Bewegungskompetenz: Unterschied zwischen den Versionen
KKeine Bearbeitungszusammenfassung |
|||
(10 dazwischenliegende Versionen von 2 Benutzern werden nicht angezeigt) | |||
Zeile 1: | Zeile 1: | ||
{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Stefan Marty-Teuber}} | {{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Stefan Marty-Teuber}} | ||
''''' Zusammenfassung: ''''' <br>Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Bewegungskompetenz, einem Leitbegriff der Kinästhetik. Das erste Zitat stammt aus „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“. Dieses Buch ist als Begleitbuch von Kinaesthetics-Aufbaukursen gedacht, behält aber auch für Kinaesthetics-TrainerInnen-Bildungen seine Bedeutung. Das zweite Zitat stammt aus der Themenbroschüre „Kinästhetik und Frühmobilisation“, die sich an Fachpersonen mit oder ohne Kenntnisse der Kinästhetik richtet. Aus dem "Aufbaumodul Demenz 4: Sich im Alltag als wirksam erfahren" stammt das dritte Zitat. Es beleuchtet den Zusammenhang zwischen der lebenslangen Entwicklung der Bewegungskompetenz und der [[Feedback-Control-Theorie]]. | |||
== Bewegungskompetenz in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ == | == Bewegungskompetenz in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ == | ||
Zeile 9: | Zeile 10: | ||
: ''Darum betrachtet Kinaesthetics grundsätzlich die Bewegungskompetenz, d. h. die Gestaltungs- und Anpassungsmöglichkeiten der eigenen Bewegung, aus der Perspektive der [[Gesundheitsentwicklung|Gesundheits-]] und Persönlichkeitsentwicklung. Die Entwicklung der Bewegungskompetenz ist ein individueller Lern- und Erfahrungsprozess, der die grundlegenden Möglichkeiten und Bedingungen der Bewegung betrifft. Jeder Mensch hat eine erfahrungsbasierte, bewusste oder unbewusste Lerngeschichte bezüglich der eigenen, grundlegenden Bewegungsmöglichkeiten. Dabei geht es um Fragen wie: ‚Wo habe ich welchen Spielraum in meinem Körper? Wie kann ich mit einer angemessenen [[Anstrengung]] meine Bewegung in der [[Schwerkraft]] kontrollieren? Wie hängt meine Anstrengung mit der Zeit, die ich mir für eine Bewegung nehme, und mit dem Raum, den ich nutze, zusammen?‘ | : ''Darum betrachtet Kinaesthetics grundsätzlich die Bewegungskompetenz, d. h. die Gestaltungs- und Anpassungsmöglichkeiten der eigenen Bewegung, aus der Perspektive der [[Gesundheitsentwicklung|Gesundheits-]] und Persönlichkeitsentwicklung. Die Entwicklung der Bewegungskompetenz ist ein individueller Lern- und Erfahrungsprozess, der die grundlegenden Möglichkeiten und Bedingungen der Bewegung betrifft. Jeder Mensch hat eine erfahrungsbasierte, bewusste oder unbewusste Lerngeschichte bezüglich der eigenen, grundlegenden Bewegungsmöglichkeiten. Dabei geht es um Fragen wie: ‚Wo habe ich welchen Spielraum in meinem Körper? Wie kann ich mit einer angemessenen [[Anstrengung]] meine Bewegung in der [[Schwerkraft]] kontrollieren? Wie hängt meine Anstrengung mit der Zeit, die ich mir für eine Bewegung nehme, und mit dem Raum, den ich nutze, zusammen?‘ | ||
: ''Die Entwicklung der Bewegungskompetenz geht immer mit der Entwicklung von mehr oder weniger Wahlmöglichkeiten einher. Der Variantenreichtum, mit dem wir unsere Bewegung – bewusst oder unbewusst – in ganz alltäglichen Aktivitäten an die jeweilige Situation anpassen, beeinflusst wesentlich die Entwicklung unserer Bewegungskompetenz und dadurch unsere Gesundheitsentwicklung und Lebensqualität. Konkret zeigt sich also eine hohe Bewegungskompetenz in der individuellen und situativ angepassten Vielfalt an Bewegungsmustern im Alltag und darin, dass diese produktiv weiterentwickelt werden können. Vor diesem Hintergrund grenzt sich der Begriff Bewegungskompetenz von der quantitativen Betrachtung der Bewegungsleistung (z. B. ‚Wie schnell kann ich laufen, wie hoch springen?‘) ab. Desgleichen bemisst sich Bewegungskompetenz nicht daran, ob jemand spezifische motorische Fertigkeiten (z. B. Schreiben, Klavierspielen, Tanzen, Schreinern) lernen kann. Darum kann nach dem Verständnis von Kinaesthetics auch ein Mensch, der aufgrund einer Behinderung weder laufen noch schreiben lernen kann, mit seinen individuellen Voraussetzungen in der selbstständigen oder unterstützten Bewältigung seines Alltags eine sehr hohe Bewegungskompetenz entwickeln.'' | : ''Die Entwicklung der Bewegungskompetenz geht immer mit der Entwicklung von mehr oder weniger Wahlmöglichkeiten einher. Der Variantenreichtum, mit dem wir unsere Bewegung – bewusst oder unbewusst – in ganz alltäglichen Aktivitäten an die jeweilige Situation anpassen, beeinflusst wesentlich die Entwicklung unserer Bewegungskompetenz und dadurch unsere Gesundheitsentwicklung und Lebensqualität. Konkret zeigt sich also eine hohe Bewegungskompetenz in der individuellen und situativ angepassten Vielfalt an [[Parallele und spiralige Bewegungsmuster|Bewegungsmustern]] im Alltag und darin, dass diese produktiv weiterentwickelt werden können. Vor diesem Hintergrund grenzt sich der Begriff Bewegungskompetenz von der quantitativen Betrachtung der Bewegungsleistung (z. B. ‚Wie schnell kann ich laufen, wie hoch springen?‘) ab. Desgleichen bemisst sich Bewegungskompetenz nicht daran, ob jemand spezifische motorische Fertigkeiten (z. B. Schreiben, Klavierspielen, Tanzen, Schreinern) lernen kann. Darum kann nach dem Verständnis von Kinaesthetics auch ein Mensch, der aufgrund einer Behinderung weder laufen noch schreiben lernen kann, mit seinen individuellen Voraussetzungen in der selbstständigen oder unterstützten Bewältigung seines Alltags eine sehr hohe Bewegungskompetenz entwickeln.'' | ||
: ''Zusammenfassend bezeichnet der Begriff Bewegungskompetenz also die Kompetenz eines Menschen, sein Potenzial an grundlegenden Bewegungsmöglichkeiten bei der Verwirklichung einer persönlichen oder gemeinsamen Absicht im gegebenen Moment entwicklungs- und gesundheitsfördernd ausschöpfen zu können.“'' | : ''Zusammenfassend bezeichnet der Begriff Bewegungskompetenz also die Kompetenz eines Menschen, sein Potenzial an grundlegenden Bewegungsmöglichkeiten bei der Verwirklichung einer persönlichen oder gemeinsamen Absicht im gegebenen Moment entwicklungs- und gesundheitsfördernd ausschöpfen zu können.“'' | ||
Zeile 19: | Zeile 20: | ||
: ''„Besonders im Sport werden andere Kriterien angelegt, um die Qualität der Bewegung zu beurteilen. Über die beste Bewegung verfügt, wer am schnellsten 100 Meter laufen kann, am meisten Tore schießt, die schwierigsten Bewegungen sicher und kunstvoll ausführt. Hier geht es meistens um die Bewegungsleistung in sehr spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die intensiv trainiert werden müssen. Kinaesthetics hingegen interessiert sich auf einer ganz grundlegenden Ebene für die Qualität der Bewegung des Menschen.“'' | : ''„Besonders im Sport werden andere Kriterien angelegt, um die Qualität der Bewegung zu beurteilen. Über die beste Bewegung verfügt, wer am schnellsten 100 Meter laufen kann, am meisten Tore schießt, die schwierigsten Bewegungen sicher und kunstvoll ausführt. Hier geht es meistens um die Bewegungsleistung in sehr spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die intensiv trainiert werden müssen. Kinaesthetics hingegen interessiert sich auf einer ganz grundlegenden Ebene für die Qualität der Bewegung des Menschen.“'' | ||
: '''''„3.1.2. Bewegungskompetenz als Lernprozess'''''<br>'''''Bewegungskompetenz''' ist dem Menschen nicht als feste Größe angeboren, die sich in vorgegebenen Bahnen entwickelt. Jeder Mensch entwickelt seine Bewegungskompetenz individuell, einesteils für sich allein, besonders aber durch seine Interaktionen mit anderen Menschen. Dies wird in den ersten Lebensjahren sehr deutlich, in denen das Kind hauptsächlich durch seine Bewegungsinteraktionen mit den Eltern, Betreuungspersonen und anderen Kindern seine Bewegungsmöglichkeiten entdeckt und seine eigenen Bewegungsmuster entwickelt.'' | : '''''„3.1.2. Bewegungskompetenz als Lernprozess'''''<br>'''''Bewegungskompetenz''' ist dem Menschen nicht als feste Größe angeboren, die sich in vorgegebenen Bahnen entwickelt. Jeder Mensch entwickelt seine Bewegungskompetenz individuell, einesteils für sich allein, besonders aber durch seine Interaktionen mit anderen Menschen. Dies wird in den ersten Lebensjahren sehr deutlich, in denen das Kind hauptsächlich durch seine Bewegungsinteraktionen mit den Eltern, Betreuungspersonen und anderen Kindern seine Bewegungsmöglichkeiten entdeckt und seine eigenen [[Parallele und spiralige Bewegungsmuster|Bewegungsmuster]] entwickelt.'' | ||
