Viabilität
Status | mit Fachliteratur angelegt |
AutorIn/RedakteurIn | N. N./Sabine Kaserer |
Letzte Änderung | 19.01.2021 |
Zusammenfassung:
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Viabilität. Mit Viabilität bezeichnet Ernst von Glasersfeld Lösungswege, die sich an der Gang- und Brauchbarkeit im Kontext von Problemstellung und Absicht orientieren. Er benutzt das Wort „passend“ als Synonym von „viabel“.
Das erste Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“. Der Begriff Viabilität kommt in den Büchern von Hatch und Maietta sowie in den weiteren Büchern des EKA-Verlags („Konzeptsystem“, „Kybernetik und Kinästhetik“) nicht vor. Zahlreiche Belege in der Zeitschrift „lebensqualität/LQ“ weisen hingegen darauf hin, dass insbesondere der Begriff „viabel handeln“ im EKA-Netzwerk gängig verwendet wird und eine wichtige Rolle spielt. Dies wird hier mit vier Beispielen aufgezeigt. Abschließend folgen einige Zitate zu Viabilität/viabel aus den Werken von Ernst von Glasersfeld.
Viabilität in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“. Es ist in das 3. Kapitel „Bewegungskompetenz – das zentrale Thema“ eingebettet. Das Kapitel beschreibt zuerst die Bedeutung der Bewegungskompetenz. Im Unterkapitel 3.1.3 werden aus der Perspektive der Erfahrbarkeit die Komponenten und Faktoren beschrieben, die im Zusammenspiel die Bewegungskompetenz ausmachen und helfen, sie bewusst zu entwickeln.
Der zitierte Text stammt aus der Infobox „Viabel/Viabilität“
- „Der Philosoph Ernst von Glasersfeld (1917–2010) führte diese Begriffe im Rahmen des von ihm begründeten „radikalen Konstruktivismus“ in die wissenschaftliche Diskussion ein. Sie bezeichnen die Lösung eines Problems, die sich nicht an der Idee der („wissenschaftlichen“) Wahrheit, an der Idee von richtig und falsch orientiert, sondern an der Gang- oder Brauchbarkeit im Kontext der Problemstellung und der verfolgten Absicht – im Wissen, dass es viele gangbare Lösungswege gibt. Glasersfeld braucht das Wort ‚passend‘ (bezüglich Kontext und Absicht) als Synonym von ‚viabel‘.“
Im Fließtext des Unterkapitels 3.1.3 „Komponenten der Bewegungskompetenz“ findet sich im 3. Absatz der Begriff „Viabel Handeln“:
- „Im Folgenden werden aus der Perspektive der Erfahrbarkeit die Komponenten und Faktoren beschrieben, die im Zusammenspiel die Bewegungskompetenz ausmachen und helfen, sie bewusst zu entwickeln. Auf der Grundlage der Feedback-Kontroll-Theorie (vgl. Kapitel 4.3.) beleuchten die ersten beiden Komponenten dieses Modells die Faktoren der Sensibilisierung der Wahrnehmung und der Entwicklung einer differenzierten Bewegung, die dritte Komponente die Faktoren der Verhaltenssteuerung. Sie werden aus der Ich-Perspektive dargestellt. [...]
- Viabel handeln: Die Entwicklung produktiver Verhaltensmöglichkeiten
Ich kann gleichzeitig eine komplexe Herausforderung des Alltags bewältigen, auf die Qualität meiner eigenen Bewegung achten und dadurch mein Verhalten passend und zum Ziel führend steuern. Ich bin imstande, meine eigene Bewegung bewusst und produktiv an meine individuellen Voraussetzungen, an diejenigen von InteraktionspartnerInnen sowie an die Absicht und den Verlauf der Situation anzupassen. Ich bin in der Lage, die Achtsamkeit auf meine Bewegung im Verlauf einer Situation differenziert zu lenken und so die eigene Bewegung möglichst optimal am Kriterium von Lernen und Entwicklung zu orientieren.“
Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020): Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S.33
Viabilität/viabel handeln in der Zeitschrift „lebensqualität/LQ“
lebensqualität 01/2013: „Die Wirkung liegt nicht in der Maßnahme. Umgang mit Methoden“
Das folgende Zitat stammt aus der Rubrik „thema“ der Zeitschrift „lebensqualität“ 01/2013. Ute Kirov und Stefan Knobel beleuchten in diesem Artikel die Gefährlichkeit von Handlungsanleitungen, die dazu führen, dass die Achtung auf die Maßnahme statt auf das individuelle Verhalten“ im Zentrum steht. Unter der Überschrift „Kompetenz und Selbstverantwortung“ thematisieren sie vor diesem Hintergrund gegen den Schluss die Bedeutung des viablen Handelns.
- „Viabel handeln
Heinz von Foerster drückte es so aus: „Handle stets so, dass sich die Anzahl der Möglichkeiten vergrößert“ (von Foerster 2004, S. 36[1]). Und genau darum geht es, wenn ich mit einem Menschen in Bewegung komme, der meine Hilfe braucht. Wir können zwar den anderen nicht verändern, aber wir können uns verändern. In unserem eigenen Verhalten haben wir die Wahl. Wir können unser Verhalten an Bewegungs-Antworten des Anderen anpassen. Wir können lernen, viabel zu handeln. Das heißt auf Deutsch: Ich kann lernen, im richtigen Moment das Passende zu tun. Und darin liegt das große Potenzial des pflegerischen Angebotes. Anstatt allzu viel vorauszuplanen, muss die unterstützende Person in der Lage sein, während der Interaktion das eigene Handeln zu variieren und an das Verhalten des anderen anzupassen.“
Quelle: Kirov, Ute; Knobel, Stefan (2013): Die Wirkung liegt nicht in der Maßnahme. Umgang mit Methoden. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2013, Nr. 1. S. 8.
lebensqualität 01/2016: „Der Schlüssel zur Qualität. Teil 3: Kinaesthetics als Führungsinstrument“
Das folgende Zitat stammt aus der Rubrik „thema“ der Zeitschrift „lebensqualität“ 01/2016. Elisabeth Nachreiner beleuchtet in diesem Artikel die Problematik des gängigen Qualitätsmanagements, das mit Standards bzw. der Beschreibung und Überprüfung genau festgelegter Prozesse pflegerische Qualität zu gewährleisten versucht. Ihre Begegnung mit Kinaesthetics führte sie und ihre Institution zu einem Qualitätsverständnis, das den einzelnen Menschen und Viabilität statt Standards in den Mittelpunkt stellt.
- „Viabel handeln
Der Qualitätsgedanke war ein völlig neuer. Wir stellten fest, dass es keine Standards braucht, sondern dass wir viabel handeln, uns an die jeweilige Situation anpassen müssen. ‚Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen sind dann viabel, wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen.‘ (v. Glasersfeld 1997, S. 43[2]) Es nützt nichts, Prozesse zu beschreiben, weil es sowieso anders kommt. Wir brauchen die Kompetenz, jeden Tag die Unterstützungen geben zu können, die im Moment erforderlich sind – nicht mehr und nicht weniger.“
Quelle: Nachreiner, Elisabeth (2016): Der Schlüssel zur Qualität. Teil 3: Kinaesthetics als Führungsinstrument. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2016, Nr. 1. S. 15–16.
lebensqualität 03/2016: „Es gibt keinen ‚kinästhetischen Knietransfer‘. Kritische Anmerkungen zu einem gängigen Ausdruck.“
Das folgende Zitat stammt aus der Rubrik „praxis“ der Zeitschrift „lebensqualität“ 03/2016. Axel Enke beleuchtet in diesem Artikel die Problematik standardisierter „Bewegungstechniken vor dem Hintergrund der Idee der Viabilität. Er zeigt auf, inwiefern der gängige Begriff des kinästhetischen Knietransfers im Widerspruch dazu steht.
- „Viabel
Die Definition
Der Begriff „viabel“ geht auf den Konstruktivisten Ernst von Glasersfeld zurück. Er bedeutet gangbar, brauchbar oder passend, und zwar in dem Sinn, dass es bei der Verwirklichung einer Absicht nicht einen bestimmten richtigen Weg gibt, sondern unzählige brauchbare und passende Möglichkeiten. - Die Bedeutung für die Pflege
Kinaesthetics verknüpft die Bedeutung dieses Begriffes insbesondere mit Interaktionen, da sich hier zwei oder mehr Menschen aneinander anpassen müssen. Gerade von professionellen HelferInnen wird erwartet, dass sie sich individuell und brauchbar an das Verhalten des anderen anpassen können. Diese Kompetenz ist erlernbar und ein zentraler Aspekt in Kinaesthetics. “
Quelle: Enke, Axel (2016): Es gibt keinen „kinästhetischen Knietransfer“. Kritische Anmerkungen zu einem gängigen Ausdruck. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2016, Nr. 3. S. 32.
LQ 03/2017: „Liegen Sie bequem? Positionsunterstützung in der Endoskopie“
Das folgende Zitat stammt aus der Rubrik „praxis“ der Zeitschrift „LQ“ 03/2017. Heike Brenner beleuchtet in diesem Artikel mit einem Beispiel, welche Bedeutung die Kinästhetik im Funktionsbereich der Endoskopie haben kann. Zu Beginn erläutert sie unter der Überschrift „Viabel handeln auf der Funktionsabteilung“, wie ihr dies bewusst geworden ist.
- In der gezielten Auseinandersetzung mit meiner eigenen Bewegungskompetenz entdeckte ich, dass es in Kinaesthetics nicht um ‚schneller, höher, stärker‘ und auch nicht um ‚Griffe‘ oder konkrete Handlungsanleitungen geht. Vielmehr geht es darum, Bewegung mithilfe der verschiedenen Kinaesthetics- Konzeptblickwinkel wahrzunehmen und verstehen zu lernen. Weiterhin verstand ich, dass es bei verschiedenen Bewegungsunterstützungen wichtig ist, Bewegungsunterschiede analysieren zu können, Bewegungsalternativen zu finden und schließlich aus einem Pool gefundener Bewegungsideen das Passende für die jeweilige Situation herauszusuchen – sprich, viabel handeln zu können.“
Quelle: Brenner, Heike (2017): Liegen Sie bequem? Positionsunterstützung in der Endoskopie. In: LQ. kinaesthetics – zirkuläres denken – lebensqualität. 2017, Nr. 3. S. 40.
Viabilität/viabel bei Ernst von Glasersfeld
„Einführung in den Konstruktivismus“ (erste Ausgabe 1985)
Dieser Sammelband mit Beiträgen verschiedener AutorInnen, die in den Rahmen des Konstruktivismus gestellt werden können, enthält den Aufsatz „Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität“[3] von Ernst von Glasersfeld. An die Themen der skeptischen Tradition, von Wissen und Wissenschaft, des unbeliebten Instrumentalismus schließt sich das Kapitel „Funktion statt Isomorphie“[4] an. In diesem weist von Glasersfeld darauf hin, dass er sich seit fünfzehn Jahren mit der Ausarbeitung der konstruktivistischen Denkweise befasst habe. Für ihn liegt der Unterschied zur philosophischen Tradition darin, dass „sie das herkömmliche Verhältnis zwischen der Welt der faßbaren Erlebnisse und der ontologischen Wirklichkeit durch ein anderes begriffliches Verhältnis ersetzt“[5]. Traditionell wurde stets als natürlich und unabdingbar vorausgesetzt, dass die eigenen Erlebnisse und die Wirklichkeit gleichförmig sind, übereinstimmen oder zumindest korrespondieren. Nach dem Postulat des radikalen Konstruktivismus ist diese Beziehung grundsätzlich andersartig und kann mit den Begriffen Kompatibilität oder Viabilität charakterisiert werden.
Von Glasersfeld verweist darauf, dass er den Begriff Viabilität in Anlehnung an das englische Wort Viability gewählt habe. In einer Fußnote erwähnt er als ursprüngliche Bedeutung „Gangbarkeit“ und die daran anschließende entwicklungsgeschichtliche Verwendung „für die Überlebensfähigkeit von Arten, Individuen und Mutationen“[6], in welchem Sinn er den Begriff in der Erkenntnistheorie verwendet habe.
Durch den Begriff Viabilität gründe sich die Beziehung zwischen den eigenen Erlebnissen und der Wirklichkeit „auf den Begriff des Passens im Sinne des Funktionierens“[7]. Dies stehe im Gegensatz zur traditionellen Auffassung, die ikonisch sei, also der Idee der Abbildung verpflichtet, und davon ausgehe, dass eine gewisse Übereinstimmung bestehe, die begrifflich auf Gleichförmigkeit oder Isomorphie beruhe. Im Anschluss veranschaulicht von Glaserfeld diesen Unterschied mit einem metaphorischen Beispiel.
- „Ein metaphorisches Beispiel mag den Unterschied greifbarer machen. Ein blinder Wanderer, der den Fluß jenseits eines nicht allzu dichten Waldes erreichen möchte, kann zwischen den Bäumen viele Wege finden, die ihn an sein Ziel bringen. Selbst wenn er tausendmal liefe und alle die gewählten Wege in seinem Gedächtnis aufzeichnete, hätte er nicht ein Bild des Waldes, sondern ein Netz von Wegen, die zum gewünschten Ziel führen, eben weil sie die Bäume des Waldes erfolgreich vermeiden. Aus der Perspektive des Wanderers betrachtet, dessen einzige Erfahrung im Gehen und zeitweiligen Anstoßen besteht, wäre dieses Netz nicht mehr und nicht weniger als eine Darstellung der bisher verwirklichten Möglichkeiten, an den Fluß zu gelangen. Angenommen der Wald verändert sich nicht zu schnell, so zeigt das Netz dem Waldläufer, wo er laufen kann; doch von den Hindernissen, zwischen denen alle diese erfolgreichen Wege liegen, sagt es ihm nichts, als daß sie eben sein Laufen hier und dort behindert haben. In diesem Sinn ‚paßt‘ das Netz in den ‚wirklichen‘ Wald, doch die Umwelt, die der blinde Wanderer erlebt, enthält weder Wald noch Bäume, wie ein außenstehender Beobachter sie sehen könnte. Sie besteht lediglich aus Schritten, die der Wanderer erfolgreich gemacht hat, und Schritten, die von Hindernissen vereitelt wurden.“[8]
An die folgenden Kapitel „Die erlebte Umwelt“[9], „Auslese und Viabilität“[10], „Evolutionäre Epistemologie“[11] und „Der konstruktive Vorschlag“[12] schließt sich das Kapitel „Stufen der Wirklichkeit“[13] an. Von Glaserfeld geht hier auf den Einwand ein, dass der Begriff Objektivität aufgegeben werde, wenn Wissen bzw. die als dieses betrachteten kognitiven Strukturen keine Übereinstimmung mit einer unabhängig existierenden Wirklichkeit aufweisen würden, sondern nur „auf Grund ihrer instrumentalen Funktion bewertet werden“[14]. Zur Idee der Objektivität zitiert er in einer Fußnote den Satz „Objektivität ist die Wahnvorstellung eines Subjekts, dass es beobachten könnte ohne sich selbst“[15] von Heinz von Foerster. Er verweist darauf, dass dies bereits die Vorsokratiker entdeckt hätten und die Philosophie nichtsdestotrotz an der Vorstellung eines einzigen wahren Wissens festhalte, weil derselbe „wirkliche“ Sachverhalt unmöglich von verschiedenen kognitiven Strukturen wahrheitsgetreu widerspiegelt werden könne. Unter klarer Bezugnahme auf Viabilität stellt er darauf die Perspektive des radikalen Konstruktivismus dar.
- „Da Wissen für den Konstruktivisten nie Bild oder Widerspiegelung der ontischen Wirklichkeit darstellt, sondern stets nur einen möglichen Weg, um zwischen den ‚Gegenständen‘ durchzukommen, schließt das Finden eines befriedigenden Wegs nie aus, daß da andere befriedigende Wege gefunden werden können. Darum kann, vom konstruktivistischen Gesichtspunkt aus, auch nie ein bestimmter gangbarer Weg, eine bestimmte Lösung eines Problems oder eine bestimmte Vorstellung von einem Sachverhalt als die objektiv richtige oder wahre bezeichnet werden.“[16]
Im Schlussteil seines Aufsatzes bespricht von Glasersfeld die Möglichkeit, zum „Aufbau der ‚objektiven‘ Wirklichkeit“[17] - so die Überschrift des letzten inhaltlichen Kapitels – zu gelangen. Er begründet sie durch die menschliche Fähigkeit zur Selbstreflexion bzw. zur Reflexion wiederholter Erfahrungen, aus der Stufen der Wirklichkeitskonstruktion entstehen[18], und durch die Möglichkeit, die Erfahrungen anderer Menschen durch sprachliche Interaktion in die eigene Wirklichkeitskonstruktion einzubeziehen[19]. Dass Erlebtes von anderen bestätigt wird, verleihe ihm zwar keine unabhängige Existenz im Sinn der Ontologie, der Lehre vom Seienden.
- „Doch – und das ist weitaus wichtiger – solche Bestätigung zeigt, daß die jeweiligen kognitiven Strukturen (die Begriffe, Beziehungen und Regeln), die man im Aufbau des Erlebnisses verwendet hat, in zwei verschiedenen Kontexten viabel sind: erstens im Kontext des eigenen Ordnens und Organisierens, des Erlebens und zweitens im Kontext des Modells, das man sich von dem anderen aufgebaut hat. Dieser zweite Kontext entsteht eben dadurch, daß wir uns nach und nach Modelle von anderen zurechtlegen, denen wir unsere eigenen Fähigkeiten zuschreiben und schließlich auch unsere eigenen Begriffe und Vorstellungen von der Erlebenswelt. Wenn diese Begriffe und Vorstellungen sich dann auch in den Modellen der anderen als viabel erweisen, dann gewinnen sie eine Gültigkeit, die wir mit gutem Recht ‚objektiv‘ nennen können.“[20]
„Radikaler Konstruktivismus“ (deutsche Erstauflage 1997)
Im Kapitel „Von mentalen Operationen zur Konstruktion der Wirklichkeit“[21]verweist Ernst von Glasersfeld zu Beginn darauf, dass der Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896–1980) nicht als Erster vertreten hat, dass der Mensch seine Begriffe und das Bild seiner Lebenswelt konstruiert, als Erster aber aus entwicklungspsychologischer Perspektive zu dieser Aussage gelangt ist. Er selbst sei durch die Tatsache, dass er mit mehreren Sprachen aufwuchs, gedrängt worden zu fragen, woher Wissen komme und wie es aufgebaut werde. Deshalb liegt es für ihn wie für Piaget auf der Hand, die kindliche Entwicklung heranzuziehen. Aus der Sicht der traditionellen Philosophie, die auf der Grundlage von zeitloser Logik und nicht von Entwicklung Erkenntnisse sucht, ist dies allerdings eine Todsünde bzw. ein Fehlschluss. Darauf erläutert von Glasersfeld, wie Piaget bereits 1937 im Rahmen seiner genetischen Erkenntnistheorie ein Modell bzw. Bezugssystem einführte (Begriffsstruktur der Gegenstände, Raum, Zeit und Kausalität). In diesem können Kinder eine zusammenhängende Wirklichkeit ihrer Erfahrungen konstruieren und von wenig zufriedenstellendem Wissen zu angemessenerem Wissen gelangen. Für von Glasersfeld erweitert Piaget hier seine oft wiederholte Aussage, „dass Erkenntnis kein Bild der realen Welt ist“ [22]. Er betont, dass sich traditionelle ErkenntnistheoretikerInnen durch diese Aussagen in ihrem Glauben nicht erschüttern lassen, dass besseres Wissen die Realität des Seienden auch besser abbildet. Im Anschluss führt er im Zusammenhang mit diesen Themen den von ihm verwendeten Begriff Viabilität ein:
- „Die Anhänger wie die Kritiker Piagets vernachlässigen folglich oft in ihren Schriften, daß Piaget als Biologe angefangen hat und daß er Erkenntnis als ein Instrument der Anpassung verstand, also als ein Werkzeug, mit dem wir uns in die Welt unserer Erfahrung einfügen.
Da die Ausdrücke ‚Anpassung‘ und ‚angepaßt‘ häufig mißverstanden werden (siehe unten, 2. Kapitel) und der Ausdruck ‚angemessen‘ oder ‚adäquat‘ gewöhnlich utilitaristisch aufgefaßt wird, verwende ich den biologischen Ausdruck Viabilität. Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen sind dann viabel, wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen. Nach konstruktivistischer Denkweise ersetzt der Begriff der Viabilität im Bereich der Erfahrung [Bereich der Erfahrung: im Orig. kursiv] den traditionellen philosophischen Wahrheitsbegriff, der eine ‚korrekte‘ Abbildung der Realität [Abbildung der Realität: im Orig. kursiv] bestimmt. Diese Substitution ändert natürlich nichts am Alltagsbegriff der Wahrheit, der die getreuliche Wiederholung oder Beschreibung einer Erfahrung [ im Orig. kursiv] bedeutet.
Für diejenigen, die an Erkenntnis als Abbildung glauben, bewirkt diese radikale Veränderung des Begriffs der Erkenntnis und seines Bezugs zur Realität einen furchtbaren Schock. Sie schließen direkt daraus, daß die Ablehnung der Abbildungsvorstellung gleichbedeutend ist mit dem Leugnen der Realität schlechthin, was freilich töricht wäre. Die Welt unserer Erfahrung ist ja kaum je so, wie wir sie gerne hätten. Dies schließt jedoch nicht aus, daß wir unser Wissen davon selbst konstruiert haben.“[23]
Im Folgenden charakterisiert von Glasersfeld den radikalen Konstruktivismus als „eine besondere Art, Wissen zu begreifen, und zwar Wissen nicht nur als Ergebnis, sondern auch als Tätigkeit“[24] und verweist darauf, dass er unbeliebt war und ist, weil er mit der vorherrschenden Tradition der Philosophie bricht. Dies bringt er in Zusammenhang damit, dass die Psychologie und die Linguistik in Amerika bis weit in die 1970er-Jahre hinein von B. F. Skinner (1904–1990) bzw. vom Behaviorismus dominiert wurde. Nach diesem wird das menschliche Verhalten von der Umwelt determiniert, wozu es nach von Glasersfeld keinen objektiven Zugang gibt:
- „Was jedoch ein Naturwissenschaftler oder irgendein denkender Mensch als seine ‚Umwelt‘ kategorisiert und hernach kausal mit dem Verhalten eines beobachteten Organismus verknüpft, das liegt im Erfahrungsbereich des Beobachters und niemals in einer von ihm unabhängigen Außenwelt.“[25]
Einzelnachweise
- ↑ Foerster, Heinz von; Pörksen, Bernhard (2019): Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. 12. Auflage. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg (Systemische Horizonte). ISBN 978-3-89670-646-1. S. 36
- ↑ Glasersfeld, Ernst von (2011): Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. Übersetzt von Wolfram Karl Köck. 7. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1326). ISBN 978-3-518-28926-6. S. 43.
- ↑ Foerster, Heinz von, u. a. (1992): Einführung in den Konstruktivismus. Beiträge von Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld, Peter M. Hejl, Siegfried J. Schmidt, Paul Watzlawick. München, Zürich: Piper (Veröffentlichungen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung. Herausgegeben von Heinz Gumin und Heinrich Meier. Band 5. Serie Piper 1165). ISBN 978-3-492-11165-2. S. 9
- ↑ ebd. S. 18
- ↑ ebd.
- ↑ ebd.
- ↑ ebd. S. 19
- ↑ ebd.
- ↑ ebd. S. 20
- ↑ ebd. S. 23
- ↑ ebd. S. 27
- ↑ ebd. S. 29
- ↑ ebd. S. 31
- ↑ ebd.
- ↑ ebd.
- ↑ ebd. S. 32
- ↑ ebd. S. 36
- ↑ ebd. S. 32 f.
- ↑ ebd. S. 33 ff.
- ↑ ebd. S. 37
- ↑ Glasersfeld, Ernst von (2011): Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. Übersetzt von Wolfram Karl Köck. 7. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1326). ISBN 978-3-518-28926-6. S. 41
- ↑ ebd. S. 42
- ↑ ebd. S. 43
- ↑ ebd.
- ↑ ebd. S. 44