Pädagogisch-didaktische Grundprinzipien der Kinästhetik: Unterschied zwischen den Versionen

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:''Zu diesem lebenslangen Lernen gehört die Entwicklung von Verhaltens- und Bewegungsmustern. Sie zeichnen sich zwar durch Ähnlichkeit und Konstanz aus, müssen aber in jedem Moment neu erzeugt werden. Grundsätzlich kann jeder einzelne Mensch diese jederzeit bewusst oder unbewusst verändern.
:''Zu diesem lebenslangen Lernen gehört die Entwicklung von Verhaltens- und Bewegungsmustern. Sie zeichnen sich zwar durch Ähnlichkeit und Konstanz aus, müssen aber in jedem Moment neu erzeugt werden. Grundsätzlich kann jeder einzelne Mensch diese jederzeit bewusst oder unbewusst verändern.
:''Diese Ausführungen machen deutlich, dass in der Kinästhetik die Begriffe Lernen und Entwicklung in einem sehr grundsätzlichen und umfassenden Sinn verwendet werden. Leben bedeutet ununterbrochene Entwicklung auf allen Ebenen des Lebens. Und bei vielen Entwicklungen ist es lohnend, sie als Lernprozesse zu betrachten und persönliche :''Verantwortung für sie zu übernehmen.
:''Diese Ausführungen machen deutlich, dass in der Kinästhetik die Begriffe Lernen und Entwicklung in einem sehr grundsätzlichen und umfassenden Sinn verwendet werden. Leben bedeutet ununterbrochene Entwicklung auf allen Ebenen des Lebens. Und bei vielen Entwicklungen ist es lohnend, sie als Lernprozesse zu betrachten und persönliche :''Verantwortung für sie zu übernehmen.
Lernen in der Kinästhetik betrifft im Unterschied zum gängigen Verständnis nicht nur die Kognition oder den Erwerb von neuem Wissen und Können, sondern kann auch die unbewusste Einschränkung von Bewegungsmustern einschließen. Es ist zentral, eine solche Entwicklung als einen Lernprozess zu verstehen, der lebenslang bewusst in eine andere Richtung gelenkt werden kann.
:''Lernen in der Kinästhetik betrifft im Unterschied zum gängigen Verständnis nicht nur die Kognition oder den Erwerb von neuem Wissen und Können, sondern kann auch die unbewusste Einschränkung von Bewegungsmustern einschließen. Es ist zentral, eine solche Entwicklung als einen Lernprozess zu verstehen, der lebenslang bewusst in eine andere Richtung gelenkt werden kann.
:''Desgleichen verbietet es dieses umfassende Verständnis zum Beispiel, von einem vierzigjährigen Menschen mit Behinderung zu sagen, er sei in seiner Entwicklung auf der Stufe eines Vierjährigen stehen geblieben. Aus der Perspektive der Kinästhetik hat er vierzig Jahre lang seine Lern- und Entwicklungsprozesse gemacht, die ihn genau dorthin führten, wo er jetzt steht.
:''Desgleichen verbietet es dieses umfassende Verständnis zum Beispiel, von einem vierzigjährigen Menschen mit Behinderung zu sagen, er sei in seiner Entwicklung auf der Stufe eines Vierjährigen stehen geblieben. Aus der Perspektive der Kinästhetik hat er vierzig Jahre lang seine Lern- und Entwicklungsprozesse gemacht, die ihn genau dorthin führten, wo er jetzt steht.



Version vom 8. November 2025, 10:49 Uhr

Status mit Fachliteratur angelegt
AutorIn/RedakteurIn Stefan Marty Teuber/Andreas Borrmann
Letzte Änderung 08.11.2025


Zusammenfassung:
Der Text beschreibt die pädagogisch-didaktischen Grundprinzipien der Kinästhetik als Leitlinie für Lernprozesse in Bildungsangeboten der European Kinaesthetics Association. Im Mittelpunkt steht das Lernen durch eigene Bewegungserfahrung, das als aktiver, konstruktiver und selbstgesteuerter Prozess verstanden wird. Lernen geschieht auf der Grundlage von Wahrnehmung, Interaktion und Reflexion und fördert die Entwicklung von Bewegungskompetenz, Selbstregulation und Achtsamkeit. Die Trainerin oder der Trainer gestaltet dabei eine förderliche Lernumgebung, die Eigenaktivität, individuelles Konstruieren, Selbststeuerung, soziale Interaktion und Reflexion ermöglicht. Ziel ist eine kompetenzorientierte, ressourcenstärkende Lernkultur, die auf persönlicher Erfahrung, kybernetischem Denken und respektvollem Miteinander aufbaut. Der Text ist ein Zitat aus dem Buch Pädagogisch-didaktische Grundprinzipien der Kinästhetik.


1 Einleitung

1.1 Was zeichnet Lernen in der Kinästhetik aus?

1.1.1 Kein Schulbuchwissen, sondern die eigene Bewegung wahrnehmen und verstehen

Die Teilnehmenden eines Kinaesthetics-Grundkurses sind oft erstaunt oder gar verunsichert darüber, wie und was in einem solchen Kurs gelernt wird. Aufgrund ihrer bisherigen Lernerfahrungen erwarten sie ein Schulbuchwissen, das die Regeln erklärt, wie man sich selbst oder andere Menschen richtig bewegt.
Im Kursgeschehen erfahren die Teilnehmenden, dass es nicht um ein äußeres Wissen, sondern um sie selbst geht. Im Zentrum steht die Frage, wie sie selbst ihre eigene Bewegung – etwas sehr Selbstverständliches – möglichst differenziert wahrnehmen und situationsgerecht einsetzen können. Ein Kernthema ist die Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) und damit einhergehend die Entwicklung der persönlichen Bewegungskompetenz.
Die Kursteilnehmenden beginnen zu verstehen, dass sie in der Kinästhetik das kognitive Verständnis im Wechselspiel mit ihren persönlichen Erfahrungen entwickeln. Als zentrale Einsicht gehört dazu, dass man Menschen nicht wie Gegenstände bewegen, sondern nur in ihrer eigenen Bewegung unterstützen kann.

1.1.2 Persönliches, erfahrungsbasiertes und kompetenzorientiertes Lernen

Diese Art des Lernens unterscheidet sich grundlegend vom traditionellen schulischen Unterricht. Bei diesem geht es darum, sich allgemeingültiges, objektives Wissen anzueignen, Regeln, Axiome und Gesetze zu verstehen, um sie dann in konkreten Beispielen richtig anzuwenden.
In der Kinästhetik hingegen steht die subjektive Erfahrung im Mittelpunkt. Kursteilnehmende werden aufgefordert, in alltäglichen Aktivitäten mit definierten Blickwinkeln auf die eigene Bewegung zu achten. Ein wichtiges Ziel ist die Erweiterung der persönlichen Bewegungskompetenz. Damit gemeint ist das Potenzial, die eigene :Bewegung in unterschiedlichsten Situationen bewusst anpassen zu können. Kursteilnehmende lernen durch das konkrete Tun und die persönliche und gemeinsame Reflexion des eigenen Erlebens und Erfahrens. Vor diesem Hintergrund ist der :„Unterricht“ in der Kinästhetik in höchstem Maß kompetenzorientiert.
Er deckt sich darin mit den aktuellen Entwicklungen des europäischen Bildungswesens. In vielen Ländern hat sich in der Schul- und insbesondere in der Berufsbildung die Kompetenzorientierung des Unterrichts als grundsätzlicher Anspruch durchgesetzt.

1.1.3 Ein spezifisches, wohltuendes Training der Achtsamkeit

Lernen in der Kinästhetik zeichnet sich ebenso dadurch aus, dass die Achtsamkeit auf sich selbst und die Fokussierung auf die eigene Wahrnehmung und Bewegung eine positive Wirkung auf das individuelle Befinden hat. Kursteilnehmende können sich selbst differenzierter wahrnehmen und regulieren. Die konzentrierten subjektiven Bewegungserfahrungen tragen dazu bei, dass sich das individuelle Körperbewusstsein und Wohlbefinden erhöht. Ähnliche Wirkungen sind bei Praktiken oder Programmen, die mit einem Training der Achtsamkeit zu tun haben (z. B. Yoga, Mindfulness-Based Stress Reduction – MBSR), durch Studien nachgewiesen.
Oft drücken auch erfahrene Kinaesthetics-TrainerInnen in Aus-, Fort- oder Weiterbildungen von Kinaesthetics ihre Freude über die Gelegenheit aus, sich mit sich selbst zu beschäftigen, die Achtsamkeit auf sich selbst zu lenken, mit anderen Menschen in Bewegungsinteraktionen zu kommen, die eigenen Erfahrungen zu reflektieren und sich über diese mit anderen auszutauschen. Häufig heben sie in diesem Zusammenhang die allgemeine positive Wirkung eines solchen Bildungsangebots hervor.

1.1.4 Lernen auf kybernetischer Grundlage: Nicht voraussagbare zirkuläre Wirkungszusammenhänge

Die fokussierte Erfahrung der eigenen Bewegung und die Reflexion darüber führen unweigerlich zur Erkenntnis, dass diese zwar von Mustern und „Automatismen“ geprägt ist, aber in jedem Moment von Neuem erzeugt werden muss.
Eine weitere, oft herausfordernde Eigenart des Lernens in der Kinästhetik ist die Auseinandersetzung mit kybernetischem Denken. Es erweitert die traditionelle wissenschaftliche Weltanschauung, in der die Welt mit berechenbaren linear-kausalen Zusammenhängen von Ursache und Wirkung erklärt wird. Aus kybernetischer Sicht kommen zirkuläre Wirkungszusammenhänge hinzu, die nicht voraussagbar sind. Diese Perspektive lässt einen die menschliche Bewegung, zwischenmenschliche Interaktionen und viele Aspekte des Lebens als fortlaufende zirkuläre und individuelle Entwicklungsprozesse verstehen und gestalten.

1.1.5 Präventions- und ressourcenorientiertes Lernen für Gesundheits- und Sozialberufe

Viele Kursteilnehmende sind Personen, die einen beruflichen Auftrag gegenüber Menschen haben, die auf körperliche Unterstützung angewiesen sind. Ihnen bringt das Lernen in der Kinästhetik einen doppelten Gewinn. Einerseits ermöglicht ihnen die Erweiterung ihrer Bewegungskompetenz, sich bei der Arbeit körperlich nicht zu überlasten. Andererseits helfen die hohe Bewegungskompetenz und das Verständnis der menschlichen Bewegung, die betreffenden Menschen gezielt in der Entwicklung ihrer eigenen Bewegungskompetenz, Selbstständigkeit und Lebensqualität zu unterstützen.

1.2 Lernverständnis und Menschenbild

1.2.1 Perspektiven des Menschenbildes

Seit den Anfängen der Kinästhetik in den 1970er-Jahren hat sich ein spezifisches Verständnis des Lernens und Lehrens entwickelt und ausdifferenziert. Es beruht u. a. auf dem Menschenbild, das der Kinästhetik zugrunde gelegt wurde und wird. Dieses ergibt sich aus der persönlichen, erfahrungs- und theoriebasierten Auseinandersetzung mit der Grundfrage „Was ist der Mensch?“.
Entscheidend für die konkrete Gestaltung der Lernumgebung und ihre Prinzipien ist das persönliche Menschenbild jeder einzelnen TrainerIn. In der Ich-Perspektive formuliert, sind solche Grundfragen beispielsweise, wie und nach welchen Mustern ich mein Bewegungsverhalten in alltäglichen Aktivitäten reguliere und wovon meine diesbezügliche Entwicklung beeinflusst wird. Einige wichtige Aspekte dieser Auseinandersetzung mit dem zugrunde liegenden Menschenbild werden im Folgenden angedeutet.

