Interaktion

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Status mit Fachliteratur angelegt
AutorIn/RedakteurIn N. N./Stefan Marty-Teuber
Letzte Änderung 11.03.2024


Zusammenfassung:
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Interaktion aus kinästetischer und kybernetischer bzw. wissenschaftlicher Sicht. Er behandelt nicht das kinästhetische Konzept „Interaktion“ des Konzeptsystems, zitiert aber die dortigen definitorischen Erläuterungen. Der Begriff Interaktion wird als Wechselbeziehung zwischen HandlungspartnerInnen beschrieben, an der beide gleichzeitig und aktiv beteiligt sind.

1 Interaktion im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“

Das folgende Zitat stammt aus dem „Kinaesthetics – Konzeptsystem“. Es ist die Einleitung zum ersten Kapitel „Konzept Interaktion“.

Interaktion bezeichnet im Allgemeinen die Wechselwirkung zwischen zwei oder mehreren HandlungspartnerInnen. Kinaesthetics verwendet den Begriff auch zur Bezeichnung der Wechselwirkungen zwischen den Teilen eines Lebewesens bis hin zur zellulären und molekularen Ebene. Ein Paradebeispiel für Interaktion ist die Kommunikation. Die Unterscheidung zwischen verbaler und nonverbaler Kommunikation macht deutlich, dass grundsätzlich alle Sinnessysteme bei einer Interaktion eine Rolle spielen.
Das Hauptinteresse von Kinaesthetics liegt auf der Beobachtung und Gestaltung der folgenden beiden Arten von Interaktionen:
• Interaktionen zwischen Teilen unseres Körpers bei verschiedensten Aktivitäten.
• Interaktionen zwischen Menschen durch Berührung und Bewegung.
Die Qualität der Interaktion durch Berührung und Bewegung ist für die allgemeine Interaktionskompetenz des Menschen und somit für alle seine Lernprozesse von grundlegender und zentraler Bedeutung.“

Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020): Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 11.

2 Interaktion in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“

Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat stammt aus dem Glossar und beschreibt die Verwendung des Begriffs im Allgemeinen und im Kontext der Kinästhetik.

Interaktion bezeichnet das, was zwischen aktiven, an einer gemeinsamen Handlung beteiligten Teilen passiert. Interaktion bezeichnet im Allgemeinen hauptsächlich die Wechselwirkung oder wechselseitige Beeinflussung von Individuen und Gruppen. Kinaesthetics verwendet den Begriff Interaktion auch für die Wechselwirkung zwischen Körperteilen. Interaktionen entstehen nur durch die gleichzeitige und gemeinsame Aktivität zweier oder mehrerer Teile. Bezüglich Zeit und Gemeinsamkeit lassen sich unter dem Blickwinkel von ‚Führen und Folgen‘ verschiedene Interaktionsformen unterscheiden. Interaktionskompetenz meint die aktuelle, erlernte Fähigkeit, Interaktionen mit Personen produktiv zu gestalten.“

Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020): Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 63 (Glossar).

3 Interaktion in „Kybernetik und Kinästhetik“

Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“, und zwar aus dem abschließenden sechsten Kapitel „Kinästhetik ist praktische Kybernetik“. Das Zitat ist eingebettet in das dritte Unterkapitel „Interaktion und gemeinsames Lernen“. Vorausgehend wird die Partnererfahrung thematisiert. Das Zitat ist der Text des nachfolgenden Themas „Interaktion und Kommunikation aus kybernetischer Sicht“.

„Den kybernetischen Hintergrund dazu bilden zahlreiche Überlegungen und Forschungen zur Kommunikation bzw. Interaktion zwischen Lebewesen. Auch hier leistete Gregory Bateson viel Grundlagenarbeit, auf der z. B. die Gruppe von ForscherInnen um Paul Watzlawick und auch H. Maturana/F. Varela in ihrem ‚Baum der Erkenntnis‘ (Maturana; Varela 2015[1]) aufbauen konnten.
Den Ausgangspunkt dieser Überlegungen bildeten die offensichtlichen Schwächen des damals gängigen, linearen Sender-Empfänger-Modells der Kommunikation. Gemäß diesem funktioniert Kommunikation folgendermaßen: Person A sendet unter Verwendung einer Kodierung (Schrift, mündliche Sprache usw.) eine Botschaft. Sie wird von Person B empfangen und dekodiert. Auf dieser Grundlage sendet B eine Botschaft, die von A empfangen und dekodiert wird. Auf dieser neuen Grundlage sendet A eine nächste Botschaft usw. Man dachte sich Kommunikation als linearen Ablauf, bei dem sich nacheinander das eine aus dem anderen ergibt.
Im Rahmen der Kybernetik wurden die Interaktionen zwischen Lebewesen, zu denen auch alle Formen der verbalen und non-verbalen Kommunikation gehören, in einem neuen Licht betrachtet. Die Kerngedanken einer kybernetischen Interaktionstheorie könnte man so formulieren: Eine Interaktion entsteht dadurch, dass (mindestens) zwei Lebewesen gleichzeitig und ununterbrochen aktiv an einer gemeinsamen Handlung beteiligt sind. Diese Wechselbeziehung beruht auf einem zirkulären Prozess zwischen den InteraktionspartnerInnen: Ich beeinflusse in einer Interaktion durch mein Verhalten fortlaufend das Verhalten meiner PartnerIn und zugleich beeinflusst ihr Verhalten fortlaufend mein eigenes Verhalten: So wirkt mein Verhalten im Kreis oder eben zirkulär ständig auf mich selbst zurück.
Interaktionen werden somit als zirkuläre Prozesse der Wechselbeziehung zwischen HandlungspartnerInnen verstanden, die in der Regulation ihres Verhaltens autonom sind. ‚Autonom‘ meint auch, dass alle ‚Informationen‘ einer verbalen oder non-verbalen Kommunikation fortlaufend von jeder PartnerIn individuell ‚errechnet‘ werden: In einem Gespräch gibt es keine ‚Botschaften‘, die in einer Person entstehen, gesendet werden und genau so in meinen Kopf gelangen. Wenn wir jemandem zuhören, konstruieren wir in uns ohne erfahrbare zeitliche Verzögerung fortlaufend ‚unseren‘ Sinn seiner Worte, eilen gedanklich eher noch voraus und nehmen mögliche Fortsetzungen der Aussagen vorweg. Wir passen beständig unsere Mimik und unser ganzes Verhalten daran an und beeinflussen dadurch die SprecherIn.
Aus dieser kybernetischen Perspektive bestimmen die TeilnehmerInnen eines Gesprächs gleichzeitig und gemeinsam den Verlauf der Kommunikation, ob sie nun dabei zuhören/folgen oder sprechen/führen. Oder anders formuliert: Es gibt keine Botschaften oder Informationen ohne SenderIn und EmpfängerIn – wie es keine Beobachtung ohne BeobachterIn gibt (vgl. 5.3.3).
Wenn jemand z. B. im Rahmen einer Partnererfahrung in eine Bewegungsinteraktion mit einem anderen Menschen tritt, gilt aus kybernetischer Sicht genau das Gleiche: Er kann mit seiner eigenen Bewegung in einer Bewegungsinteraktion eine eher führende oder folgende Rolle spielen. Der Verlauf der Interaktion wird aber in einem zirkulären Prozess durch die ständigen, wechselseitigen Anpassungen der beiden InteraktionspartnerInnen bestimmt. (European Kinaesthetics Association 2020b, S. 47[2])“

Der Text der zugehörigen Infobox „Interaktionen von Lebewesen/Vielzellern“:

Interaktion Maturana Varela.jpg
„Das dargestellte kybernetische Modell geht auf H. Maturana und F. Varela zurück. Sie verwenden es in ihrem Buch ‚Baum der Erkenntnis‘ (Maturana; Varela 2015, S. 196[3]), um aus biologischer Sicht die wesentlichen Bedingungen der Interaktionen von Vielzellern (wie z. B. der Menschen) darzustellen.
Die zwei geschlossenen, kreisförmigen Pfeile, die eine Kugel bilden, symbolisieren das Lebewesen in seiner operativen Autonomie (Autopoiese) und seiner zirkulären Geschlossenheit der Informationsverarbeitung. Aufgrund der strukturellen Übereinstimmungen der beiden Lebewesen wird ihre Interaktion zu einer gemeinsamen Wechselbeziehung, an der beide gleichzeitig und aktiv beteiligt sind (strukturelle Koppelung zwischen Lebewesen).
Selbstverständlich befindet sich jedes Lebewesen ständig in einem bestimmten Milieu, in einer Umgebung. Dies wird in der Abbildung durch die Wellenlinie dargestellt. Auch hier besteht aufgrund einer strukturellen Koppelung eine ständige Wechselbeziehung. Allerdings unterscheidet sie sich von der Interaktion zwischen autonomen HandlungspartnerInnen. Sie zeigt sich in den ununterbrochenen Anpassungsleistungen des Lebewesens sowohl an die konstanten als auch an die sich verändernden Bedingungen seines Milieus.“

Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020): Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 64–66.

4 Interaktion im „Aufbaumodul Demenz 2“

4.1 Einleitung

Das folgende Zitat stammt aus dem „Aufbaumodul Demenz 2: Sich in Beziehung erfahren“[4]. Dieses Aufbaumodul thematisiert die „Beziehungsgestaltung als zentrale Herausforderung der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz“[5]. Beziehungsgestaltung wird dabei als person-zentrierte Interaktionsgestaltung in doppeltem Sinn verstanden: Einerseits geht es um die individuelle Unterstützung jedes einzelnen Menschen, andererseits um die persönliche Sensibilität und Anpassungsfähigkeit der eigenen Bewegung, die Pflegende und Betreuende in die Beziehungsgestaltung einbringen[6].

4.2 Interaktion aus kybernetischer Sicht

Eine wichtige Rolle spielt dabei das erfahrungsbasierte Verständnis der Interaktion und der Interaktionsgestaltung. Im Aufbaumodul 2 widmet sich der nachfolgend zitierte dritte Teil „Interaktion aus kybernetischer Sicht“[7] diesem Thema. Voraus gehen der erste Teil „Beziehung und Beziehungsgestaltung“[8] und der zweite Teil „Bewegungselemente als Grunddimensionen der Interaktionsgestaltung“[9]

