Orientierung

Aus Kinaesthetics-Online-Fachlexikon
Status mit Fachliteratur angelegt
AutorIn/RedakteurIn N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer
Letzte Änderung 22.10.2022


Zusammenfassung:
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch „Kinaesthetics Konzeptsystem“ und stellen einen aktuellen Referenztext dar.

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1 Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“

Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Funktionale Anatomie“ eingebettet. „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.


Die Entstehung des Begriffes Orientierung hängt mit der Tatsache zusammen, dass
sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der
aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den
Himmelskörpern auszurichten pflegte.
Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der
Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit
beantwortet Fragen wie: „Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden
wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?“
Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen
Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie
orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen
auseinander wie: „In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit
welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer Massen organisiert? Wie
und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu
erreichen?“
Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten
ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und
der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst
oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die „richtige
Richtung“ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt
die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der
Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.
Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich
bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die
Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die
räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne
des Wortes lahmlegen.


Oben und unten
Die körperliche Orientierung bezüglich „oben“ und „unten“ basiert auf der
Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: „Oben“ ist der Kopf,
dann folgt der Brustkorb und das Becken, „unten“ sind die Beine bzw. die Füße. Da
diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage
sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch
zur räumlichen Definition von „oben“ und „unten“ stehen, die sich aus einer
Außenperspektive ergibt.
Die räumliche Definition von „oben“ und „unten“ wird durch die konstante Wirkung
der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. „Unten“
definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, „oben“ durch die Gegenrichtung.
Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten
sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die
Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:
Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die
Gewichtssteuerung des Brustkorbes.
Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die
Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich.
Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes
und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des
Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft.
Für die Unterscheidung zwischen „oben“ und „unten“ kann der Mensch immer auf
die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.
Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer
Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der
Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht
beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung
an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.


Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten
Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der
unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.
Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,
werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten
tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich
Beugemuskeln vorhanden.
Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und
Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne
und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und
Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren
gängigen Vorstellungen ab.

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Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen
ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch
eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu
tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.
Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie
haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die
Rückseiten zu leiten und Anpassungen der
Gewichtsorganisation zu gestalten.
Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl
Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.
Nur deshalb ist es möglich, unser
Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den
Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu
den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen
Sinnessystems.
Der spiralförmige Verlauf von
Vorder- und Rückseiten ist
der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich
über eine unendliche Vielfalt von
Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.

Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während
einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher
Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“


Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020): Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.


2 Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“

Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.

„Die eigene Orientierung suchen
Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).
Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung
In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Ausgegangen wird von der Annahme, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie für das gesamte Orientierungsvermögen grundlegend ist. Es geht dabei darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können dadurch lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen."
Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) : Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 7.


Zitat folgende Zitat stammt aus dem Kapitel Teil 1: Was ist Orientierung?"

„Teil 1: Was ist Orientierung?
Begleittexte
Orientierung – ein vielschichtiger Prozess
Das folgende Beispiel veranschaulicht die Vielschichtigkeit und breite Bedeutung des menschlichen Orientierungsvermögens. Beispiel: Wenn wir erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen wollen, müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an unterschiedlichsten Dingen orientieren, so z. B. an der Beschaffenheit des Weges, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, oder an der Entwicklung des Wetters usw. Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten und Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen, wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich, wenn wir unsere eigene Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser eigenes Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den „Spielregeln“ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen.
Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können (…). Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen.
Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens

Die innere körperliche Orientierung
“Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung bzw. unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir– als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper bzw.in uns selbst zurechtfinden. Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische „Mechanik“, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden."

Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) : Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 12-13.

3 Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“

Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das erste Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt.

„4. Grundprinzipien
Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“

Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.

„4.1. Wahrnehmung
Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.
Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“

Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.

„4.2. ORIENTIERUNG IM KÖRPER
Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.
Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.

Abbildung

Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.

Abbildung

Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion.
Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).
Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.
Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.
???Übung: Wasch - Ritual
Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.
Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.
In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.
Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.
Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.
Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend. ???
Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.
Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“

Legende zur grafischen Darstellung der/des TITEL:

„Zitat“

Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen.

„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten?
2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.
[...]
Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.
So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.
Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.
Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.
Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.
(Ayres, A.J. 1984, S.66)“

Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.

„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE
[...]
Orientierung im eigenen Körper:
Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.

Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres.

Information statt Anstrengung
Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.
Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.
Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung.
??? Kommunikation durch Berührung
Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.
Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen
Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.
Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.
Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden. ???“

Quelle: Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990): Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. xy–xz.


3.1 Kommentare, Auswertung und offene Fragen

Im vierten Zitat wir einer der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.

4 Vergleiche auch


5 Ausgewählte weiterführende Literatur

  • Asmussen-Clausen, Maren (2009): Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46
  • Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003): Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.
  • Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011): Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.

6 Kommentare, Auswertung und offene Fragen

Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen?