Viabilität: Unterschied zwischen den Versionen
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Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Viabilität. Mit Viabilität bezeichnet Ernst von Glasersfeld Lösungswege, die sich an der Gang- und Brauchbarkeit im Kontext von Problemstellung und Absicht orientieren. Er benutzt das Wort „passend“ als Synonym von „viabel“. | Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Viabilität. Mit Viabilität bezeichnet Ernst von Glasersfeld Lösungswege, die sich an der Gang- und Brauchbarkeit im Kontext von Problemstellung und Absicht orientieren. Er benutzt das Wort „passend“ als Synonym von „viabel“. | ||
Das erste Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“. Der Begriff Viabilität kommt in den Büchern von Hatch und Maietta sowie in den weiteren Büchern des EKA-Verlags („Konzeptsystem“, „Kybernetik und Kinästhetik“) nicht vor. Zahlreiche Belege in der Zeitschrift „lebensqualität/LQ“ weisen hingegen darauf hin, dass insbesondere der Begriff „viabel handeln“ im EKA-Netzwerk gängig verwendet wird und eine wichtige Rolle spielt. Dies wird hier mit vier Beispielen aufgezeigt. | Das erste Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“. Der Begriff Viabilität kommt in den Büchern von Hatch und Maietta sowie in den weiteren Büchern des EKA-Verlags („Konzeptsystem“, „Kybernetik und Kinästhetik“) nicht vor. Zahlreiche Belege in der Zeitschrift „lebensqualität/LQ“ weisen hingegen darauf hin, dass insbesondere der Begriff „viabel handeln“ im EKA-Netzwerk gängig verwendet wird und eine wichtige Rolle spielt. Dies wird hier mit vier Beispielen aufgezeigt. Abschließend folgen einige Zitate zu Viabilität/viabel aus den Werken von Ernst von Glasersfeld. | ||
== Viabilität in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ == | == Viabilität in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ == | ||
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“. Es ist in das 3. Kapitel „Bewegungskompetenz – das zentrale Thema“ eingebettet. Das Kapitel beschreibt zuerst die Bedeutung der Bewegungskompetenz. Im Unterkapitel 3.1.3 werden aus der Perspektive der Erfahrbarkeit die Komponenten und Faktoren beschrieben, die im Zusammenspiel die Bewegungskompetenz ausmachen und helfen, sie bewusst zu entwickeln. | Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“. Es ist in das 3. Kapitel „Bewegungskompetenz – das zentrale Thema“ eingebettet. Das Kapitel beschreibt zuerst die Bedeutung der Bewegungskompetenz. Im Unterkapitel 3.1.3 werden aus der Perspektive der Erfahrbarkeit die Komponenten und Faktoren beschrieben, die im Zusammenspiel die Bewegungskompetenz ausmachen und helfen, sie bewusst zu entwickeln. | ||
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Quelle: '''Brenner, Heike (2017):''' Liegen Sie bequem? Positionsunterstützung in der Endoskopie. In: LQ. kinaesthetics – zirkuläres denken – lebensqualität. 2017, Nr. 3. S. 40. | Quelle: '''Brenner, Heike (2017):''' Liegen Sie bequem? Positionsunterstützung in der Endoskopie. In: LQ. kinaesthetics – zirkuläres denken – lebensqualität. 2017, Nr. 3. S. 40. | ||
== Viabilität/viabel bei Ernst von Glasersfeld == | |||
=== „Radikaler Konstruktivismus“ (deutsche Erstauflage 1997) === | |||
Im Kapitel „Von mentalen Operationen zur Konstruktion der Wirklichkeit“<ref>'''Glasersfeld, Ernst von (2011): ''' Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. Übersetzt von Wolfram Karl Köck. 7. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1326). ISBN 978-3-518-28926-6. S. 41</ref>verweist Ernst von Glasersfeld zu Beginn darauf, dass der Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896–1980) nicht als Erster vertreten hat, dass der Mensch seine Begriffe und das Bild seiner Lebenswelt konstruiert, als Erster aber aus entwicklungspsychologischer Perspektive zu dieser Aussage gelangt ist. Er selbst sei durch die Tatsache, dass er mit mehreren Sprachen aufwuchs, gedrängt worden zu fragen, woher Wissen komme und wie es aufgebaut werde. Deshalb liegt es für ihn wie für Piaget auf der Hand, die kindliche Entwicklung heranzuziehen. Aus der Sicht der traditionellen Philosophie, die auf der Grundlage von zeitloser Logik und nicht von Entwicklung Erkenntnisse sucht, ist dies allerdings eine Todsünde bzw. ein Fehlschluss. Darauf erläutert von Glasersfeld, wie Piaget bereits 1937 im Rahmen seiner genetischen Erkenntnistheorie ein Modell bzw. Bezugssystem einführte (Begriffsstruktur der Gegenstände, Raum, Zeit und Kausalität). In diesem können Kinder eine zusammenhängende Wirklichkeit ihrer Erfahrungen konstruieren und von wenig zufriedenstellendem Wissen zu angemessenerem Wissen gelangen. Für von Glasersfeld erweitert Piaget hier seine oft wiederholte Aussage, „dass Erkenntnis kein Bild der realen Welt ist“ <ref>ebd. S. 42</ref>. Er betont, dass sich traditionelle ErkenntnistheoretikerInnen durch diese Aussagen in ihrem Glauben nicht erschüttern lassen, dass besseres Wissen die Realität des Seienden auch besser abbildet. Im Anschluss führt er im Zusammenhang mit diesen Themen den von ihm verwendeten Begriff Viabilität ein: | |||
: ''„Die Anhänger wie die Kritiker Piagets vernachlässigen folglich oft in ihren Schriften, daß Piaget als Biologe angefangen hat und daß er Erkenntnis als ein Instrument der Anpassung verstand, also als ein Werkzeug, mit dem wir uns in die Welt unserer Erfahrung einfügen.<br>Da die Ausdrücke ‚Anpassung‘ und ‚angepaßt‘ häufig mißverstanden werden (siehe unten, 2. Kapitel) und der Ausdruck ‚angemessen‘ oder ‚adäquat‘ gewöhnlich utilitaristisch aufgefaßt wird, verwende ich den biologischen Ausdruck '''''Viabilität'''''. Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen sind dann '''''viabel''''', wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen. Nach konstruktivistischer Denkweise ersetzt der Begriff der Viabilität im Bereich der Erfahrung [Bereich der Erfahrung: im Orig. kursiv] den traditionellen philosophischen Wahrheitsbegriff, der eine ‚korrekte‘ Abbildung der Realität [Abbildung der Realität: im Orig. kursiv] bestimmt. Diese Substitution ändert natürlich nichts am Alltagsbegriff der Wahrheit, der die getreuliche Wiederholung oder Beschreibung einer Erfahrung [ im Orig. kursiv] bedeutet.<br>Für diejenigen, die an Erkenntnis als Abbildung glauben, bewirkt diese radikale Veränderung des Begriffs der Erkenntnis und seines Bezugs zur Realität einen furchtbaren Schock. Sie schließen direkt daraus, daß die Ablehnung der Abbildungsvorstellung gleichbedeutend ist mit dem Leugnen der Realität schlechthin, was freilich töricht wäre. Die Welt unserer Erfahrung ist ja kaum je so, wie wir sie gerne hätten. Dies schließt jedoch nicht aus, daß wir unser Wissen davon selbst konstruiert haben.“<ref>ebd. S. 43</ref>'' | |||
Im Folgenden charakterisiert von Glasersfeld den radikalen Konstruktivismus als „eine besondere Art, Wissen zu begreifen, und zwar Wissen nicht nur als Ergebnis, sondern auch als Tätigkeit“<ref>ebd.</ref> und verweist darauf, dass er unbeliebt war und ist, weil er mit der vorherrschenden Tradition der Philosophie bricht. Dies bringt er in Zusammenhang damit, dass die Psychologie und die Linguistik in Amerika bis weit in die 1970er-Jahre hinein von B. F. Skinner (1904–1990) bzw. vom Behaviorismus dominiert wurde. Nach diesem wird das menschliche Verhalten von der Umwelt determiniert, wozu es nach von Glasersfeld keinen objektiven Zugang gibt: | |||
: ''„Was jedoch ein Naturwissenschaftler oder irgendein denkender Mensch als seine ‚Umwelt‘ kategorisiert und hernach kausal mit dem Verhalten eines beobachteten Organismus verknüpft, das liegt im Erfahrungsbereich des Beobachters und niemals in einer von ihm unabhängigen Außenwelt.“<ref>ebd. S. 44</ref>'' | |||
== Einzelnachweise == | == Einzelnachweise == |
Version vom 18. Januar 2021, 17:42 Uhr
Status | mit Fachliteratur angelegt |
AutorIn/RedakteurIn | N. N./Sabine Kaserer |
Letzte Änderung | 18.01.2021 |
Zusammenfassung:
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Viabilität. Mit Viabilität bezeichnet Ernst von Glasersfeld Lösungswege, die sich an der Gang- und Brauchbarkeit im Kontext von Problemstellung und Absicht orientieren. Er benutzt das Wort „passend“ als Synonym von „viabel“.
Das erste Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“. Der Begriff Viabilität kommt in den Büchern von Hatch und Maietta sowie in den weiteren Büchern des EKA-Verlags („Konzeptsystem“, „Kybernetik und Kinästhetik“) nicht vor. Zahlreiche Belege in der Zeitschrift „lebensqualität/LQ“ weisen hingegen darauf hin, dass insbesondere der Begriff „viabel handeln“ im EKA-Netzwerk gängig verwendet wird und eine wichtige Rolle spielt. Dies wird hier mit vier Beispielen aufgezeigt. Abschließend folgen einige Zitate zu Viabilität/viabel aus den Werken von Ernst von Glasersfeld.
Viabilität in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“. Es ist in das 3. Kapitel „Bewegungskompetenz – das zentrale Thema“ eingebettet. Das Kapitel beschreibt zuerst die Bedeutung der Bewegungskompetenz. Im Unterkapitel 3.1.3 werden aus der Perspektive der Erfahrbarkeit die Komponenten und Faktoren beschrieben, die im Zusammenspiel die Bewegungskompetenz ausmachen und helfen, sie bewusst zu entwickeln.
Der zitierte Text stammt aus der Infobox „Viabel/Viabilität“
- „Der Philosoph Ernst von Glasersfeld (1917–2010) führte diese Begriffe im Rahmen des von ihm begründeten „radikalen Konstruktivismus“ in die wissenschaftliche Diskussion ein. Sie bezeichnen die Lösung eines Problems, die sich nicht an der Idee der („wissenschaftlichen“) Wahrheit, an der Idee von richtig und falsch orientiert, sondern an der Gang- oder Brauchbarkeit im Kontext der Problemstellung und der verfolgten Absicht – im Wissen, dass es viele gangbare Lösungswege gibt. Glasersfeld braucht das Wort ‚passend‘ (bezüglich Kontext und Absicht) als Synonym von ‚viabel‘.“
Im Fließtext des Unterkapitels 3.1.3 „Komponenten der Bewegungskompetenz“ findet sich im 3. Absatz der Begriff „Viabel Handeln“:
- „Im Folgenden werden aus der Perspektive der Erfahrbarkeit die Komponenten und Faktoren beschrieben, die im Zusammenspiel die Bewegungskompetenz ausmachen und helfen, sie bewusst zu entwickeln. Auf der Grundlage der Feedback-Kontroll-Theorie (vgl. Kapitel 4.3.) beleuchten die ersten beiden Komponenten dieses Modells die Faktoren der Sensibilisierung der Wahrnehmung und der Entwicklung einer differenzierten Bewegung, die dritte Komponente die Faktoren der Verhaltenssteuerung. Sie werden aus der Ich-Perspektive dargestellt. [...]
- Viabel handeln: Die Entwicklung produktiver Verhaltensmöglichkeiten
Ich kann gleichzeitig eine komplexe Herausforderung des Alltags bewältigen, auf die Qualität meiner eigenen Bewegung achten und dadurch mein Verhalten passend und zum Ziel führend steuern. Ich bin imstande, meine eigene Bewegung bewusst und produktiv an meine individuellen Voraussetzungen, an diejenigen von InteraktionspartnerInnen sowie an die Absicht und den Verlauf der Situation anzupassen. Ich bin in der Lage, die Achtsamkeit auf meine Bewegung im Verlauf einer Situation differenziert zu lenken und so die eigene Bewegung möglichst optimal am Kriterium von Lernen und Entwicklung zu orientieren.“
Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020): Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S.33
Viabilität/viabel handeln in der Zeitschrift „lebensqualität/LQ“
lebensqualität 01/2013: „Die Wirkung liegt nicht in der Maßnahme. Umgang mit Methoden“
Das folgende Zitat stammt aus der Rubrik „thema“ der Zeitschrift „lebensqualität“ 01/2013. Ute Kirov und Stefan Knobel beleuchten in diesem Artikel die Gefährlichkeit von Handlungsanleitungen, die dazu führen, dass die Achtung auf die Maßnahme statt auf das individuelle Verhalten“ im Zentrum steht. Unter der Überschrift „Kompetenz und Selbstverantwortung“ thematisieren sie vor diesem Hintergrund gegen den Schluss die Bedeutung des viablen Handelns.
- „Viabel handeln
Heinz von Foerster drückte es so aus: „Handle stets so, dass sich die Anzahl der Möglichkeiten vergrößert“ (von Foerster 2004, S. 36[1]). Und genau darum geht es, wenn ich mit einem Menschen in Bewegung komme, der meine Hilfe braucht. Wir können zwar den anderen nicht verändern, aber wir können uns verändern. In unserem eigenen Verhalten haben wir die Wahl. Wir können unser Verhalten an Bewegungs-Antworten des Anderen anpassen. Wir können lernen, viabel zu handeln. Das heißt auf Deutsch: Ich kann lernen, im richtigen Moment das Passende zu tun. Und darin liegt das große Potenzial des pflegerischen Angebotes. Anstatt allzu viel vorauszuplanen, muss die unterstützende Person in der Lage sein, während der Interaktion das eigene Handeln zu variieren und an das Verhalten des anderen anzupassen.“
Quelle: Kirov, Ute; Knobel, Stefan (2013): Die Wirkung liegt nicht in der Maßnahme. Umgang mit Methoden. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2013, Nr. 1. S. 8.
lebensqualität 01/2016: „Der Schlüssel zur Qualität. Teil 3: Kinaesthetics als Führungsinstrument“
Das folgende Zitat stammt aus der Rubrik „thema“ der Zeitschrift „lebensqualität“ 01/2016. Elisabeth Nachreiner beleuchtet in diesem Artikel die Problematik des gängigen Qualitätsmanagements, das mit Standards bzw. der Beschreibung und Überprüfung genau festgelegter Prozesse pflegerische Qualität zu gewährleisten versucht. Ihre Begegnung mit Kinaesthetics führte sie und ihre Institution zu einem Qualitätsverständnis, das den einzelnen Menschen und Viabilität statt Standards in den Mittelpunkt stellt.
- „Viabel handeln
Der Qualitätsgedanke war ein völlig neuer. Wir stellten fest, dass es keine Standards braucht, sondern dass wir viabel handeln, uns an die jeweilige Situation anpassen müssen. ‚Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen sind dann viabel, wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen.‘ (v. Glasersfeld 1997, S. 43[2]) Es nützt nichts, Prozesse zu beschreiben, weil es sowieso anders kommt. Wir brauchen die Kompetenz, jeden Tag die Unterstützungen geben zu können, die im Moment erforderlich sind – nicht mehr und nicht weniger.“
Quelle: Nachreiner, Elisabeth (2016): Der Schlüssel zur Qualität. Teil 3: Kinaesthetics als Führungsinstrument. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2016, Nr. 1. S. 15–16.
lebensqualität 03/2016: „Es gibt keinen ‚kinästhetischen Knietransfer‘. Kritische Anmerkungen zu einem gängigen Ausdruck.“
Das folgende Zitat stammt aus der Rubrik „praxis“ der Zeitschrift „lebensqualität“ 03/2016. Axel Enke beleuchtet in diesem Artikel die Problematik standardisierter „Bewegungstechniken vor dem Hintergrund der Idee der Viabilität. Er zeigt auf, inwiefern der gängige Begriff des kinästhetischen Knietransfers im Widerspruch dazu steht.
