Hierarchie der Kompetenzen
Status | mit Fachliteratur angelegt |
AutorIn/RedakteurIn | N. N./Stefan Marty-Teuber |
Letzte Änderung | 23.11.2022 |
Zusammenfassung:
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus Zitaten zum Thema Hierarchie der Kompetenzen. Die Hierarchie der Kompetenzen ist ein Kinaesthetics-Modell, dass sich aus der direkten Interaktion mit bewegungseingeschränkten Menschen entwickelt hat. Die jahrelange Beobachtung unterschiedlichster Entwicklungsprozesse und die methodische Zusammenführung dieser Erfahrungen hat Muster zutage gefördert, die in diesem Modell zusammengefasst und vereinfacht dargestellt wurden. In der Zeitschrift „lebensqualität/LQ" taucht der Begriff ab 2010 in unterschiedlichen Zusammenhängen vermehrt auf.
Die Hierarchie der Kompetenzen in den Peer-Tutoring-Arbeitsunterlagen
Ein längerer Text zur Hierarchie der Kompetenzen findet sich in den Peer-Tutoring-Arbeitsunterlagen (Auflage 2020) des Verlags European Kinaesthetics Association. Er soll hier eine Diskussionsgrundlage bieten. Der Text ist im Rahmen eines Grundlagenprojekts der EKA überarbeitet, aber noch nicht breit diskutiert worden. Er findet sich im Kapitel „Lernumgebung gestalten mit KlientInnen“ auf den Seiten 43 bis 44. Voraus geht das Thema „Lernen statt Behandeln“. Der Text trägt die Überschrift „Die Hierarchie der Kompetenzen“. Das gleichnamige Dokumentationswerkzeug können Kinaesthetics-TrainerInnen auf der TrainerInnen-Plattform im Download von KinMedia unter „Dokumentationswerkzeuge“ einsehen.
- „Die ‚Hierarchie der Kompetenzen‘ ist ein Kinaesthetics-Modell, das Ihnen hilft, gegenüber einem anderen Menschen (oder auch gegenüber Ihnen selbst) die Entwicklungsperspektive einzunehmen. Es geht vom Modell der sieben Grundpositionen bzw. von den Kompetenzen aus, die in diesen und in den Positionswechseln zwischen diesen erforderlich sind. Es führt hierarchisch oder stufenartig von der Rückenlage bis ins Stehen. Die Hierarchie beruht darauf, dass die Organisation und Kontrolle des Gewichtes der Körperteile in der Schwerkraft immer anspruchsvoller werden. Dabei geht das Modell von folgenden Hypothesen aus:
• Die Kompetenzen, die in einer Grundposition in Bezug auf die Organisation und Kontrolle des Gewichtes der Körperteile in der Schwerkraft erforderlich sind, bilden die Grundlage oder Voraussetzung für die entsprechenden Kompetenzen, die der Positionswechsel in die nächsthöhere Grundposition erfordert.
• Die Kompetenzen, die bei einem Positionswechsel in Bezug auf die Organisation und Kontrolle des Gewichtes der Körperteile in der Schwerkraft erforderlich sind, bilden die Grundlage oder Voraussetzung für die entsprechenden Kompetenzen, die die nächsthöhere Grundposition erfordert.
- Aufbauend auf diesem Modell, ist das Dokumentationswerkzeug ‚Hierarchie der Kompetenzen‘ folgendermaßen angelegt [...]:
• Die linke Spalte des Dokumentationswerkzeuges zeigt die sieben Grundpositionen.
• In den je dazugehörigen Zeilen können die Kompetenzen in der jeweiligen Grundposition, die Kompetenzen bei der gehenden Fortbewegung und im Positionswechsel zur nächsthöheren Grundposition beschrieben werden.
Als Fokus zur Beobachtung und Beschreibung der Kompetenzen dienen die Kinaesthetics-Konzeptblickwinkel. Durch seine Anlage erlaubt dieses Instrument eine sehr differenzierte Untersuchung und Dokumentation der Entwicklung der einzelnen Kompetenzen eines Menschen und seiner Bewegungskompetenz im Ganzen.
- Inhaltlich hat das Modell der ‚Hierarchie der Kompetenzen‘ einen Zusammenhang mit der Beobachtung, dass die Entwicklung der Bewegungskompetenz beim neugeborenen Kind ‚stufenartig‘ vom Liegen übers Sitzen bis zum Stehen und aufrechten Gehen verläuft. Wenn ein Kind z. B. erst seit Kurzem sitzen ‚kann‘, braucht es dabei viele Kompetenzen, die es in den tieferen Grundpositionen, d. h. in der Rücken- und Bauchlage, und im Wechsel zwischen diesen gelernt hat. Dabei lässt sich feststellen, dass bestimmte Lernthemen oder Grundkompetenzen in tieferen Grundpositionen ebenso aktuell und erforderlich sind wie in höheren. Zu diesen Lernthemen gehören z. B. das Zusammenspiel von Ziehen und Drücken im Körper, die Art und Weise, wie das Kind in einer Grundposition sein Körpergewicht auf eine Unterstützungsfläche abgibt oder wie es das Gewicht der Massen in unterschiedliche Richtungen verlagert.
- Möglicherweise hat das Kind auf dem Weg ins Sitzen auch gelernt, sich ‚gehend‘ in der Bauchlage fortzubewegen. ‚Gehen‘ ist ja in allen Grundpositionen möglich, und die Kompetenz, Schritte machen zu können, wird nicht einzig und allein beim aufrechten Gehen gelernt. Natürlicherweise verläuft die Entwicklung so, dass Kinder solche Grundkompetenzen in den tieferen Grundpositionen und Positionswechseln lernen. Diese Lernprozesse bilden die Grundlage oder Voraussetzung für die Kontrolle und Koordination der Bewegung in höheren Positionen.
- Die Hierarchie solcher Lernprozesse ist bei kleinen Kindern gut beobachtbar, ist jedoch in jedem Alter von großer Bedeutung. Je höher eine Position ist, desto anspruchsvoller wird die Gewichtsorganisation. Das heißt, je mehr Massen ihr Gewicht nicht selbst, sondern über eine andere Masse abgeben, desto anspruchsvoller wird es, das Gewicht so zu kontrollieren, dass man nicht das Gleichgewicht verliert und stürzt.
- Oft ist beobachtbar, dass es älteren Menschen leichter fällt, auf zwei Beinen zu gehen als sich in tieferen Grundpositionen gehend fortzubewegen. Dies ist vor allem deshalb der Fall, weil sie Letzteres im Alltag nur noch selten tun und es dadurch verlernt haben. Dadurch geht ihnen das Fundament der Kompetenzen in den tieferen Grundpositionen und Positionswechseln teilweise verloren. Dies führt in der Regel dazu, dass sie immer unsicherer aufrecht gehen und das Risiko von Sturz und Verletzung zunimmt.
- Die Betrachtungsweise des Modells bzw. eine Analyse mit dem Dokumentationswerkzeug kann helfen, ein Unterstützungsangebot sehr präzise an den aktuellen Stand der Bewegungskompetenz eines anderen Menschen anzupassen. Dies erlaubt, mit ihm in tieferen und einfacher kontrollierbaren Grundpositionen an Grundkompetenzen zu arbeiten, die er in höheren und somit anspruchsvolleren Positionen nutzen kann. Ebenso ermöglicht das Modell bzw. das Dokumentationswerkzeug, Lernthemen zu erkennen, die sich wie ein roter Faden durch die Positionen oder Positionswechsel hindurchziehen.
- Die folgenden Beispiele aus der Praxis von Pflege und Betreuung sollen dies verdeutlichen:
• Wenn z. B. die Eltern eines Kleinkindes mit Behinderung möchten, dass es sitzen lernt, wird man aus der Perspektive der ‚Hierarchie der Kompetenzen‘ das Kind nicht einfach im Sitzen selbst unterstützen, sondern zuerst darauf achten, wie es mit den Anforderungen zurechtkommt, welche die tieferen Grundpositionen und die Positionswechsel auf dem Weg ins Sitzen stellen. Man wird es darin unterstützen, die dabei erforderlichen Kompetenzen immer differenzierter und vielfältiger zu entwickeln, um sie schließlich im Sitzen selbst anzuwenden.
• Wenn ältere Menschen darüber klagen, dass sie zwar gerade noch stehen und gehen, aber z. B. nach einem Sturz nicht mehr allein vom Boden aufstehen können, befinden sie sich in einer Situation, die für die Erhaltung ihrer Selbstständigkeit kritisch ist. Deshalb ist es wichtig, sie in ihren Bewegungsmöglichkeiten in den tieferen Grundpositionen und in den Positionswechseln von der Rückenlage zum Stehen zu unterstützen.
- In der Pflege stellt jede Mobilisation einer KlientIn einen Lern- oder Entwicklungsprozess für sie dar. Selbstverständlich kann auch hier mithilfe der Betrachtungsweise der ‚Hierarchie der Kompetenzen‘ differenziert auf den Entwicklungsstand der Bewegungskompetenz geachtet und die angestrebte Mobilität angepasst und stufenweise in den tieferen Grundpositionen und Positionswechseln erarbeitet werden.
- Wie gelangen Sie zu den Beschreibungen in den einzelnen Feldern des Dokumentationswerkzeuges [...] – Kommen Sie mit dem anderen Menschen in Bewegung!
- Die fokussierte Bewegungsinteraktion mit dem anderen Menschen in unterschiedlichen Interaktionsformen ist das unmittelbarste und ergiebigste Mittel, um etwas über seine Bewegungskompetenz in Erfahrung zu bringen, sie zu beschreiben und das Unterstützungsangebot anzupassen. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass es nicht um die ‚objektive‘ Bewertung eines Menschen geht, sondern um eine Einschätzung, die auf Ihrer differenzierten Innen- und Bewegungsperspektive beruht. Nutzen Sie dazu die Kinaesthetics-Konzeptblickwinkel.“
Die Hierarchie der Kompetenzen in der Zeitschrift „lebensqualität/LQ"
lebensqualität 03/2012: „Schau mal, was ich kann! Wenn Unverhofftes geschieht...“
Das folgende Zitat entstammt einem Artikel[1] aus der Rubrik „praxis“ der Zeitschrift „lebensqualität“ 03/2012. Erwin Lang beschreibt in diesem Erfahrungsbericht die Umsetzung des Modells im tatsächlichen Lernprozess mit einer sturzgefährdeten Person. Die ausgewählte Textstelle findet sich als Infobox am Ende des Artikels.
- “Hierarchie der Kompetenzen
- Wer in der Betreuung oder Pflege von Menschen arbeitet, kennt das Phänomen: Es gibt Menschen, die können zum Beispiel gehen – schaffen es aber nicht, selbst aus dem Bett zu steigen. Kinaesthetics erforscht sich seit einigen Jahren diese interessante Beobachtung und hat das Modell der Hierarchie der Kompetenz entwickelt. Die Hierarchie der Kompetenz ist ein spezifisches Kinaesthetics-Analyse-Instrument, das hilft, die aktuellen Fähigkeiten eines Menschen aus einer Entwicklungsperspektive zu beleuchten. Dabei richtet sich das Instrument nach folgenden Thesen:
• In tiefen Positionen (z.B. Rückenlage) ist es einfacher das Gewicht gegenüber der Schwerkraft zu kontrollieren wie in hohen Positionen (z. B. Stehen).
• Die Kompetenz und Fähigkeit, die ich in einer bestimmten Position brauche, lerne ich in den tieferen Positionen und auf dem Weg in die jeweilige Position. Beispiel: Um sitzen zu können, muss ich das Gewicht des Brustkorbes mit den Armen kontrollieren können. Das lerne ich in der Bauchlage und auf dem Weg von der Bauchlage ins Sitzen.
[...]“
Quelle: Lang, Erwin (2012): „Schau mal, was ich kann!“ Wenn Unverhofftes geschieht ... . In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2012, Nr. 1. S. 19.
lebensqualität 01/2014:„‚Geht nicht‘ geht nicht. Der Lernprozess eines ‚nicht therapierbaren‘ Menschen“
Das folgende Zitat entstammt einem Artikel[2] aus der Rubrik „praxis“ der Zeitschrift „lebensqualität“ 01/2014. Monika Schmidinger zeigt auf, wie sie das Modell in einem Lernprozess umsetzt und anhand des Kinaesthetics-Konzeptrasters die Entwicklung dokumenitiert. Das Zitat befindet sich am Ende des Artikels in einer Infobox.
- “Hierarchie der Kompetenzen
- Kinaesthetics beschreibt im Konzept ‚Menschliche Funktion“ sieben Grundpositionen. Die erste Grundposition ist die Rückenlage. Diese erfordert die Kompetenz, das Gewicht jeder Masse (d. h. von Kopf, Brustkorb, Becken, Beinen und Armen) einzeln auf die Unterstützungsfläche abgeben zu können. Wenn das gelingt, sind alle Zwischenräume frei beweglich und man kann die Massen einzeln auf der Unterstützungsfläche rollen. In der Rückenlage ist es am einfachsten zu kontrollieren, wie die Körperteile ihr Gewicht in der Schwerkraft abgeben.
Die nächste Grundposition (Bauchlage mit Ellbogenstütz) erfordert zusätzlich die Kompetenz, dass man das Gewicht des Kopfes und teilweise des Brustkorbs indirekt über die Arme auf die Unterstützungsfläche abgeben kann. Nur schon deshalb ist diese Grundposition anspruchsvoller.
Mit jeder folgenden Position geben immer weniger Massen ihr Gewicht direkt auf die Unterstützungsfläche ab und die Herausforderung der indirekten Gewichtsabgabe nimmt zu.
Spezifische Kompetenzen, die in diesem Sinn hierarchisch gestuft sind, haben durch alle Grundpositionen hindurch und auf allen Wegen von einer Grundposition in eine andere eine elementare Bedeutung. In der Rückenlage kann man z. B. relativ einfach lernen, mit den Beinen die Bewegung des Beckens zu unterstützen und zu kontrollieren – eine Kompetenz, die auch in allen höheren Grundpositionen eine wichtige Rolle spielt. Sie ist auch eine Erleichterung oder gar Voraussetzung, dass man mit angemessener Anstrengung in die nächsthöhere Position gelangt. Entsprechend gilt auch für die anderen spezifischen Kompetenzen, die die Grundpositionen oder der Weg zwischen ihnen erfordert, dass man sie sinnvoller und leichter in tieferen Positionen erwirbt oder erweitert als in höheren.
[...]“
Quelle: Schmidinger, Monika (2014): „Geht nicht“ geht nicht. Der Lernprozess eines „nicht therapierbaren“ Menschen“. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2014, Nr. 1. S. 31.
Weiterführende Literatur und Medien
- Kühleitner, Dagmar (2010): Ein revolutionärer Raster. Ein Erfahrungsbericht aus Österreich. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2010, Nr. 3. S. 24.
- Rönsch-Braun, Holger (2011): Nicht alt sondern Reif. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2011, Nr. 2. S. 50.
- ↑ Lang, Erwin (2012): „Schau mal, was ich kann!“ Wenn Unverhofftes geschieht ... . In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2012, Nr. 1. S. 15–19.
- ↑ Schmidinger, Monika (2014): „Geht nicht“ geht nicht. Der Lernprozess eines „nicht therapierbaren“ Menschen“. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2014, Nr. 1. S. 26–31.