Lernen (Begriff)

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Status mit Fachliteratur angelegt
AutorIn/RedakteurIn Stefan Marty-Teuber/Dagmar Panzer
Letzte Änderung 17.04.2024


Zusammenfassung:

Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Lernen. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität “

Lernen in der Zeitschrift „lebensqualität“

Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Lernen: Von der Mathematik zur List“ überschrieben.

„Die Herkunft vieler Wörter bietet oft überraschende Geschichten und Zusammenhänge, die weit in die indo-europäische Sprachgeschichte zurückreichen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der European Kinaesthetics Association (EKA) und Altphilologe/ Indogermanist erzählt Stefan Marty-Teuber von den Wurzeln von Wörtern, über die er bei seiner Tätigkeit stolpert.
Ohne Zweifel haben Lernen und Lehren in Kinaesthetics eine wichtige Bedeutung. Darum widme ich mich im Folgenden einigen Wörtern und Mustern, die mit diesem Thema zu tun haben.
Kindheit und Lernen. Mein kleines Alt-griechisch-Wörterbuch liefert mir für ‚lernen‘ zwei Wörter. Das zweite ist das Verb ‚paideúomai‘, das auf das Substantiv ‚pais, (Genitiv) paidós‘ (das Kind) zurückgeht. Formal ist dieses Verb passiv und ‚ich lerne‘ heißt ursprünglich sozusagen ‚ich werde gekindet‘. Somit wird in diesem Wort das Lernen nicht nur als abhängig von Ausbildung oder Erziehung durch eine erwachsene Lehrperson gedacht, sondern auch auf die Kindheit eingeschränkt. Dahinter steht die verbreitete Vorstellung, dass Kindheit und Jugend vom Lernen geprägt sind, im Erwachsenenalter aber der Mensch anwendet, was er gelernt hat, und es an die nachkommende Generation weitergibt.
Zielstrebige Lernfreude. An erster Stelle steht im griechischen Wörterbuch ‚mantháno‘ für ‚ich lerne‘. Leider ist die Herkunft des Wortes nicht ganz sicher; eine Grundbedeutung ‚seinen Sinn auf etwas richten, angeregt, lebhaft sein‘, wozu etymologisch das deutsche Adjektiv ‚munter‘ passen würde, wird diskutiert. Es gibt einige sicher verwandte Verben wie das althochdeutsche ‚menden‘ (sich freuen) und andere, deren Bedeutungsspektrum sich von ‚auf etwas zielen‘ bis zu ‚genau mustern‘ erstreckt. Hier scheint also das Lernen ursprünglich als das lebhafte, freudvolle und konzentrierte Erkunden des Menschen verstanden worden zu sein. Dass Lernen viel mit konzentrierter Lebhaftigkeit und Freude zu tun hat, zeigt sich gerne, wenn sich jemand für ein neues Hobby oder Lernfeld begeistert. Dass sich im Laufe der Schulkarriere diesbezüglich viel ändern kann, zeigte sich für mich als Gymnasiallehrer erschlagend deutlich, als zum ersten Mal ein Schulbesuch an der Primarschule meines Sohnes angesagt war. Am Gymnasium musste ich auch an Besuchstagen damit rechnen, dass zuerst einmal tiefes Stillschweigen und große Regungslosigkeit eintreten konnte, wenn ich eine Frage stellte. Hier zeigten die meisten Kinder bereits dann auf und wollten sich enthusiastisch zu Wort melden, wenn die Lehrerin nur schon zu einer Frage ansetzte – der Unterschied des Verhaltens war für mich frappant.
‚Ich werde alt und lerne immer noch viel dazu‘,stellte bereits der griechische Weise Solon fest. Daneben ist auch die gegensätzliche Vorstellung gängig, dass sich Lernen auf Kindheit und Jugend beschränkt.
Mathematik. Bemerkenswert ist, dass von ‚mantháno‘ (ich lerne) das Substantiv ‚máthema‘ (das Gelernte, die Kenntnis) abgeleitet wurde, das im Plural die Wissenschaften, dann aber besonders die Lehre von den Zahlen und Zahlenverhältnissen, d. h. die heutige Mathematik, bezeichnete. Für die Griechen trat Lernen demnach besonders deutlich im Erwerb mathematischer Kenntnisse zum Vorschein; ausgerechnet die Mathematik erschien ihnen der Gegenstand des lustvollen Erkundens ‚par excellence‘ zu sein. Bei dieser Bedeutungsentwicklung spielt u. a. der griechische Philosoph Pythagoras (ca. 570–510 v. Chr.) eine wichtige Rolle. Er wurde nicht nur mit seinem geometrischen Satz unsterblich, sondern vertrat auch die Meinung, dass der Ursprung aller Dinge in den Zahlen liegt. Und selbstverständlich gehört Rechnen mit Lesen und Schreiben zu den grund- legenden Lernfächern oder Kulturtechniken, mit denen wir auch heute noch unsere Kinder vertraut zu machen versuchen.
