Kinästhetik/Kinaesthetics (Geschichte)
| Status | mit Fachliteratur angelegter Artikel |
| AutorIn/RedakteurIn | N. N./Michaela Jelinek |
| Letzte Änderung | 12.12.2025 |
Zusammenfassung:
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Geschichte der Kinästhetik. Das erste Zitat ist das Informationsblatt 4 der European Kinaesthetics Association (EKA). Bemerkenswert ist, dass die Entwicklung von einem Tanz- und Bewegungsprogramm hin zu einer Bildungsorganisation, die hauptsächlich im Gesundheitswesen verankert ist, führte. Das zweite Zitat ist eine frühe Darstellung der Entstehung der Kinästhetik aus dem 16. Kinästhetik-Bulletin von 1990.
Kinästhetik/Kinaesthetics: Die Geschichte im Informationsblatt 4 der EKA
Ein Satz von vier Informationsblättern der EKA widmet sich den Themen „Was ist Kinästhetik?“, Bildungsweg, Netzwerk und Geschichte. Sie richten sich an die interessierte Öffentlichkeit und werden zu verschiedenen Zwecken verwendet. Sie wurden mehrfach überarbeitet; nachfolgend wird das aktuelle, im Jahr 2022 überarbeitete Informationsblatt 4 zur Geschichte zitiert.
- „Kinaesthetics/Kinästhetik:
Die Geschichte - Die Anfänge
Der Begriff Kinaesthetics wurde vom Amerikaner Frank Hatch (*1940) als Kunstwort zu Beginn der 1970er-Jahre geschaffen, um seine akademischen Programme zu Bewegung und Tanz zu bezeichnen. Hatch hatte eine Tanzausbildung absolviert und beim Verhaltenskybernetiker K. U. Smith (1907–1994) studiert und promoviert. Er teilte sein Interesse für bewegungsbasierte Entwicklungsprozesse mit seiner späteren Lebensgefährtin Lenny Maietta (1950–2018). Sie hatte in klinischer Psychologie promoviert und wurde von der humanistischen Psychologie beeinflusst.
- In der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre boten sie zusammen mit John Graham (1931–2012) Workshops in der Schweiz und in Deutschland an. Unter der Bezeichnung ‚Gentle Dance‘ beschäftigten sie sich mit geschmeidiger und entspannter Bewegung und Tanz. Später kam die Bezeichnung ‚Kinaesthetics‘ hinzu, mit der diese Inhalte in einem breiteren Sinn gefasst werden sollten. Ab 1978 wurden konkrete Ausbildungsprogramme unter dieser Bezeichnung angeboten.
- Auf dem Weg zum Fachgebiet
Im Jahr 1980 wurde in Zürich der ‚Verein für Kinästhetik‘ gegründet mit der Absicht, alle interessierten Personen zu verbinden und eine Vereinszeitschrift zu publizieren. Diese erschien unter der Bezeichnung ‚Kinästhetik Bulletin‘ bis zum Jahr 1996 ein- bis zweimal jährlich. Im Vereinsvorstand befanden sich Personen verschiedener Berufsgruppen sowie Hatch, Maietta und Graham. Deren Workshops und Ausbildungen stießen im Lauf der 1980er-Jahre auf immer mehr Interesse, wobei sich Hatch und Maietta stärker mit Kinaesthetics und Graham mit Gentle Dance identifizierten. Letzterer zog sich um 1990 von der Kinaesthetics-Bewegung zurück.
- In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre waren zwei Entwicklungen von Bedeutung: Einerseits interessierten sich vornehmlich Fachpersonen des Gesundheits- und Sozialwesens für die Bildungsangebote. Entsprechend wurden – unterdessen auch in Österreich und Italien – verstärkt Schulungen im Bereich der Pflege und namentlich der Kleinkinderpflege, der Physiotherapie oder der Sonderpädagogik angeboten. Andererseits wurde von den Interessierten vermehrt bemängelt, dass eine zusammenhängende und umfassende schriftliche Darstellung der Kinästhetik fehle.