: ''Die Entwicklung der Bewegungskompetenz ist ein lebenslanger, ununterbrochener Lernprozess, der uns in der Regel nicht bewusst ist. Wie bewusst und wie weit ein einzelner Mensch seine Bewegungskompetenz entwickelt und zu welchen Fertigkeiten er sie nutzt, hängt also mit seiner individuellen Lerngeschichte und der Geschichte seiner Bewegungsentwicklung zusammen. ‚Bewusst“ meint dabei die gezielte Beschäftigung mit der eigenen Bewegung oder eine gelenkte Achtsamkeit, ob sie nun sprachlich reflektiert wird oder nicht (vgl. auch Kapitel 3.4.).'' | : ''Die Entwicklung der Bewegungskompetenz ist ein lebenslanger, ununterbrochener Lernprozess, der uns in der Regel nicht bewusst ist. Wie bewusst und wie weit ein einzelner Mensch seine Bewegungskompetenz entwickelt und zu welchen Fertigkeiten er sie nutzt, hängt also mit seiner individuellen Lerngeschichte und der Geschichte seiner Bewegungsentwicklung zusammen. ‚Bewusst“ meint dabei die gezielte Beschäftigung mit der eigenen Bewegung oder eine gelenkte Achtsamkeit, ob sie nun sprachlich reflektiert wird oder nicht (vgl. auch Kapitel 3.4.).'' | ||
Zeile 31: | Zeile 32: | ||
: ''Differenziert wahrnehmen: Die Verfeinerung der Sensibilität meiner Bewegungswahrnehmung<br>Ich kann Unterschiede, die ich durch die Ausführung oder Variation einer Aktivität selbst erzeuge, durch eine fokussierte Lenkung der Achtsamkeit bewusst wahrnehmen. Ich kann einen solchen Fokus in verschiedenen Aktivitäten über einen immer längeren Zeitraum halten. Andererseits bin ich imstande, den Fokus während einer Aktivität bewusst zu wechseln. Dadurch nehme ich Eigenschaften meiner eigenen Bewegung in einer einzelnen Aktivität unter verschiedenen Blickwinkeln wahr.'' | : ''Differenziert wahrnehmen: Die Verfeinerung der Sensibilität meiner Bewegungswahrnehmung<br>Ich kann Unterschiede, die ich durch die Ausführung oder Variation einer Aktivität selbst erzeuge, durch eine fokussierte Lenkung der Achtsamkeit bewusst wahrnehmen. Ich kann einen solchen Fokus in verschiedenen Aktivitäten über einen immer längeren Zeitraum halten. Andererseits bin ich imstande, den Fokus während einer Aktivität bewusst zu wechseln. Dadurch nehme ich Eigenschaften meiner eigenen Bewegung in einer einzelnen Aktivität unter verschiedenen Blickwinkeln wahr.'' | ||
: ''Differenziert variieren: Die Erweiterung meines persönlichen Gestaltungsspielraumes<br>Ich kann eine Aktivität bewusst gestalten, diese Gestaltung variieren und mich mit ihr sowie den zugrunde liegenden Bewegungsmustern auseinandersetzen. Ich bin in der Lage, Aktivitäten bewusst z. B. schneller oder langsamer, mit mehr oder weniger [[Anstrengung]] auszuführen oder die Richtung der Bewegung meiner Körperteile bewusst zu variieren.'' | : ''Differenziert variieren: Die Erweiterung meines persönlichen Gestaltungsspielraumes<br>Ich kann eine Aktivität bewusst gestalten, diese Gestaltung variieren und mich mit ihr sowie den zugrunde liegenden [[Parallele und spiralige Bewegungsmuster|Bewegungsmustern]] auseinandersetzen. Ich bin in der Lage, Aktivitäten bewusst z. B. schneller oder langsamer, mit mehr oder weniger [[Anstrengung]] auszuführen oder die Richtung der Bewegung meiner Körperteile bewusst zu variieren.'' | ||
: ''[[Viabilität|Viabel]] handeln: Die Entwicklung produktiver Verhaltensmöglichkeiten<br>Ich kann gleichzeitig eine komplexe Herausforderung des Alltags bewältigen, auf die Qualität meiner eigenen Bewegung achten und dadurch mein Verhalten passend und zum Ziel führend steuern. Ich bin imstande, meine eigene Bewegung bewusst und produktiv an meine individuellen Voraussetzungen, an diejenigen von InteraktionspartnerInnen sowie an die Absicht und den Verlauf der Situation anzupassen. Ich bin in der Lage, die Achtsamkeit auf meine Bewegung im Verlauf einer Situation differenziert zu lenken und so die eigene Bewegung möglichst optimal am Kriterium von [[Lernparadigma|Lernen]] und Entwicklung zu orientieren.“'' | : ''[[Viabilität|Viabel]] handeln: Die Entwicklung produktiver Verhaltensmöglichkeiten<br>Ich kann gleichzeitig eine komplexe Herausforderung des Alltags bewältigen, auf die Qualität meiner eigenen Bewegung achten und dadurch mein Verhalten passend und zum Ziel führend steuern. Ich bin imstande, meine eigene Bewegung bewusst und produktiv an meine individuellen Voraussetzungen, an diejenigen von InteraktionspartnerInnen sowie an die Absicht und den Verlauf der Situation anzupassen. Ich bin in der Lage, die Achtsamkeit auf meine Bewegung im Verlauf einer Situation differenziert zu lenken und so die eigene Bewegung möglichst optimal am Kriterium von [[Lernparadigma|Lernen]] und Entwicklung zu orientieren.“'' | ||
Zeile 39: | Zeile 40: | ||
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 30–33. | Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 30–33. | ||
== Bewegungskompetenz in der Themenbroschüre „Kinästhetik und Frühmobilisation“ == | |||
Eine Auseinandersetzung mit dem Thema Bewegungskompetenz findet sich in der Themenbroschüre „Kinästhetik und Frühmobilisation“ der European Kinaesthetics Association. Die Broschüre beleuchtet die Bedeutung der Kinästhetik für die Frühmobilisation im Intensiv- und Akutbereich. Sie richtet sich an pflegerische, ärztliche und therapeutische Fachpersonen. | |||
Diese Themenbroschüre ermöglicht es, dass interessierte Personen mit oder ohne Kenntnis der Kinästhetik sich mit der Bedeutung einiger Fachthemen für die Theorie und Praxis der Frühmobilisation vertraut machen können. Insbesondere wird gezeigt, wie die Kinästhetik die herkömmliche Sichtweise erweitert. | |||
Das erste Thema „Die Differenziertheit der Bewegungswahrnehmung und Selbstregulation fördern“ erläutert die Funktionsweise der willkürlichen Bewegung aus kybernetischer Perspektive im Sinn einer fortlaufenden [[Feedback-Control-Theorie|zirkulären Selbstregulation]]. | |||
Das zweite Thema ist „Unterstützungen als Lernangebote gestalten“. Um diese Anforderung zu untermauern, wird das Fachthema der Bewegungskompetenz aus kinästhetischer Perspektive erläutert und seine Bedeutung für die PatientIn und für die Frühmobilisation aufgezeigt. Vorangestellt wird ein reales Praxisbeispiel. | |||
: ''„Ein Beispiel aus der Praxis'' | |||
: '' Frau F. wird frühmorgens direkt aus der Entbindungs- auf die Intensivstation verlegt. Ihr Sohn ist soeben per Kaiserschnitt auf die Welt gekommen. Dieser musste akut eingeleitet werden, nachdem die Herztöne des Kindes nach vielen Stunden Wehen und dem vergeblichen Versuch, es spontan zu gebären, abrupt schlechter geworden waren. Dem Kleinen gehe es mittlerweile gut, die Mutter allerdings zeigt eine allergische Reaktion auf eines der verabreichten Medikamente, hat einen sehr hohen Blutdruck und soll deshalb auf der Intensivstation überwacht werden. Ich helfe meiner Kollegin, die sie betreut, beim Installieren der Apparaturen. | |||
: ''Da Frau F. aus Tschechien kommt und erst seit Kurzem hier lebt, ist die sprachliche Verständigung erschwert. Sie hat anscheinend sehr starke Bauchschmerzen, erhält hohen Dosen von Schmerzmedikamenten und stöhnt trotzdem laut. Meine Kollegin bietet ihr an, die Beine mit einem Kissen zu unterstützen, um den Bauch zu entlasten. Frau F. lehnt ab und will offensichtlich ihre Beine aus Angst vor zusätzlichen Schmerzen nicht bewegen. | |||
: ''Meine Kollegin bittet mich um Unterstützung. Ich lege meine Hände oberhalb des Knies auf das rechte Bein der Patientin und leite sie an, dieses ein klein wenig hin und her zu rollen. Sie erkennt, dass dies ohne zusätzliche Schmerzen möglich ist. Ich unterstütze sie nur leicht dabei, das Rollen etwas zu verstärken und schließlich das Bein zu beugen und aufzustellen. Nun beginnt sie von sich aus, das linke Bein ein wenig zu bewegen, um es dann selbstständig zu beugen und aufzustellen. Ich leite sie an, den Druck ihrer Füße auf die Matratze zu verändern und so das Becken fein vor und zurück zu kippen. Offenkundig bemerkt sie, dass sie dadurch die Spannung in ihrem Bauch und ihre Schmerzen besser regulieren kann. Anschließend unterstütze ich sie dabei, die Beine in eine für sie angenehme Position zu bringen. Als wir wenige Minuten später nach ihr schauen, ist Frau F. eingeschlafen. | |||
::: ''Andrea Wildi Wyss<br>Dipl. Expertin Intensivpflege, Kinaesthetics-Trainerin | |||
: ''''' <u>Bewegungskompetenz: Ein lebenslanger, selbstgesteuerter und sozialer Lernprozess</u>''''' | |||
:::'''''Kinästhetische Grundlagen''<br> | |||
: ''Ein zentrales Ziel der Kinästhetik ist, jedem Menschen die Entwicklung seiner Bewegungskompetenz zu ermöglichen, welche persönlichen und aktuellen Voraussetzungen er auch immer mitbringt. Dabei geht es um die individuelle Weiterentwicklung der qualitativen Aspekte seines aktuell verfügbaren Bewegungspotenzials. Diese zeigen sich in der Differenziertheit, Vielfalt und Anpassungsfähigkeit der eigenen Bewegung. | |||
: ''Bewegungskompetenz <br>– wird als wesentlicher Faktor der Gesundheits- und Persönlichkeitsentwicklung betrachtet. <br>– beruht auf der Entwicklung der Sensibilität und Differenziertheit der Bewegungswahrnehmung. <br>– ist ein lebenslanger Entwicklungs- bzw. Lernprozess. <br>– wird maßgeblich von der Qualität der Alltagsbewegung beeinflusst. <br>– verändert sich stetig durch die Bewegungsqualität der alltäglichen Aktivitäten in Richtung der Erhaltung, Erweiterung oder Verminderung der eigenen Möglichkeiten. | |||
: ''Die Qualität der Alltagsbewegung hängt eng mit unseren [[Parallele und spiralige Bewegungsmuster|Bewegungsmustern]] zusammen. In unseren alltäglichen Aktivitäten – wenn wir uns setzen, die Schuhe binden, aufstehen, gehen, sitzen usw. – folgen wir unseren individuellen Bewegungsmustern. Sie erleichtern uns die Bewältigung des Alltags. | |||
: ''Je mehr wir uns aber in wenigen gleichförmigen und kaum variierten unbewussten Mustern bewegen, desto einseitiger beeinflussen wir unsere muskuloskelettale Entwicklung und andere Lebensprozesse. Dies kann zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen wie Abnutzungserscheinungen oder Rückenbeschwerden führen. | |||
: ''Desgleichen vermindern wir durch gleichförmige alltägliche Bewegungsmuster unsere Anpassungsfähigkeit. Diese ist dann gefragt, wenn sich unsere körperlichen Voraussetzungen z. B. durch Unfall oder Krankheit verändert haben und wir in der aktuellen Situation unsere gewohnten Bewegungsmuster nicht mehr verwenden können.“ | |||
Der Text der zugehörigen Infobox '''„Wie anders, wenn nicht wie immer?“''': | |||
: ''„Wenn wir nach einer Bauchoperation im Klinikbett liegen und wieder aufstehen dürfen, ist unser gewohntes [[Parallele und spiralige Bewegungsmuster|Bewegungsmuster]] meistens nicht hilfreich. Wir sind herausgefordert, achtsam eine angemessene Variante zu finden. Vielleicht sind wir davon komplett überfordert. In diesem Fall sind wir auf die Unterstützung einer Person angewiesen, die uns hilft, unsere aktuellen Bewegungsmöglichkeiten auszuloten, und uns kompetent begleitet, sie beim Aufstehen zu nutzen.“ | |||
Fortsetzung des Fließtextes: | |||
: ''„In den ersten Lebensjahren wird die Entwicklung der Bewegungskompetenz eines Kindes wesentlich von den [[Interaktion|Bewegungsinteraktionen]] mit seinen Bezugspersonen beeinflusst. Auch in den späteren Lebensjahren spielen soziale Lernprozesse und zwischenmenschliche Interaktionen eine wichtige Rolle für ihre Entwicklung. Insbesondere dann, wenn ein Mensch auf körperliche Unterstützung angewiesen ist, ist es von großer Bedeutung, dass die Unterstützung in seinen alltäglichen Aktivitäten als Lernangebot verstanden wird. Dabei beeinflusst die Qualität der Interaktionen über Berührung und Bewegung maßgeblich die Entwicklung seiner Bewegungskompetenz, Selbstständigkeit und Gesundheit […]. | |||
::: ''''' Bedeutung für die Intensiv- oder AkutpatientIn'' | |||
: ''Mit dem Eintritt in eine Intensiv- oder Akutstation beginnt für PatientInnen ein ungewohnter Prozess des Bewegungslernens. Auf der Intensivstation sind sie sehr häufig sediert. Der Körper ‚lernt‘, dass viele Muskeln nur noch wenig gebraucht werden, und fängt an, sie abzubauen. Der Lernprozess beginnt in aller Regel damit, dass die gewohnte alltägliche Bewegung sich stark reduziert und vorerst nicht mehr nutzbar ist. Entsprechend berichten PatientInnen, dass sie das Gefühl hätten, all ihre Bewegungsmöglichkeiten neu entdecken und erlernen zu müssen. Dabei handelt es sich auch um die Bewegungsmöglichkeiten von Körperteilen, die nicht von einer Operation oder Krankheit betroffen sind und eigentlich wie gewohnt bewegt werden könnten. | |||
: ''Für jeden Menschen bedeutet diese Situation eine Herausforderung an seine '''Bewegungskompetenz''' bzw. einen Bewegungslernprozess. Er kann nicht auf seine gewohnten [[Parallele und spiralige Bewegungsmuster|Bewegungsmuster]] zurückgreifen und muss lernen, seine Bewegung an die aktuelle Situation anzupassen. Dabei ist er auf die kompetente Hilfe von unterstützenden Personen angewiesen, um Schritt für Schritt zu lernen, alltägliche Aktivitäten wieder möglichst selbstständig und passend auszuführen. | |||
[[Datei:Bew-komp-Löffelhand-begleiten.png|600px|thumb|zentriert|'''''Alltägliches neu lernen'''<br>Oft müssen PatientInnen ganz alltägliche Aktivitäten wieder neu erlernen. Aus der Perspektive der Kinästhetik ist es wichtig, dass jede Unterstützungssituation als Lernangebot gestaltet und darauf geachtet wird, wie sich die PatientIn mit ihren aktuellen Möglichkeiten möglichst eigenaktiv beteiligen kann.]] | |||
::: '''''Bedeutung für die Frühmobilisation'' | |||
: ''Aus der Sicht der Kinästhetik ist es wichtig, den Aufenthalt der PatientIn auf der Intensiv- oder Akutstation aus der Perspektive des Lernens zu betrachten. Jede Unterstützungssituation ist für die PatientIn ein Lernangebot, das zu mehr oder weniger selbstständigen und eigenaktiven Bewegungsmöglichkeiten führen kann. Um die Entwicklung ihrer '''Bewegungskompetenz''' und Gesundheit zu fördern, gilt es, sie von Beginn an in ihrer eigenen Bewegung zu unterstützen. | |||
: ''Die Umstände tragen dazu bei, dass die PatientIn zu Beginn mit weniger Möglichkeiten konfrontiert ist. Umso mehr ist es wichtig, sie in ihrem Lernprozess so zu unterstützen, dass sie ihre aktuellen Bewegungsmöglichkeiten möglichst eigenaktiv wahrnehmen und erfahren kann. Oft ist es so, dass PatientInnen auf elementarer Ebene Unterstützung benötigen, weil sie in ihrer aktuellen Situation wie von vorn lernen müssen, ihre Körperteile miteinander in Beziehung zu bringen und zu gezielten Aktivitäten zu nutzen. | |||
: ''In welcher Qualität sie diesbezüglich unterstützt werden, hat einen wesentlichen Einfluss darauf, ob sich ihre Bewegungskompetenz in Richtung von mehr oder weniger Möglichkeiten entwickelt. | |||
: ''Leitfragen für unterstützende Personen <br>- Wie kann ich alltägliche Aktivitäten nutzen (z. B. sich zur Seite drehen, die Beine aufstellen, essen), um der PatientIn in angepasstem Maß möglichst eigenaktive Bewegungslernprozesse zu ermöglichen? <br><br>- Wie kann ich die PatientIn in alltäglichen Aktivitäten darin unterstützen, ihre Bewegungsmöglichkeiten und den Bewegungsspielraum ihrer Körperteile zu erweitern? <br><br>- Wie kann ich die PatientIn so unterstützen, dass meine Art der Unterstützung die eigenaktiven Bewegungsmöglichkeiten der PatientIn nicht einschränkt? | |||
[[Datei:Bew-komp-essen-Löffel.png|600px|thumb|zentriert|'''''Mittun, wo immer möglich'''<br>Wenn das Halten eines Löffels noch nicht möglich ist, kann der Patient mit seiner Hand der Bewegung der unterstützenden Person folgen. Wenn diese Bewegungsinteraktion im individuell angemessenen Tempo und achtsam gestaltet wird, kann der Patient lernen, die Bewegung seiner Hand und des ganzen Armes in Beziehung zum Mund bzw. zu dieser alltäglichen Aktivität zu bringen. | |||
Dadurch fällt es ihm leichter, den Mund im richtigen Moment zu öffnen und sich auf das Kauen und Schlucken vorzubereiten. Zugleich ist es eine Unterstützung in Richtung einer selbstständigen Ausführung der Aktivität.]] | |||
: ''Das Wichtigste in Kürze<br>- Aus der Perspektive der Kinästhetik ist es zentral, jede [[Interaktion|Bewegungsinteraktion]] mit einer PatientIn als ein Lernangebot in Bezug auf die Entwicklung ihrer '''Bewegungskompetenz''', Selbstständigkeit und Gesundheit zu verstehen und zu gestalten.<br><br>- Ziel ist, dass die PatientIn in ihrer aktuellen Situation zu mehr Möglichkeiten gelangt, um ihre eigene Bewegung differenziert und vielfältig an die Herausforderungen unterschiedlicher Aktivitäten anzupassen. <br><br>- In Unterstützungssituationen hat die Qualität der Bewegungsinteraktion einen wesentlichen Einfluss darauf, ob die PatientIn zu mehr oder zu weniger selbstständig gestaltbaren Möglichkeiten gelangen kann.“ | |||
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022):''' Kinästhetik und Frühmobilisation. Themenbroschüre – Für Fachpersonen aus dem pflegerischen, ärztlichen und therapeutischen Bereich. Unter Mitarbeit von Caroline Rüttimann Remund, Andrea Wildi Wyss, Hubert Zimmermann, Stefan Marty-Teuber und des Fachnetzwerks Akutpflege/Intensivpflege (Kinaesthetics Schweiz). Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903350-02-1. S. 13–18. | |||
== Bewegungskompetenz und Feedback-Control-Theorie im „Aufbaumodul Demenz 4“== | |||
Das folgende Zitat stammt aus dem „Aufbaumodul Demenz 4: Sich im Alltag als wirksam erfahren“<ref>''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) ''': Aufbaumodul Demenz 4: Sich im Alltag als wirksam erfahren. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-49-9.</ref>. Dieses Aufbaumodul thematisiert die Selbstwirksamkeit als menschliches Grundbedürfnis im Hinblick auf Menschen mit Demenz und deren Pflege und Betreuung. | |||
Die Erfahrung der Selbstwirksamkeit wird dabei in einen engen Zusammenhang mit der lebenslangen Entwicklung der Bewegungskompetenz gebracht. Das nachfolgende Zitat aus der Einführung des Aufbaumoduls Demenz 4 (S. 7) soll dies verdeutlichen: | |||
: ''''' „Selbstwirksamkeit und Bewegungskompetenz'' | |||
: ''Die Voraussetzung der Selbstwirksamkeit ist die Fähigkeit, die eigene Bewegung zufriedenstellend regulieren zu können. Der Mensch erfährt sich als wirksam, wenn er seine Bewegung erfolgreich an die unterschiedlichsten Herausforderungen seines Alltags anpassen kann. Aus der Sicht der Kinästhetik besteht deshalb ein grundlegender Zusammenhang zwischen der '''Bewegungskompetenz''' eines Menschen und seinen Möglichkeiten, wirksam zu werden. | |||
