, wenn wir uns in einer unbekannten Umgebung befinden und diese mit ihren Geräuschen, Gerüchen, Vorgängen, Personen usw. nicht kennen. In einer solchen Situation sind wir gezwungen, fortlaufend viele neue Wahrnehmungen und Eindrücke bewusst einzuordnen.
[...]
Innenwahrnehmung und Wohlbefinden
Eine weitere Eigenschaft der Wahrnehmung ist, dass wir durch sie fortlaufend unser Körperbewusstsein oder Körpergefühl erzeugen. Mit unserer Wahrnehmung erschaffen wir uns sowohl Informationen über unsere innere Befindlichkeit als auch über unsere Umgebung. Beim Wahrnehmen treffen wir somit immer die grundsätzliche Unterscheidung, ob wir uns eine Information über unsere Außenwelt oder über unser ‚Innenleben‘ erschaffen.
Beispiel: Wenn wir zu Hause hören, dass in der Küche offensichtlich etwas in Scherben gegangen ist, können wir diese Außenwahrnehmung nicht sogleich vollständig einordnen. Erst wenn wir unsere Katze auf dem Tisch und die zerbrochene Vase auf dem Boden sehen, können wir erahnen, was passiert ist. Wenn wir hingegen einen Gegenstand heben, merken wir mit unserem kinästhetischen Sinnessystem sogleich, wie schwer er ist, und passen uns an. Diese Einordnung sehr viel unmittelbarer, direkter und klarer möglich. [im Original alles kursiv]
Für den Begriff Eigenwahrnehmung (Propriozeption) wird in der Kinästhetik häufiger der Begriff Innenwahrnehmung oder Innenperspektive verwendet. Im Vergleich mit der Innenwahrnehmung erfordert die Außenwahrnehmung oft die größere und anspruchsvollere Leistung des Einordnens.
Aus unserer Innenwahrnehmung ergibt sich fortlaufend und unmittelbar unser Körperbewusstsein oder Körpergefühl. Damit ist ein Bild oder ein Bewusstsein der eigenen Möglichkeiten gemeint, wie man sich selbst wahrnehmen, sich bewegen oder sich verhalten kann. Mit dem Körperbewusstsein eng verbunden ist die Einschätzung des eigenen Wohlbefindens.“

Quelle: ebd., S. 12 ff.


Die folgenden Zitate stammen aus den Begleittexten zum „Teil 3: Wahrnehmung und Bewegung als zirkulärer Prozess“.

Teil 3: Wahrnehmung und Bewegung als zirkulärer Prozess
Die Individualität der Wahrnehmung und ihre Verbindung mit dem Verhalten
Beispiel: ‚Schau mal, eine Biene!‘
Eine Biene wird von einer ImkerIn viel differenzierter und anders wahrgenommen als von einer Person, die sich nicht für sie interessiert oder sich gar vor Bienen fürchtet. Die ImkerIn wird sich ihr vielleicht annähern und sie im Detail studieren, andere Menschen werden mit den Armen zu fuchteln beginnen oder gar fliehen, weil sie Angst vor Bienen haben. [im Original alles kursiv]
Dieses Beispiel veranschaulicht, wie sich aus gleichem Anlass die Wahrnehmung und das Verhalten von Menschen individuell unterscheiden kann. Streng genommen nimmt jeder Mensch eine Biene anders wahr und verhält sich entsprechend seiner individuellen Wahrnehmung.
Beispiel: Wenn wir in einem Holzhaus wohnen, in dem es häufig knackt und knarrt, hören wir diese Geräusche kaum mehr bewusst und lassen uns durch sie nicht beunruhigen. Wir ordnen sie fortlaufend ein und sind zur Annahme gelangt, dass sie vernachlässigbar sind. Wenn wir aber zur Übernachtung einen Gast bei uns haben, der sich das nicht gewohnt ist, wird er deswegen vielleicht die ganze Nacht keinen Schlaf finden. [im Original alles kursiv]
Wie in den vorausgehenden Texten beschrieben wird, ist ganz und gar von uns selbst, von unserer aktuellen Verfassung und unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte abhängig, welche Informationen wir uns über unsere Umgebung verschaffen. Die Bedeutung unserer Wahrnehmungen ergibt sich daraus, in welchen persönlichen Kontext wir diese stellen. Diese Verknüpfungen können von Person zu Person sehr unterschiedlich sein. Die Information ist nicht außerhalb von uns objektiv vorgegeben. Wir erschaffen oder konstruieren sie subjektiv in uns selbst und verhalten uns entsprechend.
Wir ordnen alle Wahrnehmungen immer auch unter dem Gesichtspunkt ein, ob oder wie wir das eigene Verhalten anpassen müssen. Diese ständige Einordnung aufgrund der eigenen Erfahrungen und das persönliche Verhalten hängen eng zusammen.
Wahrnehmen als Feedback-Prozess
Probieren Sie es aus:
Legen Sie sich auf den Rücken und bleiben Sie möglichst ruhig liegen. Versuchen Sie, wenn Sie das eine Weile getan haben, Ihre linke große Zehe differenziert wahrzunehmen. Sie werden feststellen, dass dies fast nicht möglich ist, wenn Sie diese nicht zumindest ein klein wenig bewegen und dadurch feine Unterschiede produzieren. Sie können sie erst dann differenziert wahrnehmen, wenn Sie sie unterschiedlich bewegen.
Bleiben Sie weiter möglichst ruhig liegen und untersuchen Sie dieses Phänomen bei anderen Körperteilen. Achten Sie darauf, wie sich die Differenziertheit Ihrer Wahrnehmung des Körperteils verändert, je differenzierter Sie über Bewegungen Unterschiede erzeugen.
Diese Darstellung der Feedback-Control (‚Rückkoppelungsregulation‘) zeigt auf einer grundsätzlichen Ebene die Systeme des Körpers, die an der Selbstregulation beteiligt sind, sowie ihre zirkuläre Rückkoppelung.
Das Gehirn und angedeutete Nervenbahnen stellen die Funktionen des gesamten Nervensystems dar. Der Muskel steht für das motorische System oder Bewegungssystem.
Das sensorische System oder Wahrnehmungssystem wird dargestellt durch das kinästhetische Sinnessystem (Symbol: Muskelspindel als kinästhetischer Rezeptor auf einem Muskel) und durch die klassischen fünf Sinne (angedeutet durch die Symbole der Organe). Die Darstellung des Wahrnehmungssystems veranschaulicht die grundlegende Funktion des kinästhetischen Sinnessystems für die anderen Sinne.
Diese Bewegungsanleitung lässt uns Folgendes erfahren: Nur wenn wir mit unserer Bewegung Unterschiede erzeugen, können Unterschiede in unserer Wahrnehmung entstehen. Diese können wir mit unserem Nervensystem ‚berechnen‘ und in Bezug zu unserer Absicht setzen – in der vorausgehenden Bewegungserfahrung ist die Absicht, die linke große Zehe differenziert wahrzunehmen. Daraus erzeugen wir fortlaufend nächste Unterschiede in unserer Bewegung. Durch diesen zirkulären Prozess können wir unsere Bewegung und Wahrnehmung fortlaufend an unsere Absicht anpassen.
Die Kybernetik zeigte aus wissenschaftlicher Perspektive auf, dass die Wahrnehmung eines Lebewesens auf diesem ständigen Prozess beruht. Er läuft im Kreis zwischen dem motorischen System (Bewegungssystem), dem sensorischen System (Wahrnehmungssystem) und dem Nervensystem ab. Er weist eine geschlossene Rückkoppelung (Feedback) auf: Jedes System wirkt zirkulär auf das nächste und somit im Kreis auf sich selbst zurück.
Während der Ausführung einer Aktivität vollziehen sich die entsprechenden zirkulären Steuerungsprozesse (in kybernetischer Fachsprache: die Regulation) in einer hohen Komplexität und mit einer unglaublichen Geschwindigkeit. Wir können keine zeitliche Verzögerung zwischen Bewegung, Wahrnehmung und Anpassungsberechnung feststellen – oder nur in nicht erwünschten ‚Ausnahmefällen‘ wie Trunkenheit oder Schwindel, in denen wir die Kontrolle über unsere Bewegung verlieren.
Demnach beruht die Wahrnehmung nicht auf einer abgekoppelten Leistung der Sinnessysteme. Sie entsteht in einem höchst dynamischen zirkulären Prozess, an dem die Bewegung und das Nervensystem gleichermaßen beteiligt sind. Nach diesem Grundprinzip erschafft sich jeder Mensch über sein kinästhetisches Sinnessystem und die gesamte Innenwahrnehmung sein Körperbewusstsein.
Diese kybernetische Erklärung besagt, dass die Selbstregulation des Menschen in einem geschlossenen Kreisprozess funktioniert (englisch Feedback-Control), der vom einzelnen Individuum abhängig ist. Sie erklärt die erwähnte Annahme genauer, dass grundsätzlich jeder Mensch aufgrund dieser zirkulären Geschlossenheit seiner Funktionsweise sich selbst und die Welt auf seine einzigartige Art und Weise wahrnimmt.
Wahrnehmung und Bewegung
Aus der Zirkularität der grundsätzlichen Funktionsweise des Menschen ergibt sich, dass jede Wahrnehmung an Bewegung gekoppelt ist. Es ist nicht möglich, dass wir irgendetwas wahrnehmen, sei es eine vorbeifliegende Biene oder unseren eigenen Körper, ohne dass in unserem Körper eine damit verbundene Bewegung stattfindet.
So ist z. B. das Hören an die Bewegungen des Trommelfells, der Gehörknöchelchen usw. gebunden, das Sehen an die vielfältigen Bewegungen unserer Augen, das Schmecken an die vielfältigen Bewegungen unserer Zunge usw. Bemerkenswert ist, dass wir solche Kleinstbewegungen des Hörens oder Sehens völlig selbstverständlich mit Bewegungen unseres Kopfes und unseres ganzen Körpers unterstützen.
Vor diesem Hintergrund wird in der Kinästhetik das kinästhetische Sinnessystem bzw. die Bewegungswahrnehmung als Grundlage der gesamten Sinneswahrnehmung betrachtet.
Zwischen Bewegungswahrnehmung und Bewegung besteht ein wechselseitiger Zusammenhang: Je differenzierter die Bewegung ist, desto differenzierter ist die Bewegungswahrnehmung und umgekehrt. In der Praxis gilt dies sowohl für Menschen mit Demenz als auch für ihre professionellen Bezugspersonen.
Mehr vom Gleichen
Vielleicht kennen Sie das folgende Phänomen aus eigener Erfahrung:
Beispiel: Sie sitzen mit einer FreundIn in einem Lokal. Zu Beginn hat es wenige andere Gäste, und Sie unterhalten sich in normaler Lautstärke. Dann beginnt sich das Lokal zu füllen, und alle Anwesenden immer lauter zu sprechen. Als eine weitere FreundIn im unterdessen voll besetzten Gasthaus eintrifft, sagt sie: ‚Meine Güte, warum sprechen hier alle so laut!‘ [im Original alles kursiv]
In der Kybernetik spricht man von positiver Rückkoppelung oder positivem Feedback, wenn eine Aktivität sich selbst verstärkt und das zugehörige System sich immer mehr aufschaukelt. Positiv ist hier nicht als Wertung zu verstehen: Eine positive Rückkoppelung in Maschinen kann sich bis zur Selbstzerstörung aufschaukeln. Beim Menschen lassen sich Verhaltensweisen beobachten, die durch diese Betrachtungsweise erhellt werden. Die Psychologie und Soziologie verwenden hierfür auch den Begriff Teufelskreis.
In der Kinästhetik kann diese Betrachtungsweise ebenso helfen, um aus der Bewegungsperspektive bestimmte Verhaltensweisen zu verstehen. In Teil 1 dieses Aufbaumoduls wird die physiologische Tatsache beschrieben, dass bei einem intensiven Ausgangsreiz große Unterschiede nötig sind, damit sie überhaupt wahrgenommen werden können (S. 15). Dieser Umstand kann Verhaltensweisen begünstigen, die im Sinn einer positiven Rückkoppelung dem Muster ‚Mehr vom Gleichen‘ folgen.“