- Vor diesem Hintergrund ging der Verein für Kinästhetik die Publikation einer Sonderausgabe des Bulletins an. Ziel war, den Werdegang sowie die zentralen Inhalte und Anwendungsbereiche der Kinästhetik zum ersten Mal vollständig darzustellen.
- Die ersten umfassenden Beschreibungen
Die Sonderausgabe ‚Kinästhetik 16. Bulletin‘[1] von Januar 1990 markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der Kinästhetik. Für das Gemeinschaftswerk zeichnen neben Hatch und Maietta dreizehn Fachleute aus Sozial- und Gesundheitsberufen aus der Schweiz und aus Deutschland verantwortlich. Thematisiert werden einleitend der Hintergrund, das Lehrmodell und die Methoden der Kinästhetik. Die Schwerpunkte der gut 60-seitigen Publikation bilden die ‚Grundprinzipien‘ – die Vorläufer der späteren Konzepte – und Anwendungen der Kinästhetik. Die Anwendungsbeispiele von einzelnen AutorInnen umfassen u. a. Rehabilitation (Physio- und Ergotherapie), Sonderpädagogik, Krankenpflege, Eltern-Baby-Beziehung, Gesundheitsförderung oder Ausdruckskunst (Tanz, Theater, Spiel).
- Im Jahr 1992 folgte die erste Veröffentlichung eines Fachbuchs mit dem Titel ‚Kinästhetik – Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Krankenpflege‘[2]. AutorInnen waren Hatch, Maietta und Suzanne Schmidt; Ina Citron, die von 1990 bis 1994 Redakteurin des ‚Kinästhetik Bulletins‘ war, zeichnete für die Übersetzungen verantwortlich.
- Das gut 190-seitige Werk mit einem Vorwort der Pflegepionierin Sr. Liliane Juchli beschränkt sich auf den Anwendungsbereich der Pflege. In der vierten Auflage von 1996 werden in sechs Kapiteln als ‚Prinzipien‘ die späteren Konzepte in ihrer aktuellen Reihenfolge bzw. alle Unterthemen dargestellt.
- Die Beschreibungen unterscheiden sich von der heutigen Sichtweise teilweise stark, teilweise aber nicht wesentlich. In einem zweiten Teil werden Anwendungsmöglichkeiten in der Pflege, Kinästhetik-Transfers u. a. im Hinblick auf die Gesundheitsentwicklung der PatientInnen und Pflegenden beschrieben. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde die Kinästhetik deshalb oft auf eine Transfertechnik und Anleitung zum rückenschonenden Arbeiten in der Pflege reduziert.
- Im Jahr 1992 gründeten Hatch und Maietta das ‚Institute for Kinaesthetics‘ (IfK) in Santa Fe und verwendeten fortan die Bezeichnung ‚Kinaesthetics‘ für ihre Projekte. Im Jahr 1994 folgte eine Niederlassung des Instituts in Aarau (CH) in Form einer Aktiengesellschaft, deren Geschäftsführerin bis 1998 Heidi Bauder war. Diese Entwicklung führte zu Diskussionen über den Sinn und Zweck des ‚Vereins für Kinästhetik‘. In den folgenden Jahren schränkte er seine Aktivitäten zunehmend ein und löste sich 1998 schließlich auf.
- Die Entwicklung der Bildungsorganisation
In den 1990er-Jahren entwickelte sich Kinaesthetics zu einer Bildungsorganisation mit einem breiten Angebot. Gegen Ende des Jahrzehnts wurden Grund- und Aufbaukurse in Programmen für die Pflege, Intensivpflege, Kinderpflege und Kinder überhaupt (Infant Handling), Rehabilitation, pflegende Angehörige und kreatives Lernen angeboten. Diesen Kursen für AnwenderInnen entsprach ein zweistufiges Ausbildungssystem für Grundkurs- bzw. Aufbaukurs-TrainerInnen. Einen zentralen inhaltlichen Kern bildeten die kinästhetischen Grundprinzipien, die ungefähr ab 1998 Konzepte genannt wurden.
- Im Jahr 1999 veröffentlichten Hatch und Maietta das Pflegefachbuch ‚Kinästhetik – Gesundheitsentwicklung und Menschliche Funktionen‘[3]. In dieser Zeit wurden die ersten großen Schulungsprojekte in Kliniken, Pflege- und Behindertenheimen durchgeführt. Sie zeigten auf, dass die Kinästhetik auch auf der institutionellen Ebene zur Qualitätsentwicklung beitragen kann.
- Mit dem Wachstum der Bildungsorganisation ging die curriculare und methodisch-didaktische Entwicklung der Bildungsangebote einher. Sie wurde intensiviert, als die Geschäfte der sanierungsbedürftigen IfK AG im Jahr 2002 dem European Institute for Human Development (EIHD) GmbH übergeben wurden. Inhaltliche Schwerpunkte waren Themen wie die Curricula, die Lehrmittel oder die Didaktik und Methodik. Zudem wurde fast ein Dutzend Kinaesthetics-AusbilderInnen ausgebildet. Dadurch konnte die steigende Nachfrage nach TrainerInnen-Ausbildungen abgedeckt werden. Ein Meilenstein war die Veröffentlichung des Buches ‚Kinaesthetics Infant Handling‘ von Maietta und Hatch im Jahr 2004.[4]
- Das Netzwerk der European Kinaesthetics Association (EKA)
Im Jahr 2005 entstanden auf der Führungsebene des EIHD unüberbrückbare Differenzen. Um einen drohenden Zusammenbruch des gesamten Systems zu verhindern, schloss sich ein Großteil der TrainerInnen in den einzelnen Ländern zusammen und baute eigenständige Berufsverbände auf. Diese Länderorganisationen gründeten unter der Bezeichnung European Kinaesthetics Association (EKA) eine Rahmenorganisation in Form eines paritätisch geführten Netzwerks. Sogenannte Ressourcenpools erfüllen im Auftrag der EKA übergreifende Aufgaben. In ihrem Rahmen werden Lehrmittel bzw. Programme betreut und neu entwickelt, Online-Plattformen ausgearbeitet, neue AusbilderInnen ausgebildet oder auch wissenschaftliche und curriculare Grundlagen aufbereitet.
- Im Jahr 2006 veröffentlichte Maren Asmussen das ‚Praxisbuch Kinaesthetics‘[5]. Seit 2007 erscheint regelmäßig die Fachzeitschrift ‚lebensqualität/LQ‘. Im Lehrmittelverlag der EKA wurde im Jahr 2010 das Buch ‚Lernen und Bewegungskompetenz‘[6] zum ersten Mal aufgelegt, zwei Jahre später das Buch ‚Wissenschaftliche Grundlagen – Kybernetik‘, das seit seiner Überarbeitung im Jahr 2017 den Titel ‚Kinästhetik und Kybernetik‘[7] trägt.“
Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022): Kinaesthetics/Kinästhetik: Die Geschichte. Informationsblatt 4. Seeham, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. Ohne ISBN.
Kinästhetik/Kinaesthetics: Die Geschichte im 16. Bulletin von 1990
Das oben im Informationsblatt 4 der EKA dargestellte 16. Kinästhetik-Bulletin von 1990 fasst frühe zentrale Überlegungen und Modelle der Kinästhetik zusammen und gibt einen prägnanten Einblick in die damalige theoretische Entwicklung. Das folgende Zitat stammt aus dieser Sonderausgabe und behandelt die Entstehung:
- „Entstehung
- Im Jahre 1976 begannen Lenny Maietta, John Graham und Frank Hatch in der Schweiz und in Deutschland Workshops unter dem Titel ‚Gentle Dance‘ zu leiten. Mit diesem Namen wollte Frank seine und Johns tänzerische Herkunft andeuten und auf die entspannte Qualität von Bewegung hinweisen, die in jenen Workshops unterrichtet wurde. Als die Nachfrage nach diesen Kursen grösser wurde, suchten Frank und Lenny eine Bezeichnung, die den Inhalt genauer umschrieb. So kam der Name ‚Kinaesthetics‘ dazu.
- ‚Gentle Dance‘ sollte weiterhin den Tanz bezeichnen, der jeweils eine Unterrichtsphase von strukturierter Bewegungserforschung integrierte, während ‚Kinaesthetics‘ die Arbeit in einem umfassenderen Sinne beschrieb.
- 1973 trug ein Kurs von Frank an der California state University in Fullerton zum ersten Mal den Titel ‚Kinaesthetics‘. Dem Kurs lagen verschiedene Arbeiten von Matthias Alexander, Moshé Feldenkrais und Mabel Todd zugrunde, Unterrichtsthema war die menschliche Bewegung und Haltung. Der Kurs fand bei vielen Studenten, auch ausserhalb der Tanzfakultät, grossen Anklang. Frank prägte das Wort als Kombination von ‚kinetic‘ (den Bewegungssinn betreffend) ‚aesthetic‘ (ästhetisch, durch die Sinne wahrgenommen). Der Begriff soll aussagen, dass jede unserer Handlungen auf dem Erlebnis und der Wahrnehmung der eigenen Bewegung beruht.
- 1980 wurde in Zürich, Schweiz, der ‚Verein für Kinästhetik‘ gegründet. Bei der Erarbeitung des ersten Bulletins stellte sich heraus, dass das Wort ‚Kinästhetik‘ in der deutschen Sprache bereits existierte. Es bedeutet die ‚Lehre von der Bewegungswahrnehmung’ und entspricht genau dem eben kreierten englischen Wort ‚Kinaesthetics‘.“
Quelle:Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990): Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. S. 5.
Weiterführende Literatur und Medien
- Maietta, Lenny; Hatch, Frank; Bauder, Heidi (1996): Kinästhetik in der Pflege. Grundkurs-Arbeitsbuch. Zeichnungen: Ansgar Schürenberg. Aarau: Institut für Kinästhetik IfK AG. Ohne ISBN. S. 57 ff.
Von geschichtlichem Interesse ist, dass dort unter der Überschrift „Curriculum der Kinästhetik“ ab den Jahren 1972–1973 einzelne Jahre und Meilensteine der Entwicklung der Kinästhetik aufgelistet werden. - Zwyssig, Philipp (2010): Verein für Kinästhetik – Die Geschichte 1980–1998. Siebnen: Stiftung Lebensqualität. Ohne ISBN.
- Wikipedia (2025): Kinästhetik (Zugriff 12.12.2025). https://de.wikipedia.org/wiki/Kinästhetik
- Resch-Kröll, Ulrike (Hg) (2024): Die Erfindung der Kinästhetik. Movement for a better world. Wien: NWV/Verlag Österreich. ISBN 978-3-7083-4207-8.
Vergleiche auch
- Kinästhetik (Begriff)
- Suzanne Schmidt (*1943)
- „1992 – die öffentliche Geburtsstunde der Kinästhetik in der Pflege“
Einzelnachweise
- ↑ Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990): Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN.
- ↑ Hatch, Frank; Maietta, Lenny; Schmidt, Suzanne (1996): Kinästhetik. Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Pflege. Übersetzung: Ina Citron. 4. Auflage. Eschborn: Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe. ISBN 3-927944-02-5. 1. Auflage: 1992
- ↑ Hatch, Frank; Maietta, Lenny (1999): Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und Menschliche Funktionen. Übersetzung: Ute Villwock. Wiesbaden: Ullstein Medical. ISBN 3-86126-637-7.
- ↑ Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2025): Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 3., überarbeitete Auflage. Bern: Hogrefe AG. ISBN 978-3-456-86290-3. 1. Auflage: 2004
- ↑ Asmussen-Clausen, Maren (2009): Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. 1. Auflage: 2006.
- ↑ European Kinaesthetics Association (Hg.) (2025): Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. 1. Auflage: 2010
- ↑ European Kinaesthetics Association (Hg.) (2025): Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). 1. Auflage: 2012 („Kinaesthetics. Wissenschaftliche Grundlagen. Teil 1: Kybernetik“)