„Teil 3: Interaktion aus kybernetischer Sicht
Einführung
Eine Beziehung zu einem Menschen baut sich aus den fortgesetzten Interaktionen mit ihm auf. Was aber ist eine Interaktion? Nach dem Online-Duden bedeutet der Begriff ‚aufeinander bezogenes Handeln zweier oder mehrerer Personen; Wechsel-beziehung zwischen Handlungspartnern‘ (Zugriff: 17.08.2022). Die Grundlage des Verständnisses der zwischenmenschlichen Interaktion bildet die Frage, wie der Mensch sich selbst, all seine Bewegungen und sein Verhalten reguliert.
Aus wissenschaftlicher Perspektive hat insbesondere die Kybernetik die Selbstregulation und darauf aufbauend die Interaktion beschrieben. Auf diese Forschungsrichtung stützen sich die folgenden Ausführungen.
Die Grundlage: Menschen regulieren ihre Bewegung zirkulär in sich selbst
Wie reguliert der Mensch sein Verhalten bzw. seine Bewegungen, sei es allein oder in Interaktionen mit anderen Menschen? Die Funktionsweise unserer Selbstregulation lässt sich in einer Bewegungserfahrung gut nachvollziehen.
Probieren Sie es aus:
Stehen Sie auf ein Bein und schließen sie die Augen. Nehmen Sie mit Ihrem kinästhetischen Sinnessystem wahr, wie Sie sich mit ununterbrochenen Anpassungsbewegungen fortlaufend im Gleichgewicht halten. [kursiv]
Sie werden z. B. feststellen, wie sich die Druckempfindung in Ihrer Fußsohle ständig verändert, wie Sie ununterbrochen kleine Anpassungsbewegungen in unterschiedlichste Richtungen machen oder Ihre Muskelspannung verändern. Wir können nur stehen bzw. das Gleichgewicht nicht verlieren, weil und wenn wir in der Lage sind, fortlaufend die Abweichungen, die wir selbst produzieren, rechtzeitig zu korrigieren.
In kybernetischer Fachsprache ausgedrückt, reguliert der Mensch seine Bewegung durch einen geschlossenen zirkulären („kreisförmigen“) Feedback- oder Rückkoppelungsprozess, durch die sogenannte Feedback-Kontrolle:
*Wenn wir mit geschlossenen Augen auf einem Bein stehen, sind die ständigen Anpassungsbewegungen nur möglich, weil wir mit dem kinästhetischen Sinnessystem fortlaufend die daraus entstehenden Unterschiede wahrnehmen.
*Die fortlaufende Wahrnehmung dieser Unterschiede ist notwendig, damit unser Nervensystem kontinuierlich ‚berechnen‘ kann, wie wir vom Gleichgewicht abweichen.
*Aufgrund dieser ‚Berechnungen‘ werden vom Nervensystem entsprechende Anpassungsbewegungen ausgelöst, die wir wiederum wahrnehmen usw.
Solange wir leben, machen wir ununterbrochen solche Anpassungsbewegungen. Sie können nur von innen im aktuellen Moment erzeugt werden. Die Regulation unserer Muskelspannung oder unsere ständigen kleinen Anpassungsbewegungen bei jeder Aktivität können nicht von einer anderen Person übernommen oder von außen für uns gemacht werden.
Diese Selbstregulation findet immer im Hier und Jetzt statt und ist ein ständiger Lernprozess: In einer Wechselwirkung beeinflussen unsere erlernten Bewegungsmuster jede neue Erfahrung und jede neue Erfahrung beeinflusst unsere Bewegungsmuster in Richtung der Festigung, Erweiterung oder Verminderung unserer Möglichkeiten.
Die Notwendigkeit der individuellen Anpassung im Hier und Jetzt
Wenn ein Mensch einem anderen Menschen hilft, von einem Sessel aufzustehen, bringen sich beide so in diese Interaktion über Berührung und Bewegung ein, wie es ihnen mit ihren individuellen Voraussetzungen im aktuellen Moment möglich ist. Die unterstützende Person kann nicht direkt bewirken, dass sich die unterstützte Person in der von ihr beabsichtigten Weise an ihre Hilfestellung anpasst. Beide Beteiligten sind gleichermaßen gefordert, sich fortlaufend in sich selbst an die Interaktion anzupassen.
Für die Interaktions- und Beziehungsgestaltung bedeutet die kybernetische Erklärung der Funktionsweise des Menschen, dass man einen anderen Menschen nicht wie einen leblosen Gegenstand bewegen kann, sondern ihn nur in seiner eigenen Bewegung unterstützen kann. In jeder Unterstützungssituation reguliert sich der Mensch selbst, und jede Unterstützung ist ein Lernangebot an seine individuelle Selbstregulation.
Deshalb gibt es keine allgemeingültigen Handlungsanleitungen oder ‚Rezepte‘ für Unterstützungssituationen, die bei jedem Menschen funktionieren. Der Verlauf einer Interaktion ist nie vorhersagbar, sondern entsteht im aktuellen Moment.
Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz:
Jede Person mit Demenz nimmt in einer Unterstützungssituation an der Interaktion über Berührung und Bewegung so teil, wie sie es im aktuellen Moment mit ihren individuellen Voraussetzungen kann. Das Gleiche gilt für die unterstützende Bezugsperson. Die Pflegepionierin Sr. Liliane Juchli (1933–2020) hat dies im Satz ‚Ich pflege als die, die ich bin‘ auf den Punkt gebracht.
Jede Person mit Demenz passt sich im gegebenen Moment auf seine individuelle Art und Weise an Hilfestellungen an. Deshalb gibt es nicht den einen richtigen Weg, wie eine Bezugsperson einer Person mit Demenz z. B. helfen kann, aus dem Bett auf einen Sessel zu kommen.
Hilfreich für eine professionelle Interaktionsgestaltung sind hingegen Blickwinkel, auf die eine Bezugsperson während einer Interaktion achten kann, um sich fortlaufend bewusst und gezielt anzupassen. Sie ermöglichen, jede Person mit Demenz individuell in ihrer eigenen Bewegung und Selbstregulation so zu unterstützen, dass sich ihre Möglichkeiten erweitern oder erhalten und nicht abnehmen.“[10]

4.3 „Herausforderndes Verhalten“ vor dem Hintergrund des kybernetischen Interaktionsverständnisses

Im nächsten Kapitel „Interaktionen als fortlaufende gemeinsame Lernprozesse“[11] wird darauf hingewiesen, dass es in Kinaesthetics-Aufbaukursen ein Kernthema ist, „Interaktionen als gemeinsame Lernprozesse zu verstehen und zu gestalten“. Darauf folgt ein längeres Praxisbeispiel, das mit zwei Bewegungserfahrungen verbunden wird.

