Kybernetik (Begriff): Unterschied zwischen den Versionen
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: '''''"Die Herkunft vieler Wörter bietet oft überraschende Geschichten und Zusammenhänge, die weit in die indo-europäische Sprachgeschichte zurückreichen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der European Kinaesthetics Association (EKA) und Altphilologe/Indogermanist erzählt Stefan Marty-Teuber von den Wurzeln von Wörtern, über die er bei seiner Tätigkeit stolpert.''''' | : '''''"Die Herkunft vieler Wörter bietet oft überraschende Geschichten und Zusammenhänge, die weit in die indo-europäische Sprachgeschichte zurückreichen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der European Kinaesthetics Association (EKA) und Altphilologe/Indogermanist erzählt Stefan Marty-Teuber von den Wurzeln von Wörtern, über die er bei seiner Tätigkeit stolpert.''''' | ||
: '''''Cybernetics.''''' ''Die junge Wissenschaft der Kybernetik ist eine zentrale theoretische Grundlage von Kinaesthetics. Das Kunstwort ‚cybernetics’ ist wie ‚mathematics’ (Mathematik), ‚physics’ (Physik) oder auch Kinaesthetics ein Plural, der im Englischen mit dem Singular des Verbs konstruiert wird (cybernetics is beautiful). Es wurde vom amerikanischen Mathematiker N. Wiener (1894–1964) vorgeschlagen. Wie er im gleichnamigen Buch von 1948 schreibt, schien den PionierInnen der Kybernetik dieser Begriff treffend ihr gemeinsames Interesse an Steuerungs- und Regelungsvorgängen sowie an der Nachrichtentheorie zu bezeichnen. Sie hatten ihn bewusst aus dem griechischen Wort ‚kybernétes’ (Steuermann) im Sinne einer ‚Steuermannskunst, -wissenschaft’ gebildet. Der Begriff gefiel ihnen auch darum, weil der schottische Physiker J. C. Maxwell 1868 die früheste bedeutende Beschreibung der Rückkoppelungsmechanismen von ‚governors’ (Fliehkraftregler) verfasst hatte und deren Bezeichnung über das lateinische Wort | : '''''Cybernetics.''''' ''Die junge Wissenschaft der Kybernetik ist eine zentrale theoretische Grundlage von Kinaesthetics. Das Kunstwort ‚cybernetics’ ist wie ‚mathematics’ (Mathematik), ‚physics’ (Physik) oder auch [[Kinaesthetics (Begriff)|Kinaesthetics]] ein Plural, der im Englischen mit dem Singular des Verbs konstruiert wird (cybernetics is beautiful). Es wurde vom amerikanischen Mathematiker N. Wiener (1894–1964) vorgeschlagen. Wie er im gleichnamigen Buch von 1948 schreibt, schien den PionierInnen der Kybernetik dieser Begriff treffend ihr gemeinsames Interesse an Steuerungs- und Regelungsvorgängen sowie an der Nachrichtentheorie zu bezeichnen. Sie hatten ihn bewusst aus dem griechischen Wort ‚kybernétes’ (Steuermann) im Sinne einer ‚Steuermannskunst, -wissenschaft’ gebildet. Der Begriff gefiel ihnen auch darum, weil der schottische Physiker J. C. Maxwell 1868 die früheste bedeutende Beschreibung der Rückkoppelungsmechanismen von ‚governors’ (Fliehkraftregler) verfasst hatte und deren Bezeichnung über das lateinische Wort ‚gubernator’ (Steuermann) auf den griechischen ‚kybernétes’ zurückgeht. Als letzten Grund für die Begriffswahl nennt N. Wiener die Tatsache, dass die Steuerungsmaschinen von Schiffen zu den ersten und am besten entwickelten [[Feedback-Control-Theorie|Feedback]]-Mechanismen gehören.'' | ||
