KOFL:ABAB-Artikel-scsi
| Status | vorläufig abgeschlossener Fachartikel |
| AutorIn/RedakteurIn | Silvia Schifferer, Stefan Marty-Teuber/N. N. |
| Letzte Änderung | 18.09.2025 |
Zusammenfassung:
Dieser Artikel behandelt die aktuelle Verwendung des kinästhetischen Fachbegriffspaars „Vorderseiten und Rückseiten“ in ausgewählter Fachliteratur. Eingebettet in das Thema Orientierung werden dabei die Eigenschaften und Funktionen sowie die Bedeutung für das Thema Grundpositionen, aber für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz aufgezeigt. In einem zweiten Teil wird die Geschichte des Fachbegriffs ausführlich dargestellt. Es zeigt sich, dass Vorder- und Rückseiten sehr früh ein Thema waren, das sich abgesehen von seiner Einbettung inhaltlich wenig gewandelt hat.
Aktuelle Verwendung des Fachbegriffs
Vorder- und Rückseiten in „Kinaesthetics – Konzeptsystem“
Die Einbettung von „Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten “ im Konzept „Funktionale Anatomie“
Im Buch „Kinaesthetics – Konzeptsystem“[1] umfasst das zweite Konzept „Funktionale Anatomie“[2] die vier Unterthemen „Knochen und Muskeln“[3], „Massen und Zwischenräume“[4], „Haltungsbewegungsebenen und Transportbewegungsebenen“[5] und „Orientierung“[6]. Das Unterthema „Orientierung“ enthält nach einer allgemeinen Einleitung die beiden Kapitel „Oben und unten“[7] sowie „Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten“[8].
Die Unterscheidung zwischen Vorder- und Rückseiten ist gemäß der Einleitung ins Konzept „Funktionale Anatomie“ einerseits eine weitere Ausprägung des subjektiv erfahrbaren Grundmusters, das in einem funktionalen Zusammenspiel von stabilen und instabilen Eigenschaften des Körpers besteht. Andererseits gilt auch hier die Hypothese, dass die Form die Funktion und umgekehrt die Funktion die Form beeinflusst. Die Form oder Struktur der Vorder- und Rückseiten beeinflusst die menschlichen Bewegungsmöglichkeiten und – gemäß der Einbettung der Vorder- und Rückseiten in das Unterthema „Orientierung“ – die menschlichen Orientierungsmöglichkeiten in alltäglichen Aktivitäten. Umgekehrt beeinflussen die lebenslangen Bewegungsgewohnheiten und die Art und Weise, wie wir die Vorder- und Rückseiten im Alltag nutzen, ihre Struktur.[9]
Gemäß ihrer Einbettung in das Unterthema „Orientierung“ sind die Vorder- und Rückseiten für die körperliche Orientierungsfähigkeit im Sinn der Orientierung an den funktional-anatomischen Gegebenheiten von Bedeutung. Sie betreffen insbesondere die Frage: „‚[…] Wie und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu erreichen?‘“[10]
Die Eigenschaften und Funktionen der Vorder- und Rückseiten
Bezug der Vorder- und Rückseiten auf die Massen
Das Zusammenspiel der Massen und Zwischenräume hat bei der Gewichtsabgabe und -verlagerung eine wichtige Funktion.[11] Diese Gewichtsorganisation wird im Unterthema „Orientierung“ unter dem Kapitel „Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten“ genauer beschrieben.[12] Dabei wird die Grundeigenschaft der Massen (kompakt, stabil usw.) dadurch genauer spezifiziert, dass zwischen Vorder- und Rückseiten unterschieden wird. Man könnte es so ausdrücken, dass sich das Muster von stabil und instabil an der Oberfläche der Massen wiederholt.
Bezeichnungen und Eigenschaften
Die Bezeichnung von Vorder- und Rückseiten des Körpers ist im alltäglichen Sprachgebrauch gängig. Allerdings dürfte ihr die „normale“ Blick- bzw. Fortbewegungsrichtung zugrunde liegen. Die Unterschiede der Eigenschaften und Funktionen der Vorder- und Rückseiten sind in Bewegungserfahrungen subjektiv wahrnehmbar.
Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken stimmen die gängigen Bezeichnungen der Vorder- und Rückseiten mit ihren erfahrbaren Aspekten überein. Um dies mit einem Beispiel zu verdeutlichen: Der Hinterkopf wird gemeinhin als Rückseite des Kopfes bezeichnet. Beim Hinterkopf sind größere harte, knochige und stabile Flächen besonders gut erfahrbar. Sie befinden sich unter der Haut, und auf ihnen kann man das Gewicht des Kopfes leicht verlagern, indem man ihn rollt. Die Vorderseite des Gesichts ist im Vergleich als weicher und anpassungsfähiger erfahrbar.
Bei den Extremitäten weicht das gängige Verständnis von vorne und hinten z. T. von der subjektiv wahrnehmbaren Erfahrung ab. Um dies mit einem Beispiel zu verdeutlichen: Besonders gut nachvollziehbar ist es bei den Unterschenkeln. Bei diesen sind vorne (nach der Blickrichtung) größere harte Flächen erfahrbar. Gegen die gängige Vorstellung bilden sie aus der funktionalen Perspektive Rückseiten. Entsprechend sind die gegenüberliegenden Seiten als weicher, instabiler und anpassungsfähiger erfahrbar.
Gemäß dem Text ist im Ganzen bei den Extremitäten eine spiralige Anordnung der Vorder- und Rückseiten erfahrbar, die grundsätzlich „eine unendliche Vielfalt von Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten“[13] ermöglicht.
Speziell wird darauf hingewiesen, dass die Hand- und Fußflächen sowohl Eigenschaften von Vorderseiten als auch von Rückseiten haben (vgl. dazu aber „Kommentare, Auswertung, offene Fragen („Kinaesthetics – Konzeptsystem“, „Aufbaumodul Demenz 3“)“). Dies wird in Zusammenhang mit der Fähigkeit gebracht, sich stehend im Gleichgewicht zu halten. Ebenso wird darauf hingewiesen, dass diese Flächen „zu den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen Sinnessystems“[14] gehören.
Gemäß dem Text weisen grundsätzlich die Rückseiten insbesondere Streckmuskeln auf und insgesamt eher weniger Muskeln. Die Vorderseiten weisen insbesondere Beugemuskeln auf und insgesamt eher mehr Muskeln.
Funktionen
Aus dem Blickwinkel der funktionalen Anatomie zeigen sich die Funktionen der Vorder- und Rückseiten darin, dass Rückseiten sich dazu eignen, „Gewicht zu tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben“[15], Vorderseiten hingegen dazu, „Gewicht auf die Rückseiten zu leiten und Anpassungen der Gewichtsorganisation zu gestalten“[16], sprich das Gewicht zu verlagern.
Abschließend wird festgehalten, dass die fortlaufende Anpassung des Zusammenspiels dieser Funktionen es erlaubt, Aktivitäten „mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher Kontrolle in der Schwerkraft“[17] auszuführen.
Zusammenfassende Darstellung
| Vorderseiten | Rückseiten | |||||||||||||||||||||
|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
| Erfahrbare Eigenschaften | Weiche, instabile und anpassungsfähige Seiten der Massen | Harte, knochige und stabile Seiten der Massen | ||||||||||||||||||||
| Bezeichnung | - Mit gängigen Bezeichnungen übereinstimmend bei Kopf, Brustkorb, Becken. - Teils nicht übereinstimmend bei den Extremitäten aufgrund des spiralförmigen Verlaufs. - Hand- und Fußflächen haben beide Qualitäten. | |||||||||||||||||||||
| Muskuläre Aspekte | - V. a. Beugemuskeln vorhanden. - Mehr Muskeln erfahrbar. [Sie liegen direkt und grossflächig unter der Haut.[Referenzfehler: Für ein <ref>-Tag fehlt ein schließendes </ref>-Tag. Gemäß dem Text stellt das Modell der Grundpositionen sieben grundlegende Positionen mit unterschiedlicher Gewichtsorganisation dar. Sie ergeben sich aus einem spiraligen Weg vom Liegen ins Stehen. In diesen Grundpositionen wird es stufenweise anspruchsvoller, das Körpergewicht in der Schwerkraft zu organisieren.[19]
Diese Organisation des Körpergewichts kann grundsätzlich mit verschiedenen Blickwinkeln der vorangehenden Konzepte beschrieben werden. In den Beschreibungen des „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ werden als Blickwinkel
verwendet. In jeder Position unterstützen die Vorder- und Rückseiten in ihrem Zusammenspiel, wie das Gewicht des ganzen Körpers organisiert ist. In Bezug auf die Grundpositionen wird darauf hingewiesen, dass „dabei die Extremitäten in zunehmendem Maß eine wichtige Rolle“[20] spielen und das Gewicht immer weiter außen bis zuletzt über die die Hände bzw. Füße abgeben. Dies trage dazu bei, dass das Zusammenspiel der Vorder- und Rückseiten „immer differenzierter und anspruchsvoller“[21] werde. In den einzelnen Grundpositionen werden die Vorder- und Rückseiten folgendermaßen erwähnt:
Vorder- und Rückseiten im „Aufbaumodul Demenz 3“EinleitungDas „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“[35] thematisiert die Suche nach Orientierung als eine zentrale Herausforderung für Menschen mit Demenz. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Bewegungswahrnehmung und „die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie grundlegend für das gesamte Orientierungsvermögen ist“[36]. Es gehe um die Entwicklung eines inneren körperlichen Verständnisses, welche Bewegungsrichtungen in der jeweiligen Situation passend sind. EinbettungDer erste Teil des Aufbaumoduls ist der Frage „Was ist Orientierung?“ gewidmet. Thema des zweiten Teils ist die „Orientierung an der eigenen Anatomie“[37]. Einleitende Ausführungen betreffen das Gewicht als Phänomen der Schwerkraft, das bei Lebewesen zur fortlaufenden Orientierungsfrage führt, „in welche Richtung wir das Gewicht unserer Körperteile bewegen müssen, damit wir uns in der Schwerkraft ausbalancieren können“[38]. Im Anschluss wird ausgeführt, wie wir uns hierzu an den Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie bzw. von Knochen und Muskeln[39], Massen und Zwischenräumen[40] und abschließend von Vorder- und Rückseiten[41] orientieren können. Dabei werden jeweils die entsprechenden Erläuterungen aus dem Buch „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ zitiert und danach die Bedeutungen für das Thema Orientierung, für Menschen mit Demenz und für ihre Pflege und Betreuung aufgezeigt. Bedeutung der Vorder- und RückseitenNach dem Zitat der entsprechenden Erläuterungen aus dem „Kinaesthetics – Konzeptsystem“[42] wird die Bedeutung für die eigene Orientierung folgendermaßen beschrieben:
Die folgenden Verbindungen mit dem Thema Orientierung werden hier hervorgehoben:
Unter dem Stichwort der „Bedeutung für Menschen mit Demenz“[44] wird entsprechend auf die Beobachtung verwiesen,
In diesem Zusammenhang wird erwähnt, dass als Folge hiervon für Menschen mit Demenz Alltagsaktivitäten sehr anstrengend oder nicht mehr ausführbar werden können. Unter dem Stichwort der „Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz“[46] wird auf Folgendes verwiesen: Wenn man Menschen mit Demenz nur schon darin unterstützt, ihr Gewicht ein klein wenig zu verlagern, wenn sie sich mit den Armen abstützen oder ihren Kopf rollen, kann das ihnen helfen, sich in Bezug auf eine funktionale Nutzung der Vorder- und Rückseiten zu orientieren. Eine Unterstützung unter diesem Blickwinkel sei in alltäglichen Aktivitäten grundsätzlich möglich. Im nachfolgenden Beispiel wird dies anhand der Unterstützung von Herrn L. durch die Bezugsperson veranschaulicht:
In diesem Zusammenhang werden für Unterstützungssituationen hilfreiche Fragestellungen erwähnt, die am Schluss aufgeführt werden:
In der Aufgabe des Lernprojektes wird der Blickwinkel der Vorder- und Rückseiten aus der Sicht der unterstützenden und unterstützen Person konkretisiert:
Kommentare, Auswertung und offene Fragen („Kinaesthetics – Konzeptsystem“, „Aufbaumodul Demenz 3“)Fehlender Bezug zu Orientierung im KonzeptsystemBemerkenswert ist, dass der explizite Bezug zum übergeordneten Thema Orientierung im Text des Buches „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ zu den Vorder- und Rückseiten[50] fehlt. Ausgehend von der Einleitung „2.4. Orientierung“[51] in das Thema kann man erschließen, dass es um die dort angeführten Fragen der körperlichen Orientierung geht, konkret darum, wie mit den Massen Gewicht abgegeben wird und in welche Richtung die Körperteile zwecks Zielerreichung bewegt werden sollen. Im Aufbaumodul Demenz 3 werden diese Zusammenhänge explizit erwähnt, und zwar durch die Stichworte der Gewichtsverlagerung in Richtung der Rückseiten, was die Gewichtsabgabe über die Rückseiten einschließt. Speziell hervorgehoben wird das Zusammenspiel der Vorder- und Rückseiten, bei dem die stärker anpassungsfähigen Vorderseiten die orientierende Funktion der „Wegweiser“ übernehmen. (Stefan Marty-Teuber, 2025-07-31) =====Die Problematik der zugehörigen Angaben zur Beuge- und Streckmuskulatur=====Im aktuellen Konzeptsystem wird beschrieben, dass an den Vorderseiten „mehr Muskeln erfahrbar“[52] sind. Diese Aussage beruht aus meiner Sicht auf der Art und Weise der individuellen Gewichtsorganisation. Halte ich mein Gewicht mit den Vorderseiten, wenn ich beispielsweise in einem eher parallelen Bewegungsmuster von der Rückenlage zum Sitzen komme, so erfahre ich meine Muskeln (und deren Anspannung) an der Vorderseite sehr deutlich. Verändere ich diesen Weg und nutze eher die Rückseiten zum Weiterleiten meines Gewichts an die Unterstützungsfläche, so nehme ich die Muskulatur an der Vorderseite weniger deutlich wahr. Im Austausch mit mehreren PhysiotherapeutInnen wurde insbesondere die früher gängige Aussage einiger TrainerInnen, dass an den Vorderseiten mehr Muskeln seien, kritisch betrachtet: Jeder Muskel braucht einen Gegenspieler. Beuge- und Streckmuskulatur entsprechen sich zahlenmäßig. Zudem wird im aktuellen Konzeptsystem beschrieben, dass an den Vorderseiten „hauptsächlich Beugemuskeln vorhanden“ und an den Rückseiten „v. a. Streckmuskel“ vorhanden sind. Hier merken die PhysiotherapeutInnen an, dass sich alle Muskeln zusammenziehen müssen, um ihre Funktion (das Beugen oder Strecken) zu erfüllen. Sowohl an der Vorder- wie auch an der Rückseite sind also Muskeln vorhanden, die zudem je nach Trainingszustand jeweils ähnlich gut erfahrbar sind. Als Unterscheidungsmerkmal hinsichtlich der Eigenschaften wird hier härter und weicher vorgeschlagen. (Silvia Schifferer, 202509-16) Vorder- und Rückseitenqualitäten der Hand- und FußflächenBis ca. 2006 werden die Hand- und Fußflächen in allen Dokumenten als Vorderseiten beschrieben. Danach ändert sich die Beschreibung dahingehend, dass den Hand- und Fußflächen Vorder- und Rückseitenqualitäten zugeschrieben werden. Nutzt man als Perspektive die Muskulatur, so kann man durchaus von Vorderseiten sprechen, da sich sowohl an den Hand- wie auch an den Fußflächen überwiegend Beugemuskulatur befindet. Andererseits kann über die Hand- und Fußflächen sehr gut Gewicht abgegeben werden, was eine Funktion ist, die den Rückseiten zugeordnet ist und uns beispielsweise ermöglicht, zu stehen. Andere Vorderseiten eigenen sich vergleichsweise schlechter zur Gewichtsabgabe. Es bleibt die Frage zu klären, ob ein Merkmal dominierend genutzt wird, um festzulegen, ob die Hand- und Fußflächen eher zu den Vorderseiten gezählt oder ob ihnen Vorder- und Rückseitenqualitäten zugeordnet werden. (Silvia Schifferer, 2025-08-04) Vorder- und Rückseiten in „Kinaesthetics Infant Handling“Die Einbettung der Vorder- und Rückseiten im Konzept Funktionelle AnatomieIm Buch „Kinaesthetics Infant Handling“[53] findet das Unterkapitel „4.4 Konzept: Funktionelle Anatomie“[54] im vierten Kapitel unter der Überschrift „Das Kinaesthetics Infant Programm“[55] seinen Platz. Hier werden nach einem einleitenden Teil zuerst die Unterthemen „4.4.1 Muskeln und Knochen“[56] sowie „4.4.2 Massen und Zwischenräume“[57] thematisiert. Es schließt sich das Unterthema „4.4.3 Orientierung in Körper und Raum“[58] an. Die Vorder- und Rückseiten finden im Unterkapitel „4.4.3.2 Körperorientierte Bewegungen“[59] erstmals Erwähnung, ehe sie unter der Überschrift „Verschiedene Aufgaben der Vorder- und Rückseiten des Körpers“[60] innerhalb des Kapitels konkretisiert werden. Die Strukturen des Körpers werden in der Einleitung des Konzepts analog den Unterthemen der „Funktionellen Anatomie“ als Voraussetzung für die die Ausführung menschlicher Aktivitäten benannt. Das vierte Unterthema „Orientierung“[61] wird hier einleitend als „Körperorientierung“ bezeichnet. Darüber hinaus wird beschrieben, dass das Verständnis Erwachsener in Bezug auf die funktionalen Qualitäten der Anatomie in der Interaktion hilft, dass Kinder ihre Anatomie wahrnehmen und effektiv einsetzen lernen.