: ''Im Lauf einer demenziellen Entwicklung werden alltägliche Aktivitäten in zunehmendem Maß zu einer Herausforderung, bis sie vielleicht nicht mehr selbstständig bewältigt werden können. Oft ist diese Entwicklung schleichend, und erst dann, wenn etwas nicht mehr geht, stellt man das Problem fest. | |||
: ''Aus kinästhetischer Perspektive beeinflusst hauptsächlich die Art und Weise, wie Menschen mit Demenz Tag für Tag ihre alltäglichen Aktivitäten gestalten, die Entwicklung ihrer Bewegungskompetenz und damit ihre Möglichkeiten, sich als wirksam zu erfahren. Zentral ist, dass diese Entwicklung als ein Lernprozess verstanden wird. Wissenschaftlich begründet werden kann dieses Verständnis durch die kybernetische Erklärung der grundsätzlichen Funktionsweise bzw. der [[Feedback-Control-Theorie|Selbstregulation des Menschen durch Rückkoppelung (Feedback)]]. | |||
: ''Es braucht eine hohe Kompetenz, um eine Person mit Demenz in ihrem Alltag in einer möglichst differenzierten Eigenbewegung zu unterstützen. Bezugspersonen können in Alltagssituationen tagtäglich dazu beitragen, dass die betreffende Person ihre Bewegungsmöglichkeiten erhalten oder an sich verändernde Umstände selbst anpassen kann. Dies wirkt schleichenden Verlusten der Alltagsbewältigung entgegen und fördert die Person darin, sich in ihren alltäglichen Aktivitäten als wirksam und zufrieden zu erfahren.“''<ref>ebd., S. 7.</ref> | |||
Im Aufbaumodul Demenz 4 folgt nach dem ersten Teil „Was heißt wirksam sein?“ <ref>ebd., S. 12 ff.</ref> und dem zweiten Teil „Selbstwirksamkeit und Anstrengung“<ref>ebd., S. 20 ff.</ref> der dritte Teil „Bewegungskompetenz als lebenslange Entwicklung“<ref>ebd., S. 28 ff.</ref>, der nachfolgend zitiert wird. | |||
:'''''<big><big>„Teil 3: Bewegungskompetenz als lebenslange Entwicklung</big></big> | |||
: ''''' <big>Lernen aus kybernetischer Perspektive</big> | |||
: ''Im allgemeinen Gebrauch wird der Begriff Lernen meistens dann verwendet, wenn wir uns willentlich etwas Neues aneignen möchten. Dieses Neue kann ein neues Wissen, neue Erkenntnisse, Einsichten oder auch eine neu erworbene Fähigkeit oder Fertigkeit sein. Eng verbunden mit dem Begriff Lernen ist der Begriff des Fehlers. Er hat im Alltag eine negative Bedeutung: Es geht beim Lernen darum, alles richtig zu verstehen und zu machen, das heißt, Fehler unbedingt zu vermeiden. | |||
: ''Im Unterschied dazu ist aus der kybernetischen Perspektive der Fehler bei der Bewegungssteuerung die natürlicherweise notwendige Abweichung von der eigenen Absicht. Wir können unsere Bewegung und damit unser Verhalten nur dadurch steuern, dass wir fortlaufend unsere Abweichungen von unserer Absicht korrigieren. Wie bereits in den anderen Aufbaumodulen thematisiert, geschieht dies in einer nicht wahrnehmbaren, unverzögerten zirkulären Dynamik zwischen Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem.“ | |||
Darauf folgend werden mit einem Auszug aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ dieser zirkuläre Rückkoppelungsprozess und die Bedeutung des Fehlers oder der Abweichung veranschaulicht. Dieser Auszug findet sich im KOFL im Artikel „Feedback-Control-Theorie“ im [[Feedback-Control-Theorie # Die Feedback-Control-Theorie in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“|ersten Kapitel]]. Im Aufbaumodul Demenz 4 setzt das Zitat mit dem dritten Absatz („Die drei wesentlichen Elemente …“) ein. Da dieses Zitat die Grundlage der nachfolgenden Ausführungen bildet, ist die Lektüre vor dem Weiterlesen empfohlen. | |||
Die Fortsetzung des Fließtextes im Aufbaumodul Demenz 4: | |||
: ''''' <big>„Lebenslanges Lernen: Man kann nicht nicht lernen</big> | |||
: ''In jeder noch so gewohnten Aktivität müssen wir unsere Bewegung auf der Grundlage dieser Feedback-Schleifen stets neu „produzieren“. Wir vollziehen die damit verbundenen fortlaufenden Anpassungsleistungen immer im Hier und Jetzt. Unsere Bewegungssteuerung oder mit dem kybernetischen Fachausdruck Regelung/Regulation der Bewegung beruht nicht auf einem vorprogrammierten, sozusagen auf Knopfdruck abrufbaren sich wiederholenden Programm. Es ist vielmehr ein Prozess, bei dem wir fortlaufend die Abweichungen in der Gegenwart kontrollieren und korrigieren. Es handelt sich dabei um einen (meist unbewussten) Lernprozess, weil immer mehrere Möglichkeiten bestehen, sich an eine gegebene Situation anzupassen. | |||
: ''Unsere fortlaufenden Anpassungsleistungen bilden somit eine ununterbrochene Lernspur. Diese Lernspur wird geprägt von der Art und Weise, wie wir etwas tun. Sie führt zu unseren individuellen [[Parallele und spiralige Bewegungsmuster|Bewegungsmustern]]. Diese sind zwar in der jeweiligen Situation ähnlich und für uns typisch, aber beruhen immer auf aktuellen Anpassungsleistungen im Hier und Jetzt. Deshalb entwickeln sich unsere Bewegungsmuster im Alltag stets weiter – manchmal bewusst, meistens aber unbewusst. | |||
: ''Diese ständigen Lernprozesse führen dazu, dass wir unsere Muster verfestigen, einschränken oder erweitern. Das heißt, dass der Lernprozess in jeder Situation in Richtung von mehr oder weniger Bewegungsmöglichkeiten fortschreiten kann. In diesem Sinne ist jedes Tun immer gleichzeitig mit Lernen verbunden, oder kurz ausgedrückt: Man kann nicht nicht lernen. | |||
: ''''' <big>Bewegungskompetenz ist ein fortlaufender Prozess</big> | |||
: '''''Alltägliche Aktivitäten und Entwicklung von mehr oder weniger Möglichkeiten'''<br>Die Tatsache, dass der Mensch seine Bewegung sein ganzes Leben lang in einem ständigen Lernprozess weiterentwickelt, gilt unabhängig davon, wie alt oder jung, wie gesund oder krank er ist. In diesem Sinn wird in der Kinästhetik von der lebenslangen Entwicklung der '''Bewegungskompetenz''' gesprochen. | |||
: ''Oft werden bei der Beschreibung der Bewegungsfähigkeiten oder der Fähigkeit, selbstständig wirksam zu sein, die Aktivitäten benannt, die eine Person ausführen kann: „Sie kann sich im Bett allein aufsetzen, sie kann selbstständig stehen, gehen oder Treppen steigen, sie kann sich selbst waschen, essen und trinken oder sich anziehen“ usw. | |||
: ''Im Unterschied dazu fokussiert der Begriff '''Bewegungskompetenz''' einerseits die Qualität, in der die betreffende Person diese Aktivitäten im Moment ausführen kann. Andererseits interessieren die Entwicklung dieser Qualität der ständigen Anpassungsleistungen bzw. die damit verbundenen Lernprozesse. | |||
: ''Zum Beispiel umfasst die Fähigkeit, gehen zu können, ein großes Spektrum von konkreten Ausprägungen. Es reicht von der sicheren Fortbewegung in schwierigem Gelände bis zum unsicheren Schlurfen mit einem Rollator. Für beides sind die Qualität und Differenziertheit der fortlaufenden Anpassungsleistungen auf der Grundlage zirkulärer Rückkoppelungsprozesse ausschlaggebend. Einerseits kann jeder Mensch lernen, seine Anpassungsmöglichkeiten zu verfeinern sowie differenzierter sein Gleichgewicht zu kontrollieren und seine Muskelspannung zu regulieren. Dadurch kann er fähig werden, sich sicher fortzubewegen. | |||
: ''Andererseits kann die Art und Weise seiner Anpassungsleistungen im Gehen über die Zeit auch dazu führen, dass er seine Möglichkeiten einschränkt und dadurch immer gefährdeter wird, zu stürzen. | |||
: ''Der lebenslange Entwicklungsprozess der '''Bewegungskompetenz''' führt somit immer entweder in Richtung von mehr oder in Richtung von weniger Differenziertheit und Vielfalt der Bewegungsmöglichkeiten. | |||
: '''''Grundlegende Aspekte der Bewegungskompetenz '''<br>Deshalb stellt sich aus der Perspektive der Bewegungskompetenz bei der Beschreibung der Bewegungsfähigkeiten oder der Fähigkeit, selbstständig wirksam zu sein, die Frage: Wie differenziert und vielfältig kann eine Person ihre Bewegung fortlaufend an die aktuelle Situation anpassen und dadurch ihre Bewegungskompetenz in Richtung von mehr Möglichkeiten entwickeln? | |||
: ''Mithilfe der Blickwinkel, die aus dem Konzeptsystem der Kinästhetik abgeleitet werden, können Aspekte der Bewegungskompetenz konkretisiert werden. Wir können diese Aspekte mit unserem kinästhetischen Sinnessystem wahrnehmen und erfahren, in Unterstützungssituationen auf sie achten oder auch für Beobachtungsfragen aus der Außenperspektive nutzen. Jeder Mensch entwickelt diese Aspekte in Bezug auf Differenziertheit und Vielfältigkeit ein Leben lang weiter. | |||
: ''Diese Aspekte sind für die Bewegungskompetenz insofern grundlegend, weil sie jeder alltäglichen Aktivität zugrunde liegen und in jeder alltäglichen Aktivität weiterentwickelt werden. Um spezifische Aspekte der Bewegungskompetenz einer Person zu beschreiben, stellt sich immer die Frage, wie differenziert und vielfältig die entsprechende grundlegende Kompetenz ausgeprägt ist. | |||
: ''In der Auflistung auf der folgenden Seite werden Beispiele von wahrnehmbaren und beobachtbaren Aspekten der Bewegungskompetenz angeführt. Sie greifen auf die Konzepte und Unterthemen des Konzeptsystems zurück und werden durch die zugehörigen Beobachtungsfragen erläutert. | |||
: ''Wahrnehmbare und beobachtbare Aspekte der Bewegungskompetenz: | |||
:* '''''Druck- und Spannungsveränderungen wahrnehmen '''<br>Beobachtungsfrage: Wie differenziert kann die Person ihre Druck- und Spannungsveränderungen wahrnehmen? | |||
:* '''''Die Bewegungsgeschwindigkeit fortlaufend anpassen '''<br>Beobachtungsfrage: Wie differenziert passt die Person ihre Bewegungsgeschwindigkeit fortlaufend an? | |||
:* '''''Die inneren Bewegungsspielräume nutzen '''<br>Beobachtungsfrage: Wie differenziert und vielfältig nutzt die Person ihre inneren Bewegungsspielräume? | |||
:* '''''Die Muskelspannung fortlaufend anpassen '''<br>Beobachtungsfrage: Wie differenziert passt die Person ihre Muskelspannung fortlaufend an? | |||
:* '''''Das Zusammenspiel von Zeit, Raum und Anstrengung fortlaufend anpassen '''<br>Beobachtungsfrage: Wie differenziert und vielfältig passt die Person das Zusammenspiel von Zeit, Raum und Anstrengung fortlaufend an? | |||
:* '''''Das Zusammenspiel von [[Knochen und Muskeln]] gestalten '''<br>Beobachtungsfrage: Wie differenziert und vielfältig verlagert die Person ihr Gewicht über ihre Knochenstrukturen? | |||
:* '''''Die Gewichtsverlagerungen der einzelnen Massen gestalten '''<br>Beobachtungsfragen: | |||
:** ''Wie differenziert und vielfältig gestaltet die Person das Führen und Folgen zwischen ihren Massen? | |||
:** ''Wie differenziert und vielfältig nutzt die Person ihre Arme, um das Gewicht ihres Brustkorbes in unterschiedliche Richtungen zu verlagern? | |||
:** ''Wie differenziert und vielfältig nutzt die Person ihre Beine, um das Gewicht ihres Beckens in unterschiedliche Richtungen zu verlagern? | |||
:** ''Wie differenziert und vielfältig nutzt die Person ihre Vorder- und Rückseiten für die Gewichtsorganisation? | |||
:* '''''Das Zusammenspiel von Haltungs- und Transportbewegung gestalten '''<br>Beobachtungsfrage: Wie differenziert und vielfältig nutzt die Person ihre Möglichkeiten der Haltungs- und Transportbewegung? | |||
:* '''''Das Zusammenspiel von Ziehen und Drücken zwischen den Körperteilen gestalten '''<br>Beobachtungsfrage: Wie differenziert und vielfältig gestaltet die Person das Zusammenspiel von Ziehen und Drücken zwischen ihren Körperteilen?“ | |||
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) ''': Aufbaumodul Demenz 4: Sich im Alltag als wirksam erfahren. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-49-9. | |||
==Einzelnachweise== | |||
[[Kategorie:Menschenbild]] | [[Kategorie:Menschenbild]] |
Aktuelle Version vom 19. April 2024, 14:49 Uhr
Status | mit Fachliteratur angelegt |
AutorIn/RedakteurIn | N. N./Stefan Marty-Teuber |
Letzte Änderung | 19.04.2024 |
Zusammenfassung:
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Bewegungskompetenz, einem Leitbegriff der Kinästhetik. Das erste Zitat stammt aus „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“. Dieses Buch ist als Begleitbuch von Kinaesthetics-Aufbaukursen gedacht, behält aber auch für Kinaesthetics-TrainerInnen-Bildungen seine Bedeutung. Das zweite Zitat stammt aus der Themenbroschüre „Kinästhetik und Frühmobilisation“, die sich an Fachpersonen mit oder ohne Kenntnisse der Kinästhetik richtet. Aus dem "Aufbaumodul Demenz 4: Sich im Alltag als wirksam erfahren" stammt das dritte Zitat. Es beleuchtet den Zusammenhang zwischen der lebenslangen Entwicklung der Bewegungskompetenz und der Feedback-Control-Theorie.
Bewegungskompetenz in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat umfasst den Beginn des dritten Kapitels „Bewegungskompetenz – das zentrale Thema“ und zeigt den Text des ersten Unterkapitels „3.1. Was ist Bewegungskompetenz?“.
- „3.1.1. Annäherung an eine Definition
Der Begriff Bewegungskompetenz spielt eine zentrale Rolle in Kinaesthetics. Er wird in diesem Rahmen folgendermaßen verstanden:
- Für Menschen und Tiere ist es überlebenswichtig und eine Grundbedingung des Lebens, ihre Bewegungskompetenz bzw. die individuellen Möglichkeiten der eigenen Bewegung zu entwickeln. Da wir uns selbst im Laufe des Lebens verändern und ebenso unsere Lebensumstände, müssen wir lernen, unsere Bewegung an diese Veränderungen und Prozesse anzupassen, um zu überleben. Unsere Bewegungskompetenz ist somit besonders dann gefordert, wenn sich unsere eigenen Voraussetzungen durch unsere Entwicklung, durch Erkrankung oder Unfall ändern oder wenn wir unter veränderten, neuen und ungewohnten Bedingungen ein Ziel erreichen wollen. In ähnlicher Weise erfordern auch die Interaktionen mit anderen Menschen ständige spontane Anpassungsleistungen und stellen eine besondere Herausforderung an unsere Bewegungskompetenz dar.
- Darum betrachtet Kinaesthetics grundsätzlich die Bewegungskompetenz, d. h. die Gestaltungs- und Anpassungsmöglichkeiten der eigenen Bewegung, aus der Perspektive der Gesundheits- und Persönlichkeitsentwicklung. Die Entwicklung der Bewegungskompetenz ist ein individueller Lern- und Erfahrungsprozess, der die grundlegenden Möglichkeiten und Bedingungen der Bewegung betrifft. Jeder Mensch hat eine erfahrungsbasierte, bewusste oder unbewusste Lerngeschichte bezüglich der eigenen, grundlegenden Bewegungsmöglichkeiten. Dabei geht es um Fragen wie: ‚Wo habe ich welchen Spielraum in meinem Körper? Wie kann ich mit einer angemessenen Anstrengung meine Bewegung in der Schwerkraft kontrollieren? Wie hängt meine Anstrengung mit der Zeit, die ich mir für eine Bewegung nehme, und mit dem Raum, den ich nutze, zusammen?‘
- Die Entwicklung der Bewegungskompetenz geht immer mit der Entwicklung von mehr oder weniger Wahlmöglichkeiten einher. Der Variantenreichtum, mit dem wir unsere Bewegung – bewusst oder unbewusst – in ganz alltäglichen Aktivitäten an die jeweilige Situation anpassen, beeinflusst wesentlich die Entwicklung unserer Bewegungskompetenz und dadurch unsere Gesundheitsentwicklung und Lebensqualität. Konkret zeigt sich also eine hohe Bewegungskompetenz in der individuellen und situativ angepassten Vielfalt an Bewegungsmustern im Alltag und darin, dass diese produktiv weiterentwickelt werden können. Vor diesem Hintergrund grenzt sich der Begriff Bewegungskompetenz von der quantitativen Betrachtung der Bewegungsleistung (z. B. ‚Wie schnell kann ich laufen, wie hoch springen?‘) ab. Desgleichen bemisst sich Bewegungskompetenz nicht daran, ob jemand spezifische motorische Fertigkeiten (z. B. Schreiben, Klavierspielen, Tanzen, Schreinern) lernen kann. Darum kann nach dem Verständnis von Kinaesthetics auch ein Mensch, der aufgrund einer Behinderung weder laufen noch schreiben lernen kann, mit seinen individuellen Voraussetzungen in der selbstständigen oder unterstützten Bewältigung seines Alltags eine sehr hohe Bewegungskompetenz entwickeln.
- Zusammenfassend bezeichnet der Begriff Bewegungskompetenz also die Kompetenz eines Menschen, sein Potenzial an grundlegenden Bewegungsmöglichkeiten bei der Verwirklichung einer persönlichen oder gemeinsamen Absicht im gegebenen Moment entwicklungs- und gesundheitsfördernd ausschöpfen zu können.“
Der Text der zugehörigen Infobox „Der Begriff Kompetenz“:
- „‚Kompetenz‘ wird auch in anderen Bereichen verwendet und unterschiedlich definiert. Im Bildungsbereich kann Kompetenz als die erlernte Fähigkeit zu einem erfolgreichen Verhalten in der konkreten Praxis definiert werden. Hier haben sich die Begriffe Selbstkompetenz oder personale Kompetenz, Sozialkompetenz, Fach- und Methodenkompetenz breit durchgesetzt und sind allgemein gebräuchlich.“
Der Text der zugehörigen Infobox „Die Qualität der Bewegung“:
- „Besonders im Sport werden andere Kriterien angelegt, um die Qualität der Bewegung zu beurteilen. Über die beste Bewegung verfügt, wer am schnellsten 100 Meter laufen kann, am meisten Tore schießt, die schwierigsten Bewegungen sicher und kunstvoll ausführt. Hier geht es meistens um die Bewegungsleistung in sehr spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die intensiv trainiert werden müssen. Kinaesthetics hingegen interessiert sich auf einer ganz grundlegenden Ebene für die Qualität der Bewegung des Menschen.“
- „3.1.2. Bewegungskompetenz als Lernprozess
Bewegungskompetenz ist dem Menschen nicht als feste Größe angeboren, die sich in vorgegebenen Bahnen entwickelt. Jeder Mensch entwickelt seine Bewegungskompetenz individuell, einesteils für sich allein, besonders aber durch seine Interaktionen mit anderen Menschen. Dies wird in den ersten Lebensjahren sehr deutlich, in denen das Kind hauptsächlich durch seine Bewegungsinteraktionen mit den Eltern, Betreuungspersonen und anderen Kindern seine Bewegungsmöglichkeiten entdeckt und seine eigenen Bewegungsmuster entwickelt.
- Die Entwicklung der Bewegungskompetenz ist ein lebenslanger, ununterbrochener Lernprozess, der uns in der Regel nicht bewusst ist. Wie bewusst und wie weit ein einzelner Mensch seine Bewegungskompetenz entwickelt und zu welchen Fertigkeiten er sie nutzt, hängt also mit seiner individuellen Lerngeschichte und der Geschichte seiner Bewegungsentwicklung zusammen. ‚Bewusst“ meint dabei die gezielte Beschäftigung mit der eigenen Bewegung oder eine gelenkte Achtsamkeit, ob sie nun sprachlich reflektiert wird oder nicht (vgl. auch Kapitel 3.4.).
- Eine Grundlage für die Entwicklung der Bewegungskompetenz bildet die individuelle Sensibilität eines Menschen für die Wahrnehmung von Unterschieden in der eigenen Bewegung. Diese Wahrnehmung von Unterschieden wird in Kinaesthetics im Kontext der Steuerung der Bewegung in der Schwerkraft betrachtet. Gemäß der Feedback-Kontroll-Theorie beruht die Bewegungssteuerung auf dem Zusammenspiel des Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystems (vgl. Kapitel 4.3. und 5.5.).
- Alle Prozesse und Aktivitäten des Lebens – vom Herzschlag, der Verdauung, dem Sitzen, dem Gehen bis hin zum Sprechen und Denken – beruhen direkt auf der willkürlich steuerbaren Bewegung oder sind aufs Engste mit ihr verbunden. Darum ist die Entwicklung der Bewegungskompetenz eine grundlegende und unumgehbare Herausforderung des Lebens und steht in einem engen Zusammenhang mit der persönlichen Gesundheitsentwicklung.
- 3.1.3. Komponenten der Bewegungskompetenz
Im Folgenden werden aus der Perspektive der Erfahrbarkeit die Komponenten und Faktoren beschrieben, die im Zusammenspiel die Bewegungskompetenz ausmachen und helfen, sie bewusst zu entwickeln. Auf der Grundlage der Feedback-Kontroll-Theorie (vgl. Kapitel 4.3.) beleuchten die ersten beiden Komponenten dieses Modells die Faktoren der Sensibilisierung der Wahrnehmung und der Entwicklung einer differenzierten Bewegung, die dritte Komponente die Faktoren der Verhaltenssteuerung. Sie werden aus der Ich-Perspektive dargestellt.
- Differenziert wahrnehmen: Die Verfeinerung der Sensibilität meiner Bewegungswahrnehmung
Ich kann Unterschiede, die ich durch die Ausführung oder Variation einer Aktivität selbst erzeuge, durch eine fokussierte Lenkung der Achtsamkeit bewusst wahrnehmen. Ich kann einen solchen Fokus in verschiedenen Aktivitäten über einen immer längeren Zeitraum halten. Andererseits bin ich imstande, den Fokus während einer Aktivität bewusst zu wechseln. Dadurch nehme ich Eigenschaften meiner eigenen Bewegung in einer einzelnen Aktivität unter verschiedenen Blickwinkeln wahr.
- Differenziert variieren: Die Erweiterung meines persönlichen Gestaltungsspielraumes
Ich kann eine Aktivität bewusst gestalten, diese Gestaltung variieren und mich mit ihr sowie den zugrunde liegenden Bewegungsmustern auseinandersetzen. Ich bin in der Lage, Aktivitäten bewusst z. B. schneller oder langsamer, mit mehr oder weniger Anstrengung auszuführen oder die Richtung der Bewegung meiner Körperteile bewusst zu variieren.
- Viabel handeln: Die Entwicklung produktiver Verhaltensmöglichkeiten
Ich kann gleichzeitig eine komplexe Herausforderung des Alltags bewältigen, auf die Qualität meiner eigenen Bewegung achten und dadurch mein Verhalten passend und zum Ziel führend steuern. Ich bin imstande, meine eigene Bewegung bewusst und produktiv an meine individuellen Voraussetzungen, an diejenigen von InteraktionspartnerInnen sowie an die Absicht und den Verlauf der Situation anzupassen. Ich bin in der Lage, die Achtsamkeit auf meine Bewegung im Verlauf einer Situation differenziert zu lenken und so die eigene Bewegung möglichst optimal am Kriterium von Lernen und Entwicklung zu orientieren.“
Der Text der zugehörigen Infobox „Viabel/Viabilität“:
- „Der Philosoph Ernst von Glasersfeld (1917–2010) führte diese Begriffe im Rahmen des von ihm begründeten ‚radikalen Konstruktivismus‘ in die wissenschaftliche Diskussion ein. Sie bezeichnen die Lösung eines Problems, die sich nicht an der Idee der (‚wissenschaftlichen‘) Wahrheit, an der Idee von richtig und falsch orientiert, sondern an der Gang- oder Brauchbarkeit im Kontext der Problemstellung und der verfolgten Absicht – im Wissen, dass es viele gangbare Lösungswege gibt. Glasersfeld braucht das Wort ‚passend‘ (bezüglich Kontext und Absicht) als Synonym von ‚viabel‘.“
Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020): Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 30–33.
Bewegungskompetenz in der Themenbroschüre „Kinästhetik und Frühmobilisation“
Eine Auseinandersetzung mit dem Thema Bewegungskompetenz findet sich in der Themenbroschüre „Kinästhetik und Frühmobilisation“ der European Kinaesthetics Association. Die Broschüre beleuchtet die Bedeutung der Kinästhetik für die Frühmobilisation im Intensiv- und Akutbereich. Sie richtet sich an pflegerische, ärztliche und therapeutische Fachpersonen.
Diese Themenbroschüre ermöglicht es, dass interessierte Personen mit oder ohne Kenntnis der Kinästhetik sich mit der Bedeutung einiger Fachthemen für die Theorie und Praxis der Frühmobilisation vertraut machen können. Insbesondere wird gezeigt, wie die Kinästhetik die herkömmliche Sichtweise erweitert.
Das erste Thema „Die Differenziertheit der Bewegungswahrnehmung und Selbstregulation fördern“ erläutert die Funktionsweise der willkürlichen Bewegung aus kybernetischer Perspektive im Sinn einer fortlaufenden zirkulären Selbstregulation.
Das zweite Thema ist „Unterstützungen als Lernangebote gestalten“. Um diese Anforderung zu untermauern, wird das Fachthema der Bewegungskompetenz aus kinästhetischer Perspektive erläutert und seine Bedeutung für die PatientIn und für die Frühmobilisation aufgezeigt. Vorangestellt wird ein reales Praxisbeispiel.
- „Ein Beispiel aus der Praxis
- Frau F. wird frühmorgens direkt aus der Entbindungs- auf die Intensivstation verlegt. Ihr Sohn ist soeben per Kaiserschnitt auf die Welt gekommen. Dieser musste akut eingeleitet werden, nachdem die Herztöne des Kindes nach vielen Stunden Wehen und dem vergeblichen Versuch, es spontan zu gebären, abrupt schlechter geworden waren. Dem Kleinen gehe es mittlerweile gut, die Mutter allerdings zeigt eine allergische Reaktion auf eines der verabreichten Medikamente, hat einen sehr hohen Blutdruck und soll deshalb auf der Intensivstation überwacht werden. Ich helfe meiner Kollegin, die sie betreut, beim Installieren der Apparaturen.
- Da Frau F. aus Tschechien kommt und erst seit Kurzem hier lebt, ist die sprachliche Verständigung erschwert. Sie hat anscheinend sehr starke Bauchschmerzen, erhält hohen Dosen von Schmerzmedikamenten und stöhnt trotzdem laut. Meine Kollegin bietet ihr an, die Beine mit einem Kissen zu unterstützen, um den Bauch zu entlasten. Frau F. lehnt ab und will offensichtlich ihre Beine aus Angst vor zusätzlichen Schmerzen nicht bewegen.
- Meine Kollegin bittet mich um Unterstützung. Ich lege meine Hände oberhalb des Knies auf das rechte Bein der Patientin und leite sie an, dieses ein klein wenig hin und her zu rollen. Sie erkennt, dass dies ohne zusätzliche Schmerzen möglich ist. Ich unterstütze sie nur leicht dabei, das Rollen etwas zu verstärken und schließlich das Bein zu beugen und aufzustellen. Nun beginnt sie von sich aus, das linke Bein ein wenig zu bewegen, um es dann selbstständig zu beugen und aufzustellen. Ich leite sie an, den Druck ihrer Füße auf die Matratze zu verändern und so das Becken fein vor und zurück zu kippen. Offenkundig bemerkt sie, dass sie dadurch die Spannung in ihrem Bauch und ihre Schmerzen besser regulieren kann. Anschließend unterstütze ich sie dabei, die Beine in eine für sie angenehme Position zu bringen. Als wir wenige Minuten später nach ihr schauen, ist Frau F. eingeschlafen.
- Andrea Wildi Wyss
Dipl. Expertin Intensivpflege, Kinaesthetics-Trainerin
- Andrea Wildi Wyss
- Bewegungskompetenz: Ein lebenslanger, selbstgesteuerter und sozialer Lernprozess
- Kinästhetische Grundlagen
- Kinästhetische Grundlagen
- Ein zentrales Ziel der Kinästhetik ist, jedem Menschen die Entwicklung seiner Bewegungskompetenz zu ermöglichen, welche persönlichen und aktuellen Voraussetzungen er auch immer mitbringt. Dabei geht es um die individuelle Weiterentwicklung der qualitativen Aspekte seines aktuell verfügbaren Bewegungspotenzials. Diese zeigen sich in der Differenziertheit, Vielfalt und Anpassungsfähigkeit der eigenen Bewegung.
- Bewegungskompetenz
– wird als wesentlicher Faktor der Gesundheits- und Persönlichkeitsentwicklung betrachtet.
– beruht auf der Entwicklung der Sensibilität und Differenziertheit der Bewegungswahrnehmung.
– ist ein lebenslanger Entwicklungs- bzw. Lernprozess.
– wird maßgeblich von der Qualität der Alltagsbewegung beeinflusst.
– verändert sich stetig durch die Bewegungsqualität der alltäglichen Aktivitäten in Richtung der Erhaltung, Erweiterung oder Verminderung der eigenen Möglichkeiten. - Die Qualität der Alltagsbewegung hängt eng mit unseren Bewegungsmustern zusammen. In unseren alltäglichen Aktivitäten – wenn wir uns setzen, die Schuhe binden, aufstehen, gehen, sitzen usw. – folgen wir unseren individuellen Bewegungsmustern. Sie erleichtern uns die Bewältigung des Alltags.
- Je mehr wir uns aber in wenigen gleichförmigen und kaum variierten unbewussten Mustern bewegen, desto einseitiger beeinflussen wir unsere muskuloskelettale Entwicklung und andere Lebensprozesse. Dies kann zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen wie Abnutzungserscheinungen oder Rückenbeschwerden führen.
- Desgleichen vermindern wir durch gleichförmige alltägliche Bewegungsmuster unsere Anpassungsfähigkeit. Diese ist dann gefragt, wenn sich unsere körperlichen Voraussetzungen z. B. durch Unfall oder Krankheit verändert haben und wir in der aktuellen Situation unsere gewohnten Bewegungsmuster nicht mehr verwenden können.“
Der Text der zugehörigen Infobox „Wie anders, wenn nicht wie immer?“:
- „Wenn wir nach einer Bauchoperation im Klinikbett liegen und wieder aufstehen dürfen, ist unser gewohntes Bewegungsmuster meistens nicht hilfreich. Wir sind herausgefordert, achtsam eine angemessene Variante zu finden. Vielleicht sind wir davon komplett überfordert. In diesem Fall sind wir auf die Unterstützung einer Person angewiesen, die uns hilft, unsere aktuellen Bewegungsmöglichkeiten auszuloten, und uns kompetent begleitet, sie beim Aufstehen zu nutzen.“
Fortsetzung des Fließtextes:
- „In den ersten Lebensjahren wird die Entwicklung der Bewegungskompetenz eines Kindes wesentlich von den Bewegungsinteraktionen mit seinen Bezugspersonen beeinflusst. Auch in den späteren Lebensjahren spielen soziale Lernprozesse und zwischenmenschliche Interaktionen eine wichtige Rolle für ihre Entwicklung. Insbesondere dann, wenn ein Mensch auf körperliche Unterstützung angewiesen ist, ist es von großer Bedeutung, dass die Unterstützung in seinen alltäglichen Aktivitäten als Lernangebot verstanden wird. Dabei beeinflusst die Qualität der Interaktionen über Berührung und Bewegung maßgeblich die Entwicklung seiner Bewegungskompetenz, Selbstständigkeit und Gesundheit […].
- Bedeutung für die Intensiv- oder AkutpatientIn
- Mit dem Eintritt in eine Intensiv- oder Akutstation beginnt für PatientInnen ein ungewohnter Prozess des Bewegungslernens. Auf der Intensivstation sind sie sehr häufig sediert. Der Körper ‚lernt‘, dass viele Muskeln nur noch wenig gebraucht werden, und fängt an, sie abzubauen. Der Lernprozess beginnt in aller Regel damit, dass die gewohnte alltägliche Bewegung sich stark reduziert und vorerst nicht mehr nutzbar ist. Entsprechend berichten PatientInnen, dass sie das Gefühl hätten, all ihre Bewegungsmöglichkeiten neu entdecken und erlernen zu müssen. Dabei handelt es sich auch um die Bewegungsmöglichkeiten von Körperteilen, die nicht von einer Operation oder Krankheit betroffen sind und eigentlich wie gewohnt bewegt werden könnten.
- Für jeden Menschen bedeutet diese Situation eine Herausforderung an seine Bewegungskompetenz bzw. einen Bewegungslernprozess. Er kann nicht auf seine gewohnten Bewegungsmuster zurückgreifen und muss lernen, seine Bewegung an die aktuelle Situation anzupassen. Dabei ist er auf die kompetente Hilfe von unterstützenden Personen angewiesen, um Schritt für Schritt zu lernen, alltägliche Aktivitäten wieder möglichst selbstständig und passend auszuführen.
- Bedeutung für die Frühmobilisation
- Aus der Sicht der Kinästhetik ist es wichtig, den Aufenthalt der PatientIn auf der Intensiv- oder Akutstation aus der Perspektive des Lernens zu betrachten. Jede Unterstützungssituation ist für die PatientIn ein Lernangebot, das zu mehr oder weniger selbstständigen und eigenaktiven Bewegungsmöglichkeiten führen kann. Um die Entwicklung ihrer Bewegungskompetenz und Gesundheit zu fördern, gilt es, sie von Beginn an in ihrer eigenen Bewegung zu unterstützen.
- Die Umstände tragen dazu bei, dass die PatientIn zu Beginn mit weniger Möglichkeiten konfrontiert ist. Umso mehr ist es wichtig, sie in ihrem Lernprozess so zu unterstützen, dass sie ihre aktuellen Bewegungsmöglichkeiten möglichst eigenaktiv wahrnehmen und erfahren kann. Oft ist es so, dass PatientInnen auf elementarer Ebene Unterstützung benötigen, weil sie in ihrer aktuellen Situation wie von vorn lernen müssen, ihre Körperteile miteinander in Beziehung zu bringen und zu gezielten Aktivitäten zu nutzen.
- In welcher Qualität sie diesbezüglich unterstützt werden, hat einen wesentlichen Einfluss darauf, ob sich ihre Bewegungskompetenz in Richtung von mehr oder weniger Möglichkeiten entwickelt.
- Leitfragen für unterstützende Personen
- Wie kann ich alltägliche Aktivitäten nutzen (z. B. sich zur Seite drehen, die Beine aufstellen, essen), um der PatientIn in angepasstem Maß möglichst eigenaktive Bewegungslernprozesse zu ermöglichen?
- Wie kann ich die PatientIn in alltäglichen Aktivitäten darin unterstützen, ihre Bewegungsmöglichkeiten und den Bewegungsspielraum ihrer Körperteile zu erweitern?
- Wie kann ich die PatientIn so unterstützen, dass meine Art der Unterstützung die eigenaktiven Bewegungsmöglichkeiten der PatientIn nicht einschränkt?
- Das Wichtigste in Kürze
- Aus der Perspektive der Kinästhetik ist es zentral, jede Bewegungsinteraktion mit einer PatientIn als ein Lernangebot in Bezug auf die Entwicklung ihrer Bewegungskompetenz, Selbstständigkeit und Gesundheit zu verstehen und zu gestalten.
- Ziel ist, dass die PatientIn in ihrer aktuellen Situation zu mehr Möglichkeiten gelangt, um ihre eigene Bewegung differenziert und vielfältig an die Herausforderungen unterschiedlicher Aktivitäten anzupassen.
- In Unterstützungssituationen hat die Qualität der Bewegungsinteraktion einen wesentlichen Einfluss darauf, ob die PatientIn zu mehr oder zu weniger selbstständig gestaltbaren Möglichkeiten gelangen kann.“
Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022): Kinästhetik und Frühmobilisation. Themenbroschüre – Für Fachpersonen aus dem pflegerischen, ärztlichen und therapeutischen Bereich. Unter Mitarbeit von Caroline Rüttimann Remund, Andrea Wildi Wyss, Hubert Zimmermann, Stefan Marty-Teuber und des Fachnetzwerks Akutpflege/Intensivpflege (Kinaesthetics Schweiz). Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903350-02-1. S. 13–18.
Bewegungskompetenz und Feedback-Control-Theorie im „Aufbaumodul Demenz 4“
Das folgende Zitat stammt aus dem „Aufbaumodul Demenz 4: Sich im Alltag als wirksam erfahren“[1]. Dieses Aufbaumodul thematisiert die Selbstwirksamkeit als menschliches Grundbedürfnis im Hinblick auf Menschen mit Demenz und deren Pflege und Betreuung.
Die Erfahrung der Selbstwirksamkeit wird dabei in einen engen Zusammenhang mit der lebenslangen Entwicklung der Bewegungskompetenz gebracht. Das nachfolgende Zitat aus der Einführung des Aufbaumoduls Demenz 4 (S. 7) soll dies verdeutlichen:
- „Selbstwirksamkeit und Bewegungskompetenz
- Die Voraussetzung der Selbstwirksamkeit ist die Fähigkeit, die eigene Bewegung zufriedenstellend regulieren zu können. Der Mensch erfährt sich als wirksam, wenn er seine Bewegung erfolgreich an die unterschiedlichsten Herausforderungen seines Alltags anpassen kann. Aus der Sicht der Kinästhetik besteht deshalb ein grundlegender Zusammenhang zwischen der Bewegungskompetenz eines Menschen und seinen Möglichkeiten, wirksam zu werden.
- Im Lauf einer demenziellen Entwicklung werden alltägliche Aktivitäten in zunehmendem Maß zu einer Herausforderung, bis sie vielleicht nicht mehr selbstständig bewältigt werden können. Oft ist diese Entwicklung schleichend, und erst dann, wenn etwas nicht mehr geht, stellt man das Problem fest.
- Aus kinästhetischer Perspektive beeinflusst hauptsächlich die Art und Weise, wie Menschen mit Demenz Tag für Tag ihre alltäglichen Aktivitäten gestalten, die Entwicklung ihrer Bewegungskompetenz und damit ihre Möglichkeiten, sich als wirksam zu erfahren. Zentral ist, dass diese Entwicklung als ein Lernprozess verstanden wird. Wissenschaftlich begründet werden kann dieses Verständnis durch die kybernetische Erklärung der grundsätzlichen Funktionsweise bzw. der Selbstregulation des Menschen durch Rückkoppelung (Feedback).
- Es braucht eine hohe Kompetenz, um eine Person mit Demenz in ihrem Alltag in einer möglichst differenzierten Eigenbewegung zu unterstützen. Bezugspersonen können in Alltagssituationen tagtäglich dazu beitragen, dass die betreffende Person ihre Bewegungsmöglichkeiten erhalten oder an sich verändernde Umstände selbst anpassen kann. Dies wirkt schleichenden Verlusten der Alltagsbewältigung entgegen und fördert die Person darin, sich in ihren alltäglichen Aktivitäten als wirksam und zufrieden zu erfahren.“[2]
Im Aufbaumodul Demenz 4 folgt nach dem ersten Teil „Was heißt wirksam sein?“ [3] und dem zweiten Teil „Selbstwirksamkeit und Anstrengung“[4] der dritte Teil „Bewegungskompetenz als lebenslange Entwicklung“[5], der nachfolgend zitiert wird.
- „Teil 3: Bewegungskompetenz als lebenslange Entwicklung
- Lernen aus kybernetischer Perspektive
- Im allgemeinen Gebrauch wird der Begriff Lernen meistens dann verwendet, wenn wir uns willentlich etwas Neues aneignen möchten. Dieses Neue kann ein neues Wissen, neue Erkenntnisse, Einsichten oder auch eine neu erworbene Fähigkeit oder Fertigkeit sein. Eng verbunden mit dem Begriff Lernen ist der Begriff des Fehlers. Er hat im Alltag eine negative Bedeutung: Es geht beim Lernen darum, alles richtig zu verstehen und zu machen, das heißt, Fehler unbedingt zu vermeiden.