: '''''Ein Schiff steuern.''''' '' Mit großer Wahrscheinlichkeit kannten die Wissenschafter, die bei der Taufe der Kybernetik mitredeten, die griechische Wortfamilie von ‚kybernao’ (ein Schiff steuern) aus ihrer gymnasialen Ausbildungszeit, genauer aufgrund ihrer Lektüre der ‚Ilias’ und der ‚Odyssee’. Diese beiden Epen werden dem blinden Sänger Homer (8. Jahrhundert. v. Chr.) zugeschrieben, gehören zu den frühesten Zeugnissen der europäischen Literatur und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zur höheren Schulbildung. Und die ‚Odyssee’ berichtet ja hauptsächlich davon, wie es Odysseus zehn Jahre lang nicht gelingt, über das Meer seine geliebte Penelope und die Heimatinsel Ithaka anzusteuern. Vielleicht erinnerten sich die Taufpaten der Kybernetik sogar daran, dass der Steuermann Palinurus im römischen Epos ‚Aeneis’ auf Veranlassung des erzürnten Neptuns als Opfer für alle anderen mit seinem Steuerruder in die Tiefe entrissen wird. Vielleicht auch daran, dass Philosophen, Politiker und Redner die Wirksamkeit der übertragenen Verwendung – z. B. ‚den Staat sicher durch alle Stürme steuern’ u. Ä. - entdeckten und dieses Bild immer wieder gebrauchten.'' | |||
: '''''Isolierte Wurzel.''''' ''Die Fähigkeit, ein Schiff bauen und sicher über ein Gewässer steuern oder gar segeln zu können, war eine zentrale Triebfeder der gesamten kulturellen Entwicklung der Menschheit. Von wem erlernten die alten Griechen diese Fähigkeit? Wenn wir den sprachlichen Wurzeln nach- gehen, stellen wir fest, dass ein eindeutiger Beleg einer Verwandtschaft in einer anderen indoeuropäischen Sprache fehlt. In dieser großen Sprachfamilie, die sich von der Westküste des heutigen Europas bis nach Indien erstreckte, verwendete niemand ein Wort, das auf dieselbe Wurzel zurückgeht. Das legt die Vermutung nahe, dass die Griechen die Steuermannskunst von Menschen lernten, die keine indo-europäische Sprache sprachen. Wer es war, ist meines Wissens unbekannt.'' | |||
: '''''Schiff ahoi!''''' '' Umso klarer sind die Verhältnisse bei den Römern: Sie lernten es von den Griechen und sagten darum ‚gubernare’ (ein Schiff steuern) für ‚kybernao’ oder ‚gubernator’ für ‚kybernétes’. Sie sind es auch, die die steile Karriere der übertragenen Verwendung in der Politik nach Kräften unterstützten. Wie erfolgreich sie waren, zeigt sich heute darin, dass in außerordentlich vielen Sprachen ex-lateinische Wörter verwendet werden, die direkt mit deutsch ‚Gouverneur’, ‚Gouvernement’ oder ‚Gouvernante’ verwandt sind und anzeigen, wer das Steuerruder (tatsächlich) in den Händen hält. Müsste man den PolitikerInnen vor diesem Hintergrund vielleicht vermehrt ‚Schiff ahoi!’ zurufen, um sie an den Ursprung der Verantwortung zu erinnern, die sie tragen?'' | |||
