Orientierung

Aus Kinaesthetics-Online-Fachlexikon
Status mit Fachliteratur angelegt
AutorIn/RedakteurIn N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer
Letzte Änderung 21.10.2022


Zusammenfassung:
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch „Kinaesthetics Konzeptsystem“ und stellen einen aktuellen Referenztext dar.

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Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“

Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Funktionale Anatomie“ eingebettet. „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.


Die Entstehung des Begriffes Orientierung hängt mit der Tatsache zusammen, dass
sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der
aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den
Himmelskörpern auszurichten pflegte.
Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der
Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit
beantwortet Fragen wie: „Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden
wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?“
Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen
Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie
orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen
auseinander wie: „In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit
welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer Massen organisiert? Wie
und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu
erreichen?“
Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten
ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und
der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst
oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die „richtige
Richtung“ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt
die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der
Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.
Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich
bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die
Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die
räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne
des Wortes lahmlegen.


Oben und unten
Die körperliche Orientierung bezüglich „oben“ und „unten“ basiert auf der
Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: „Oben“ ist der Kopf,
dann folgt der Brustkorb und das Becken, „unten“ sind die Beine bzw. die Füße. Da
diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage
sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch
zur räumlichen Definition von „oben“ und „unten“ stehen, die sich aus einer
Außenperspektive ergibt.
Die räumliche Definition von „oben“ und „unten“ wird durch die konstante Wirkung
der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. „Unten“
definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, „oben“ durch die Gegenrichtung.
Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten
sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die
Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:
Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die
Gewichtssteuerung des Brustkorbes.
Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die
Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich.
Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes
und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des
Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft.
Für die Unterscheidung zwischen „oben“ und „unten“ kann der Mensch immer auf
die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.
Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer
Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der
Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht
beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung
an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.


Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten
Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der
unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.
Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,
werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten
tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich
Beugemuskeln vorhanden.
Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und
Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne
und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und
Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren
gängigen Vorstellungen ab.

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Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen
ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch
eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu
tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.
Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie
haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die
Rückseiten zu leiten und Anpassungen der
Gewichtsorganisation zu gestalten.
Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl
Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.
Nur deshalb ist es möglich, unser
Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den
Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu
den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen
Sinnessystems.
Der spiralförmige Verlauf von
Vorder- und Rückseiten ist
der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich
über eine unendliche Vielfalt von
Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.

Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während
einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher
Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“


Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020): Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.

Ausgewählte weiterführende Literatur

  • Asmussen-Clausen, Maren (2009): Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46
  • Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003): Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.
  • Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011): Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.

Kommentare, Auswertung und offene Fragen

Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen?