Hierarchie der Kompetenzen

Aus Kinaesthetics-Online-Fachlexikon
Status mit Fachliteratur angelegt
AutorIn/RedakteurIn N. N./Stefan Marty-Teuber
Letzte Änderung 11.03.2024


Zusammenfassung:
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus Zitaten zum Thema Hierarchie der Kompetenzen. Die Hierarchie der Kompetenzen ist ein Kinaesthetics-Modell, dass sich aus der direkten Interaktion mit bewegungseingeschränkten Menschen entwickelt hat. Die jahrelange Beobachtung unterschiedlichster Entwicklungsprozesse und die methodische Zusammenführung dieser Erfahrungen hat Muster zutage gefördert, die in diesem Modell zusammengefasst und vereinfacht dargestellt wurden. In der Zeitschrift „lebensqualität/LQ" taucht der Begriff ab 2010 in unterschiedlichen Zusammenhängen vermehrt auf.

1 Die Hierarchie der Kompetenzen in den Peer-Tutoring-Arbeitsunterlagen

Ein längerer Text zur Hierarchie der Kompetenzen findet sich in den Peer-Tutoring-Arbeitsunterlagen (Auflage 2020) des Verlags European Kinaesthetics Association. Er soll hier eine Diskussionsgrundlage bieten. Der Text ist im Rahmen eines Grundlagenprojekts der EKA überarbeitet, aber noch nicht breit diskutiert worden. Er findet sich im Kapitel „Lernumgebung gestalten mit KlientInnen“ auf den Seiten 43 bis 44. Voraus geht das Thema „Lernen statt Behandeln“. Der Text trägt die Überschrift „Die Hierarchie der Kompetenzen“. Das gleichnamige Dokumentationswerkzeug können Kinaesthetics-TrainerInnen auf der TrainerInnen-Plattform im Download von KinMedia unter „Dokumentationswerkzeuge“ einsehen.

„Die ‚Hierarchie der Kompetenzen‘ ist ein Kinaesthetics-Modell, das Ihnen hilft, gegenüber einem anderen Menschen (oder auch gegenüber Ihnen selbst) die Entwicklungsperspektive einzunehmen. Es geht vom Modell der sieben Grundpositionen bzw. von den Kompetenzen aus, die in diesen und in den Positionswechseln zwischen diesen erforderlich sind. Es führt hierarchisch oder stufenartig von der Rückenlage bis ins Stehen. Die Hierarchie beruht darauf, dass die Organisation und Kontrolle des Gewichtes der Körperteile in der Schwerkraft immer anspruchsvoller werden. Dabei geht das Modell von folgenden Hypothesen aus:
• Die Kompetenzen, die in einer Grundposition in Bezug auf die Organisation und Kontrolle des Gewichtes der Körperteile in der Schwerkraft erforderlich sind, bilden die Grundlage oder Voraussetzung für die entsprechenden Kompetenzen, die der Positionswechsel in die nächsthöhere Grundposition erfordert.
• Die Kompetenzen, die bei einem Positionswechsel in Bezug auf die Organisation und Kontrolle des Gewichtes der Körperteile in der Schwerkraft erforderlich sind, bilden die Grundlage oder Voraussetzung für die entsprechenden Kompetenzen, die die nächsthöhere Grundposition erfordert.
Aufbauend auf diesem Modell, ist das Dokumentationswerkzeug ‚Hierarchie der Kompetenzen‘ folgendermaßen angelegt [...]:
• Die linke Spalte des Dokumentationswerkzeuges zeigt die sieben Grundpositionen.
• In den je dazugehörigen Zeilen können die Kompetenzen in der jeweiligen Grundposition, die Kompetenzen bei der gehenden Fortbewegung und im Positionswechsel zur nächsthöheren Grundposition beschrieben werden.
Als Fokus zur Beobachtung und Beschreibung der Kompetenzen dienen die Kinaesthetics-Konzeptblickwinkel. Durch seine Anlage erlaubt dieses Instrument eine sehr differenzierte Untersuchung und Dokumentation der Entwicklung der einzelnen Kompetenzen eines Menschen und seiner Bewegungskompetenz im Ganzen.
Inhaltlich hat das Modell der ‚Hierarchie der Kompetenzen‘ einen Zusammenhang mit der Beobachtung, dass die Entwicklung der Bewegungskompetenz beim neugeborenen Kind ‚stufenartig‘ vom Liegen übers Sitzen bis zum Stehen und aufrechten Gehen verläuft. Wenn ein Kind z. B. erst seit Kurzem sitzen ‚kann‘, braucht es dabei viele Kompetenzen, die es in den tieferen Grundpositionen, d. h. in der Rücken- und Bauchlage, und im Wechsel zwischen diesen gelernt hat. Dabei lässt sich feststellen, dass bestimmte Lernthemen oder Grundkompetenzen in tieferen Grundpositionen ebenso aktuell und erforderlich sind wie in höheren. Zu diesen Lernthemen gehören z. B. das Zusammenspiel von Ziehen und Drücken im Körper, die Art und Weise, wie das Kind in einer Grundposition sein Körpergewicht auf eine Unterstützungsfläche abgibt oder wie es das Gewicht der Massen in unterschiedliche Richtungen verlagert.
Möglicherweise hat das Kind auf dem Weg ins Sitzen auch gelernt, sich ‚gehend‘ in der Bauchlage fortzubewegen. ‚Gehen‘ ist ja in allen Grundpositionen möglich, und die Kompetenz, Schritte machen zu können, wird nicht einzig und allein beim aufrechten Gehen gelernt. Natürlicherweise verläuft die Entwicklung so, dass Kinder solche Grundkompetenzen in den tieferen Grundpositionen und Positionswechseln lernen. Diese Lernprozesse bilden die Grundlage oder Voraussetzung für die Kontrolle und Koordination der Bewegung in höheren Positionen.
Die Hierarchie solcher Lernprozesse ist bei kleinen Kindern gut beobachtbar, ist jedoch in jedem Alter von großer Bedeutung. Je höher eine Position ist, desto anspruchsvoller wird die Gewichtsorganisation. Das heißt, je mehr Massen ihr Gewicht nicht selbst, sondern über eine andere Masse abgeben, desto anspruchsvoller wird es, das Gewicht so zu kontrollieren, dass man nicht das Gleichgewicht verliert und stürzt.
Oft ist beobachtbar, dass es älteren Menschen leichter fällt, auf zwei Beinen zu gehen als sich in tieferen Grundpositionen gehend fortzubewegen. Dies ist vor allem deshalb der Fall, weil sie Letzteres im Alltag nur noch selten tun und es dadurch verlernt haben. Dadurch geht ihnen das Fundament der Kompetenzen in den tieferen Grundpositionen und Positionswechseln teilweise verloren. Dies führt in der Regel dazu, dass sie immer unsicherer aufrecht gehen und das Risiko von Sturz und Verletzung zunimmt.
Die Betrachtungsweise des Modells bzw. eine Analyse mit dem Dokumentationswerkzeug kann helfen, ein Unterstützungsangebot sehr präzise an den aktuellen Stand der Bewegungskompetenz eines anderen Menschen anzupassen. Dies erlaubt, mit ihm in tieferen und einfacher kontrollierbaren Grundpositionen an Grundkompetenzen zu arbeiten, die er in höheren und somit anspruchsvolleren Positionen nutzen kann. Ebenso ermöglicht das Modell bzw. das Dokumentationswerkzeug, Lernthemen zu erkennen, die sich wie ein roter Faden durch die Positionen oder Positionswechsel hindurchziehen.
Die folgenden Beispiele aus der Praxis von Pflege und Betreuung sollen dies verdeutlichen:
• Wenn z. B. die Eltern eines Kleinkindes mit Behinderung möchten, dass es sitzen lernt, wird man aus der Perspektive der ‚Hierarchie der Kompetenzen‘ das Kind nicht einfach im Sitzen selbst unterstützen, sondern zuerst darauf achten, wie es mit den Anforderungen zurechtkommt, welche die tieferen Grundpositionen und die Positionswechsel auf dem Weg ins Sitzen stellen. Man wird es darin unterstützen, die dabei erforderlichen Kompetenzen immer differenzierter und vielfältiger zu entwickeln, um sie schließlich im Sitzen selbst anzuwenden.
• Wenn ältere Menschen darüber klagen, dass sie zwar gerade noch stehen und gehen, aber z. B. nach einem Sturz nicht mehr allein vom Boden aufstehen können, befinden sie sich in einer Situation, die für die Erhaltung ihrer Selbstständigkeit kritisch ist. Deshalb ist es wichtig, sie in ihren Bewegungsmöglichkeiten in den tieferen Grundpositionen und in den Positionswechseln von der Rückenlage zum Stehen zu unterstützen.
In der Pflege stellt jede Mobilisation einer KlientIn einen Lern- oder Entwicklungsprozess für sie dar. Selbstverständlich kann auch hier mithilfe der Betrachtungsweise der ‚Hierarchie der Kompetenzen‘ differenziert auf den Entwicklungsstand der Bewegungskompetenz geachtet und die angestrebte Mobilität angepasst und stufenweise in den tieferen Grundpositionen und Positionswechseln erarbeitet werden.
Wie gelangen Sie zu den Beschreibungen in den einzelnen Feldern des Dokumentationswerkzeuges [...] – Kommen Sie mit dem anderen Menschen in Bewegung!
Die fokussierte Bewegungsinteraktion mit dem anderen Menschen in unterschiedlichen Interaktionsformen ist das unmittelbarste und ergiebigste Mittel, um etwas über seine Bewegungskompetenz in Erfahrung zu bringen, sie zu beschreiben und das Unterstützungsangebot anzupassen. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass es nicht um die ‚objektive‘ Bewertung eines Menschen geht, sondern um eine Einschätzung, die auf Ihrer differenzierten Innen- und Bewegungsperspektive beruht. Nutzen Sie dazu die Kinaesthetics-Konzeptblickwinkel.“

2 Die Hierarchie der Kompetenzen in der Themenbroschüre „Kinästhetik und Frühmobilisation“

2.1 Ausführungen zum Modell und seiner Bedeutung

Eine Auseinandersetzung mit der Hierarchie der Kompetenzen findet sich in der Themenbroschüre „Kinästhetik und Frühmobilisation“ der European Kinaesthetics Association. Die Broschüre beleuchtet die Bedeutung der Kinästhetik für die Frühmobilisation im Intensiv- und Akutbereich. Sie richtet sich an pflegerische, ärztliche und therapeutische Fachpersonen. In Thema 3 „Grundlegende Kompetenzen in tiefen Positionen und Positionswechseln fördern“ wird auf das Modell und seine Bedeutung für die PatientIn und für frühe Mobilisationsangebote eingegangen. Vorangestellt wird ein reales Praxisbeispiel.

