Lerntheorie nach Gregory Bateson (1904-1980)

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AutorIn/RedakteurIn Andreas Borrmann/Stefan Marty-Teuber
Letzte Änderung 07.11.2023


Zusammenfassung:
In diesem Artikel wird der Begriff Lernen von Gregory Bateson dargestellt und mit der Kinästhetik übergeordnet in Bezug gebracht. Erläutert werden Bateson's logische Kategorien von Lernen und Kommunikation, auf die sich die Kinästhetik explizit beruft.

1 Die logischen Kategorien von Lernen und Kommunikation

1.1 Einleitung

Die folgenden Kapitel berufen sich auf verschiedene Aufsätze aus dem Buch „Ökologie des Geistes“ (englische Erstausgabe 1972)[1] von Gregory Bateson.

Bateson beschreibt, dass Lernen Veränderung in irgendeiner Art bezeichnet. „Veränderung bedeutet Prozeß. Aber Prozesse selbst sind wiederum der ‚Veränderung‘ unterworfen. Der Prozeß kann sich beschleunigen, er kann sich verlangsamen, oder er kann andere Typen der Veränderung durchlaufen, so daß wir sagen werden, daß es sich nunmehr um einen ‚anderen‘ Prozeß handelt.“[2] Um diese Ideen des Lernens zu ordnen, werden die logischen Typen von Lernen und Kommunikation benötigt, die im Folgenden vorgestellt werden.

1.2 Lernen Null

„Lernen null ist durch die spezifische Wirksamkeit der Reaktion charakterisiert, die – zu Recht oder zu Unrecht – keiner Korrektur unterliegt.“[3]

Innerhalb dieses ersten Typs von Lernen findet eine einfache Informationsaufnahme eines äußeren Ereignisses statt, und zwar dergestalt, daß ein ähnliches Ereignis zu einem späteren Zeitpunkt dieselbe Information übermitteln wird: Ich ‚lerne‘ von der Werkssirene, daß es zwölf Uhr ist.“[4] Es kommt somit ein ziemlich starres Reiz-Reaktions-Muster zum Vorschein und eine Verhaltensveränderung findet nicht statt.

„Lernen Null hat die Form eines Reizes, der eine bestimmte Reaktion bewirkt, die dann nicht mehr korrigiert wird.“[5]

Ursachen für ein solches Lernen sind weniger ein Lernen durch Erfahrung und vielmehr genetische Faktoren, wie zum Beispiel das Zukneifen der Augen bei hellem Licht oder das Zusammenzucken, wenn ein Düsenjet unvermutet über uns hinwegdonnert. Das Reiz-Reaktions-Muster ist wie bei einer einfachen elektronischen Schaltung eingelötet.[6]

Im Unterschied zu dieser primitivsten Form des Lernens handelt es sich bei allen höheren Ebenen um ein Lernen durch Versuch und Irrtum. Eine bestimmte Reaktion wird als falsch oder als Fehlentscheidung wahrgenommen und durch eine andere Reaktion ersetzt.[7] Ein Mensch reagiert auf denselben Reiz, je nach Kontext und je nach Menge der vorhandenen Alternativen, verschieden. Erst wenn eine Verhaltensänderung bei sonst gleichem Kontext eintritt, kann dies als ein eigentliches Lernen bezeichnet werden und beschreibt den Unterschied zwischen Lernen null und Lernen I. Ein Beispiel dafür ist eine Gewöhnung an einen Reiz, die auch Lebewesen ohne Nervensystem erreichen können.[8]

1.3 Lernen I

Die zweite Ebene des Lernens beschreibt Bateson wie folgt:

„Lernen I [kursiv] ist Veränderung in der spezifischen Wirksamkeit der Reaktion [kursiv] durch Korrektur von Irrtümern der Auswahl innerhalb einer Menge von Alternativen.“[9]

Weiter schreibt er:

„Mit einem Wort, die Liste des Lernens I enthält jene Einheiten, die in psychologischen Laboratorien ganz allgemein als ‚Lernen‘ bezeichnet werden.“[10]

Hier wird der Prozess von Lernen Null verändert, so dass zu einem späteren Zeitpunkt auf den Reiz eine andere Reaktion zu beobachten ist. Es ist das Gewöhnen an einen Reiz, auf den bald nicht mehr reagiert wird oder eine automatische Reaktion hervorgerufen wird. Eine Gewöhnung an einen Reiz, welcher vorher als störend wahrgenommen wurde, wie stereotype Reaktionsmuster oder instrumentelle Belohnungen fallen auch unter Lernen I.[11]

Als Beispiel kann der Pawlowsche Hund angeführt werden:

„Zu einem Zeitpunkt 2 sondert der Pawlowsche Hund Speichel auf den Glockenton ab, was er vorher nicht gemacht hat. Und zum Zeitpunkt 2 pickt die Skinnersche Taube gezielt auf die Taste, die ihr Futter präsentiert.“[12]

Bateson beschreibt diesen Vorgang als „Phänomen der Gewöhnung“[13]. Entweder bleibt im Sinn der Gewöhnung eine offene Reaktion aus oder die Reaktion auf einen Reiz bleibt im Sinn eines Verlustes der Gewöhnung aus. Auch die positive oder negative Verstärkung kann unter die Form von Lernen I fallen.

Anzumerken ist nach Bateson jedoch, dass es sich bei den erwähnten Fällen von Lernen I jedes Mal um denselben Kontext handeln muss. Dies ist allerdings nur schwer umsetzbar, da jede Situation, an einem Kalender oder einer Uhr gemessen, nur einmal existiert. Bateson paraphrasiert hier Heraklit und beschreibt das Dilemma so:

„Kein Mann kann zweimal mit demselben Mädchen zum ersten Mal ins Bett gehen.“[14]

Die verschiedenen Kontexte müssen demnach ähnlicher Natur oder gleich markiert sein.

1.4 Lernen II

„Lernen II [kursiv] ist Veränderung im Prozeß des Lernens I [kursiv], z.B. eine korrigierende Veränderung in der Menge von Alternativen, unter denen die Auswahl getroffen wird, oder es ist eine Veränderung in der Art und Weise, wie die Abfolge der Erfahrung interpunktiert wird.“[15]

Für Phänomene von Lernen II werden auch die Begriffe „Deutero-Lernen“, „Set-Lernen“, „Lernen lernen“ und „Lerntransfer verwendet.“[16] Es ist ein „Lernen, das dazu dient, den umfassenderen Kontext zu erkennen, in dem der Reiz auftritt, so daß die Bedeutung dieses Reizes korrekt erkannt werden kann“[17]. Diese Lernform verändert den Prozess von Lernen I. Werden viele Erfahrungen in Prozessen von Lernen I gemacht, können sich diese auf andere Bereiche auswirken. Erwartete Muster können gezielt in anderen Bereichen eingesetzt werden.[18] In Lernen I besteht eine gewisse Menge an Alternativen. In Lernen II hingegen wird die Menge von den Alternativen korrigierend verändert.[19] Unterschiedliche Mengen von Alternativen kommen zum Vorschein, die kategorisiert werden können

Möchte ein Lehrer im Kontext einer neuen Klasse eine bestimmte Lerneinheit unterrichten, so kann er zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen: Frontalunterricht, Gruppenarbeit, Lernauftrag etc. Hat der Lehrer die Erfahrung gemacht, dass in ähnlichen Lerneinheiten eine bestimmte Unterrichtsmethode sehr wirkungsvoll war, so wird er die anderen Möglichkeiten nicht mehr nutzen und im neuen Kontext sofort auf die bisher gut funktionierende Möglichkeit zurückgreifen.

Nach Bateson findet hier die Gewohnheits- als auch die Charakterbildung statt [20]. In Lernen I wurde die Gewöhnung an einen Reiz beschrieben. Hier in Lernen II geht es um die Gewohnheitsbildung in der Auswahl von Alternativen.

1.5 Lernen III

Die unterschiedlichen Kategorien von Mengen von Verhaltensalternativen können systematisiert werden. Innerhalb dieses Systems sind Veränderungen möglich, was unweigerlich Auswirkungen auf die niederen Lernstufen hat. Es könnte als System der Systeme beschrieben werden.

In Lernen II wird geschildert, dass durch die immer wiederkehrende Auswahl einer sich ständig verbessernden Handlungsmöglichkeit Gewohnheiten entstehen, die auch zur Charakterbildung führen. Es entsteht eine Definition des „Selbst“:

„Die Prämissen dessen, was gemeinhin ‚Charakter‘ genannt wird – die Definition des ‚Selbst‘ – bewahren das Individuum davor, die abstrakten, philosophischen, ästhetischen und ethischen Aspekte vieler Lebensabschnitte überprüfen zu müssen. ‚Ich weiß nicht, ob das gute Musik ist; ich weiß nur, daß sie mir gefällt.‘
Das Lernen III wird aber diese ungeprüften Prämissen offen in Frage stellen und der Veränderung aussetzen.“[21]

Das „Selbst“ wird irrelevant und identitätsstiftende Charakterzüge sind bloße Interpunktionen von Kontexten. Wenn Lernen II über Lernen I steht, so beeinflusst Lernen III das Lernen II. Durch Lernen III kann das Individuum bereitwilliger lernen, Gewohnheiten zu bilden und bestehende zu ändern. Das Individuum hat die Möglichkeit zu „lernen, dass es ein Geschöpf ist, das Lernen II unbewußt erreichen kann und dies auch tut“[22]. Des Weiteren könnte die Person durch Lernen III ihr Lernen II steuern. Es kommt dadurch also zu einer Verstärkung oder zu einer Einschränkung von Lernen II. Zu diesem Vorgang zitiert Bateson einen Zen-Meister:

„Sich an irgend etwas zu gewöhnen ist schrecklich.“[23]

Ein Lernen III birgt allerdings auch Gefahren, da solch eine Verhaltensänderung in der Psychiatrie oft als psychotisch bezeichnet wird[24]. Die Ebene von Lernen III zu erreichen ist selten und schwierig. Zu Beginn dieses Kapitels schreibt Bateson:

“Es steht zu erwarten, daß es auch für Wissenschaftler, die auch nur Menschen sind, schwierig sein wird, diesen Prozeß vorzustellen oder zu beschreiben.“[25]

1.6 Lernen IV

Lernen IV ist noch abstrakter und stellt den Kontext für eine Veränderung von Lernen III dar. Da Lernen III für Menschen schwer erreichbar ist, schreibt Bateson zu Lernen IV lediglich:
„Lernen IV [kursiv] wäre Veränderung im Lernen III [kursiv], kommt aber vermutlich bei keinem ausgewachsenen lebenden Organismus auf dieser Erde vor. Der Evolutionsprozeß hat jedoch Organismen hervorgebracht, deren Ontogenese sie zum Lernen III bringt. Die Verbindung von Ontogenese und Phylogenese erreicht in der Tat Ebene IV.“[26]

2 Gregory Bateson und Kinästhetik

Das 16. Kinästhetik-Bulletin von 1990 ist die erste zusammenhängende Veröffentlichung zur Kinästhetik. Im ersten Kapitel „Hintergrund der Kinästhetik (Entstehung, Begründer, Weitere Einflüsse)“ wird auf die Bedeutung von Gregory Bateson eingegangen:

„Nebst ihrem gemeinsamen Hintergrund haben drei Personen auf indirekte Weise Franks und Lennys gemeinsame Arbeit und die Entwicklung von Kinästhetik stark beeinflusst: K.U. Smith, Moshé Feldenkrais und Gregory Bateson. […]
Gregory Bateson stand Kinästhetik persönlich nicht so nahe wie Moshé Feldenkrais und K.U. Smith, hatte aber doch einen bedeutenden Einfluss auf deren Entwicklung. Zu Beginn ihrer Zusammenarbeit waren Franks und Lennys Erklärungen, wie und warum ihre Arbeit mit Kommunikation durch Berührung und Bewegung taugte, manchmal unklar, bisweilen etwas metaphysisch oder gar konfus. Als sie Bateson's ‚Oekologie des Geistes‘ gelesen hatten, begann Frank mit ihm einen Briefkontakt, der bis zu Bateson's Tode, kurz nach der Vollendung seines letzten Buches ‚Geist und Natur‘, andauerte. Diese Korrespondenz und Bateson's beiden Bücher sind der Ursprung vieler philosophischer Ansätze der Kinästhetik. Die wichtigste These ist, dass lebende Systeme einem anderen logischen Typ angehören als das Material, aus dem sie bestehen. Das bedeutet, dass der Lernprozess darin besteht, Unterschiede zu erkennen und darauf zu reagieren. Lernen ist nicht die Anhäufung von Sachverhalten in einem leeren Gefäss; eine Annahme, von der zu viele Lehrmethoden ausgehen. “[27]

3 Einzelnachweise

  1. Bateson, Gregory (1972): Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Übersetzt von Hans Günter Holl. 12. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-28171-0.
  2. ebd., S.367.
  3. ebd., S.379.
  4. ebd., S. 368.
  5. ebd., S. 379.
  6. ebd., S. 367.
  7. ebd., S. 371
  8. ebd. S. 372.
  9. ebd. S. 379.
  10. ebd., S. 372
  11. ebd., S. 372.
  12. Mohl, Alexa (2006):Der große Zauberlehrling. Teilbd. 2. Paderborn: Junfermann. EAN 9783873876156. S. 772.
  13. Bateson, Gregory (1972): Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Übersetzt von Hans Günter Holl. 12. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-28171-0. S. 372.
  14. ebd., S. 373
  15. ebd., S. 379.
  16. ebd., S. 378
  17. Dilts, Robert (2005): Professionelles Coaching mit NLP. Mit dem NLP-Werkzeugkasten geniale Lösungen ansteuern. Paderborn: Junfermann. ISBN 978-3-87387-558-6. S. 256.
  18. Mohl, Alexa (2006):Der große Zauberlehrling. Teilbd. 2. Paderborn: Junfermann. EAN 9783873876156. S. 772.
  19. Bateson, Gregory (1972): Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Übersetzt von Hans Günter Holl. 12. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-28171-0. S. 379.
  20. ebd., S. 385.
  21. ebd., S. 392.
  22. ebd., S. 392
  23. ebd., S. 393.
  24. ebd., S. 395
  25. ebd., S. 390.
  26. ebd., S. 379.
  27. Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990): Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 6 f.