: '''''Der ‚kybernétes’ segelt weiter.''''' '' Wie erfolgreich ‚cybernetics’ ist, zeigt sich übrigens nicht nur darin, dass diese Wissenschaft längst nicht zu Ende gedacht ist, sondern auch in sprachlicher Hinsicht. Man braucht nur ‚cyber’ zu googeln und erhält vorgeführt, dass es der navigationskundige homerische ‚kybernétes’ dank der Kybernetik unter anderem geschafft hat, im Cybernet mit geheimnisvollen Wesen, die Cyborgs heißen, Cyberlearning zu praktizieren und so klammheimlich weiterzusegeln. Ich kann ihm da nur zurufen: Schiff ahoi!"'' | |||
Quelle: Marty-Teuber, Stefan (2011): Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet. In: Lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. Nr. 2 (2011), S. 42. Siebnen: verlag lebensqualität. | |||
== Weiterführende Literatur und Medien == | |||
'''Wiener, Norbert (2001):''' Futurum exactum. Ausgewählte Schriften zur Kybernetik und Kommunikationstheorie. Übersetzt von C. Kassung. Herausgegeben von Bernhard Dotzler. Wien, New York: Springer. ISBN 978-3-211-83467-1. | |||
Originalausgabe der Beiträge von Norbert Wiener: Norbert Wiener. Collected Works with Commentaries. © MIT Press 1976 and 1985. | |||
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]] |
Aktuelle Version vom 18. Dezember 2023, 11:41 Uhr
Status | mit Fachliteratur angelegt |
AutorIn/RedakteurIn | Stefan Marty-Teuber/Sabine Kaserer, Dagmar Panzer |
Letzte Änderung | 18.12.2023 |
Zusammenfassung:
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einem einschlägigen Zitat zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Kybernetik. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität“.
Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet“ überschrieben.
- "Die Herkunft vieler Wörter bietet oft überraschende Geschichten und Zusammenhänge, die weit in die indo-europäische Sprachgeschichte zurückreichen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der European Kinaesthetics Association (EKA) und Altphilologe/Indogermanist erzählt Stefan Marty-Teuber von den Wurzeln von Wörtern, über die er bei seiner Tätigkeit stolpert.
- Cybernetics. Die junge Wissenschaft der Kybernetik ist eine zentrale theoretische Grundlage von Kinaesthetics. Das Kunstwort ‚cybernetics’ ist wie ‚mathematics’ (Mathematik), ‚physics’ (Physik) oder auch Kinaesthetics ein Plural, der im Englischen mit dem Singular des Verbs konstruiert wird (cybernetics is beautiful). Es wurde vom amerikanischen Mathematiker N. Wiener (1894–1964) vorgeschlagen. Wie er im gleichnamigen Buch von 1948 schreibt, schien den PionierInnen der Kybernetik dieser Begriff treffend ihr gemeinsames Interesse an Steuerungs- und Regelungsvorgängen sowie an der Nachrichtentheorie zu bezeichnen. Sie hatten ihn bewusst aus dem griechischen Wort ‚kybernétes’ (Steuermann) im Sinne einer ‚Steuermannskunst, -wissenschaft’ gebildet. Der Begriff gefiel ihnen auch darum, weil der schottische Physiker J. C. Maxwell 1868 die früheste bedeutende Beschreibung der Rückkoppelungsmechanismen von ‚governors’ (Fliehkraftregler) verfasst hatte und deren Bezeichnung über das lateinische Wort ‚gubernator’ (Steuermann) auf den griechischen ‚kybernétes’ zurückgeht. Als letzten Grund für die Begriffswahl nennt N. Wiener die Tatsache, dass die Steuerungsmaschinen von Schiffen zu den ersten und am besten entwickelten Feedback-Mechanismen gehören.
- Ein Schiff steuern. Mit großer Wahrscheinlichkeit kannten die Wissenschafter, die bei der Taufe der Kybernetik mitredeten, die griechische Wortfamilie von ‚kybernao’ (ein Schiff steuern) aus ihrer gymnasialen Ausbildungszeit, genauer aufgrund ihrer Lektüre der ‚Ilias’ und der ‚Odyssee’. Diese beiden Epen werden dem blinden Sänger Homer (8. Jahrhundert. v. Chr.) zugeschrieben, gehören zu den frühesten Zeugnissen der europäischen Literatur und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zur höheren Schulbildung. Und die ‚Odyssee’ berichtet ja hauptsächlich davon, wie es Odysseus zehn Jahre lang nicht gelingt, über das Meer seine geliebte Penelope und die Heimatinsel Ithaka anzusteuern. Vielleicht erinnerten sich die Taufpaten der Kybernetik sogar daran, dass der Steuermann Palinurus im römischen Epos ‚Aeneis’ auf Veranlassung des erzürnten Neptuns als Opfer für alle anderen mit seinem Steuerruder in die Tiefe entrissen wird. Vielleicht auch daran, dass Philosophen, Politiker und Redner die Wirksamkeit der übertragenen Verwendung – z. B. ‚den Staat sicher durch alle Stürme steuern’ u. Ä. - entdeckten und dieses Bild immer wieder gebrauchten.
- Isolierte Wurzel. Die Fähigkeit, ein Schiff bauen und sicher über ein Gewässer steuern oder gar segeln zu können, war eine zentrale Triebfeder der gesamten kulturellen Entwicklung der Menschheit. Von wem erlernten die alten Griechen diese Fähigkeit? Wenn wir den sprachlichen Wurzeln nach- gehen, stellen wir fest, dass ein eindeutiger Beleg einer Verwandtschaft in einer anderen indoeuropäischen Sprache fehlt. In dieser großen Sprachfamilie, die sich von der Westküste des heutigen Europas bis nach Indien erstreckte, verwendete niemand ein Wort, das auf dieselbe Wurzel zurückgeht. Das legt die Vermutung nahe, dass die Griechen die Steuermannskunst von Menschen lernten, die keine indo-europäische Sprache sprachen. Wer es war, ist meines Wissens unbekannt.
- Schiff ahoi! Umso klarer sind die Verhältnisse bei den Römern: Sie lernten es von den Griechen und sagten darum ‚gubernare’ (ein Schiff steuern) für ‚kybernao’ oder ‚gubernator’ für ‚kybernétes’. Sie sind es auch, die die steile Karriere der übertragenen Verwendung in der Politik nach Kräften unterstützten. Wie erfolgreich sie waren, zeigt sich heute darin, dass in außerordentlich vielen Sprachen ex-lateinische Wörter verwendet werden, die direkt mit deutsch ‚Gouverneur’, ‚Gouvernement’ oder ‚Gouvernante’ verwandt sind und anzeigen, wer das Steuerruder (tatsächlich) in den Händen hält. Müsste man den PolitikerInnen vor diesem Hintergrund vielleicht vermehrt ‚Schiff ahoi!’ zurufen, um sie an den Ursprung der Verantwortung zu erinnern, die sie tragen?
- Der ‚kybernétes’ segelt weiter. Wie erfolgreich ‚cybernetics’ ist, zeigt sich übrigens nicht nur darin, dass diese Wissenschaft längst nicht zu Ende gedacht ist, sondern auch in sprachlicher Hinsicht. Man braucht nur ‚cyber’ zu googeln und erhält vorgeführt, dass es der navigationskundige homerische ‚kybernétes’ dank der Kybernetik unter anderem geschafft hat, im Cybernet mit geheimnisvollen Wesen, die Cyborgs heißen, Cyberlearning zu praktizieren und so klammheimlich weiterzusegeln. Ich kann ihm da nur zurufen: Schiff ahoi!"
Quelle: Marty-Teuber, Stefan (2011): Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet. In: Lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. Nr. 2 (2011), S. 42. Siebnen: verlag lebensqualität.
Weiterführende Literatur und Medien
Wiener, Norbert (2001): Futurum exactum. Ausgewählte Schriften zur Kybernetik und Kommunikationstheorie. Übersetzt von C. Kassung. Herausgegeben von Bernhard Dotzler. Wien, New York: Springer. ISBN 978-3-211-83467-1. Originalausgabe der Beiträge von Norbert Wiener: Norbert Wiener. Collected Works with Commentaries. © MIT Press 1976 and 1985.