Spuren. Wie steht es mit der Herkunft des deutschen Wortes ‚lernen‘ bzw. des direkt verwandten englischen ‚to learn‘? Es bildet auf der ältesten Sprachstufe in verschiedenen germanischen Sprachen mit ‚lehren‘ und ‚List‘ zusammen eine kleine Sippe, die zum Verb ‚leisten‘ gehört. Dieses bedeutete ‚befolgen, nachkommen, erfüllen, ausführen, tun‘, erst später kamen die aktuellen Bedeutungen ‚können, schaffen‘ hinzu. Alle diese Wörter gehen auf die Wurzel *leis- für ‚Spur, Abdruck, Furche, Bahn‘ zurück. Lernen bedeutete also ursprünglich ‚einer Spur nachgehen/folgen, nachspüren‘, Lehren bedeutete ‚jemanden zum Nachspüren bringen‘ und List ‚das Nachgespürt-Haben, das Wissen‘. Das gemeingermanische Wort ‚List‘ kann weiter eingegrenzt werden. Es bezeichnete das Gelernt-Haben oder Wissen im Kontext der Jagd, des Kampfes sowie handwerklicher und magischer Kunstfertigkeiten. Bestimmt war es für die jagenden und kämpfenden Menschen dieser Zeit sehr vorteilhaft, wenn sie Spuren lesen und ihr eigenes Verhalten daran anpassen konnten.
List und Sprache. Bezeichnend ist, dass man beim Spurenlesen vom Erkennen eines dauerhaften Abdrucks, einer Form, auf etwas Drittes, das nicht (mehr) da ist, schließen und Mutmaßungen darüber anstellen muss, wohin es geht, woher es gekommen ist und was man daher tun soll. Das gleiche Muster scheint mir in der Sprache vorzuliegen, wo wir mit (nicht sehr dauerhaften) lautlichen oder geschriebenen Formen Dinge bezeichnen können, ob sie nun da sind oder nicht, in der Zukunft oder in der Vergangenheit liegen. Auf jeden Fall dürfte genau in dieser – vielleicht sprachlichen – Listigkeit ein wesentlicher Grund liegen, dass der Mensch auf unserem Planeten eine solche Dominanz entwickeln konnte. Durch ihre Schlauheit war es Jägern zum Beispiel möglich, sehr große und gefährliche Tiere auf eine falsche Spur zu locken, sodass sie in Fallgruben fielen und vorerst einmal für Überleben oder Sicherheit gesorgt war. Kein Wunder also, dass ‚List‘ allmählich den eher negativen Nebensinn ‚Trick, geschickte Täuschung‘ erhielt und heute nur in dieser Bedeutung verwendet wird.
Von Mensch zu Mensch. Zu guter Letzt möchte ich auf ein Muster hinweisen, das in den indo-europäischen Sprachen sehr deutlich vorliegt: Lernen und Lehren sind eng miteinander verbunden. Im Germanischen verbindet die Herkunft die beiden Wörter, wobei ‚lehren‘ von ‚lernen‘ abgeleitet ist und als sogenannte Kausativbildung ursprünglich ‚jemanden zum Lernen bringen‘ heißt. Im Griechischen macht ‚paideúomai‘ (ich lerne) nur in Verbindung mit einer Lehrperson Sinn. Das erstaunlichste Beispiel ist aber Folgendes: Es gilt als ziemlich sicher, dass das griechische Verb ‚didásko‘ und das lateinische ‚disco‘ völlig identisch gebildet sind, d. h. sich von der gleichen Urform herleiten. Das erste heißt ‚ich lehre‘ und ist wieder eine Kausativbildung (zu einem alten griechischen Verb für ‚lernen‘). Von ‚didásko‘ wurde übrigens die Didaktik, die Wissenschaft oder Kunst des Lehrens, abgeleitet. Das zweite wird im Sprichwort ‚Docendo discimus‘ (Durch Lehren lernen wir‘) verwendet und heißt ‚ich lerne‘. Hier verschwand demzufolge der Unterschied zwischen den beiden Aktivitäten gänzlich. Sprachlich gibt sich also Lernen als etwas Zwischenmenschliches zu erkennen, bei dem jemand den Spuren folgt, die ein anderer Mensch legt, oder diese beiden Aspekte – ganz im Sinne des Sprichwortes – gleichzeitig oder wechselnd vorhanden sind. Dem griechischen Weisen Solon (ca. 640–560 v. Chr.) wird der Spruch ‚Ich werde alt und lerne immer noch viel dazu‘ nachgesagt. Vielleicht ist er ja gerade darum so alt geworden, weil er lernte – aber nicht allein in seiner Studierstube, sondern im lustvollen Kontakt mit anderen Menschen.
Eine Randnotiz: Die Disco hat nichts mit disco ‚ich lerne‘ zu tun. Unverkürzt heißt dieses Wort Diskothek. Der erste Bestandteil geht auf griechisch dískos ‚(Wurf-)Scheibe, Diskus‘ zurück, der zweite auf théke ‚Ablage, Aufbewahrungsort‘ (vgl. im Deutschen die Theke). Eigentlich bezeichnet das Wort also den Ort, wo man Scheiben (Schallplatten) lagert; verwendet wird es aber in ausgeweiteter Bedeutung für Lokale, in denen man die Scheiben auch laufen lässt und dazu tanzen kann (vgl. auch Bibliothek als ‚Bücheraufbewahrungsort‘).“

Quelle: Marty-Teuber, Stefan (2011):Lernen: Von der Mathematik zur List. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2011, Nr. 4. S. 44–45.