Lernparadigma

Aus Kinaesthetics-Online-Fachlexikon
Version vom 26. September 2018, 16:55 Uhr von Stefan Marty-Teuber (Diskussion | Beiträge) (Aufräumen mast 2018-09: ergänzt aus Aktualitätsgründen.)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Status mit Fachliteratur angelegt
AutorIn/RedakteurIn N. N./N. N.
Letzte Änderung 26.09.2018


Das Lernparadigma in „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“

Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat ist in das fünfte Kapitel „Lernen: Allgemeine Blickpunkte“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel thematisieren die „Bedeutung des Begriffs Lernen im Alltag“, das „Fehlen einer umfassenden wissenschaftlichen Theorie des Lernens“, „Lernen, Erfahrung und Denken“, die „Grundfunktionen des Lernens“ und das Thema „Unterschiede führen zu bedeutsamen Unterscheidungen“. Das abschließende Unterkapitel „Leben heißt Lernen“ wird mit dem Thema „Eine Definition des Lernens“ eingeleitet. Das Zitat ist der Text des zweiten Themas „Man kann nicht nicht lernen – die Ausgangslage zu einem Paradigmenwechsel“.

„Was bringt der Ansatz der vorausgehenden Definition, dass man – in Anlehnung an Paul Watzlawick (1921–2007) formuliert – nicht nicht lernen kann, oder positiv formuliert, dass der Mensch immer lernt? Für die Einflussnahme auf das eigene Verhalten und den Umgang mit anderen Menschen stellt dieses Lernverständnis einen herausfordernden Paradigmenwechsel hin zu einem Lern- oder Entwicklungsparadigma dar. Eine solche Neuorientierung der grundsätzlichen Erklärungs- und Verhaltensmuster wird nicht allein von Kinaesthetics vertreten. Die Notwendigkeit und der Nutzen dieses Paradigmenwechsels zeichnet sich in verschiedenen Gesellschaftsbereichen ab. Das Lernparadigma wird im Folgenden an einigen Beispielen auf der persönlichen und zwischenmenschlichen Ebene erläutert.
* Wenn wir bei der Arbeit körperliche Beschwerden bekommen, verstehen wir sie nach dem gängigen Paradigma als eine von außen bewirkte Folge der Arbeitsbedingungen und werden sie mit Medikamenten oder Therapien behandeln lassen. Das Lernparadigma lässt uns fragen, welcher Lernprozess hinter diesen Beschwerden steht und wie wir selbst diese Entwicklung beeinflussen können.“

Der Text der zugehörigen Infobox „Schonhaltungen“:

„Das Beispiel der Schonhaltungen zeigt einerseits gut auf, wie herausfordernd es ist, bei allen Entwicklungen auf den Aspekt des Lernens zu achten, und andererseits, wie sich durch die veränderte Ausführung einer Aktivität Muster bilden und

verfestigen. Wir neigen dazu, Schonhaltungen, die nach Unfällen oder während Krankheiten oft auftreten, als unvermeidbare Konsequenz der entsprechenden körperlichen Probleme zu betrachten. Wir sagen: „Ich hinke, weil ich einen Beinbruch gehabt habe“ und nicht: „Ich habe nach einem Beinbruch hinken gelernt (und wieder verlernt)“. Es fällt uns schwer, unsere Bewegung einerseits produktiv an die veränderten Bedingungen anzupassen und andererseits Schonhaltungen auch wieder abzulegen, wenn sie aufgrund einer positiven Entwicklung der Probleme gar nicht mehr nötig sind.“