- „Viabel
Die Definition
Der Begriff „viabel“ geht auf den Konstruktivisten Ernst von Glasersfeld zurück. Er bedeutet gangbar, brauchbar oder passend, und zwar in dem Sinn, dass es bei der Verwirklichung einer Absicht nicht einen bestimmten richtigen Weg gibt, sondern unzählige brauchbare und passende Möglichkeiten. - Die Bedeutung für die Pflege
Kinaesthetics verknüpft die Bedeutung dieses Begriffes insbesondere mit Interaktionen, da sich hier zwei oder mehr Menschen aneinander anpassen müssen. Gerade von professionellen HelferInnen wird erwartet, dass sie sich individuell und brauchbar an das Verhalten des anderen anpassen können. Diese Kompetenz ist erlernbar und ein zentraler Aspekt in Kinaesthetics. “
Quelle: Enke, Axel (2016): Es gibt keinen „kinästhetischen Knietransfer“. Kritische Anmerkungen zu einem gängigen Ausdruck. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2016, Nr. 3. S. 32.
LQ 03/2017: „Liegen Sie bequem? Positionsunterstützung in der Endoskopie“
Das folgende Zitat stammt aus der Rubrik „praxis“ der Zeitschrift „LQ“ 03/2017. Heike Brenner beleuchtet in diesem Artikel mit einem Beispiel, welche Bedeutung die Kinästhetik im Funktionsbereich der Endoskopie haben kann. Zu Beginn erläutert sie unter der Überschrift „Viabel handeln auf der Funktionsabteilung“, wie ihr dies bewusst geworden ist.
- In der gezielten Auseinandersetzung mit meiner eigenen Bewegungskompetenz entdeckte ich, dass es in Kinaesthetics nicht um ‚schneller, höher, stärker‘ und auch nicht um ‚Griffe‘ oder konkrete Handlungsanleitungen geht. Vielmehr geht es darum, Bewegung mithilfe der verschiedenen Kinaesthetics- Konzeptblickwinkel wahrzunehmen und verstehen zu lernen. Weiterhin verstand ich, dass es bei verschiedenen Bewegungsunterstützungen wichtig ist, Bewegungsunterschiede analysieren zu können, Bewegungsalternativen zu finden und schließlich aus einem Pool gefundener Bewegungsideen das Passende für die jeweilige Situation herauszusuchen – sprich, viabel handeln zu können.“
Quelle: Brenner, Heike (2017): Liegen Sie bequem? Positionsunterstützung in der Endoskopie. In: LQ. kinaesthetics – zirkuläres denken – lebensqualität. 2017, Nr. 3. S. 40.
Viabilität/viabel bei Ernst von Glasersfeld
„Radikaler Konstruktivismus“ (deutsche Erstauflage 1997)
Im Kapitel „Von mentalen Operationen zur Konstruktion der Wirklichkeit“[3]verweist Ernst von Glasersfeld zu Beginn darauf, dass der Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896–1980) nicht als Erster vertreten hat, dass der Mensch seine Begriffe und das Bild seiner Lebenswelt konstruiert, als Erster aber aus entwicklungspsychologischer Perspektive zu dieser Aussage gelangt ist. Er selbst sei durch die Tatsache, dass er mit mehreren Sprachen aufwuchs, gedrängt worden zu fragen, woher Wissen komme und wie es aufgebaut werde. Deshalb liegt es für ihn wie für Piaget auf der Hand, die kindliche Entwicklung heranzuziehen. Aus der Sicht der traditionellen Philosophie, die auf der Grundlage von zeitloser Logik und nicht von Entwicklung Erkenntnisse sucht, ist dies allerdings eine Todsünde bzw. ein Fehlschluss. Darauf erläutert von Glasersfeld, wie Piaget bereits 1937 im Rahmen seiner genetischen Erkenntnistheorie ein Modell bzw. Bezugssystem einführte (Begriffsstruktur der Gegenstände, Raum, Zeit und Kausalität). In diesem können Kinder eine zusammenhängende Wirklichkeit ihrer Erfahrungen konstruieren und von wenig zufriedenstellendem Wissen zu angemessenerem Wissen gelangen. Für von Glasersfeld erweitert Piaget hier seine oft wiederholte Aussage, „dass Erkenntnis kein Bild der realen Welt ist“ [4]. Er betont, dass sich traditionelle ErkenntnistheoretikerInnen durch diese Aussagen in ihrem Glauben nicht erschüttern lassen, dass besseres Wissen die Realität des Seienden auch besser abbildet. Im Anschluss führt er im Zusammenhang mit diesen Themen den von ihm verwendeten Begriff Viabilität ein:
- „Die Anhänger wie die Kritiker Piagets vernachlässigen folglich oft in ihren Schriften, daß Piaget als Biologe angefangen hat und daß er Erkenntnis als ein Instrument der Anpassung verstand, also als ein Werkzeug, mit dem wir uns in die Welt unserer Erfahrung einfügen.
Da die Ausdrücke ‚Anpassung‘ und ‚angepaßt‘ häufig mißverstanden werden (siehe unten, 2. Kapitel) und der Ausdruck ‚angemessen‘ oder ‚adäquat‘ gewöhnlich utilitaristisch aufgefaßt wird, verwende ich den biologischen Ausdruck Viabilität. Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen sind dann viabel, wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen. Nach konstruktivistischer Denkweise ersetzt der Begriff der Viabilität im Bereich der Erfahrung [Bereich der Erfahrung: im Orig. kursiv] den traditionellen philosophischen Wahrheitsbegriff, der eine ‚korrekte‘ Abbildung der Realität [Abbildung der Realität: im Orig. kursiv] bestimmt. Diese Substitution ändert natürlich nichts am Alltagsbegriff der Wahrheit, der die getreuliche Wiederholung oder Beschreibung einer Erfahrung [ im Orig. kursiv] bedeutet.
Für diejenigen, die an Erkenntnis als Abbildung glauben, bewirkt diese radikale Veränderung des Begriffs der Erkenntnis und seines Bezugs zur Realität einen furchtbaren Schock. Sie schließen direkt daraus, daß die Ablehnung der Abbildungsvorstellung gleichbedeutend ist mit dem Leugnen der Realität schlechthin, was freilich töricht wäre. Die Welt unserer Erfahrung ist ja kaum je so, wie wir sie gerne hätten. Dies schließt jedoch nicht aus, daß wir unser Wissen davon selbst konstruiert haben.“[5]
Im Folgenden charakterisiert von Glasersfeld den radikalen Konstruktivismus als „eine besondere Art, Wissen zu begreifen, und zwar Wissen nicht nur als Ergebnis, sondern auch als Tätigkeit“[6] und verweist darauf, dass er unbeliebt war und ist, weil er mit der vorherrschenden Tradition der Philosophie bricht. Dies bringt er in Zusammenhang damit, dass die Psychologie und die Linguistik in Amerika bis weit in die 1970er-Jahre hinein von B. F. Skinner (1904–1990) bzw. vom Behaviorismus dominiert wurde. Nach diesem wird das menschliche Verhalten von der Umwelt determiniert, wozu es nach von Glasersfeld keinen objektiven Zugang gibt:
- „Was jedoch ein Naturwissenschaftler oder irgendein denkender Mensch als seine ‚Umwelt‘ kategorisiert und hernach kausal mit dem Verhalten eines beobachteten Organismus verknüpft, das liegt im Erfahrungsbereich des Beobachters und niemals in einer von ihm unabhängigen Außenwelt.“[7]
Einzelnachweise
- ↑ Foerster, Heinz von; Pörksen, Bernhard (2019): Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. 12. Auflage. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg (Systemische Horizonte). ISBN 978-3-89670-646-1. S. 36
- ↑ Glasersfeld, Ernst von (2011): Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. Übersetzt von Wolfram Karl Köck. 7. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1326). ISBN 978-3-518-28926-6. S. 43.
- ↑ Glasersfeld, Ernst von (2011): Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. Übersetzt von Wolfram Karl Köck. 7. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1326). ISBN 978-3-518-28926-6. S. 41
- ↑ ebd. S. 42
- ↑ ebd. S. 43
- ↑ ebd.
- ↑ ebd. S. 44