„Ein Beispiel aus der Praxis
Im Herbst des Jahres 2021 lag ich mit hohem Fieber eine Woche zu Hause. Aufgrund zweier negativer Tests wurde eine Covid-Erkrankung ausgeschlossen. Weil sich mein Zustand verschlechterte, brachte mich mein Mann in die Notaufnahme des Krankenhauses, in dem ich arbeite. Nach kurzer Zeit und einem positiven Covid- Test wurde ich auf die Intensivstation verlegt und intubiert.
An die anschließenden vier Tage kann ich mich nicht erinnern. Meine erste Wahrnehmung, an die ich mich erinnere, sind Schmerzen im Nacken und Kiefer, und dass sich mein Körper wie Blei anfühlte. Nur mit größter Anstrengung konnte ich meinen Kopf und meine Arme ein wenig hin und her rollen. Als meine KollegInnen meine Bemühungen bemerkten, unterstützten sie mich dabei, und erst jetzt konnte ich diese Bewegungsspielräume wieder entdecken und auch meine Anstrengung reduzieren.
Aber schon kleinste Positionsveränderungen, die ich selbst gestalten konnte, veränderten meine gefühlte Situation. Sie zeigten mir, dass ich noch etwas kann und der Situation nicht ausgeliefert bin.
Meine Möglichkeiten waren durch die fehlende Kraft und die verminderte Kontrolle meiner Bewegungen anfangs sehr klein. Schritt für Schritt lernte ich wieder, mich mit meinen Armen und Beinen abzustützen, um meinen Brustkorb oder mein Becken in Richtung Seitenlage drehen zu können. Es war ein langsamer Aufbau meiner Möglichkeiten. Der Versuch, Schritte zu überspringen und unterstützt von meinen KollegInnen direkt an den Bettrand zu sitzen, brachte für mich nur die Erkenntnis der Überforderung und Angst. Meine KollegInnen gestalteten deshalb ihre Unterstützung so, dass ich meine aktuellen Bewegungsmöglichkeiten auf dem Weg ins Sitzen Schritt für Schritt ausloten konnte. Wenn ich heute zurückdenke, bin ich froh, dass sie nicht auf einem Behandlungsschema beharrt, sondern mir die Zeit gegeben haben, meinen eigenen Weg zu finden.
Fatima R.,
Pflegefachfrau mit Kinaesthetics-Grund- und Aufbaukurs
Die Hierarchie der Kompetenzen
Kinästhetische Grundlagen
Die grundsätzliche Absicht der Mobilisation ist, die PatientIn darin zu unterstützen, vom Liegen im Bett wieder zum selbstständigen Sitzen, Stehen und Gehen zu gelangen. Die Kinästhetik verwendet in diesem Zusammenhang das Modell der ‚Hierarchie der Kompetenzen‘. Es ist eng mit dem Modell der Grundpositionen verbunden (vgl. Grafik unten). Es baut auf dem kinästhetischen Verständnis der Entwicklung der Bewegungskompetenz auf und betrifft ein Muster des Bewegungslernens, das auch bei der kindlichen Bewegungsentwicklung von Bedeutung ist.
Die Grundidee des Modells besteht darin, dass der Mensch in jeder Position und bei jedem Positionswechsel eine Reihe von grundlegenden Kompetenzen benötigt. Dazu gehört z. B. die Kompetenz,
– die eigene Muskelspannung wahrzunehmen und sie angemessen zu regulieren,
– das Gewicht der Körperteile über die körperlichen Knochenstrukturen abzugeben und zu verlagern,
– die Körperteile in eine passende Beziehung für die Ausführung alltäglicher Aktivitäten zu bringen.
Ausgehend von der Rückenlage führt das Modell ins Stehen, und zwar über die Grundpositionen und die jeweiligen Positionswechsel in die nächsthöhere Grundposition.
Bereits in der Rückenlage sind konkrete Ausprägungen der grundlegenden Kompetenzen erforderlich: Kann ich im Liegen z. B. meine Muskelspannung wahrnehmen und angemessen regulieren, kann ich das Gewicht meiner Körperteile über Knochenstrukturen abgeben und verlagern?
Gemäß dem Modell schafft der Erwerb grundlegender Kompetenzen in der Rückenlage die Voraussetzungen für den selbstständigen Positionswechsel in die Bauchlage mit Ellbogenstütz. Auf diesem Weg werden wiederum Ausprägungen der gleichen grundlegenden Kompetenzen trainiert. Sie sind für die selbstständige Einnahme der Bauchlage mit Ellbogenstütz oder auch für die Fortbewegung in dieser nächsthöheren Grundposition nötig.



Die Grundpositionen
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Die Abbildung zeigt das Modell der Grundpositionen bzw. der Positionswechsel von tiefen zu höheren Grundpositionen. Die Grundpositionen ergeben sich, wenn man den Weg aus der Rückenlage bis ins Stehen in einem spiraligen Muster vollzieht (sich drehen und strecken, sich drehen und beugen).
Mit jeder höheren Grundposition wird es anspruchsvoller, das Gewicht der Körperteile in der Schwerkraft abzugeben. In jeder Grundposition und in jedem Positionswechsel werden die konkreten Ausprägungen der grundlegenden Kompetenzen als hierarchische Voraussetzung für die nächsthöhere Position weiterentwickelt
.


In gleicher Weise werden
– bei jedem Positionswechsel in die nächsthöhere Grundposition und
– in jeder Grundposition selbst
die Voraussetzungen für Fortsetzung des Weges bis ins Stehen geschaffen.
Mit jeder höheren Grundposition wird die Ausübung dieser Kompetenzen anspruchsvoller. Auf dem Weg vom Liegen ins Stehen lösen sich schrittweise Kopf, Brustkorb, Arme und schließlich das Becken von Unterstützungsflächen. Ihre ‚freie’ Bewegung in der Schwerkraft muss ständig reguliert werden. In diesem Sinn kann von einer Hierarchie der Kompetenzen gesprochen werden.


Bedeutung für die Intensiv- oder AkutpatientIn
Aus der Perspektive der Hierarchie der Kompetenzen kann eine PatientIn bereits in der Rückenlage durch kleine Aktivitäten und Positionsveränderungen grundlegende Kompetenzen erwerben. Sie sind eine Voraussetzung dafür, dass die PatientIn die nächsthöhere Grundposition mit angemessener Anstrengung, funktional-anatomisch passend usw. einnehmen und kontrollieren lernen kann. Mit hochgestelltem Kopfteil des Bettes kann die PatientIn z. B. in liegender Position lernen, das Gewicht ihres Kopfes frei und mit angemessener Muskelspannung auf ihren Brustkorb weiterzuleiten.
Die Rückenlage und der Weg in Richtung Sitzen ermöglichen es der PatientIn zu lernen, wie sie die Abgabe und Verlagerung des Gewichts von Brustkorb und Becken über ihre Knochenstrukturen mit ihren Extremitäten unterstützen und kontrollieren kann. Aus der kinästhetischen Perspektive ist die sogenannte Rumpfstabilität nicht nur eine Frage gefestigter Muskulatur, sondern auch eine Frage der Kompetenz, das Gewicht von Kopf, Brustkorb und Becken mit wenig Anstrengung über Knochenstrukturen weiterleiten, verlagern und abgeben zu können.
Auch die gehende Fortbewegung kann Schritt für Schritt mit steigendem Anspruch angebahnt werden: Es ist möglich, das Prinzip des Gehens bereits im Liegen oder im Sitzen zu erfahren und sich dadurch schrittweise dem Gehen auf zwei Beinen anzunähern.
[...]
Bedeutung für die Frühmobilisation
Bei der medizinischen Sicht der Mobilisation stehen traditionell quantitative Aspekte im Vordergrund: Wie lange und wie oft soll eine PatientIn im Bett aufsitzen, sich an die Bettkante, in den Lehnstuhl setzen, aufstehen, gehen? Als Grundlage dient die Diagnose der PatientIn und als Orientierung die äußere Einschätzung ihrer Entwicklung.
Diese Sicht wird durch die Perspektive des Modells ‚Hierarchie der Kompetenzen‘ erweitert durch den Blick auf die einzelne PatientIn bzw. darauf, wie sie in ihrer eigenen Bewegung die Qualität der grundlegenden Kompetenzen schrittweise entwickeln kann. Frühmobilisation umfasst aus der Sicht der Kinästhetik die gezielte Förderung von grundlegenden Kompetenzen in tieferen Positionen und Positionswechseln. Dadurch schafft die PatientIn selbst fortlaufend die Voraussetzungen dafür, dass sie höhere Positionen selbstständiger, kontrollierter und in höherer Qualität einnehmen kann.
Die Orientierung an den grundlegenden Kompetenzen erlaubt es der PatientIn bzw. der unterstützenden Person, den Weg in eine nächsthöhere Grundposition gezielt vorzubereiten. Zugleich wird dazu beigetragen, dass die PatientIn entsprechend ihrer individuellen Kompetenz- und Gesundheitsentwicklung im wahrsten Sinn des Wortes wieder selbst auf die Beine kommt.“

Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022): Kinästhetik und Frühmobilisation – Für Fachpersonen aus dem pflegerischen, ärztlichen und therapeutischen Bereich. Unter Mitarbeit von Caroline Rüttimann Remund, Andrea Wildi Wyss, Hubert Zimmermann, Stefan Marty-Teuber und des Fachnetzwerks Akutpflege/Intensivpflege (Kinaesthetics Schweiz). Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903350-02-1. S. 19–24.

2.2 Hinweise zur Entstehung des Modells

Einen Einblick in die Entdeckung und Entwicklung des Modells bietet eine Infobox in der Themenbroschüre „Kinästhetik und Frühmobilisation“ der European Kinaesthetics Association. Diese Infobox befindet sich in Thema 3 „Grundlegende Kompetenzen in tiefen Positionen und Positionswechseln fördern“ auf Seite 22.

„Die Entstehung des Modells
Das Modell der ‚Hierarchie der Kompetenzen‘ entstand u. a. aus langjährigen Bewegungsinteraktionen mit erwachsenen Menschen mit schweren körperlichen Behinderungen. Dass sie je den Weg vom Rollstuhl ins Bett selbstständig bewältigen, schien aussichtslos. Durch die gezielte Förderung ihrer grundlegenden Kompetenzen der Bewegung begannen sie, ihre individuellen Voraussetzungen so zu nutzen, dass sie selbst aus der Rücken- in die Seitenlage und zurückkamen, dann in die Bauchlage, bisweilen bis ins Sitzen. Diese Lernprozesse, die ihnen niemand zugetraut hätte, führten dazu, dass die betreffenden Menschen mit geringfügiger, kompetent angepasster Unterstützung alltägliche Aktivitäten selbst gestalten konnten und ein Stück Lebensqualität gewonnen haben. (Einen Einblick in diese Lernprozesse gibt ‚Ermöglichen statt Behindern‘, DVD, ca. 30 Minuten)“

Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022): Kinästhetik und Frühmobilisation. Themenbroschüre – Für Fachpersonen aus dem pflegerischen, ärztlichen und therapeutischen Bereich. Unter Mitarbeit von Caroline Rüttimann Remund, Andrea Wildi Wyss, Hubert Zimmermann, Stefan Marty-Teuber und des Fachnetzwerks Akutpflege/Intensivpflege (Kinaesthetics Schweiz). Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903350-02-1. S. 22.

3 Die Hierarchie der Kompetenzen in der Zeitschrift „lebensqualität/LQ"

3.1 lebensqualität 03/2012: „Schau mal, was ich kann! Wenn Unverhofftes geschieht...“

Das folgende Zitat entstammt einem Artikel[1] aus der Rubrik „praxis“ der Zeitschrift „lebensqualität“ 03/2012. Erwin Lang beschreibt in diesem Erfahrungsbericht die Umsetzung des Modells im tatsächlichen Lernprozess mit einer sturzgefährdeten Person. Die ausgewählte Textstelle findet sich als Infobox am Ende des Artikels.

„Hierarchie der Kompetenzen
Wer in der Betreuung oder Pflege von Menschen arbeitet, kennt das Phänomen: Es gibt Menschen, die können zum Beispiel gehen – schaffen es aber nicht, selbst aus dem Bett zu steigen. Kinaesthetics erforscht sich seit einigen Jahren diese interessante Beobachtung und hat das Modell der Hierarchie der Kompetenz entwickelt. Die Hierarchie der Kompetenz ist ein spezifisches Kinaesthetics-Analyse-Instrument, das hilft, die aktuellen Fähigkeiten eines Menschen aus einer Entwicklungsperspektive zu beleuchten. Dabei richtet sich das Instrument nach folgenden Thesen:
• In tiefen Positionen (z.B. Rückenlage) ist es einfacher das Gewicht gegenüber der Schwerkraft zu kontrollieren wie in hohen Positionen (z. B. Stehen).
• Die Kompetenz und Fähigkeit, die ich in einer bestimmten Position brauche, lerne ich in den tieferen Positionen und auf dem Weg in die jeweilige Position. Beispiel: Um sitzen zu können, muss ich das Gewicht des Brustkorbes mit den Armen kontrollieren können. Das lerne ich in der Bauchlage und auf dem Weg von der Bauchlage ins Sitzen.
[...]“

Quelle: Lang, Erwin (2012): „Schau mal, was ich kann!“ Wenn Unverhofftes geschieht ... . In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2012, Nr. 1. S. 19.

3.2 lebensqualität 01/2014: „‚Geht nicht‘ geht nicht. Der Lernprozess eines ‚nicht therapierbaren‘ Menschen“

Das folgende Zitat entstammt einem Artikel[2] aus der Rubrik „praxis“ der Zeitschrift „lebensqualität“ 01/2014. Monika Schmidinger zeigt auf, wie sie das Modell in einem Lernprozess umsetzt und anhand des Kinaesthetics-Konzeptrasters die Entwicklung dokumentiert. Das Zitat befindet sich am Ende des Artikels in einer Infobox.

„Hierarchie der Kompetenzen
Kinaesthetics beschreibt im Konzept ‚Menschliche Funktion“ sieben Grundpositionen. Die erste Grundposition ist die Rückenlage. Diese erfordert die Kompetenz, das Gewicht jeder Masse (d. h. von Kopf, Brustkorb, Becken, Beinen und Armen) einzeln auf die Unterstützungsfläche abgeben zu können. Wenn das gelingt, sind alle Zwischenräume frei beweglich und man kann die Massen einzeln auf der Unterstützungsfläche rollen. In der Rückenlage ist es am einfachsten zu kontrollieren, wie die Körperteile ihr Gewicht in der Schwerkraft abgeben.
Die nächste Grundposition (Bauchlage mit Ellbogenstütz) erfordert zusätzlich die Kompetenz, dass man das Gewicht des Kopfes und teilweise des Brustkorbs indirekt über die Arme auf die Unterstützungsfläche abgeben kann. Nur schon deshalb ist diese Grundposition anspruchsvoller.
Mit jeder folgenden Position geben immer weniger Massen ihr Gewicht direkt auf die Unterstützungsfläche ab und die Herausforderung der indirekten Gewichtsabgabe nimmt zu.
Spezifische Kompetenzen, die in diesem Sinn hierarchisch gestuft sind, haben durch alle Grundpositionen hindurch und auf allen Wegen von einer Grundposition in eine andere eine elementare Bedeutung. In der Rückenlage kann man z. B. relativ einfach lernen, mit den Beinen die Bewegung des Beckens zu unterstützen und zu kontrollieren – eine Kompetenz, die auch in allen höheren Grundpositionen eine wichtige Rolle spielt. Sie ist auch eine Erleichterung oder gar Voraussetzung, dass man mit angemessener Anstrengung in die nächsthöhere Position gelangt. Entsprechend gilt auch für die anderen spezifischen Kompetenzen, die die Grundpositionen oder der Weg zwischen ihnen erfordert, dass man sie sinnvoller und leichter in tieferen Positionen erwirbt oder erweitert als in höheren.
[...]“

Quelle: Schmidinger, Monika (2014): „Geht nicht“ geht nicht. Der Lernprozess eines „nicht therapierbaren“ Menschen“. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2014, Nr. 1. S. 31.

3.3 LQ 02/2022: „Die Hierarchie der Kompetenzen – Lernen, wenn es schwierig ist“

Das folgende Zitat ist ein Artikel aus der Rubrik „Thema“ der Zeitschrift „LQ“ 02/2022. Nach dem ersten Teil „Bewegungskompetenz beeinflussen“ bildet er den zweiten Teil zum Thema „Lernen, wenn es schwierig ist“. Stefan Knobel und Gerald Zussner stellen in diesem Artikel ihr Verständnis des Modells der Hierarchie der Kompetenzen dar mit dem Ziel, einen Beitrag zu seiner Verfeinerung und Differenzierung zu leisten.

„Die Hierarchie der Kompetenzen
Die Hierarchie der Kompetenzen ist ein Modell des Fachgebiets Kinästhetik. Es zeigt große Wirkung in der Praxis, wenn es darum geht, für KlientInnen Lernumgebungen zu gestalten. Trotz seiner Akzeptanz in der Praxis gilt es, das Modell zu verfeinern und zu differenzieren. Dieser Aufsatz möchte einen Beitrag dazu leisten.
WIE DAS MODELL ENTSTANDEN IST
LEBENSQUALITÄT SICHTBAR MACHEN. Der Begriff ‚Hierarchie der Kompetenzen‘ ist Anfang der Nullerjahre des gegenwärtigen Jahrhunderts im Fachgebiet Kinästhetik das erste Mal aufgetaucht. Damals bildeten Brigitte Marty- Teuber, Ingo Kreyer und Stefan Knobel eine Arbeitsgruppe, die sich die folgende Frage stellte: Wie kann die individuelle Lebensqualität bei Menschen erfasst werden, die sich verbal nicht äußern können? Die Gruppe startete einen Feldforschungsprozess. Sie wollte sich den Antworten auf die Forschungsfrage durch Beobachtungstage in einem Pflegeheim annähern. Das erhoffte Instrument zur Erfassung der individuellen Lebensqualität konnte in der Folge zwar nicht entwickelt werden. Stattdessen ist aber die Idee für das Modell der Hierarchie der Kompetenzen entstanden.
KOMPETENZWIRRWARR. Die Protokolle der Beobachtungen zeigten ein interessantes Phänomen. Viele Menschen, die pflegerische Unterstützung benötigten, konnten zwar allein oder mit wenig Hilfe gehen. Sie schafften es aber zum Beispiel nicht, selbst vom Liegen ins Sitzen zu kommen. Diese Beobachtung widerspricht der Logik, der die Kompetenzentwicklung eines Kindes folgt. Das Kind lernt, sich Schritt für Schritt von den tiefen Positionen, also vom Liegen in die Bauchlage und von der Bauchlage ins Sitzen und über die nächsten Grundpositionen, bis ins Stehen zu bewegen. In den Positionen, in denen viel Kontakt zur Unterstützungsfläche möglich ist, ist das Gewicht in der Schwerkraft offenbar einfacher zu kontrollieren, als wenn den Massen weniger Unterstützungsfläche zur Verfügung steht. Kinder bewegen sich also von einfacheren zu immer komplexeren Herausforderungen hin. Bei den beobachteten pflegeabhängigen Menschen war es genau umgekehrt. Sie konnten sich in Bezug auf die Gewichtskontrolle in der Schwerkraft in den komplexeren Positionen fortbewegen. In den tieferen und damit grundsätzlich einfacheren Positionen waren sie aber überfordert.
DIE MODELLSKIZZE. In der Folge ist aus der Beobachtung dieses Phänomens das Kinästhetikmodell der Hierarchie der Kompetenzen entstanden. Das Modell wurde skizzenhaft beschrieben und in der Praxis getestet. Interessanterweise erfreute es sich sofort großer Beliebtheit, weil es als hilfreich empfunden wurde. Wie sagte doch der berühmte Biologe und Begründer der Autopoiesis-Theorie Francisco Varela: ‚Wahr ist, was funktioniert.‘ In vielen Artikeln und qualitativen Berichten zeigte sich, dass die Idee der Hierarchie der Kompetenzen neue Perspektiven ermöglicht, wenn es darum geht, die Bewegungskompetenz bei einem anderen Menschen zu beobachten und nach Wegen zu suchen, diese gezielt Schritt für Schritt zu erweitern.
DIE HYPOTHESE. Hinter dem Modell der Hierarchie der Kompetenzen steht die folgende Annahme: Je höher eine Position, umso herausfordernder ist es,
a. das Gewicht in der Position zu organisieren, also die Position im Prozess des ständigen ‚Sich-Positionierens‘ einzunehmen,
b. Aktivitäten der Klasse ‚Bewegung am Ort‘ zu gestalten,
c. die Fortbewegung in der jeweiligen Position zu gestalten und
d. einen Weg in die nächste Position zu finden.
Im Folgenden stellen wir dar, was die Basis dieser Annahmen ist.
GRUNDLEGENDES ENTWICKLUNGSMUSTER
BEOBACHTUNG BEI KLEINEN KINDERN. Wenn man den Prozess der Kompetenzentwicklung bei einem Menschen in seinen Baby- und Kinderjahren beobachtet, zeigt sich ein klares Entwicklungsmuster. Er folgt mehr oder weniger der ‚Landkarte‘ der Grundpositionen, die in der Kinästhetik beschrieben wird (siehe Kasten). Grundsätzlich entwickeln Menschen vor der Geburt alle Bewegungskompetenzen, die sie im späteren Leben benötigen. Nach der Geburt sind sie plötzlich der Schwerkraft ausgesetzt und müssen in den ersten zwei bis drei Lebensjahren lernen, ihre bereits vorhandenen Möglichkeiten an die Bedingungen der Schwerkraft anzupassen.
ZUERST LIEGEN LERNEN. Die erste Herausforderung für Neugeborene besteht darin, das Liegen in der Rückenlage zu organisieren. Es ist deshalb herausfordernd, weil sie lernen müssen, wie jede einzelne Masse ihr Gewicht abgibt und wie sie Arme und Beine benutzen können, um diese Gewichtsabgabe differenziert zu kontrollieren, also sich zu positionieren. Sobald das einigermaßen gelingt, entstehen erste mehr oder weniger gezielte Fortbewegungsaktivitäten im Liegen. Die Kleinkinder versuchen, sich kopf-, fuß- und seitwärts fortzubewegen. Mit zunehmender Kompetenz im Liegen und im Gehen machen sich die kleinen Menschen auf den Weg in die nächste Position. Sie erforschen die spiralige, vertikale Fortbewegung. Sie können aber die Bauchlage erst dann selbstgesteuert und kompetent einnehmen, wenn sie das Liegen differenziert und die Fortbewegung im Liegen und in Richtung Bauchlage in einer bestimmten Vielfalt gestalten können.
DAS MUSTER SETZT SICH FORT. Sobald Kleinkinder die Bauchlage einnehmen können, entwickeln sie die Fortbewegung in dieser Position immer differenzierter — und später suchen sie den Weg ins Sitzen. Dieses Muster, also eine Position einnehmen lernen, das Fortbewegen in der Position differenzieren, den Weg in die nächste Position suchen, setzt sich immer weiter fort, bis der kleine Mensch im Stehen gehen kann. Dieser Lernprozess dauert zwei bis drei Jahre, in denen sich die Bewegungskompetenz und das Führen-und-Folgen im Körper (Body-Tracking) immer mehr differenzieren. Wir Erwachsene beobachten die kleinen Kinder fasziniert und staunend auf diesem Weg. Wir akzeptieren, dass ein Kind noch nicht auf zwei Beinen gehen lernen kann, wenn es noch nicht sitzen und sich vom Sitzen in die nächste Position bewegen kann. Wir lassen dem kleinen Menschen die Entwicklungszeit, die er braucht.
UNTERSTÜTZUNG DURCH DIE ELTERN. Natürlich kann das Kind auch andere Positionen einnehmen. Dafür braucht es aber Unterstützung. Wir Menschen gehören in die Säugetiergattung der Traglinge. Traglinge werden von ihren Eltern (in der Tierwelt meistens von der Mutter) während der ersten Monate und Jahre getragen. Ganz im Gegensatz dazu lernt zum Beispiel ein Fohlen schon innerhalb von wenigen Stunden selbst zu gehen und sich im Schutz der Herde fortzubewegen. Die Evolution hat verschiedenste Lebens- und Entwicklungsstrategien hervorgebracht. Traglinge entwickeln einen großen Teil ihrer Bewegungskompetenz in der engen Bewegungsinteraktion mit den Eltern. Es sind also nicht nur die eigenen Versuche, die dem Kind helfen, seine Bewegungskompetenz immer differenzierter auszubilden. Auch die Qualität der gemeinsamen Bewegung gehört zu seinem Entwicklungstraining dazu.
VERKEHRTE WELT
DAS EINFACHE GEHT VERLOREN. Im Folgenden beleuchten wir das bereits in der Einleitung beschriebene Phänomen, dass sich Menschen mit einer Behinderung infolge eines Unfalls, einer Krankheit oder aufgrund von Hochaltrigkeit zwar in hohen Positionen noch fortbewegen können, die Fähigkeit, in tiefen Positionen zu gehen, aber verloren haben. Das heißt: Diese Menschen können sich in Bezug auf die Gewichtskontrolle in den komplexeren hohen Positionen organisieren. In den tieferen Positionen, in denen die Gewichtskontrolle eigentlich einfacher wäre, verlieren sie aber die dafür notwendige Fähigkeit.
VERSUCH EINER BEGRÜNDUNG. Es gibt eine Fülle von Gründen, mit denen sich dieses Phänomen erklären lässt. Erst einmal ist es so, dass sich eine ‚Entgleisung‘ nach einem Unfall, aufgrund einer Krankheit oder aufgrund von einschränkenden Verhaltensmustern immer in einer Abnahme der Bewegungskompetenz zeigt. Verringerte Bewegungskompetenz zeigt sich unter anderem dadurch, dass die Möglichkeiten der Führen-und-Folgen-Prozesse (Body-Tracking) im Körper weniger differenziert gestaltet werden können. Konkret zeigt sich das zum Beispiel, wenn das Spiel der Bewegungselemente — Zeit, Raum und Anstrengung — nicht mehr gut koordiniert werden kann. Wenn ein Mensch weniger räumliche Ressourcen zur Verfügung hat, kann es sein, dass das Gehen auf zwei Beinen noch möglich ist, weil es in dieser Position vordergründig vor allem Bewegungsraum zwischen Becken und Bein benötigt. Hintergründig betrachtet zeigt sich die verminderte Koordination von Zeit, Raum und Anstrengung hingegen sehr schnell. Menschen, die sich nicht mehr selbst oder nur mit viel Anstrengung vom Liegen ins Stehen fortbewegen können, sind meistens auch sturzgefährdet.
Darstellung des Weges durch die Grundpositionen aus LQ 02/22, S. 10, in seinem Zusammenhang mit dem Modell der Hierarchie der Kompetenzen


DRAMATISCHE AUSWIRKUNG. Die Abbildung auf Seite 10 zeigt symbolisch den Verlust der grundlegenden Kompetenzen, wenn ein Mensch sich in und zwischen hohen Positionen noch fortbewegen kann, diese Fähigkeit in tiefen Positionen aber verliert. Der Verlust der Kompetenzen, die man einst im Lernprozess vom Liegen ins Sitzen erworben hatte, zeigt sich aber nicht nur wie oben beschrieben in der Sturzgefahr. Diese grundlegenden Fähigkeiten des Führens und des Folgens im Körper beeinflussen alle menschlichen Funktionen und Aktivitäten. Wenn man sich nicht mehr selbst in einer gewissen Vielfalt vom Liegen ins Stehen fortbewegen kann, hat das dramatische Auswirkungen auf den Kreislauf, auf den Lymphfluss, auf die Verdauung, auf die Atmung und so weiter.
NICHT HINTERFRAGT. Interessant ist, dass diese ‚verkehrte Welt‘ von den Betroffenen selbst und auch von vielen professionellen UnterstützerInnen einfach hingenommen wird. Viele Menschen gehen davon aus, dass dieser Kompetenzverlust zu bestimmten Erkrankungen oder zur Hochaltrigkeit hinzugehört. Es gibt aber aus Sicht einer Entwicklungsperspektive heraus keinen Grund — außer in ganz wenigen Fällen, wie zum Beispiel bei einer Querschnittlähmung —, dass solche Situationen als gegeben anzunehmen sind. Jeder Mensch kann lernen, mit schlechten Karten gut zu spielen.
Infobox aus LQ 02/22, S. 12, zur vertikalen Fortbewegung


BLEIBET WIE DIE KINDER
WIE DIE KINDER. Zwei im Zusammenzug vielzitierte Sätze aus der Bibel lauten: ‚Werdet wie die Kinder […]‘, ‚[…] denn ihnen gehört das Himmelreich‘ (Matthäus 18; Matthäus 19). In Bezug auf die Fortbewegung zwischen den Positionen und mit Blick auf das Modell der Hierarchie der Kompetenzen können wir die Aussage abändern in: ‚Bleibet wie die Kinder, denn damit erschließt sich das Erdenreich.‘ Wir beobachten, dass unsere Lebensweise in der Gesellschaft mit zunehmendem Alter immer weniger Anreize schafft, die Fortbewegung vom Liegen ins Stehen weiter ins Leben zu integrieren. Wir sitzen auf Stühlen und nicht am Boden. Wir benutzen lange Schuhlöffel, um uns beim Anziehen der Schuhe nicht bücken zu müssen. Und sobald ein Mensch nicht mehr so gut vom Stuhl aufstehen kann, empfiehlt sich ein Aufsatz für das WC oder ein Stuhl, der ihm mithilfe einer Mechanik den mühsamen Weg des Aufstehens abnimmt. Die Idee hinter diesen Hilfsmitteln gründet auf der Annahme, dass das Leben selbst mit der Zeit zu Unbeweglichkeit führe und dass dagegen nichts unternommen werden könne. Bei genauerem Hinsehen helfen diese Hilfsmittel aber nicht — sie sind mittel- und langfristig vielmehr ‚Behinderungsmittel‘, weil die mit ihnen vermeintlich unterstützten Menschen ihren Bewegungsspielraum immer mehr verlieren.
HIER SETZT DAS MODELL AN. Das Modell der Hierarchie der Kompetenzen setzt an der Idee an, dass grundlegende Fähigkeiten und Kompetenzen besser dort trainiert werden, wo es einfach ist. Es fordert dazu auf, die Möglichkeiten des Sich-Positionierens und der Fortbewegung eines Menschen vor allem in tiefen Positionen zu beobachten und den Lern- und Entwicklungsprozess da anzusetzen, wo der unterstützte Mensch zwar gefordert, nicht aber überfordert ist. Das Modell und das dazugehörige Dokumentationswerkzeug hilft, das individuelle Unterstützungsangebot sehr präzise an den aktuellen Stand der Bewegungskompetenz des Individuums anzupassen. Dies erlaubt, mit ihm in tieferen und einfacher kontrollierbaren Positionen an Grundkompetenzen zu arbeiten, die es in höheren und somit anspruchsvolleren Positionen ebenfalls nutzen kann. Ebenso ermöglicht das Modell Entwicklungsthemen zu erkennen, die sich in verschiedenen Positionen und Fortbewegungsbemühungen immer wieder zeigen.
EIN BEISPIEL. Die folgenden Beispiele aus der Praxis von Pflege und Betreuung sollen dies verdeutlichen:
Wenn zum Beispiel die Eltern eines Kleinkindes mit Behinderung möchten, dass dieses sitzen lernt, wird man das Kind aus der Perspektive der Hierarchie der Kompetenzen nicht einfach im Sitzen selbst unterstützen, sondern zuerst darauf achten, wie es mit den Anforderungen zurechtkommt, welche die tieferen Grundpositionen und die Positionswechsel auf dem Weg ins Sitzen stellen. Man wird es darin unterstützen, die dabei erforderlichen Kompetenzen immer differenzierter und vielfältiger zu entwickeln, damit es diese schließlich im Sitzen selbst anwenden kann.
Wenn ältere Menschen darüber klagen, dass sie zwar gerade noch stehen und gehen, aber zum Beispiel nach einem Sturz nicht mehr allein vom Boden aufstehen können, befinden sie sich in einer Situation, die für die Erhaltung ihrer Selbstständigkeit kritisch ist. Deshalb ist es wichtig, sie in ihren Bewegungsmöglichkeiten in den tieferen Grundpositionen und in den Positionswechseln von der Rückenlage ins Stehen zu unterstützen.
DIE WICHTIGEN ATL. Wir gehen davon aus, dass die Qualität der alltäglichen Aktivitäten (ATL) den größten Einfluss auf die menschliche Individualentwicklung hat. Dadurch wird das eigene Verhalten eines Menschen und auch die Unterstützung durch die Pflege zu einem Lern- oder Entwicklungsprozess in Richtung mehr oder weniger Möglichkeiten. Wenn wir die ATL studieren, dann kommt nebst Sich-Waschen und Sich-Kleiden der Fortbewegung (vertikal und horizontal) eine riesige Bedeutung zu. Denn in diesen drei Aktivitäten braucht ein Mensch sein ganzes Bewegungspotenzial — vor allem in räumlicher Hinsicht. Im Wissen um die Hierarchie der Kompetenzen spielt die Fortbewegung dabei die wichtigste Rolle, wenn es darum geht, die Selbstständigkeit und die dafür notwendige Bewegungskompetenz wiederzuerlangen.
Das Modell stützt sich demzufolge einerseits auf die Kompetenz der sieben Grundpositionen. Andererseits sind auch die horizontale und die vertikale Fortbewegung zentral.
Infobox aus LQ 02/22, S. 13, zum wechselseitigen Einfluss von Bewegungskompetenz und Fortbewegung


ES GIBT NOCH VIEL ZU TUN. Das Modell der Hierarchie der Kompetenzen hat sich als sehr wirksam erwiesen. Es leuchtet ein. Vielleicht sind deswegen viele Aspekte hinter dem Modell noch nicht konzeptionell beschrieben. Wir sind sicher, dass sich hinter dem Modell viele allgemeingültige Wirkungszusammenhänge verbergen, die noch darauf warten, entdeckt zu werden. Deshalb sind alle Kinaesthetics-TrainerInnen aufgefordert, vermutete oder bestätigte Muster zu beschreiben und zum Austausch ins Netzwerk zu bringen."

Quelle: Knobel, Stefan; Zussner, Gerald (2022): Die Hierarchie der Kompetenzen. Lernen, wenn es schwierig ist. In: LQ. kinaesthetics – zirkuläres denken – lebensqualität. 2022, Nr. 2. S. 9–14.

4 Weiterführende Literatur und Medien

  • Kühleitner, Dagmar (2010): Ein revolutionärer Raster. Ein Erfahrungsbericht aus Österreich. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2010, Nr. 3. S. 24.
  • Rönsch-Braun, Holger (2011): Nicht alt sondern Reif. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2011, Nr. 2. S. 50.

5 Einzelnachweise

  1. Lang, Erwin (2012): „Schau mal, was ich kann!“ Wenn Unverhofftes geschieht ... . In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2012, Nr. 1. S. 15–19.
  2. Schmidinger, Monika (2014): „Geht nicht“ geht nicht. Der Lernprozess eines „nicht therapierbaren“ Menschen“. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2014, Nr. 1. S. 26–31.