Quelle: ebd., S. 32 ff.

Weiterführende Literatur und Medien

  • Foerster, Heinz von; Pörksen, Bernhard (2019): Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. 12. Auflage. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg (Systemische Horizonte). ISBN 978-3-89670-646-1.
    Auf das Thema Wahrnehmung geht insbesondere das Kapitel „I.1. Biologie der Wahrnehmung“ (S. 15 bis 28) ein.
  • Bateson, Gregory (2014): Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Übersetzt von Hans Günter Holl. 10. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 691). ISBN 978-3-518-28291-3. S. 39–51.
  • Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (2015): Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Aus dem Spanischen von Kurt Ludewig in Zusammenarbeit mit dem Institut für systemische Studien e. V. in Hamburg. 6. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag (Fischer Taschenbücher 17855).
Die Wahrnehmung wird im ersten Kapitel „Das Erkennen erkennen“ u. a. mit den Stichworten „Der blinde Fleck“ (S. 21), „Wir sehen nicht, dass wir nicht sehen“ (S. 23), „Farbe: keine Eigenschaft der Dinge“ (S. 24), „Wahrnehmung und individuelle Struktur“ (S. 27) thematisiert.

Vergleiche auch

Einzelnachweise

  1. Reichle, Franz (2005): Monte Grande. Francisco Varela. DVD (Englisch und Deutsch, DVD-9, NTSC, 16:9, 80 Minuten). Untertitel: Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Griechisch. 2 Stunden zusätzliche Interviews mit englischen und deutschen Untertiteln. Zürich: Franz Reichle und T&C Film. ISAN: 0000-0000-CDF1-0000-0-0000-0000-3.