1.2.2 Zirkuläre Selbstregulation als eine Grundlage des Lebens: Fortlaufende individuelle Anpassung, Ganzheit und Autonomie

Ein Aspekt des Menschenbildes ist, dass die Bewegung bzw. die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) zentrale Grundlagen des menschlichen Lebens sind. Damit hängt eng zusammen, dass die Funktionsweise und insbesondere die Steuerung der Bewegung des Menschen wesentlich auf dem kybernetischen Prinzip der Selbstregulation bzw. der zirkulären Rückkoppelung durch Feedbackschleifen beruhen. Dieses grundlegende Prinzip wird in der Kinästhetik Feedback-Control-Theorie (FCT) genannt und hat eine weitreichende Bedeutung für das Menschenbild:
• Das Prinzip unterscheidet den Menschen von trivialen Maschinen: Sein Verhalten wird von seinen persönlichen Erfahrungen in der Vergangenheit beeinflusst und ist nicht voraussagbar. Der Mensch liefert nicht wie eine triviale Maschine nach linear-kausalen Gesetzen auf einen bestimmten Input immer den gleichen, voraussagbaren Output.
• Das Prinzip besagt, dass der Mensch sein Bewegungsverhalten in jedem Moment durch die fortlaufende Korrektur von Abweichungen, d. h., durch fortlaufende individuelle Anpassung reguliert.
• Das Prinzip schließt den ganzen Menschen mit ein bzw. umfasst das fortlaufende zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem.
• Das zirkuläre Zusammenspiel der beteiligten Systeme zeichnet sich durch Plastizität (Formbarkeit) aus, und zwar in Abhängigkeit davon, wie der Mensch seine Selbstregulation bzw. seine Lebensaktivitäten gestaltet.
• Das Prinzip bedeutet, dass der Mensch grundsätzlich ein autonomes (eigengesetzliches), geschlossenes System ist. Der Mensch reguliert nach seinen individuellen Regeln oder Gesetzen sein ganzes Verhalten und kann sich letztlich nur selbst durch seine eigene Aktivität am Leben erhalten. Als geschlossenes System kann der Mensch von außen nicht direkt gesteuert, sondern nur beeinflusst werden.
• Das Prinzip bedeutet, dass der Mensch durch das Zusammenspiel der beteiligten Systeme sein Bild der Welt „errechnet“ oder konstruiert. Er nimmt grundsätzlich die Welt auf seine individuelle Art und Weise wahr (vgl. den bekannten Aphorismus von Maturana/Varela „Jedes Erkennen bedeutet Tun, und jedes Tun bedeutet Erkennen“).
• Das Prinzip führt zum Schluss, dass Leben ununterbrochenes Lernen bedeutet (vgl. folgendes Kapitel).
• Das Prinzip führt zum Schluss, dass in einer Interaktion (mindestens) zwei HandlungspartnerInnen gleichzeitig und ununterbrochen aktiv an einer gemeinsamen Handlung beteiligt sind. In konstanter Rückkoppelung beeinflusst das Verhalten der eine Person fortlaufend das Verhalten der anderen Person und umgekehrt (vgl. auch übernächstes Kapitel).

1.2.3 Leben bedeutet ununterbrochenes Lernen

Aus dem kybernetischen Verständnis der Selbstregulation ergibt sich der Grundsatz, dass der Mensch sein Leben lang auf seine individuelle Art und Weise lernt und sich entwickelt. Dadurch, dass er lebt, verfestigt, erweitert oder vermindert er stets seine Möglichkeiten.
Zu diesem lebenslangen Lernen gehört die Entwicklung von Verhaltens- und Bewegungsmustern. Sie zeichnen sich zwar durch Ähnlichkeit und Konstanz aus, müssen aber in jedem Moment neu erzeugt werden. Grundsätzlich kann jeder einzelne Mensch diese jederzeit bewusst oder unbewusst verändern.
Diese Ausführungen machen deutlich, dass in der Kinästhetik die Begriffe Lernen und Entwicklung in einem sehr grundsätzlichen und umfassenden Sinn verwendet werden. Leben bedeutet ununterbrochene Entwicklung auf allen Ebenen des Lebens. Und bei vielen Entwicklungen ist es lohnend, sie als Lernprozesse zu betrachten und persönliche :Verantwortung für sie zu übernehmen.
Lernen in der Kinästhetik betrifft im Unterschied zum gängigen Verständnis nicht nur die Kognition oder den Erwerb von neuem Wissen und Können, sondern kann auch die unbewusste Einschränkung von Bewegungsmustern einschließen. Es ist zentral, eine solche Entwicklung als einen Lernprozess zu verstehen, der lebenslang bewusst in eine andere Richtung gelenkt werden kann.
Desgleichen verbietet es dieses umfassende Verständnis zum Beispiel, von einem vierzigjährigen Menschen mit Behinderung zu sagen, er sei in seiner Entwicklung auf der Stufe eines Vierjährigen stehen geblieben. Aus der Perspektive der Kinästhetik hat er vierzig Jahre lang seine Lern- und Entwicklungsprozesse gemacht, die ihn genau dorthin führten, wo er jetzt steht.

1.2.4 Die Bedeutung der (Bewegungs-)Interaktion

Ein wichtiger Aspekt des Menschenbildes beruht auf der Tatsache, dass der Mensch ein soziales Wesen ist. Bereits vorgeburtlich finden bedeutsame Bewegungsinteraktionen zwischen dem Kind und seiner Mutter statt.
Nach seiner Geburt ist das Kind unabdingbar auf den Körperkontakt mit anderen Menschen angewiesen ist. Sein Lernen und seine Entwicklung werden wesentlich durch die Bewegungsinteraktionen mit anderen Menschen beeinflusst. Dabei lernt es, sich selbst bzw. seine eigene Bewegung wahrzunehmen und zu regulieren, indem es der Bewegung anderer Menschen folgt. Diese Bewegungsinteraktionen prägen sein Interaktionsverhalten und sind dessen Grundlage.
Die Interaktionen mit anderen Menschen beeinflussen lebenslang insbesondere die Entwicklung unseres Interaktionsverhaltens. Auch in Interaktionen ohne Körperkontakt folgen wir der Bewegung anderer Menschen – jedes Verhalten ist mit Bewegung verknüpft – und passen uns an sie an.
Interaktionen mit anderen Menschen spielen für unsere Lernprozesse im Verlauf des ganzen Lebens eine wichtige Rolle. Die Interaktionen über Berührung und Bewegung erhalten z. B. dann wieder eine besondere Bedeutung für unsere Lernprozesse, wenn wir auf körperliche Unterstützung angewiesen sind.

1.3 Die Herausforderung der förderlichen Gestaltung der Lernumgebung

1.3.1 Vorbemerkung zum Begriff „Gestaltung der Lernumgebung“

Für die Tätigkeit des Unterrichtens oder Lehrens wird in der Kinästhetik der Begriff Gestaltung der Lernumgebung verwendet. Er soll verdeutlichen, dass Lernen nie direkt gesteuert werden kann, sondern immer ein eigengesetzlicher innerer Prozess der lernenden Person ist. Als lehrende Person kann man nur eine mehr oder weniger günstige „Umgebung“ für Lernprozesse schaffen oder auch sein. Ursprünglich hatte der Begriff Lernumgebung in der Pädagogik nicht diese Bedeutung. Er wird aber immer häufiger in diesem Sinn verwendet (vgl. auch Glossar).

1.3.2 Spezifisches Know-how und moderne Grundprinzipien

Auf der Grundlage des Menschenbildes hat sich in der Kinästhetik eine besondere Lern- und Lehrkultur entwickelt. Die angestrebten Kompetenzen und Lernziele brauchen ein spezifisches Know-how der Gestaltung der Lernumgebung.

Diese Kompetenzen und Lernziele betreffen u. a.

• die Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung und -regulation,
• die Erweiterung der persönlichen Bewegungskompetenz
• und insbesondere die Erweiterung der Kompetenz, Interaktionen über Berührung und Bewegung mit anderen Menschen bewusst und gezielt zu gestalten.

Vor diesem Hintergrund haben sich in der Kinästhetik spezifische methodisch-didaktische Vorgehensweisen im Großen und im Kleinen entwickelt. Ebenso haben sich pädagogisch-didaktische Grundprinzipien etabliert, die auch von der modernen Pädagogik und Unterrichtsforschung als wichtige Faktoren guten Unterrichtens bezeichnet werden (Schubiger 2022, S. 17 ff.).