Es erzählt von einer Person mit Demenz, die sich zunehmend gegen ein bisher passendes Unterstützungsangebot beim Aufstehen wehrt. Das Betreuungsteam vollzieht die Situation in eigenen Bewegungserfahrungen nach. In der Folge achtet es verstärkt darauf, die Interaktion sanft und achtsam mit veränderten Unterstützungsangeboten zu gestalten. Das führt dazu, dass die Person lernt, die Spielräume seiner Bewegung besser und in einer angemessenen Bewegungsgeschwindigkeit zu nutzen.

Das Kapitel schließt mit den nachfolgend zitierten Erläuterungen. Sie verbinden die lebenslange Lernfähigkeit des Menschen aus kybernetischer Perspektive mit den Themen der Interaktionsgestaltung und herausfordernder Situationen. Im anschließend zitierten Kapitel wird vor diesem Hintergrund explizit auf die Problematik des sogenannten herausfordernden Verhaltens eingegangen.

„Das vorausgehende Beispiel veranschaulicht den Weg, der von einer herausfordernden Situation zum gemeinsamen Lernen im Team und schließlich zum Lernerfolg sowie zu wechselseitiger Wirksamkeitserfahrung aller Beteiligten führt. Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht darin die Professionalität des Umgangs mit schwierigen Dynamiken oder Entwicklungen.
Aus der kybernetischen Beschreibung der Selbstregulation folgt, dass das Leben ein fortlaufender Lern- und Entwicklungsprozess ist, der erst mit dem Tod endet. Bis zum Ende seines Lebens reguliert der Mensch sich selbst und bleibt deshalb lernfähig. Insbesondere in seiner Kindheit und im hohen Alter ist er gefordert, sich an körperliche und geistige Entwicklungen mit veränderten oder neuen Verhaltensweisen in seinen alltäglichen Aktivitäten anzupassen.
Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz:
Aus der Perspektive der Kinästhetik ist es zentral, davon auszugehen, dass jede Person mit Demenz bis zum Ende ihres Lebens in alltäglichen Unterstützungssituationen Lernprozesse macht und sich weiterentwickelt. Die Leitidee ist, dass die Person durch die Interaktionsgestaltung lernen kann, ihre individuellen Möglichkeiten und ihre Differenziertheit der Bewegung zu erhalten oder zu erweitern.
Die Grundlage hierfür ist, dass die Bezugsperson ihre eigene Bewegung im Moment des Geschehens nuanciert wahrnehmen und anpassen kann. Ebenso nötig ist ein erfahrungsbasiertes Verständnis der menschlichen Bewegung in alltäglichen Aktivitäten. Ein wichtiger Punkt ist, gemeinsam suchend und lernend unterwegs zu sein, damit sich für alle Beteiligten neue Möglichkeiten überhaupt auftun können.
Dadurch wird ein wesentlicher Beitrag dazu geleistet, dass sich die Person mit Demenz als Mensch in ihrer aktuellen Situation angenommen fühlt und in einer echten Beziehung erfährt.
Schwierige Interaktionsdynamiken sind ein Beziehungsgeschehen
In zwischenmenschlichen Interaktionen können schwierige Dynamiken entstehen. Weil beide Beteiligten überfordert sind, einen befriedigenden Verlauf des gemeinsamen Handelns zu finden, der für beide sinnvoll und angemessen ist, läuft das Beziehungsgeschehen nicht reibungslos ab.
In diesem Fall treten in der Beziehung zu Menschen mit Demenz viele Phänomene auf, die in der Fachliteratur und von Bezugspersonen geschildert werden:
*Unvorhersehbare Wechsel im Verlauf und in der Qualität der Interaktion
*Das Gefühl vonseiten der Bezugspersonen, eine Person mit Demenz nicht zu ‚erreichen‘
*Über-sich-ergehen-Lassen, Abwendung oder Verweigerung vonseiten der Person mit Demenz
*Eskalation der Interaktion durch Anspannung, Wut oder Zorn
Aus kybernetischer Perspektive besteht bei solchen Phänomenen die Herausforderung in der wechselseitigen Beziehungsgestaltung, für die beide InteraktionspartnerInnen gleichermaßen verantwortlich sind. Eine schwierige Interaktionsdynamik ist ein Beziehungsphänomen – und eine Interaktion bzw. Beziehung entsteht nur dadurch, dass zwei Personen gleichzeitig und gemeinsam am Geschehen aktiv beteiligt sind.