- Im Unterschied dazu ist aus der kybernetischen Perspektive der Fehler bei der Bewegungssteuerung die natürlicherweise notwendige Abweichung von der eigenen Absicht. Wir können unsere Bewegung und damit unser Verhalten nur dadurch steuern, dass wir fortlaufend unsere Abweichungen von unserer Absicht korrigieren. Wie bereits in den anderen Aufbaumodulen thematisiert, geschieht dies in einer nicht wahrnehmbaren, unverzögerten zirkulären Dynamik zwischen Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem.“
Darauf folgend werden mit einem Auszug aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ dieser zirkuläre Rückkoppelungsprozess und die Bedeutung des Fehlers oder der Abweichung veranschaulicht. Dieser Auszug findet sich im KOFL im Artikel „Feedback-Control-Theorie“ im ersten Kapitel. Im Aufbaumodul Demenz 4 setzt das Zitat mit dem dritten Absatz („Die drei wesentlichen Elemente …“) ein. Da dieses Zitat die Grundlage der nachfolgenden Ausführungen bildet, ist die Lektüre vor dem Weiterlesen empfohlen.
Die Fortsetzung des Fließtextes im Aufbaumodul Demenz 4:
- „Lebenslanges Lernen: Man kann nicht nicht lernen
- In jeder noch so gewohnten Aktivität müssen wir unsere Bewegung auf der Grundlage dieser Feedback-Schleifen stets neu „produzieren“. Wir vollziehen die damit verbundenen fortlaufenden Anpassungsleistungen immer im Hier und Jetzt. Unsere Bewegungssteuerung oder mit dem kybernetischen Fachausdruck Regelung/Regulation der Bewegung beruht nicht auf einem vorprogrammierten, sozusagen auf Knopfdruck abrufbaren sich wiederholenden Programm. Es ist vielmehr ein Prozess, bei dem wir fortlaufend die Abweichungen in der Gegenwart kontrollieren und korrigieren. Es handelt sich dabei um einen (meist unbewussten) Lernprozess, weil immer mehrere Möglichkeiten bestehen, sich an eine gegebene Situation anzupassen.
- Unsere fortlaufenden Anpassungsleistungen bilden somit eine ununterbrochene Lernspur. Diese Lernspur wird geprägt von der Art und Weise, wie wir etwas tun. Sie führt zu unseren individuellen Bewegungsmustern. Diese sind zwar in der jeweiligen Situation ähnlich und für uns typisch, aber beruhen immer auf aktuellen Anpassungsleistungen im Hier und Jetzt. Deshalb entwickeln sich unsere Bewegungsmuster im Alltag stets weiter – manchmal bewusst, meistens aber unbewusst.
- Diese ständigen Lernprozesse führen dazu, dass wir unsere Muster verfestigen, einschränken oder erweitern. Das heißt, dass der Lernprozess in jeder Situation in Richtung von mehr oder weniger Bewegungsmöglichkeiten fortschreiten kann. In diesem Sinne ist jedes Tun immer gleichzeitig mit Lernen verbunden, oder kurz ausgedrückt: Man kann nicht nicht lernen.
- Bewegungskompetenz ist ein fortlaufender Prozess
- Alltägliche Aktivitäten und Entwicklung von mehr oder weniger Möglichkeiten
Die Tatsache, dass der Mensch seine Bewegung sein ganzes Leben lang in einem ständigen Lernprozess weiterentwickelt, gilt unabhängig davon, wie alt oder jung, wie gesund oder krank er ist. In diesem Sinn wird in der Kinästhetik von der lebenslangen Entwicklung der Bewegungskompetenz gesprochen. - Oft werden bei der Beschreibung der Bewegungsfähigkeiten oder der Fähigkeit, selbstständig wirksam zu sein, die Aktivitäten benannt, die eine Person ausführen kann: „Sie kann sich im Bett allein aufsetzen, sie kann selbstständig stehen, gehen oder Treppen steigen, sie kann sich selbst waschen, essen und trinken oder sich anziehen“ usw.
- Im Unterschied dazu fokussiert der Begriff Bewegungskompetenz einerseits die Qualität, in der die betreffende Person diese Aktivitäten im Moment ausführen kann. Andererseits interessieren die Entwicklung dieser Qualität der ständigen Anpassungsleistungen bzw. die damit verbundenen Lernprozesse.
- Zum Beispiel umfasst die Fähigkeit, gehen zu können, ein großes Spektrum von konkreten Ausprägungen. Es reicht von der sicheren Fortbewegung in schwierigem Gelände bis zum unsicheren Schlurfen mit einem Rollator. Für beides sind die Qualität und Differenziertheit der fortlaufenden Anpassungsleistungen auf der Grundlage zirkulärer Rückkoppelungsprozesse ausschlaggebend. Einerseits kann jeder Mensch lernen, seine Anpassungsmöglichkeiten zu verfeinern sowie differenzierter sein Gleichgewicht zu kontrollieren und seine Muskelspannung zu regulieren. Dadurch kann er fähig werden, sich sicher fortzubewegen.
- Andererseits kann die Art und Weise seiner Anpassungsleistungen im Gehen über die Zeit auch dazu führen, dass er seine Möglichkeiten einschränkt und dadurch immer gefährdeter wird, zu stürzen.
- Der lebenslange Entwicklungsprozess der Bewegungskompetenz führt somit immer entweder in Richtung von mehr oder in Richtung von weniger Differenziertheit und Vielfalt der Bewegungsmöglichkeiten.
- Grundlegende Aspekte der Bewegungskompetenz
Deshalb stellt sich aus der Perspektive der Bewegungskompetenz bei der Beschreibung der Bewegungsfähigkeiten oder der Fähigkeit, selbstständig wirksam zu sein, die Frage: Wie differenziert und vielfältig kann eine Person ihre Bewegung fortlaufend an die aktuelle Situation anpassen und dadurch ihre Bewegungskompetenz in Richtung von mehr Möglichkeiten entwickeln? - Mithilfe der Blickwinkel, die aus dem Konzeptsystem der Kinästhetik abgeleitet werden, können Aspekte der Bewegungskompetenz konkretisiert werden. Wir können diese Aspekte mit unserem kinästhetischen Sinnessystem wahrnehmen und erfahren, in Unterstützungssituationen auf sie achten oder auch für Beobachtungsfragen aus der Außenperspektive nutzen. Jeder Mensch entwickelt diese Aspekte in Bezug auf Differenziertheit und Vielfältigkeit ein Leben lang weiter.
- Diese Aspekte sind für die Bewegungskompetenz insofern grundlegend, weil sie jeder alltäglichen Aktivität zugrunde liegen und in jeder alltäglichen Aktivität weiterentwickelt werden. Um spezifische Aspekte der Bewegungskompetenz einer Person zu beschreiben, stellt sich immer die Frage, wie differenziert und vielfältig die entsprechende grundlegende Kompetenz ausgeprägt ist.
- In der Auflistung auf der folgenden Seite werden Beispiele von wahrnehmbaren und beobachtbaren Aspekten der Bewegungskompetenz angeführt. Sie greifen auf die Konzepte und Unterthemen des Konzeptsystems zurück und werden durch die zugehörigen Beobachtungsfragen erläutert.
- Wahrnehmbare und beobachtbare Aspekte der Bewegungskompetenz:
- Druck- und Spannungsveränderungen wahrnehmen
Beobachtungsfrage: Wie differenziert kann die Person ihre Druck- und Spannungsveränderungen wahrnehmen?
- Druck- und Spannungsveränderungen wahrnehmen
- Die Bewegungsgeschwindigkeit fortlaufend anpassen
Beobachtungsfrage: Wie differenziert passt die Person ihre Bewegungsgeschwindigkeit fortlaufend an?
- Die Bewegungsgeschwindigkeit fortlaufend anpassen
- Die inneren Bewegungsspielräume nutzen
Beobachtungsfrage: Wie differenziert und vielfältig nutzt die Person ihre inneren Bewegungsspielräume? - Die Muskelspannung fortlaufend anpassen
Beobachtungsfrage: Wie differenziert passt die Person ihre Muskelspannung fortlaufend an?
- Die inneren Bewegungsspielräume nutzen
- Das Zusammenspiel von Zeit, Raum und Anstrengung fortlaufend anpassen
Beobachtungsfrage: Wie differenziert und vielfältig passt die Person das Zusammenspiel von Zeit, Raum und Anstrengung fortlaufend an?
- Das Zusammenspiel von Zeit, Raum und Anstrengung fortlaufend anpassen
- Das Zusammenspiel von Knochen und Muskeln gestalten
Beobachtungsfrage: Wie differenziert und vielfältig verlagert die Person ihr Gewicht über ihre Knochenstrukturen?
- Das Zusammenspiel von Knochen und Muskeln gestalten
- Die Gewichtsverlagerungen der einzelnen Massen gestalten
Beobachtungsfragen:- Wie differenziert und vielfältig gestaltet die Person das Führen und Folgen zwischen ihren Massen?
- Wie differenziert und vielfältig nutzt die Person ihre Arme, um das Gewicht ihres Brustkorbes in unterschiedliche Richtungen zu verlagern?
- Wie differenziert und vielfältig nutzt die Person ihre Beine, um das Gewicht ihres Beckens in unterschiedliche Richtungen zu verlagern?
- Wie differenziert und vielfältig nutzt die Person ihre Vorder- und Rückseiten für die Gewichtsorganisation?
- Die Gewichtsverlagerungen der einzelnen Massen gestalten
- Das Zusammenspiel von Haltungs- und Transportbewegung gestalten
Beobachtungsfrage: Wie differenziert und vielfältig nutzt die Person ihre Möglichkeiten der Haltungs- und Transportbewegung?
- Das Zusammenspiel von Haltungs- und Transportbewegung gestalten
- Das Zusammenspiel von Ziehen und Drücken zwischen den Körperteilen gestalten
Beobachtungsfrage: Wie differenziert und vielfältig gestaltet die Person das Zusammenspiel von Ziehen und Drücken zwischen ihren Körperteilen?“
- Das Zusammenspiel von Ziehen und Drücken zwischen den Körperteilen gestalten
Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) : Aufbaumodul Demenz 4: Sich im Alltag als wirksam erfahren. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-49-9.
Einzelnachweise
- ↑ European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) : Aufbaumodul Demenz 4: Sich im Alltag als wirksam erfahren. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-49-9.
- ↑ ebd., S. 7.
- ↑ ebd., S. 12 ff.
- ↑ ebd., S. 20 ff.
- ↑ ebd., S. 28 ff.