Social Tracking

Aus Kinaesthetics-Online-Fachlexikon
Status mit Fachliteratur angelegt
AutorIn/RedakteurIn N. N./N. N.
Letzte Änderung 26.09.2018


„Social Tracking“ in „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“

Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat ist in das vierte Kapitel „Theoretische Grundlagen von Kinaesthetics“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel sind „Geschlossenheit und Individualität der Wahrnehmung“ und „Autonomie der Verhaltenssteuerung“. Das Zitat ist der Text des sechsten und letzten Unterkapitels „‚Social Tracking‘ (soziales Folgen)“.

Das wechselseitige Folgen in Bewegungsinteraktionen prägt die Entwicklung und die Lernprozesse der InteraktionspartnerInnen in einem besonders hohen Maße.
„In den vorangegangenen Kapiteln wurde die Annahme beschrieben, dass Menschen ihre Wahrnehmung und ihr Verhalten autonom von innen heraus erzeugen und steuern. Dies bedeutet nicht, dass sie unabhängig von anderen Menschen lernen und sich entwickeln. Menschen sind soziale Wesen. Nach ihrer Geburt ist ihre Entwicklung maßgeblich von anderen Menschen abhängig. Entsprechend prägen die Interaktionen mit den Bezugspersonen die Entwicklung des Menschen und seine Lernprozesse in einem hohen Maß. Diesen wechselseitigen Lern- und Anpassungsprozess kann man besonders eindrücklich bei den Interaktionen zwischen einem Kleinkind und seinen Eltern oder Bezugspersonen beobachten. Er setzt sich aber während des ganzen Lebens fort. Menschen lernen besonders intensiv und effektiv durch Interaktionen mit anderen Menschen; sie sind ein Leben lang ein wichtiger Faktor unserer Entwicklung.
Dieses Phänomen wird in Kinaesthetics als ‚Social Tracking‘ (soziales Folgen) bezeichnet. Es spielt sich in vielen Formen oft unbewusst ab. Ein Beispiel dafür ist die Situation, dass viele Menschen einem anderen, der bei Rot über den Fußgängerübergang geht, fast unwillkürlich folgen wollen.
‚Social Tracking‘ meint, dass Menschen mit der eigenen Bewegung auf die Bewegung und das Verhalten anderer Menschen reagieren und sich anpassen. Die Art und Weise unseres Verhaltens beeinflusst dabei das Verhalten der anderen an der Interaktion beteiligten Person(en) und umgekehrt. Kinaesthetics interessiert sich in diesem Zusammenhang besonders für die Frage, welche Faktoren in einer Interaktion die Entwicklung und Lernprozesse der Beteiligten fördern oder hemmen und welche Rolle dabei Berührung und Bewegung spielen.“

Der Text der zugehörigen Infobox „Die Herkunft des Wortes ‚lernen‘ und die Idee des Folgens“:

„Interessanterweise zeigt sich in der Herkunft des deutschen Wortes ‚lernen‘ ein enger Zusammenhang zur Bedeutung des Folgens. Das Wort gehört mit ‚lehren‘ und ‚List‘ zur Wortgruppe ‚leisten‘, was urspünglich ‚einer Spur folgen, nachspüren‘ bedeutete. In der gotischen Sprache bedeutete ‚lais‘ „ich weiß‘, ursprünglich ‚ich habe nachgespürt, bin gefolgt‘.“

Der Text der zugehörigen Infobox „Wolfskinder“:

„Ein sehr seltener und dramatischer Beleg für die Bedeutung von Lernen durch soziales Folgen sind die beiden 1920 in Indien gefundenen Wolfskinder. Sie wuchsen in den ersten Lebensjahren unter Wölfen auf und hatten sich diesen in ihrem (Bewegungs-)Verhalten weitgehend angepasst. So liefen sie z. B. auf allen Vieren, hatten eine erstaunlich wolfsähnliche Mimik und formten entsprechende Laute. Bei dem Versuch, sie zu zivilisieren, starben beide in der ‚menschlichen Gefangenschaft‘. Man hatte sie einsperren müssen, da sie immer wieder versucht hatten, in den Dschungel zu entfliehen.“

Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2018): Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 48.

„Social Tracking“ in „Kybernetik und Kinästhetik“

Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“, und zwar aus dem vierten Kapitel „K. U. Smith: Die Verhaltenskybernetik“. Es ist eingebettet in das fünfte Unterkapitel „Unermüdlicher Forscherdrang“. Vorausgehend wird als erstes Thema seine zweite Einführung in die Psychologie von 1973 thematisiert. Das Zitat ist der Text des zweiten Themas „‚Social Tracking‘ (Soziales Folgen)“.

„Das Buch des folgenden Jahres, „Industrial Social Cybernetics“ (Industrielle Sozialkybernetik, Smith 1974), befasste sich insbesondere mit den verschiedenen Formen, Modalitäten und Wirkungen des „Social Tracking“ (soziales Folgen).
Schon in der ‚Psychology“ (Smith; Foltz Smith 1973, S. 37f.) hatte er diesem Begriff eine Buchseite gewidmet und die Imitation als die offensichtlichste Manifestation des ‚Social Tracking‘ bezeichnet – ein bereits in der Antike zentrales Thema der Pädagogik, das in den 1960er-Jahren besonders durch A. Bandura (*1925) unter dem Stichwort ‚Lernen am Modell‘ zu neuer Aktualität gefunden hatte. Smith versteht darunter grundsätzlich die Tatsache, dass ‚Tracking‘- oder Folge-Prozesse ein wesentliches Merkmal der Interaktion von zwei oder mehreren Menschen sind. Wenn wir jemandem begegnen, folgen wir mit unserem ganzen Körper, unseren Augen und Ohren dem Verhalten des Gegenübers. In der kybernetischen Sprache von Smith ausgedrückt: Die Feedback-Prozesse der einen InteraktionspartnerIn bilden eine Quelle der Feedback-Prozesse der anderen InteraktionspartnerIn und umgekehrt bzw. und so weiter. Und zweifelsohne stellt die zwischenmenschliche Interaktion eine wichtige Quelle der Entwicklung, des Lernens und der Verhaltensänderung dar (vgl. Infobox S. 41). Smith unterscheidet zwischen drei Grundformen des ‚Social Tracking‘ bzw. der Interaktion (Smith 1974, Kapitel 2.3):
1. linear- oder quasi-imitatorisch (‚linear-, quasi-imitative‘),
2. seriell verknüpft, Schritt-für-Schritt (‚series-linked‘) und
3. parallel verknüpft, gleichzeitig-gemeinsam (‚parallel-linked‘).
Diese Formen bilden somit die Grundlage der Unterscheidung der Interaktionsformen in der Kinästhetik (EKA 2017a, S. 16; vgl. auch EKA 2017b, S. 48).
Im weiteren Verlauf des Buches differenziert er mit wissenschaftlicher Akribie zwischen verschiedensten Formen und Modalitäten des ‚Social Tracking‘, stützt sie mit experimentellen Resultaten und stellt sie in einen größeren Kontext.“

Text und Abbildungen der zugehörigen Infobox „Social Tracking“:

Abb 3 Behav Science Social Tracking Mutter Kind.png
„Die Grundidee des ‚Social Tracking‘
Das Verhalten der Mutter bzw. des Kindes (gestrichelte Pfeile) wird als Quelle für die Feedback-Prozesse des Kindes bzw. der Mutter dargestellt, d. h. für die fortlaufenden Anpassungen an das Verhalten des Gegenübers (ausgezogene Pfeile). (Abbildung: nach Smith, Karl U. 1972: Cybernetic Foundations of Behavioral Science. Motorphonetic Theory of Speech and Language: The Experimental Foundations of Linguistic and Speech Cybernetics, Behavioral Cybernetics Laboratory, Fig. 7)“



Abb 4 Infraschool Social Tracking Mutter Kind -physiologisch.png
„‚Social Tracking‘ und physiologische Prozesse
Die Abbildung stellt die wechselseitigen Einflüsse des ‚Social Tracking‘ auf die physiologischen Prozesse der InteraktionspartnerInnen dar. Die ‚Reaktionen‘ der InteraktionspartnerInnen haben nach Smith demnach nicht die Natur von Reflexen. (Abbildung: nach Smith; Schiamberg 1973, Fig. 53)“





Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2018): Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 40–41.

„Social Tracking“ in „Psychology – An Introduction to Behavior Science“ von K. U. und M. F. Smith (1973)

Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Psychlogie – Eine Einführung in die Verhaltenswissenschaft“ (1973) von Karl U. und Margaret F. Smith. Es ist eingebettet in das zweite Kapitel „Das sich verhaltende System“ des ersten Teils „Einführung“. Vorausgehend werden verschiedene Arten von Feedback (dynamisches Bewegungsfeedback, Feedback durch Werkzeuggebrauch, affektives, kognitives und soziales Feedback) beschrieben. Das Zitat ist der Text des anschließenden Unterkapitels „Soziales Folgen“.

„Soziale Interaktionen beinhalten, was wir soziales Folgen (social tracking) nennen, d. h. das feedback-kontrollierte Verfolgen (following) eines sozialen Zieles. Die offensichtlichste Erscheinungsform des sozialen Folgens ist die Imitation. Wenn wir das Verhalten einer anderen Person imitieren, folgen wir der Bewegung ihres Reaktionssystems, indem wir ähnliche Bewegungen mit unserem eigenen, ähnlichen Reaktionssystem ausführen. In einigen Fällen kann ein Imitator einem komplizierten Bewegungsmuster, das von einer anderen Person ausgeführt wird, fast so direkt folgen, wie er einem einfachen visuellen Ziel folgt. Eine Leistung, genannt Schattensprechen (speech shadowing), ist ein gutes Beispiel (Cherry, 1966). Eine Tonbandaufnahme einer Prosapassage wird durch Kopfhörer einem Hörer vorgespielt, der angewiesen wird, was er hört, mit einer gedämpften Stimme oder Flüstern unmittelbar zu wiederholen. Dies stellt sich sogar für Stotterer als einfache Aufgabe heraus. Der Schattensprecher neigt dazu, die Passage in losgelösten, unregelmäßigen Ausdrücken mit einer leeren, emotionslosen Stimme zu wiederholen. Seine Leistung ist fehlerfrei, doch er erinnert sich nur wenig oder an gar nichts von dem, was er gesagt hat.
Soziales Folgen beinhaltet nicht immer eine positive Imitation einer anderen Person. Imitation ist eine direkte Verfolgung eines Zielverhaltens, jedoch kann eine Person auch das Verhalten eines anderen negieren oder ausgleichen. Ein sehr junges Kind folgt seiner Mutter im Haus oft in einer positiven Weise, indem es ihr nachläuft, doch manchmal folgt es ihr in einer ausgleichenden Art. Sie möchte vielleicht, dass es etwas macht, dass es nicht machen will. Sie macht einen Schritt vorwärts und es weicht zurück. Sie nimmt seine Hand und zieht, und es wirkt entgegen. Es folgt immer noch ihren Bewegungen, jedoch in einer negativen oder ausgleichenden Art. Zusätzlich zum positiven Verfolgen und negativen Ausgleichen kann das soziale Folgen eine Art von kooperativer Interaktion enthalten. Die Bewegungen von zwei Menschen in einem Gesellschaftstanz liefern viele Beispiele von imitativen, ausgleichenden, koordinativen und zahlreiche Arten von ergänzenden Interaktionen.
In diesem Buch werden wir vom sozialen Folgen in anderen Zusammenhängen sprechen, besonders in Kapitel 13 über die soziale Entwicklung des Individuums. Da soziales Folgen eine fundamentale Art der Reaktion auf Mitglieder der eigenen Spezies ist, reguliert es die Entwicklung von sozial relevantem Verhalten junger Menschen. Kinder können andere Menschen nachmachen oder ihnen folgen, ohne mit ihnen sozial zu interagieren, jedoch lernen sie in gegenseitigen Reaktionen mit sozialem Feedback leichter. Ein Kind entwickelt Fertigkeiten, wie z. B. das Sprechen, indem es den Reaktionsmustern der Erwachsenen folgt oder sie wiedergibt. Erwachsene fördern diesen Prozess, indem sie ihre eigenen Bewegungen verlangsamen oder vereinfachen, sodass das Kind ihnen genauer folgen kann. Jedes Individuum in einem solchen Austausch liefert eine Quelle des sozialen Feedbacks für das andere.
Ein Beispiel für eine einfache Demonstration von sozialem Folgen: Halten Sie Ihre Fingerspitzen an die einer anderen Person und sagen Sie ihr, sie solle Ihre Bewegungen flüssig folgen, ohne den Kontakt zu unterbrechen. Wir nennen dies Fingertanzen. Die Idee wurde von den populären Medien aufgegriffen und als Test für die Kompatibilität zwischen den Geschlechtern beschrieben. Obwohl man dieser Anwendung gegenüber skeptisch sein kann, liefert die Beobachtung des Fingertanzes einige interessante Einblicke in die soziale Feedback-Kontrolle des Verhaltens. Wenn Sie diesen Tanz mit einer anderen Person versuchen, werden Sie entdecken, dass sie Ihrer Bewegung flüssig folgen kann, ohne vorherige Übung und sogar mit geschlossenen Augen. Wenn der Verfolger jedoch versucht, Ihren Bewegungen visuell zu folgen, ohne Ihre Finger zu berühren, wird seine Leistung uneinheitlich und ruckartig sein. Zweihändiges Fingertanzen kann mit taktiler Kontrolle ziemlich exakt ausgeführt werden, doch mit visueller Kontrolle ist es nahezu unmöglich. Die Fähigkeit, flüssige, sozial koordinierte Bewegungen auf der Basis von taktilem Feedback auszuführen, ist essenziell für viele intime Verhalten, so wie z. B. Tanzen, sexuelle Interaktion und viele Eltern-Kind-Verhaltensweisen. Visuell kontrollierte Interaktionen sind typischerweise nicht so flüssig und exakt wie solche mit taktiler Kontrolle.
Mit taktiler Kontrolle meinen wir nicht nur die oberflächliche Berührung, sondern auch die Kontrolle durch die Bewegungsmechanismen, die die durchgeführten Bewegungen wahrnehmen. Wir werden die Rezeptormechanismen, die in der Feedbackkontrolle eine Rolle spielen, in Kapitel 3 und 4 diskutieren und widmen den Rest dieses Kapitels den Effektoren und den neuralen Mechanismen. Diejenigen von Ihnen, die kein Hintergrundwissen in Biologie haben, werden den folgenden Teil vielleicht schwierig finden und die Signifikanz von Teilen des Stoffes wird Ihnen vielleicht für den Moment entgehen. In späteren Kapiteln, wenn wir uns auf einige der regulativen Mechanismen, die hier beschrieben werden, beziehen, werden Sie vielleicht die relevanten Abschnitte nochmals lesen wollen.“
(Übersetzung: Lukas Marty)

Quelle: Smith, Karl U.; Smith, Margaret F. (1973): Psychology. An Introduction to Behavior Science. Boston: Little, Brown and Company. Ohne ISBN. S. 37–38.