Die erwähnten Phänomene werden gängig als herausforderndes Verhalten von Menschen mit Demenz bezeichnet. Problematisch an diesem Begriff ist, dass er die Verantwortung für die schwierige Interaktionsdynamik einseitig der Person mit Demenz oder ihrer Diagnose zuschreibt. Aus der Perspektive der Kybernetik und der aktuellen Demenzforschung kann eine solche einseitige „Schuldzuweisung“ weder der Situation noch ihrer konstruktiven Entwicklung gerecht werden.
Bedeutung für Menschen mit Demenz:
Eine Person mit Demenz verhält sich nicht unkooperativ oder herausfordernd, weil sie so ist oder aufgrund ihrer Erkrankung so geworden ist. Vielmehr hat es damit zu tun, dass sie aus dem Beziehungsgeschehen gelernt hat oder lernt, dass sie nur durch dieses Verhalten ihre persönliche Integrität und Lebensqualität erhalten kann. Ihr ‚herausforderndes‘ Verhalten ist für sie persönlich die einzige Möglichkeit, sich an die aktuelle Situation anzupassen.
Ohne Zweifel braucht es bei der professionellen Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz eine hohe Kompetenz der Bezugspersonen, sich an schwierige Interaktionsdynamiken förderlich anzupassen. Viele Bezugspersonen entwickeln diesbezüglich durch ihr Erfahrungswissen eine bewundernswerte, auf jede einzelne Person individuell ausgerichtete Interaktionskompetenz. Diese eröffnet ihnen einen Handlungsspielraum, um mit schwierigen Interaktionsdynamiken beziehungsfördernd und konstruktiv umzugehen.
Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz:
In der Interaktion über Berührung und Bewegung ist es für die Bezugsperson bisweilen kaum feststellbar ist, dass sich die Person mit Demenz aktiv an der gemeinsamen Handlung beteiligt. Dadurch verblasst für die Bezugsperson oft das Gefühl, in einer förderlichen Beziehung zu stehen. Aus der Perspektive der Kinästhetik ist davon auszugehen, dass die Person mit Demenz in jedem Fall aktiv an der Interaktion teilnimmt sowie Erfahrungen und Lernprozesse macht.
Wenn in einer Interaktion eine schwierige Dynamik entsteht, ist es umso wichtiger, dass Bezugspersonen auf ihr eigenes Bewegungsverhalten z. B. bezüglich Geschwindigkeit und Muskelspannung achten, um einen konstruktiven Lernprozess im wechselseitigen Beziehungsgeschehen zu ermöglichen. Schwierige Situationen verlangen von Bezugspersonen in besonderem Maß, Interaktionen offen und suchend zu gestalten. “[12]
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Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) : Aufbaumodul Demenz 2: Sich in Beziehung erfahren. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-47-5. S. 36 ff.

5 Vergleiche auch

6 Einzelnachweise

  1. Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (2015): Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Aus dem Spanischen von Kurt Ludewig in Zusammenarbeit mit dem Institut für systemische Studien e. V. in Hamburg. 6. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag (Fischer Taschenbücher 17855). ISBN 978-3-596-17855-1.
  2. European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020): Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7.
  3. Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (2015): Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Aus dem Spanischen von Kurt Ludewig in Zusammenarbeit mit dem Institut für systemische Studien e. V. in Hamburg. 6. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag (Fischer Taschenbücher 17855). ISBN 978-3-596-17855-1.
  4. European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) : Aufbaumodul Demenz 2: Sich in Beziehung erfahren. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-47-5.
  5. ebd., S. 7.
  6. ebd.
  7. ebd., S. 36 ff.
  8. ebd., S. 10 ff.
  9. ebd., S. 20 ff.
  10. ebd., S. 36 f.
  11. ebd., S. 38 f.
  12. ebd., S. 39 f.