* „Das Lernparadigma wird bei einschneidenden persönlichen Veränderungen zu einer besonderen Herausforderung. Nach der gängigen Vorstellung und Diagnostik gelten viele Entwicklungen einer chronischen Krankheit, des Älterwerdens oder nach einem schweren Unfall als unvermeidbar und zwingend (vgl. auch Infobox „Schonhaltungen“). Das Motto des Lernparadigmas heißt hier, mit schlechteren Karten so gut als möglich spielen zu lernen. Es ist immer möglich, neue Bewegungsmuster zu suchen und zu erlernen, die eine möglichst selbstständige und autonome Gestaltung der Lebensqualität unterstützen.
Wenn ein Mensch einen anderen Menschen unterstützt, legt er in den meisten Fällen die Achtung nur auf die Lösung des vordergründigen Problems. Die Frage, wie der Lern- und Entwicklungsprozess des anderen Menschen durch die Hilfe beeinflusst wird, wird weder erkannt noch beachtet. Das führt oft dazu, dass eine noch so gut gemeinte Hilfe eine erlernte Abhängigkeit der unterstützten Person bewirkt oder mehr Probleme verursacht, als sie lösen kann.
* Im Bereich der Erziehung und Bildung brachte die Ärztin und Pädagogin Maria Montessori (1870–1952) ihre pädagogische Grundidee auf die einfache Formel: „Hilf mir, es selbst zu tun!“. Wenn wir als Erziehende oder Lehrende die Lösung der Probleme der uns anvertrauten Menschen übernehmen, lernen sie kaum, diese selbst zu lösen. Sie werden viel eher lernen, in problematischen Situationen von uns abhängig zu sein u. a. m. Wenn wir hingegen andere Menschen in ihrer eigenen körperlichen und geistigen Beweglichkeit unterstützen, wird sich dadurch ihr persönlicher Handlungsspielraum erweitern.
* Der traditionelle Unterricht bietet „gleichgeschalteten“ Lerngruppen einen engen Spielraum und Rahmen. Dies führt dazu, dass der Unterricht oft nur bei einem Teil der Lernenden die erwünschte Wirkung zeigt. Meistens bleibt unbeachtet, dass der andere Teil nicht einfach nichts lernt. Dieser Teil lernt z. B. während des Frontalunterrichts mit interessierter Miene nicht zuzuhören – weil offensichtliches Desinteresse meistens von den Unterrichtenden sanktioniert wird –, Lösungen von Aufgaben abzuschreiben, statt selbst zu erarbeiten, oder unter den Anforderungen und dem Druck von Prüfungen viel auswendig zu lernen und gleich wieder zu vergessen („Wegwerf-Lernen“). Solche Lernprozesse schränken die Entwicklung der Lernenden in diesem Kontext ein. Sie lassen sich vermeiden, wenn Lehrende Lernumgebungen gestalten, die der Eigenverantwortung und -aktivität der Lernenden einen angepassten Spielraum bieten.
* Im Gesundheits- und Sozialwesen folgt der Umgang mit pflege- oder betreuungsbedürftigen Menschen nicht selten den oben genannten Mustern: Die Lösung von Problemen wird stellvertretend übernommen. Von außen betrachtet mag das zu einem befriedigenden Resultat führen, die inneren Lernprozesse der Betroffenen aber bleiben oft unberücksichtigt. Wenn z. B. ein Mensch mit Behinderung in einem Rollstuhl festgebunden wird, weil er die Aktivität Sitzen nicht selbstständig kontrollieren kann, lernt er dadurch nicht zu sitzen, sondern viel eher sich ununterbrochen anzuspannen. Aus der Sicht von Kinaesthetics ist für die Gesundheits- und Persönlichkeitsentwicklung von pflege- oder betreuungsbedürftigen Menschen von entscheidender Bedeutung, dass alle Interaktionen und Maßnahmen die Entwicklung ihrer Bewegungskompetenz und dadurch

ihre selbstständige Lebensgestaltung und Autonomie unterstützen. Dass dies gelingt, ist wiederum abhängig von der Bewegungskompetenz der pflegenden oder betreuenden Personen und ihrer Einstellung zu diesem Aspekt. Dieses Thema wird ausführlicher im Leitartikel „Bewegungskompetenz schafft Lebensqualität“ (Knobel 2008) dargestellt.

Dieses Lernparadigma versteht Lernen als eine Lebensaufgabe. Es kann uns helfen, die eigene Lebensqualität in jeder Lebensphase bewusst, aktiv und eigenverantwortlich zu gestalten und die Lebensqualität anderer Menschen in entsprechender Weise und mit Respekt vor ihrer Autonomie mitzugestalten.