Erfahren (Begriff): Unterschied zwischen den Versionen
Aus Kinaesthetics-Online-Fachlexikon
KKeine Bearbeitungszusammenfassung |
|||
Zeile 2: | Zeile 2: | ||
''''' Zusammenfassung: ''''' <br> | ''''' Zusammenfassung: ''''' <br> | ||
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Erfahren/ Erfahrung. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität “ | Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Erfahren/ Erfahrung.. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität “ | ||
== Erfahren/Erfahrung in der Zeitschrift „lebensqualität“ == | == Erfahren/Erfahrung in der Zeitschrift „lebensqualität“ == |
Version vom 5. Juni 2024, 15:03 Uhr
Status | mit Fachliteratur angelegt |
AutorIn/RedakteurIn | Stefan Marty-Teuber/Dagmar Panzer |
Letzte Änderung | 05.06.2024 |
Zusammenfassung:
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Erfahren/ Erfahrung.. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität “
Erfahren/Erfahrung in der Zeitschrift „lebensqualität“
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Erfahren: Von der Piratin zur Expertin“ überschrieben.
- „Die eigene Bewegung bewusst und unmittelbar zu erfahren, ist in Kinaesthetics Grundlage und Ausgangspunkt des Lernens. Stefan Marty- Teuber geht der Herkunft des Wortes „erfahren“ nach und stößt auf einen wissenschaftlich kaum problematischen Blumenstrauß von Furten, Pforten und Poren, experimentellen ExpertInnen und empirischen PiratInnen.
- ‚erfahren/Erfahrung‘ heute. Es scheint mir wichtig, an erster Stelle die aktuelle Verwendung von ‚erfahren/Erfahrung‘ zu klären. Am häufigsten verwendet die deutsche Sprache nämlich das Verb in der Bedeutung ‚Kenntnis erhalten, mitgeteilt/ zu wissen bekommen‘, und zwar besonders im Zusammenhang mit wichtigen Neuigkeiten (vgl. ‚ich habe es aus der Presse erfahren‘). Am zweithäufigsten und eher in gehobener Sprache tritt ‚erfahren‘ im Sinne von ‚an sich selbst erleben, zu spüren bekommen‘ auf. An diese Zweitbedeutung schließen in Kinaesthetics die Ausdrücke ‚die eigene Bewegung erfahren/Bewegungserfahrung‘ an. Natürlich ist das eine treffende, aber nicht allgemein gängige Kombination. Im Alltag der deutschen Sprache finden sich häufiger Fügungen wie ‚Glück/Unglück, Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit, Freude/Leid erfahren; gute und schlechte Erfahrungen‘ u. Ä. Und schließlich gibt es eine abgeschwächte Bedeutung ‚eine Veränderung mitmachen‘. So können zum Beispiel PatientInnen eine Behandlung, Bücher eine Überarbeitung und Umsätze eine Steigerung erfahren. Bemerkenswert ist, dass das Substantiv ‚Erfahrung‘, sowohl das unmittelbare Erleben (vgl. ‚das war eine bittere Erfahrung‘) als auch – nur in einem positiven Sinn – die Routine, Kenntnis oder Kompetenz bezeichnet, die man durch das vielfache Er- und Durchleben einer Sache gewonnen hat (vgl. ‚sie verfügt über viel Erfahrung, wir müssen uns ihre Erfahrung zunutze machen‘). Hier verbindet sich das (wiederholte) unmittelbare Erleben und Tun ganz eng mit der Idee des Lernens und Kompetenzgewinns. Ganz entsprechend bezeichnet das Adjektiv ‚erfahren‘ kundige, versierte und in ihrem Gebiet bewanderte Personen. Aber mit diesen Feststellungen sind wir schon mitten in der Herkunft des Wortes angelangt.
- Sich fortbewegen. Das in allen germanischen Sprachen existierende Verb ‚fahren‘ (zum Beispiel althochdeutsch faran, englisch to fare, schwedisch fara) bezeichnete ursprünglich jede Art von Fortbewegung wie gehen, reiten oder mit einem Wagen fahren. Wie immer im Herbst sind hier in der Schweiz vor kurzem die SennInnen mit dem Vieh von ihren Alpen gefahren (sogenannte Alpabfahrt, aber nicht etwa mit Fahrzeugen, sondern zu Fuß). Hierin und in anderen Ausdrücken – zum Beispiel im Blitz, der vom Himmel fährt – zeigt sich noch heute die ursprüngliche sehr breite Bedeutung von ‚fahren‘. Das zusammengesetzte Verb ‚er-fahren‘geht auf althochdeutsch irfaran zurück. Dessen Kernbedeutung kann mit ‚sich vom Anfang bis zum Schluss durch ein Gebiet fortbewegen‘ umschrieben werden. Es liegt auf der Hand, dass, wer aufmerksam durch eine Gegend dringt, am Schluss die Wege und Irrwege kennt und im wahrsten Sinn des Wortes bewandert ist (wenn er zu Fuß unterwegs war). Schon früh wurde offenbar diese ursprüngliche geografisch-räumliche Bedeutung des Verbs irfaran auf andere Kontexte übertragen, die der heutigen Verwendung von ‚erfahren‘ entsprechen; so ist ab dem 15. Jahrhundert auch das Adjektiv ‚erfahren‘ im Sinne von ‚bewandert, kundig, kompetent‘ belegt.
- Back to the root. Die Wurzel, auf die ‚fahren‘ zurückgeht, wird im Rahmen der Indogermanistik in der Form *per- rekonstruiert. Ihr Bedeutungsspektrum wird meistens mit einer Reihe von Verben angegeben, aber wenn ich mir all ihre Belege in den verschiedenen Sprachen zurechtlege, war die Grundbedeutung dieses Verbs sozusagen ‚hindurchen, hinübern‘. Mit dieser Behelfsübersetzung kann ich die drei Grundfunktionen von *per- verdeutlichen: Erstens, dass man selbst ‚hindurcht‘, d. h. sich durch etwas hindurchbewegt, zweitens, dass man etwas mit etwas ‚hindurcht‘ d. h. etwas durchbohrt oder durchsticht, und drittens, dass man etwas oder jemanden ‚hindurcht‘, nämlich hinüberbringt oder hinüberschickt. Hier schließt sich wunderbar das griechische Verb peíro ‚durchbohren, -stechen, -dringen‘ an. Mit ihm gelangen wir zu verschiedensten, heute noch gebräuchlichen ‚Durchgängen‘: Eine Ableitung, die im Wort ‚die Pore‘ weiterlebt, ist póros ‚Durchgang, Furt, Weg‘. Sie kennen sie vielleicht von der geografischen Bezeichnung ‚Bosporus‘, was nichts anderes als Ochsenfurt oder Oxford heißt. Zur gleichen Sippe wie ‚póros‘, ‚Furt‘ oder auch ‚Fjord‘ gehören die lateinischen Wörter porta ‚Tür‘, das in ‚Pforte‘ weiterlebt, portus ‚Hafen‘ als sicherer Durchgang zwischen Land und Wasser (vgl. englisch airport, italienisch il porto) und zu guter Letzt portare ‚tragen, bringen‘, das Sie aus trans-, exportieren usw. kennen.
- Experimentelle ExpertInnen. Das Lateinische besitzt aber auch ein Verb, das sich direkt von der indo-europäischen Wurzel *per- ableitet. Es ist experíri ‚erproben, versuchen, prüfen, an sich erfahren, kennenlernen usw. ‘. Es ist mit ‚ex-“ zusammengesetzt, einer inhaltlichen – nicht etymologischen – Entsprechung des ‚er-‘ im Wort erfahren. Das einfache Verb (*períri) existiert nicht; einzig ein Adjektiv perítus ‚erfahren, bewandert, sachverständig‘ ist gleichermaßen seit Beginn des Lateins belegt. Später etablierte sich im klassischen Latein dessen Partizip expértus im Sinn von ‚erfahen, kundig, erprobt‘, woher sich unser Fremdwort ‚ExpertIn‘ (Sachverständige) herleitet, und die Substantive expérientia ‚Versuch, Erfahrung‘ und experiméntum ‚Versuch, Probe‘: Ersteres lebt in englisch ‚the experience“ und in den meisten romanischen Sprachen weiter (franz. expérience, span. experiencia, ital. esperienza), letzteres in ‚Experiment‘ oder ‚experimentell‘, welche Wörter ab dem 17. Jahrhundert zur Bezeichnung von wissenschaftlichen Versuchen oder gewagten Unternehmungen ins Deutsche eindrangen.
- Gefahr durch Piraterie! Spätestens jetzt muss ich auf eine Linie hinweisen, die quer durch die Sprachen hindurchführt: ‚Hindurchen‘, d. h. intensiv durch eine Erfahrung zu gehen, ist oft auch mit einem Risiko verbunden. Dies wird im Lateinischen durch das von *per- herrührende Substantiv perículum belegt (vgl. englisch the peril, span. el peligro, französisch le péril), das ‚Gefahr‘, und zwar sowohl den gefährdeten Zustand als auch das gefahrvolle Wagnis, den riskanten Versuch bedeutet. Innerhalb des Germanischen geht das ebenso auf *per- zurückzuführende Wort ‚Gefahr‘ auf mittel- hochdeutsch gevare ‚Nachstellung, Hinterhalt; Betrug‘ zurück. Im Mittelniederdeutschen hieß vare ‚Gefahr; Furcht‘, woran sich englisch the fear anschließt. Vor diesem Hintergrund möchte ich Ihnen ein zweites, von unserer Wurzel abgeleitetes griechisches Verb nicht länger vorenthalten, das eine auffällige, jetzt aber wohl besser verständliche Blüte getrieben hat. Es ist peiráo, das in der Wortbildung genau, in den Bedeutungen hochgradig dem lateinischen Verb experíri entspricht. Wie expertus bedeutet das zugehörige Adjektiv émpeiros ‚erfahren, sachverständig‘ und begann als ‚empirisch‘ ab dem 18./19. Jahrhundert im Deutschen seine Karriere zur Bezeichnung von Dingen, die auf Erfahrung im Sinn von Beobachtung beruhen. Nun kann grundsätzlich zu jedem Verb (zum Beispiel leuchten) ein Wort, das den Täter bezeichnet (Leuchter), gebildet werden. Nach diesem Muster erblühte ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. bis heute aus peiráo das Wort peirátes, das diejenigen Leute bezeichnete, die nicht nur die gefahrvollen Meere, sondern auch – selbst eine Gefahr – die Grenze des persönlichen Eigentums durchdrangen. Die PiratInnen (schon in der Antike waren Frauen vertreten) galten im griechischen Raum sozusagen als ‚ErfahrerInnen par excellence‘, allerdings mit einem negativen Beigeschmack.
- Erfahrung heißt gar nichts? Bei meinen Nachforschungen zur Herkunft von ‚erfahren‘ begann mich schon bald eine bohrende Frage im Hinterkopf zu beschäftigen: Wird man durch Erfahrung sozusagen automatisch sachkundig? Aus sprachlicher Sicht müsste ich die Frage bejahen. Wenn ich aber an meine Erfahrungen als Gymnasiallehrer zurückdenke, könnte ich auch fragen: Ist somit jede langjährige LehrerIn eine erfahrene, sprich kompetente LehrerIn? Ist nicht eher entscheidend, wie jede(r) mit seinen Erfahrungen umgeht, ob man sie überprüft und sich verbessern will oder ob man blind in die immer gleichen Erfahrungen hineinrasselt? Der Schriftsteller Kurt Tucholsky (1890–1935) soll dazu gesagt haben: ‚Erfahrung heißt gar nichts. Man kann seine Sache auch 35 Jahre schlecht machen.‘ Eine Kehrseite meiner Fragestellung – mit der ich Sie aus dieser Leseerfahrung entlassen möchte – beleuchtet der französisch-rumänische Dramatiker Eugène Ionesco (1909–1994): ‚Wir glauben, Erfahrungen zu machen. Aber die Erfahrungen machen uns‘.“
Quelle: Marty-Teuber, Stefan (2012): Erfahren: Von der Piratin zur Expertin. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2012, Nr. 4. S. 34–35.