[62]. Diese Passage kann als ein Hinweis auf das „Social Tracking“ gedeutet werden. Das Kapitel „4.4.3 Orientierung in Körper und Raum“[63] beinhaltet eine allgemeine Einleitung zum Thema Orientierung. Dieser folgt das Unterkapitel „4.4.3.1 Orientierung im Körper vor und nach der Geburt“[64]. „4.4.3.2 Körperorientierte Bewegungen“
Mit der Voranstellung dieses einleitenden Satzes in dieses Unterkapitel werden die später folgenden Aussagen betont: Es wird zwischen der Orientierung an der Umgebung und der Körperorientierung unterschieden. Konkretisiert wird diese Unterscheidung mit dem Thema „Oben und unten“, das im Buch „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ in einem eigenen Kapitel[66] behandelt wird. Mit dem Stichwort der Richtungen wird der Bezug zum Thema Orientierung geschaffen. Gleichzeitig wird direkt der Kontext zu Unterstützungssituationen mit Kindern hergestellt. Der körperorientierte Einsatz der Anatomie wird dabei als müheloser und mit weniger Anstrengung verbunden gewertet. Anhand zweier sich unterscheidender Beschreibungen der Aktivität des Unterstützens beim Hinlegen ins Bettchen wird diese Aussage nachfolgend untermauert. Anschließend werden die Merkmale der zentralen Massen im Gegensatz zu denjenigen der Extremitäten als leicht erfahrbar beschrieben. Ausgehend von einer äußerlichen Sicht auf den Menschen wird in Bezug auf die Extremitäten von innen und außen gesprochen. Die Innenseiten meinen die Seiten der Extremitäten, die Richtung Rumpf, also nach innen, zeigen. Ihre Außenseiten sind die vom Körper wegzeigenden Seiten. Schließlich erfolgt die Übertragung von Innenseiten zu Vorderseiten sowie von Außenseiten zu Rückseiten. Neben dieser räumlichen Zuordnung wird die Beuge- und Streckmuskulatur als Unterscheidungsmerkmal genutzt (Streckmuskulatur an den Rückseiten, Beugemuskulatur an den Vorderseiten). Die Muskulatur an den Extremitäten bildet „eine spiralige Bahn für das Gewicht“[67] und wird als „strukturelle Grundlage für spiralige Bewegungsmuster“[68] bezeichnet. Zusammenfassend werden schließlich folgende Merkmale in Bezug auf Vorder- und Rückseiten dargestellt:
„Verschiedene Aufgaben der Vorder- und Rückseiten des Körpers“Unter dieser blau hervorgehobenen Überschrift werden auf der Basis der Unterscheidungsmerkmale nun verschiedene Aufgaben bzw. Funktionen abgeleitet:
Dass die Rückseiten der Stabilisierung dienen können, wird direkt in einer in blauer Schrift gedruckten Textpassage zum Ausdruck gebracht. In dieser wird beschrieben, dass wir immer „über eine oder mehrere Rückseiten unseres Körpers Gewicht auf den Boden abgeben“[74], um unser „Körpergewicht […] zu kontrollieren“[75]. Die Bedeutung der Aufgabe der Übertragung des Gewichts wird in Bezug auf das Anwendungsfeld „Infant Handling“ in einem grauen Kasten unter der Überschrift „Fähigkeitsentwicklung“ hervorgehoben.[76] Hier wird beschrieben, dass eine hilfreiche Unterstützung von Kindern so geschehen sollte, dass sie ihr Gewicht beim Aufstehen und Hinlegen über ihre Rückseiten nach unten leiten können. Das oben erwähnte Stichwort der Kraftausübung kann im Zusammenhang mit der Gewichtsabgabe verstanden werden. Textlich nicht leicht anschließbar ist das Stichwort Schutz (vgl. „Kommentare, Auswertung und offene Fragen („Kinaesthetics Infant Handling“)“ unten).
Textlich nicht leicht anschließbar sind die Stichworte Manipulierung der Umgebung und Kommunikation (vgl. „Kommentare, Auswertung und offene Fragen („Kinaesthetics Infant Handling“)“ unten). Hinweise auf das Verständnis der AutorInnen von Kommunikation mittels Vorder- und Rückseiten finden sich in einem grauen Kasten zum Thema „Erlernen der Qualitäten der Vorder- und Rückseiten des Körpers“ [78]. Hier wird im zweiten Schritt der Anleitung beschrieben, dass die Merkmale der Rückseite sie „zu einer geeigneten Stelle für eine Kontaktaufnahme“[79] machen. Nur „Bereiche mit ähnlichen Merkmalen“[80] sind laut dieser Anleitung zur Kontaktaufnahme mit den Vorderseiten geeignet. In der Trainerbildung wurde dieses Verständnis von den AutorInnen mit Beispielen verdeutlicht und wohl erweitert (siehe Kommentar „Aufgaben der Vorderseiten“ unten). Um das Zusammenspiel der Vorder- und Rückseiten zu beschreiben, wird im dritten Schritt der genannten Anleitung das Beispiel des Grimassierens gewählt: Es wird beschreiben, dass die Beweglichkeit der Vorderseiten vielfältiger ist als die der Rückseiten und „die Rückseite mit Hilfe der Vorderseite bewegt wird“[81]. Unklar bleibt an dieser Stelle, ob die oben erwähnte Aufgabe der Ausübung vitaler Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Kapitel „4.8.2.1 Bewegung am Ort: Vitale Aktivitäten“[82] steht. Es ist anzunehmen, allerdings findet sich dort kein Hinweis auf die Vorder- und Rückseiten. In Kapitel „4.8.1 Einfache Funktionen“[83], in dem die Grundpositionen thematisiert werden, finden sich verstreute Hinweise hauptsächlich auf Rückseiten in ihrer Funktion der Gewichtsabgabe. Das spiralige Muster der Vorder- und Rückseiten bei den Extremitäten wird abschließend als Begründung genutzt, weshalb spiralförmige Bewegungen leicht und geradlinige Bewegungen schwierig sind. Zwar wird an dieser Stelle auf die menschliche Bewegung verwiesen und damit auf die Bezeichnung des unmittelbar nachfolgenden Konzepts, der explizite Verweis auf die entsprechend benannten parallelen und spiraligen Bewegungsmuster unterbleibt an dieser Stelle aber. Kommentare, Auswertung und offene Fragen („Kinaesthetics Infant Handling“)In Bezug auf die Unterthemen des zweiten Konzepts im Buch „Kinaesthetics Infant Handling“ ist Folgendes bemerkenswert: Im Vergleich mit dem aktuellen „Kinaesthetics – Konzeptsystem“[84] findet das Unterthema „Haltungsbewegungsebenen und Transportbewegungsebenen“[85] des zweiten Konzepts keine Erwähnung. Eine ausführliche Textpassage ist der Unterscheidung zwischen der Orientierung an der Umgebung und der Körperorientierung gewidmet. Die Thematisierung der Vorder- und Rückseiten sowie deren Unterscheidungsmerkmale erfolgt ohne eigene Überschrift bzw. nicht in einem eigenen Unterkapitel. Erst die verschiedenen Aufgaben der Vorder- und Rückseiten des Körpers[86] erhalten dann eine blaue entsprechende Überschrift, wobei eine einheitliche Systematik hinsichtlich der Farbgebung der Überschriften schwer ersichtlich ist. Aufgaben der Rückseiten: Aufgaben der Vorderseiten: In Bezug auf die genannte Aufgabe der Vorderseiten der Manipulierung der Umgebung, die im Buch nicht konkretisiert wird, ist es interessant, sich mit der Übersetzungsfrage zu beschäftigen. In der deutschen Sprache hat „manipulieren“ eine negative Konnotation. Die Übersetzung des englischen Verbs „to manipulate“ lautet neben „manipulieren“ auch im neutralen Sinn „handhaben“[87]. Es könnte gut sein, dass Manipulierung im neutralen englischen Sinn des Wortes gemeint ist. Im Zusammenhang mit dieser Übersetzungsfrage ist der Vergleich mit dem Buch „Kinästhetik in der Pflege“ von Hatch, Maietta und Schmidt von 1996 interessant, in der die Handhabung eines Wasserglases beim Trinken mit den Vorder- und Rückseiten beschrieben wird (vgl. die Ausführungen zu den [[<#Vorder- und Rückseiten im Prinzip „Funktionale Anatomie/Orientierung“|Vorder- und Rückseiten in diesem Buch]] unten, wo die Stelle zitiert wird). Das Beispiel aus diesem Buch veranschaulicht nicht nur das Ergreifen eines Glases mit Vorderseiten als Manipulierung der Umgebung im neutralen Sinn. Es ist vielmehr ein konkretes Beispiel, wie die Vorderseiten bei der Ausübung vitaler Aktivitäten genutzt werden. In Bezug auf die Funktionen der Rückseiten veranschaulicht es das Halten einer stabilen Position und die Gewichtsabgabe. Was die Funktion der Kommunikation betrifft, berichten TrainerInnen, die Ausbildungen bei Lenny Maietta und Frank Hatch besucht haben, dass als Beispiele oft der kommunikative Einsatz der Mimik des Gesichtes oder der Gestik bzw. der entsprechenden Vorderseiten genannt wurden, oder wenn sich zwei Menschen die Hand geben oder sich umarmen als Situationen der nonverbalen Kommunikation, in denen die Vorderseiten feine wechselseitige Anpassungen ermöglichen. (Silvia Schifferer, 2025-08-04) Geschichte des FachbegriffsVorder- und Rückseiten in den Kinästhetik-Bulletins16. Kinästhetik-Bulletin von 1990In den Bulletins wird das Thema Vorder- und Rückseiten erstmals im 16. Bulletin inhaltlich differenzierter beschrieben und findet seinen Platz zwischen „4.1 Wahrnehmen“ und „4.3 Zeit – Raum – Anstrengung“ unter „4. 2 Orientierung im Körper“[88]. Nach einer kurzen Einführung in das Thema Orientierung, die „beeinflusst, worauf wir achten“ [89] wird das Thema „Oben – unten“ in Bezug zur gängigen Orientierung an der Umgebung aufgegriffen. Da dies oft „nicht der Struktur unseres Körpers“ [90] entspricht, schließt sich die abgrenzende Beschreibung der Orientierung im Körper an. Es wird betont:
Dieser Beschreibung folgt die Zuordnung, was unter vorne und hinten verstanden wird:
Diese Abbildung aus dem 16. Kinästhetik-Bulletin[93] veranschaulicht das Kapitel „Orientierung im Körper“. Die zweite Abbildung[94] des 16. Kinästhetik-Bulletins zur Veranschaulichung der Orientierung im Körper Die Aussagen werden durch zwei Zeichnungen veranschaulicht (vgl. Abbildungen), die zeigt, wo an den zentralen Massen vorne und hinten ist. Die Beschriftung hinsichtlich der Vorder- und Rückseiten an den Extremitäten fehlt. Die unterschiedliche Funktion der Muskulatur wird zur Definition von Vorder- und Rückseiten herangezogen:
für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.“[95]An Kopf und Rumpf werden diese Eigenschaften und Funktionen als einfach erkennbares Muster genannt. Interessant an dieser Beschreibung ist, dass die Handflächen und Fußsohlen hier noch eindeutig den Vorderseiten zugeordnet werden. Auffallend ist zudem die Verwendung des Begriffs Hinterseiten statt Rückseiten, wie sie später genannt werden. Hinsichtlich des Verlaufs der Vorder- und Rückseiten an den Extremitäten wird beschrieben, dass „diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster“[96] verläuft, was als „prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können“[97] eingeschätzt wird. Abgerundet wird dieses Kapitel mit der „Übung: Wasch – Ritual“[98]: Mit einer detaillierten Beschreibung wird angeleitet, wie die Vorderseiten bzw. Innenseiten kopfwärts (nach oben) und die Rückseiten bzw. Außenseiten einer Körperseite fußwärts (nach unten) ausgestrichen werden können. Die Streichrichtung scheint dabei von besonderer Bedeutung hinsichtlich der erwarteten Wirkung zu sein. Diese Streichungen sollen ein Gefühl von „Wärme, Lebendigkeit, Entspannung“[99]auslösen sowie „organisierend und klärend“[100] wirken. Abgesehen von der Überschrift gibt es keine inhaltliche Verknüpfung zur (Körper-)Pflege. Aus heutiger Sicht ist diese Anleitung deshalb problematisch, weil sie linear eine definierte Wirkung beschreibt. Abschlossen wird diese Anleitung mit dem Hervorheben der Bedeutung der Orientierung am eigenen Körper:
Vorder- und Rückseiten in weiteren Kinästhetik-BulletinsDie früheste Spur des Themas findet sich im 5. Kinästhetik-Bulletins vom Dezember 1983[102]. Im Artikel „Zwei Lektionen mit Supervision“[103], der aus Beschreibungen von Kinästhetik-Lektionen und Antworten von Lenny Maietta besteht, bezeichnet Brigitte Huber-Knobel in ihrer „Lektionsbeschreibung“ zu Beginn folgendes Thema:
Bemerkenswert ist, dass die Autorin hier den Begriff Konzept verwendet, sich aber in den folgenden Jahren und insbesondere im ersten öffentlichen Buch zur Kinästhetik von 1992[105] der Begriff Prinzipien für die heutigen Konzepte der Kinästhetik durchsetzte. Durch die Überschrift „Orientierung am eigenen Körper“ [106] weiter unten wird das Thema bereits in den gängigen Kontext der nachfolgenden Zeit gestellt. Inhaltlich erfährt man nicht viel mehr zum Thema, als dass es in der Lektion darum gegangen ist, die Vorderseite bzw. die „Hinterteile“[107] mit der Hand, dann mit Tennisbällen wahrzunehmen und zu merken, wo vorne und hinten ist. In einer Integration ging es auch darum, wie es für eine Mitteilung genutzt bzw. eine Information bekommen werden kann.[108] Das Thema Vorder- und Rück- bzw. Hinterseite ist in den Kinästhetik-Bulletins erst sieben Jahre später im 16. Kinästhetik-Bulletin wieder zu finden (vgl. oben). Danach erscheint es z. B. im Grundkurs-Arbeitsbuch von 1991[109] und wird offensichtlich zum fixen Bestandteil von Kursen und Ausbildungen. Im Grundkurs-Arbeitsbuch von 1991 erscheint es als drittes Kursthema „Orientierung am Körper“[110] nach dem ersten Thema „Komponenten der Interaktion“ und dem zweiten Thema „Funktionale Anatomie“ und vor den Themen „Menschliche Bewegung“, „Grundpositionen“, „Fortbewegung“ usw. Inhaltlich erfährt man aus diesem Arbeitsbuch nur, dass die Teilnehmenden Eigenschaften und Funktionen von Vorder- und Rückseite zu beschreiben und die Frage zu beantworten hatten, ob sie bei einem Transfer auf der Vorder- oder Rückseite Kontakt mit dem Patienten aufnehmen würden.[111]. Im 18. Kinästhetik-Bulletin vom März 1991[112] beginnt ein interessanter theoretischer Ansatz, der später vielfach aufgenommen wird. Lenny Maietta schreibt in ihrem von Ina Citron übersetzten Artikel „Die Erweiterung von Fähigkeiten zur Fortbewegung“[113] nach dem fettgedruckten Absatzbeginn „Fortbewegung kann in jeder Position geschehen“ Folgendes:
Im gleichen Kinästhetik-Bulletin wird dieser Ansatz im Artikel „Einzelförderung eines Kindes mit besonderen Problemen“[115] von Lenny Maietta und Ulrike Blank präzisiert. Es geht um ein Kind S., das oft nur mit großer Anstrengung vorlesen oder sprechen kann. Maietta schreibt zu dieser Situation.
Im weiteren Verlauf des Artikels werden anhand der Probleme des Kindes die Funktionen der Vorder- und Rückseiten des Körpers explizit erläutert. Vorangehend wird mit den damaligen Fachbegriffen auf die Problematik verwiesen, dass das Kind Anstrengung zum Verstreben von Armen und Brustkorb aufwendet.
Die Suche nach dem Thema Vorder- und Rückseiten in den weiteren Kinästhetik-Bulletins bis zum 24. und letzten von 1996 und ebenso in der Kinästhetik-Zeitschrift, die von 1997 bis 1999 erschienen ist, ergibt einen recht eindeutigen Befund: In den Artikeln werden– im Ganzen eher selten und beiläufig – einerseits diese Funktionen und andererseits das „Waschritual“ thematisiert. Im Sinn eines Beispiels des damaligen Verständnisses seien die entsprechenden Stellen aus dem 23. Bulletin vom Juli 1995[118] im Artikel „Kinästhetik in der Pädagogik – Ein Kursbericht Teil 2“[119] von Johanna Schild, Lenny Maietta, Brigitte Pignolet und Beat Renggli zitiert.
Wieder wird hier das Thema der Orientierung bzw. der Vorder- und Rückseiten in Zusammenhang mit dem Sprechen gebracht. Dabei wird auf die Bedeutung einer klaren Orientierung am Körper und insbesondere des Brustkorbes verwiesen:
Darauf wird das Thema Orientierung und die Funktionen der Vorder- und Rückseiten explizit aufgenommen:
Bemerkenswert ist, dass hier für den heutigen Fachbegriff Rückseite der Begriff Hinterseite verwendet wird; in den Anfängen der Kinästhetik finden sich nicht selten beide Varianten. Inhaltlich bemerkenswert ist, dass hier das Begriffspaar der Vorder- und Rückseiten bei einem Zwischenraum Anwendung findet und nicht bei den Massen wie sonst. Vorder- und Rückseiten in „Kinästhetik – Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Krankenpflege/Pflege“EinleitungIm Jahr 1992 erschien das erste öffentliche Fachbuch „Kinästhetik – Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Krankenpflege“ im Verlag Krankenpflege, Eschborn. In diesem ca. 190-seitigen Werk mit einem Vorwort von Sr. Liliane Juchli beschränken sich die AutorInnen Frank Hatch, Lenny Maietta und Suzanne Schmidt auf den Anwendungsbereich der Pflege. Es stellt die Geburtsstunde der heutigen Etablierung und breiten Verankerung der Kinästhetik in der Pflege dar. Der Ansatz des Buches ist präventions- und ressourcenorientiert und auf Anwendung und Transfers ausgerichtet. In der vierten Auflage von 1996[124] wurde der Untertitel von „in der Krankenpflege“ zu „in der Pflege“ geändert. In diesem Buch erscheinen die „Prinzipien“, d. h., die heutigen Konzepte, bereits in der aktuellen Reihenfolge – ohne Zweifel ist das Buch ein Meilenstein der Geschichte der Kinästhetik. Vorder- und Rückseiten im Prinzip „Funktionale Anatomie/Orientierung“EinleitungAls Erstes ist bemerkenswert, dass das Thema Vorder- und Rückseiten hier seine bis heute gültige Einordnung in das Prinzip bzw. spätere Konzept „Funktionale Anatomie“[125] bzw. in das Unterthema „Orientierung“[126] findet. Vorangehend finden sich die Unterthemen „Knochen und Muskeln“[127] und „Massen und Zwischenräume“[128]. Das Unterthema „Orientierung“ wird mit Ausführungen zur Desorientierung durch Krankheit[129] und zu körperlichen Orientierungshilfen[130] eingeleitet. Bei den letzteren wird auf die grundlegende Bedeutung der Unterscheidung zwischen der Orientierung im Raum und der Orientierung am Körper hingewiesen und in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit, dass Pflegende sich in Unterstützungssituationen am Körper der PatientInnen bzw. an seinen anatomischen Funktionen orientieren. Definition und Eigenschaften der Vorder- und RückseitenDie Ausführungen zu den körperlichen Orientierungshilfen werden dann mit den Themen „Oben – unten“[131], „Mitte[132]“, „Seiten“[133] und schließlich „Vorne – hinten“[134] weiter gegliedert. Hier werden die Vorder- und Rückseiten folgendermaßen charakterisiert:
Im Anschluss werden ihre Unterschiede durch eine Erfahrung am eigenen Körper veranschaulicht und durch ihre Eigenschaften ergänzt:
Funktionen der Vorder- und RückseitenUnter der Überschrift „Die Aufgaben von Vorder- und Rückseiten“, die formal derjenigen der körperlichen Orientierungshilfen entspricht, werden die Funktionen genauer erläutert:
Diese Textstelle wird bereits oben in den Kommentaren zum Buch „Kinaesthetics Infant Handling“ im Zusammenhang mit den Begriffen Manipulierung/manipulieren erwähnt. Das Beispiel veranschaulicht als Funktionen der Vorderseiten des Körpers
Das Beispiel veranschaulicht als Funktionen der Rückseiten des Körpers
Abschließend wird festgehalten, dass dieses Wissen in Unterstützungssituationen eine Anleitung ermöglicht, die der menschlichen Funktion entspricht und zu geringerer Anstrengung und größerer Eigenständigkeit der Patientin führt. In der Folge wird das Einsteigen ins Bett als weiteres Beispiel beschrieben. Gewöhnlich würden Menschen rückwärts ins Bett steigen, was mehr Gleichgewicht verlange und anstrengender sei und deshalb älteren oder kranken Personen schwerfalle. Demgegenüber wird festgehalten:
Vorder- und Rückseiten der Extremitäten und ihre spiralige AnordnungUnter der Überschrift „Vorder- und Rückseiten an den Extremitäten“[139], die formal derjenigen der Aufgaben von Vorder- und Rückseite entspricht, wird dann erläutert, dass die Definition der Vorder- und Rückseiten bei den zentralen Massen dem gängigen Verständnis entspricht, bei den Extremitäten aber eher von Innen- und Außenseiten gesprochen werde (vgl. Abbildung). Um diese der Muskelfunktion entsprechend zu nutzen, sei die Unterscheidung von Vorder- und Rückseite in gleicher Weise nötig. Im Anschluss wird diese Unterscheidung von Rück- und Vorderseiten durch eine Erfahrung am eigenen Körper mit den bekannten Kriterien veranschaulicht (hart – weich, strecken – beugen, Gewichtabgabe – differenzierte Beweglichkeit, Kontakt mit der Umgebung undifferenzierter – Kontakt mit der Umgebung differenzierter). Die zentrale Aussage ist, dass bei den Armen und Beinen „Vorder- und Rückseite spiralig um die Längsachse angeordnet“[140] sind bzw. verlaufen. Diese Abbildung[141] aus dem Buch veranschaulicht die Aufwärtsbewegung der Vorderseite und die Abwärtsbewegung der Rückseite beim Aufrichten des Oberkörpers. Das „Waschritual“ als Integration des Themas OrientierungAuf gleicher Ebene wie die vorangehende Überschrift folgt nun die Überschrift „Integration der Orientierungshilfen“[143]. Bemerkenswert ist, dass das nachfolgend beschriebene Thema in den ersten drei Auflagen des Buches als „Waschritual“[144]. bezeichnet wird. Dahingegen wird in der hier berücksichtigten vierten Auflage von 1996 der Begriff durch die neutraleren Begriffe „Aktivität/Prozess“ ersetzt. In einer Erfahrung am eigenen Körper werden systematische Streichungen der linken Körperseite beschrieben. Durch diese könne die Bedeutung und die Wechselbeziehungen der erwähnten Orientierungshilfen erfahren und ins in die eigenen Muster integriert werden. Dabei wird mit der rechten Hand „auf den Rückseiten der Massen nach unten und auf den Vorderseiten nach oben“[145] gestrichen. Die Streichungen führen von der linken Gesichtshälfte über die Rückseiten des Kopfs, der Arme, des Brustkorbs und Beckens zu den Beinen und zurück über die entsprechenden Vorderseiten zum Ausgangspunkt. Im Vergleich mit der rechten Körperseite sei die ausgestrichene linke Körperseite wahrscheinlich „deutlicher spürbar als die rechte, beispielsweise wärmer, weicher länger und/oder beweglicher“[146]. Ebenso könne eine ausgestrichene Extremität im Vergleich mit weniger Anstrengung bewegt werden. Als Wirkung auf die PatientInnen – z. B. bei einer Ganzkörperwaschung – wird eine Verbesserung der Selbstwahrnehmung, Beweglichkeit und des Gesundungsprozesses erwähnt. Im Ganzen diene das Thema einem konstanten Orientierungssystem, der Klarheit und Eindeutigkeit des Berührungskontaktes und für beide Beteiligten der weniger anstrengenden und schonenderen Interaktion, die sich an der menschlichen Funktion orientiert.[147]. Vorder- und Rückseiten im Prinzip „Anstrengung/Anstrengungsarten“In diesem Prinzip bzw. späteren Konzept, das zuerst mit „Anstrengung“, in der vierten Auflage des Buches mit „Anstrengungsarten“[148] überschrieben ist, werden die Vorder- und Rückseiten wieder erwähnt. Unter der Überschrift „Anstrengung und Orientierung am Körper“[149] wird die Kontaktaufnahme über die Vorder- und Rückseiten thematisiert. Dabei wird die Anstrengungsart Ziehen als Anstrengungsart als wirksamer bezeichnet, „wenn der Kontakt mit den Vorderseiten der Massen (Hände) aufgenommen wird“, weil „sich die flexible Vorderseite der stabilen Rückseite wirksam anpassen kann“. Die Anstrengungsart Drücken wird als wirksamer bezeichnet, „wenn der Kontakt mit oder an den Rückseiten der Massen aufgenommen wird“. Allerdings wird darauf hingewiesen, dass – mit dem damaligen Fachbegriff ausgedrückt – bei diesem Verstreben die Kontaktaufnahme mit der Vorderseite an einer Rückseite die Nutzung der „Anpassungsfähigkeit der flexiblen Vorderseite an die stabile Rückseite“ erlaubt. Als extrem instabil wird schließlich der Kontakt je mit den Vorderseiten bezeichnet.[150] Im Anschluss wird diese Ausgangslage mit vielen Bewegungserfahrungen und Abbildungen detailliert konkretisiert.[151] Im letzten Kapitel „Anwendungsmöglichkeiten in der Pflege“[152] werden Anwendungen der erwähnten Themen aufgezeigt, so z. B. über die Stichwörter Kontakt und Handgriffe[153] oder der Aktivität, ins und aus dem Bett zu gelangen[154] Kommentare, Auswertung und offene FragenIn den Quellen nach 1996 taucht das „Waschritual“ nicht mehr auf. Aus heutiger Perspektive kann man sagen, dass das voneinander getrennte Ausstreichen der Vorder- und Rückseiten durchaus wahrnehmungsfördernden Charakter haben kann. Streicht man an der Vorderseite des Armes nach oben Richtung Achsel oder an der Vorderseite des Oberschenkels in Richtung des Intimbereichs, so hat dies ein hohes Potenzial, zu Missverständnissen zu führen – bei allen Mitmenschen, insbesondere aber bei Menschen mit Demenz. (Silvia Schifferer, 2025-08-04) Erfahrungsberichte
Die Autorin beschreibt v. a. mit dem Blickwinkel der Vorder- und Rückseiten eine kinästhetische Positionsunterstützung bei Endoskopien. Weiterführende Literatur und Medien
Vergleiche auch
Die Verwendung als kinästhetischer FachbegriffIn der uns zugänglichen Fachliteratur sind finden sich erste Spuren des Begriffspaars „vorne und hinten“ bereits 1983 und ebenso die Zuordnung zum Thema Orientierung am eigenen Körper. Als kinästhetische Fachbegriffe werden „Vorderseite“ seit 1990, „Rückseite“ seit 1991verwendet, wobei in dieser Zeit als Synonym „Hinterseite“ zu finden ist. Als Begriffspaar werden sie ebenfalls seit 1991 verwendet. 1996 etablierte sich die bis heutige gültige Einordnung als Teil des dritten Unterthemas „Orientierung“ des Prinzips oder später Konzepts „Funktionalen Anatomie“. Von Beginn an werden die Fachbegriffe anhand der aus der Innenperspektive wahrnehmbaren Unterschiede hinsichtlich ihrer Eigenschaften und Aufgaben bei der Bewegung verwendet. Die Vorderseiten sind weich und anpassungsfähig; hier überwiegt die Beugemuskulatur; Rückseiten sind hart und stabil; hier überwiegt die Streckmuskulatur (Eigenschaften). Aufgaben der Vorderseiten sind die Anpassung an die Umgebung und der Gewichtsorganisation bzw. die Gewichtsverlagerung in Richtung der Rückseiten. Aufgabe der Rückseiten ist es, das Gewicht auf Unterstützungsflächen weiterzuleiten. An den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken entspricht die Definition von Vorderseite und Rückseite dem allgemeinen Verständnis. An den Extremitäten wird auf der Basis der genannten Eigenschaften und Aufgaben ein spiraliger Verlauf beschrieben, der mit dem allgemeinen Verständnis nicht übereinstimmt. Einzelnachweise
|
|||||||||||||||||||||