Autopoietische Einheiten erster Ordnung: Unterschied zwischen den Versionen

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Eine Zelle besteht als autopoietische Einheit aus molekularen Bestandteilen, die ''„in einem kontinuierlichen Netzwerk von Wechselwirkungen dynamisch miteinander verbunden sind“ <ref>ebd. S. 51</ref>''. Danach unterscheidet sich der molekulare Prozess einer autopoetischen Einheit von anderen natürlichen molekularen Prozessen dadurch, dass ''„der Zellstoffwechsel Bestandteile erzeugt, welche allesamt in das Netzwerk von Transformationen, das sie erzeugte, integriert werden.“ <ref>ebd. S. 53</ref>'' Dabei bilden gewisse dieser Bestandteile eine Abgrenzung zum umgebenden Milieu. Allerdings kann diese Membran nicht als reines Produkt des Zellstoffwechsels  betrachtet werden (wie das Tuch als Produkt der Webmaschine), sondern ist integraler Teil davon und nimmt an den Transformationsprozessen teil. So lässt sich die zelluläre Einheit nur durch die Wechselwirkungen aller Bestandteile aufrechterhalten. Entsteht an einem beliebigen Punkt eine Unterbrechung im zellulären metabolischen Netz, wird die Einheit bald nicht mehr feststellbar sein. Ein autopoietisches System unterscheidet sich also im Wesentlichen durch seine innere Dynamik vom umgebenden Milieu.<ref>ebd. S. 54</ref>
Eine Zelle besteht als autopoietische Einheit aus molekularen Bestandteilen, die ''„in einem kontinuierlichen Netzwerk von Wechselwirkungen dynamisch miteinander verbunden sind“ <ref>ebd. S. 51</ref>''. Danach unterscheidet sich der molekulare Prozess einer autopoetischen Einheit von anderen natürlichen molekularen Prozessen dadurch, dass ''„der Zellstoffwechsel Bestandteile erzeugt, welche allesamt in das Netzwerk von Transformationen, das sie erzeugte, integriert werden.“ <ref>ebd. S. 53</ref>'' Dabei bilden gewisse dieser Bestandteile eine Abgrenzung zum umgebenden Milieu. Allerdings kann diese Membran nicht als reines Produkt des Zellstoffwechsels  betrachtet werden (wie das Tuch als Produkt der Webmaschine), sondern ist integraler Teil davon und nimmt an den Transformationsprozessen teil. So lässt sich die zelluläre Einheit nur durch die Wechselwirkungen aller Bestandteile aufrechterhalten. Entsteht an einem beliebigen Punkt eine Unterbrechung im zellulären metabolischen Netz, wird die Einheit bald nicht mehr feststellbar sein. Ein autopoietisches System unterscheidet sich also im Wesentlichen durch seine innere Dynamik vom umgebenden Milieu.<ref>ebd. S. 54</ref>


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== Unterschiede zwischen Organisation und Struktur==
== Unterschiede zwischen Organisation und Struktur==

Version vom 6. Dezember 2019, 12:10 Uhr

Status vorläufig abgeschlossen
AutorIn/RedakteurIn Joachim Reif/Stefan Marty Teuber
Letzte Änderung 06.12.2019


Zusammenfassung:
Dieser Artikel beschreibt entlang der Argumentation von Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela im Buch „Der Baum der Erkenntnis“ die Kriterien und die Organisation autopoietischer Einheiten erster Ordnung. Ihre Bedeutung für die Entwicklung des Lebens auf der Erde wird verdeutlicht.

Die Definition des Lebendigen

Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela führen den Begriff der Autopoiese in ihrem Buch „Der Baum der Erkenntnis“[1] als das entscheidende „Kriterium des Lebendigen“ [2] ein. Das folgende Zitat ist die erste Beschreibung der Idee der Autopoiese in ihrem Buch. Es leitet das Kapitel „Das Erscheinen der Lebewesen“ ein, das auf „Eine kurze Geschichte der Erde“ folgt. Sie schließt mit dem Hinweis, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt die Meere und die Atmosphäre der Urerde eine Nährlösung für Anhäufung und Diversifikation organischer Moleküle bzw. von Kohlenstoffketten boten. „Als die molekularen Transformationen in den Meeren der Urerde diesen Punkt erreicht hatten, wurde die Bildung von Systemen mit ganz besonderen molekularen Reaktionen möglich. Das heißt: Wegen der nun möglichen Vielfalt und Plastizität im Bereich der organischen Moleküle wurde die Bildung von Netzwerken von molekularen Reaktionen möglich, die wiederum dieselben Klassen von Molekülen, aus denen sie selbst bestehen, erzeugen und integrieren, wobei sie sich im Prozess ihrer Verwirklichung gleichzeitig gegen den umliegenden Raum abgrenzen. Solche Netze und molekulare Interaktionen, welche sich selbst erzeugen und ihre eigenen Grenzen bestimmen, sind […] Lebewesen.“ [3] Im Unterschied zu bisherigen Definitionen des Lebens, die eine oder mehrere Eigenschaften des Lebendigen aufzählen [4], schlagen sie vor, „dass Lebewesen sich dadurch charakterisieren, dass sie sich – buchstäblich – andauernd selbst erzeugen. Darauf beziehen wir uns, wenn wir die sie definierende Organisation autopoietische Organisation nennen (griech. autos = selbst; poiein = machen).“[5]


Die innere Dynamik autopoietischer Einheiten

Eine Zelle besteht als autopoietische Einheit aus molekularen Bestandteilen, die „in einem kontinuierlichen Netzwerk von Wechselwirkungen dynamisch miteinander verbunden sind“ [6]. Danach unterscheidet sich der molekulare Prozess einer autopoetischen Einheit von anderen natürlichen molekularen Prozessen dadurch, dass „der Zellstoffwechsel Bestandteile erzeugt, welche allesamt in das Netzwerk von Transformationen, das sie erzeugte, integriert werden.“ [7] Dabei bilden gewisse dieser Bestandteile eine Abgrenzung zum umgebenden Milieu. Allerdings kann diese Membran nicht als reines Produkt des Zellstoffwechsels betrachtet werden (wie das Tuch als Produkt der Webmaschine), sondern ist integraler Teil davon und nimmt an den Transformationsprozessen teil. So lässt sich die zelluläre Einheit nur durch die Wechselwirkungen aller Bestandteile aufrechterhalten. Entsteht an einem beliebigen Punkt eine Unterbrechung im zellulären metabolischen Netz, wird die Einheit bald nicht mehr feststellbar sein. Ein autopoietisches System unterscheidet sich also im Wesentlichen durch seine innere Dynamik vom umgebenden Milieu.[8]

Die gegenseitige Bedingtheit von der Dynamik des Netzwerks der Transformationen (Stoffwechsel) und der Abgrenzung (Rand/Membran).[9]

Unterschiede zwischen Organisation und Struktur

Eine Organisation kann im Sinne von Varela und Maturana mit unterschiedlichen Strukturen funktionieren.

„Organisation und Struktur
Unter Organisation sind die Relationen zu verstehen, die zwischen den Bestandteilen von etwas gegeben sein müssen, damit es als Mitglied einer bestimmten Klasse erkannt wird.

Unter der Struktur von etwas werden die Bestandteile und die Relationen verstanden, die in konkreter Weise eine bestimmte Einheit konstituieren und ihre Organisation verwirklichen. So besteht die Organisation zur Steuerung des Wasserspiegels in einem Spülkasten des Wasserklosetts aus den Relationen zwischen einem Gerät, das fähig ist, den Wasserpegel einzuschätzen, und einem Gerät, das fähig ist den Wasserzufluß zu unterbinden. Im häuslichen WC wird diese Geräteklasse heute mit einem System aus verschiedenen Materialien wie Kunststoff und Metall verwirklicht, das aus einem Durchflussventil besteht. Diese besondere Struktur könnte aber dadurch verändert werden, dass der Kunststoff durch Holz ersetzt wird, ohne dass damit die Organisation, die das Ding zu einem Spülkasten macht betroffen wäre.“[10]


Maturana und Varela bezeichnen die autopoietische Organisation als entscheidendes Merkmal des Lebens. Dabei wird der Begriff Organisation spezifisch definiert (vgl. Kasten). Sie verstehen darunter die Relationen (die Beziehungen oder auf der Ebene der Zelle die Wechselwirkungen) zwischen den Bestandteilen, die etwas als Mitglied einer Klasse von Objekten erkennen lassen. Bei einem Beispiel aus der Klasse der Stühle, Wasserklosetts oder auf der zellulären Ebene lassen sich diese Relationen relativ einfach beschreiben bzw. sind wie der zelluläre Metabolismus gut erforscht, bei anderen Klassen wie z. B. bei guten Taten ist eine kulturunabhängige Beschreibung kaum möglich. Diese Definition von Organisation hängt eng mit derjenigen von Struktur zusammen. Struktur meint die Bestandteile und ihre Beziehungen zueinander, die ein Mitglied einer Klasse bzw. seine Organisation konkret bilden und verwirklichen. Diese Definition ist die Grundlage für das Verständnis der strukturellen Koppelung, die für die Autopoiese zweiter und dritter Ordnung eine wichtige Rolle spielt. „Ein Lebewesen ist durch seine autopoietische Organisation charakterisiert. Verschiedene Lebewesen unterscheiden sich durch verschiedene Strukturen, sie sind aber in Bezug auf ihre Organisation gleich.“ [11] Die Organisation beschreibt somit funktionale Aspekte, die auch durch unterschiedliche Strukturen aufrechterhalten werden können. Die Auflösung der Organisation bedeutet den Verlust der Einheit.

Autonomie und Autopoiese

Nach Maturana und Varela widerspricht das Konzept der Autopoiese bisherigen empirischen Erkenntnissen nicht, sondern ermöglicht es, Daten über Funktionsweise und Biochemie von Lebewesen miteinander in Beziehung zu bringen und aus einem spezifischen Blickwinkel zu interpretieren, der Lebewesen grundsätzlich als autonom betrachtet. Der Begriff Autonomie wird in der gängigen Bedeutung eingeführt; bekanntlich setzt er sich zusammen aus den griechischen Wörtern autos „selbst“ und nomos „der Brauch, die Sitte; das Gesetz“. Das Adjektiv autonomos bedeutet „nach eigenen Gesetzen lebend, unabhängig“, Autonomie kann also mit „Eigengesetzlichkeit, Unabhängigkeit“ übersetzt werden. Entsprechend definieren Maturana und Varela in ihrem Theoriegebäude Autonomie als die Fähigkeit eines Systems, „seine eigene Gesetzlichkeit beziehungsweise das ihm Eigene zu spezifizieren“ [12]. Dass Lebewesen autonom sind, ist unmittelbar einsichtig; was sie zu autonomen Einheiten oder Systemen macht, ist die Autopoiese. Im Vergleich mit anderen Systemen zeigt sich ihre Eigengesetzlichkeit oder Unabhängigkeit darin, dass sie sich durch ihre Organisation kontinuierlich selbst erzeugen: „Das Sein und das Tun einer autopoietischen Einheit sind untrennbar, und dies bildet ihre spezifische Art der Organisation.“ [13]

Biologische Phänomenologie

Im Rahmen der Geschichte unseres Sonnensystems ist das Auftreten autopoietischer Einheiten eine epochale Wende. Mit ihrem Erscheinen treten Phänomene auf (in ihrer Gesamtheit als „Phänomenologie“ bezeichnet), die von der jeweiligen autonomen autopoietischen Einheit abhängig sind und sich von physikalisch erklärbaren Phänomenen (z. B. der bisherigen Erdgeschichte) unterscheiden. Vor diesem Hintergrund verwenden die Autoren den Begriff der biologischen Phänomenologie, um damit alle Phänomene zu bezeichnen, die in einer Klasse von Einheiten aufgrund ihrer Interaktionen auftreten. Sie betonen, dass damit kein Widerspruch zur physikalischen Erklärung von Phänomenen gemeint ist, sondern im Gegenteil Lebewesen alle physikalischen Gesetze erfüllen müssen, weil sie molekulare Bestandteile haben. Allerdings „hängen die Phänomene, die autopoietische Einheiten in ihrem Operieren erzeugen, von der Organisation der Einheit ab und von der Art, wie sie verwirklicht wird, und nicht von den physikalischen Eigenschaften ihrer Bestandteile, welche nur den Raum ihrer Existenz bestimmen“ [14].

Kommentare, Auswertung, offene Fragen

Maturana und Varela stützen ihre Erkenntnisse auf Forschungen auf der molekular-zellulären Ebene. Auf dieser lässt sich das bisher beschriebene direkt beobachten. Autopoietische Einheiten erster Ordnung sind demnach im Wesentlichen alle einzelligen Lebewesen (Bakterien, Archaeen und Eukaryonten)[15]. Diese sind aus molekularen Entwicklungen in den Meeren der Urerde hervorgegangen und bilden den Beginn jener Entwicklungslinien, aus denen letztlich auch wir Menschen hervorgegangen sind.

Vergleiche auch

1.-Person-Methode
Autopoiese (Autopoiesis)

Einzelnachweise

  1. Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (2012): Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Aus dem Spanischen von Kurt Ludewig in Zusammenarbeit mit dem Institut für systemische Studien e. V. in Hamburg. 5. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag (Fischer Taschenbücher 17855). ISBN 978-3-596-17855-1.
  2. ebd. S. 49
  3. ebd. S. 47
  4. ebd. S. 49
  5. ebd. S. 50 f.
  6. ebd. S. 51
  7. ebd. S. 53
  8. ebd. S. 54
  9. ebd. S. 53
  10. ebd. Kasten auf Seite 54
  11. ebd. S. 55
  12. ebd. S. 55
  13. ebd. S. 56
  14. ebd. S. 60
  15. ebd. S. 85 ff