1.3.3 Notwendigkeit von Intuition, Anpassungsfähigkeit und Reflexion

1.3.3.1 Der Einfluss unvorhergesehener Faktoren im Hier und Jetzt

Weder die Verwendung durchdachter Methoden noch die Befolgung aller im Folgenden aufgelisteten Grundprinzipien können eine gute Gestaltung der Lernumgebung und erfolgreiches Lernen garantieren. Lernen und Lehren vollziehen sich immer im Hier und Jetzt.
Unvorhergesehene äußere Faktoren oder die aktuelle Befindlichkeit der Beteiligten können beides in vielfältiger Weise beeinflussen. Gute Gestaltung der Lernumgebung beruht gleichermaßen auf stimmigen Grundprinzipien wie auf Intuition und Anpassungsfähigkeit im Moment.

1.3.3.2 Intuition für die Qualität der Lernprozesse als Grundlage von Anpassungen

Es ist z. B. unvorhersagbar und kaum ersichtlich, wie differenziert die Lernenden ihre eigene Bewegung wahrnehmen und Unterschiede in ihrer Bewegungswahrnehmung erfahren können. Deshalb besteht hier in besonderem Maß die Herausforderung, bei der Gestaltung der Lernumgebung nicht einem fixen methodischen Schema oder Plan zu folgen. Vielmehr gilt es, auf die Qualität der Lernprozesse zu achten und die Lernumgebung vor dem Hintergrund der angestrebten Kompetenzen intuitiv anzupassen.
Das Gleiche gilt für das ausgewogene und passende Verhältnis von Führung oder Anleitung aller Lernenden, individueller Unterstützung und selbstverantwortlichem Lernen.

1.3.3.3 Die Bedeutung der persönlichen und gemeinsamen Reflexion der Lehrerfahrungen

Hilfreich für die Kompetenz guter Gestaltung der Lernumgebung ist die Erfahrung oder vielmehr die kritische Reflexion der eigenen Lehr- und Wirkungserfahrungen. Dazu gehört der Mut, die eigene Gestaltung Lernumgebung infrage zu stellen sowie neue Wege auszuprobieren und zu reflektieren.
Lohnend sind die Reflexion und der Austausch mit anderen TrainerInnen, sei es im privaten Rahmen, in Fachnetzwerken oder Trainerbildungsangeboten. Dadurch können das eigene Verständnis und die persönliche Umsetzung der Grundprinzipien sowie die eigene Intuition und Anpassungsfähigkeit bewusst weiterentwickelt werden.

1.4 Die Persönlichkeit und gelebte Haltung der TrainerIn

Ein wichtiges Element gelingenden Lehrens und Lernens stellen die Persönlichkeit und gelebte Haltung der TrainerIn dar. Mit gelebter Haltung ist das konkrete Verhalten und dessen Wirkung bei der Gestaltung der Lernumgebung gemeint.
Die gelebte Haltung stimmt nicht unbedingt damit überein, wie man die eigene pädagogische Haltung beschreibt. Es ist z. B. möglich, dass man „Lernen auf Augenhöhe“ als wichtiges eigenes Grundprinzip beschreibt, aber in konkreten Situationen sich so verhält, dass man keine andere Meinung gelten lässt und nicht auf der Ebene der Lernenden mitdenkt, sondern sich über sie stellt und somit die eigenen Prinzipien nicht lebt.
Aus der Perspektive der Persönlichkeit und gelebten Haltung können einige Punkte genannt werden, die in aller Regel einen positiven Einfluss auf die Lernenden und ihre Lernprozesse haben.

Dazu gehört, dass die TrainerIn

• ein echtes Interesse an den einzelnen Menschen und ihren Lernprozessen hat, die einzelnen Lernenden und ihre Meinungen ernst nimmt,
• ein echtes Interesse an den Lerninhalten und -prozessen hat und die Bedeutung offenlegt, die diese für sie persönlich haben,
• den Lernenden partnerschaftlich und nicht von oben herab begegnet, den Bildungsanlass als gemeinsamen Lernprozess versteht,
• auch in schwierigen Situationen authentisch und fair bleibt, die eigenen Überzeugungen infrage stellen lässt, nicht besserwisserisch auftritt, sondern zu ihrem persönlichen Lernpotenzial im Umgang mit schwierigen Situationen steht.
Es ist klar, dass diese Punkte einen Bereich betreffen, der mit der Individualität und dem Charakter jeder einzelnen TrainerIn zu tun hat. Selbst wenn zwei TrainerInnen z. B. in der Haltung übereinstimmen, dass sie sich für den einzelnen Menschen interessieren, wird jede Person diese Haltung auf ihre individuelle Art und somit in unterschiedlicher Ausprägung umsetzen.
Wie die Persönlichkeit und gelebte Haltung der Lehrperson auf die Lernenden wirken, ist in gleicher Weise unterschiedlich und von der Persönlichkeit jeder einzelnen Lernenden abhängig.
Gemeinhin gilt die Authentizität im Sinn der Echtheit, Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit als empfehlenswerter Grundsatz. Man kann ihn in Anlehnung an die bekannte Aussage von Sr. Liliane Juchli als Motto „Ich lehre als die, die ich bin“ formulieren.
Die Persönlichkeit und gelebte Haltung der TrainerIn prägen ihre Fähigkeit, eine echte und faire Beziehung zu den Lernenden auf Augenhöhe gestalten zu können. Auch wenn Persönlichkeit und gelebte Haltung sehr individuell sind, gelten sie als ein zentrales Element gelingenden Lehrens und Lernens.

1.5 Sinn und Absicht der pädagogisch-didaktischen Grundprinzipien

Diese Ausführungen und die anschließenden pädagogisch-didaktischen Grundprinzipien sollen Kinaesthetics-TrainerInnen helfen, ihre Gestaltung der Lernumgebung und ihre eigenen Grundsätze differenziert zu reflektieren, zu begründen und weiterzuentwickeln. Sie sind keinesfalls als Vorschriften gedacht.
Ein Bildungsanlass ist immer ein Prozess in der Gegenwart, eine Begegnung von individuellen Menschen in ihrer aktuellen Befindlichkeit. Es ist nur menschlich, dass Lernen und Lehren unterschiedlich gut gelingen. Erwartet werden darf, dass professionelle TrainerInnen ihre Tätigkeit differenziert reflektieren können und bereit sind, sie zugunsten der Lernenden weiterzuentwickeln.
Die pädagogisch-didaktischen Grundprinzipien sind auf die Gestaltung der Lernumgebung von Basiskursen und von Aus-, Weiter- und Fortbildungen ausgerichtet. Sinngemäß sind viele Prinzipien auch auf andere Gefäße der Gestaltung der Lernumgebung wie Praxisanleitungen, Workshops oder Fallbearbeitungen übertragbar.

Weiterführende Literatur und Medien Wahl, Diethelm (2013): Lernumgebungen erfolgreich gestalten. Vom trägen Wissen zum kompetenten Handeln. 3. Auflage. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. ISBN 978-3-7815-5294-4 Schubiger, Andreas (2022): Lehren und Lernen. Ressourcen aktivieren, Informationen verarbeiten, Transfer anbahnen, Auswerten. RITA: ein kompetenzorientiertes Lernprozessmodell. 3., überarbeitete Auflage. Bern: hep. ISBN 978-3-0355-2151-1 Ghisla, Gianni; Boldrini, Elena; Bausch, Luca (2014): SiD – Situationsdidaktik. Ein Leitfaden für Lehrkräfte in der Berufsbildung. EHB Eidgenössisches Hochschulinstitut für Berufsbildung. [1](https://www.ehb.swiss/sites/default/files/situationsdidaktik_de.pdf) (Zugriff: 12.09.2023). Ghisla, Gianni (2008): Überlegungen zu einem theoretischen Rahmen für die Entwicklung von kompetenzorientierten Curricula (Work in progress, Fassung vom 12.5.2008). EHB Eidgenössisches Hochschulinstitut für Berufsbildung. [2](https://idea-ti.ch/images/team/ghisla/05_Ghisla_Theorie_CoRe20072008.pdf) (Zugriff: 12.09.2023)