https://wiki.kinaesthetics.de/api.php?action=feedcontributions&user=Sabine+Kaserer&feedformat=atomKinaesthetics-Online-Fachlexikon - Benutzerbeiträge [de]2024-03-29T08:05:47ZBenutzerbeiträgeMediaWiki 1.35.13https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Hierarchie_der_Kompetenzen&diff=4990Hierarchie der Kompetenzen2024-03-11T11:08:50Z<p>Sabine Kaserer: /* LQ 02/2022: „Die Hierarchie der Kompetenzen – Lernen, wenn es schwierig ist“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Stefan Marty-Teuber}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus Zitaten zum Thema Hierarchie der Kompetenzen. Die Hierarchie der Kompetenzen ist ein Kinaesthetics-Modell, dass sich aus der direkten Interaktion mit bewegungseingeschränkten Menschen entwickelt hat. Die jahrelange Beobachtung unterschiedlichster Entwicklungsprozesse und die methodische Zusammenführung dieser Erfahrungen hat Muster zutage gefördert, die in diesem Modell zusammengefasst und vereinfacht dargestellt wurden. In der Zeitschrift „lebensqualität/LQ" taucht der Begriff ab 2010 in unterschiedlichen Zusammenhängen vermehrt auf.<br />
<br />
== Die Hierarchie der Kompetenzen in den Peer-Tutoring-Arbeitsunterlagen ==<br />
<br />
Ein längerer Text zur Hierarchie der Kompetenzen findet sich in den Peer-Tutoring-Arbeitsunterlagen (Auflage 2020) des Verlags European Kinaesthetics Association. Er soll hier eine Diskussionsgrundlage bieten. Der Text ist im Rahmen eines Grundlagenprojekts der EKA überarbeitet, aber noch nicht breit diskutiert worden. Er findet sich im Kapitel „Lernumgebung gestalten mit KlientInnen“ auf den Seiten 43 bis 44. Voraus geht das Thema „Lernen statt Behandeln“. Der Text trägt die Überschrift „Die Hierarchie der Kompetenzen“. Das gleichnamige Dokumentationswerkzeug können Kinaesthetics-TrainerInnen auf der TrainerInnen-Plattform im Download von KinMedia unter „Dokumentationswerkzeuge“ einsehen.<br />
<br />
: ''„Die ‚Hierarchie der Kompetenzen‘ ist ein Kinaesthetics-Modell, das Ihnen hilft, gegenüber einem anderen Menschen (oder auch gegenüber Ihnen selbst) die Entwicklungsperspektive einzunehmen. Es geht vom Modell der sieben Grundpositionen bzw. von den Kompetenzen aus, die in diesen und in den Positionswechseln zwischen diesen erforderlich sind. Es führt hierarchisch oder stufenartig von der Rückenlage bis ins Stehen. Die Hierarchie beruht darauf, dass die Organisation und Kontrolle des Gewichtes der Körperteile in der Schwerkraft immer anspruchsvoller werden. Dabei geht das Modell von folgenden Hypothesen aus:<br>• Die Kompetenzen, die in einer Grundposition in Bezug auf die Organisation und Kontrolle des Gewichtes der Körperteile in der Schwerkraft erforderlich sind, bilden die Grundlage oder Voraussetzung für die entsprechenden Kompetenzen, die der Positionswechsel in die nächsthöhere Grundposition erfordert.<br>• Die Kompetenzen, die bei einem Positionswechsel in Bezug auf die Organisation und Kontrolle des Gewichtes der Körperteile in der Schwerkraft erforderlich sind, bilden die Grundlage oder Voraussetzung für die entsprechenden Kompetenzen, die die nächsthöhere Grundposition erfordert.''<br />
<br />
: ''Aufbauend auf diesem Modell, ist das Dokumentationswerkzeug [[Medium:Hierarchie-der-Kompetenzen-DE.pdf|‚Hierarchie der Kompetenzen‘]] folgendermaßen angelegt <nowiki>[...]</nowiki>:<br>• Die linke Spalte des Dokumentationswerkzeuges zeigt die sieben Grundpositionen.<br>• In den je dazugehörigen Zeilen können die Kompetenzen in der jeweiligen Grundposition, die Kompetenzen bei der gehenden Fortbewegung und im Positionswechsel zur nächsthöheren Grundposition beschrieben werden.<br>Als Fokus zur Beobachtung und Beschreibung der Kompetenzen dienen die Kinaesthetics-Konzeptblickwinkel. Durch seine Anlage erlaubt dieses Instrument eine sehr differenzierte Untersuchung und Dokumentation der Entwicklung der einzelnen Kompetenzen eines Menschen und seiner Bewegungskompetenz im Ganzen.''<br />
<br />
: ''Inhaltlich hat das Modell der ‚Hierarchie der Kompetenzen‘ einen Zusammenhang mit der Beobachtung, dass die Entwicklung der Bewegungskompetenz beim neugeborenen Kind ‚stufenartig‘ vom Liegen übers Sitzen bis zum Stehen und aufrechten Gehen verläuft. Wenn ein Kind z. B. erst seit Kurzem sitzen ‚kann‘, braucht es dabei viele Kompetenzen, die es in den tieferen Grundpositionen, d. h. in der Rücken- und Bauchlage, und im Wechsel zwischen diesen gelernt hat. Dabei lässt sich feststellen, dass bestimmte Lernthemen oder Grundkompetenzen in tieferen Grundpositionen ebenso aktuell und erforderlich sind wie in höheren. Zu diesen Lernthemen gehören z. B. das Zusammenspiel von Ziehen und Drücken im Körper, die Art und Weise, wie das Kind in einer Grundposition sein Körpergewicht auf eine Unterstützungsfläche abgibt oder wie es das Gewicht der Massen in unterschiedliche Richtungen verlagert.''<br />
<br />
: ''Möglicherweise hat das Kind auf dem Weg ins Sitzen auch gelernt, sich ‚gehend‘ in der Bauchlage fortzubewegen. ‚Gehen‘ ist ja in allen Grundpositionen möglich, und die Kompetenz, Schritte machen zu können, wird nicht einzig und allein beim aufrechten Gehen gelernt. Natürlicherweise verläuft die Entwicklung so, dass Kinder solche Grundkompetenzen in den tieferen Grundpositionen und Positionswechseln lernen. Diese Lernprozesse bilden die Grundlage oder Voraussetzung für die Kontrolle und Koordination der Bewegung in höheren Positionen.'' <br />
<br />
: ''Die Hierarchie solcher Lernprozesse ist bei kleinen Kindern gut beobachtbar, ist jedoch in jedem Alter von großer Bedeutung. Je höher eine Position ist, desto anspruchsvoller wird die Gewichtsorganisation. Das heißt, je mehr Massen ihr Gewicht nicht selbst, sondern über eine andere Masse abgeben, desto anspruchsvoller wird es, das Gewicht so zu kontrollieren, dass man nicht das Gleichgewicht verliert und stürzt.''<br />
<br />
: ''Oft ist beobachtbar, dass es älteren Menschen leichter fällt, auf zwei Beinen zu gehen als sich in tieferen Grundpositionen gehend fortzubewegen. Dies ist vor allem deshalb der Fall, weil sie Letzteres im Alltag nur noch selten tun und es dadurch verlernt haben. Dadurch geht ihnen das Fundament der Kompetenzen in den tieferen Grundpositionen und Positionswechseln teilweise verloren. Dies führt in der Regel dazu, dass sie immer unsicherer aufrecht gehen und das Risiko von Sturz und Verletzung zunimmt.''<br />
<br />
: ''Die Betrachtungsweise des Modells bzw. eine Analyse mit dem Dokumentationswerkzeug kann helfen, ein Unterstützungsangebot sehr präzise an den aktuellen Stand der Bewegungskompetenz eines anderen Menschen anzupassen. Dies erlaubt, mit ihm in tieferen und einfacher kontrollierbaren Grundpositionen an Grundkompetenzen zu arbeiten, die er in höheren und somit anspruchsvolleren Positionen nutzen kann. Ebenso ermöglicht das Modell bzw. das Dokumentationswerkzeug, Lernthemen zu erkennen, die sich wie ein roter Faden durch die Positionen oder Positionswechsel hindurchziehen.''<br />
<br />
: ''Die folgenden Beispiele aus der Praxis von Pflege und Betreuung sollen dies verdeutlichen:<br>• Wenn z. B. die Eltern eines Kleinkindes mit Behinderung möchten, dass es sitzen lernt, wird man aus der Perspektive der ‚Hierarchie der Kompetenzen‘ das Kind nicht einfach im Sitzen selbst unterstützen, sondern zuerst darauf achten, wie es mit den Anforderungen zurechtkommt, welche die tieferen Grundpositionen und die Positionswechsel auf dem Weg ins Sitzen stellen. Man wird es darin unterstützen, die dabei erforderlichen Kompetenzen immer differenzierter und vielfältiger zu entwickeln, um sie schließlich im Sitzen selbst anzuwenden.<br>• Wenn ältere Menschen darüber klagen, dass sie zwar gerade noch stehen und gehen, aber z. B. nach einem Sturz nicht mehr allein vom Boden aufstehen können, befinden sie sich in einer Situation, die für die Erhaltung ihrer Selbstständigkeit kritisch ist. Deshalb ist es wichtig, sie in ihren Bewegungsmöglichkeiten in den tieferen Grundpositionen und in den Positionswechseln von der Rückenlage zum Stehen zu unterstützen.''<br />
<br />
: ''In der Pflege stellt jede Mobilisation einer KlientIn einen Lern- oder Entwicklungsprozess für sie dar. Selbstverständlich kann auch hier mithilfe der Betrachtungsweise der ‚Hierarchie der Kompetenzen‘ differenziert auf den Entwicklungsstand der Bewegungskompetenz geachtet und die angestrebte Mobilität angepasst und stufenweise in den tieferen Grundpositionen und Positionswechseln erarbeitet werden.''<br />
<br />
: ''Wie gelangen Sie zu den Beschreibungen in den einzelnen Feldern des [[Medium:Hierarchie-der-Kompetenzen-DE.pdf|Dokumentationswerkzeuges]] <nowiki> [...]</nowiki> – Kommen Sie mit dem anderen Menschen in Bewegung!''<br />
<br />
: ''Die fokussierte Bewegungsinteraktion mit dem anderen Menschen in unterschiedlichen Interaktionsformen ist das unmittelbarste und ergiebigste Mittel, um etwas über seine Bewegungskompetenz in Erfahrung zu bringen, sie zu beschreiben und das Unterstützungsangebot anzupassen. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass es nicht um die ‚objektive‘ Bewertung eines Menschen geht, sondern um eine Einschätzung, die auf Ihrer differenzierten Innen- und Bewegungsperspektive beruht. Nutzen Sie dazu die Kinaesthetics-Konzeptblickwinkel.“''<br />
<br />
==Die Hierarchie der Kompetenzen in der Themenbroschüre „Kinästhetik und Frühmobilisation“==<br />
=== Ausführungen zum Modell und seiner Bedeutung ===<br />
Eine Auseinandersetzung mit der Hierarchie der Kompetenzen findet sich in der Themenbroschüre „Kinästhetik und Frühmobilisation“ der European Kinaesthetics Association. Die Broschüre beleuchtet die Bedeutung der Kinästhetik für die Frühmobilisation im Intensiv- und Akutbereich. Sie richtet sich an pflegerische, ärztliche und therapeutische Fachpersonen. In Thema 3 „Grundlegende Kompetenzen in tiefen Positionen und Positionswechseln fördern“ wird auf das Modell und seine Bedeutung für die PatientIn und für frühe Mobilisationsangebote eingegangen. Vorangestellt wird ein reales Praxisbeispiel.<br />
: ''„Ein Beispiel aus der Praxis''<br><br />
: ''Im Herbst des Jahres 2021 lag ich mit hohem Fieber eine Woche zu Hause. Aufgrund zweier negativer Tests wurde eine Covid-Erkrankung ausgeschlossen. Weil sich mein Zustand verschlechterte, brachte mich mein Mann in die Notaufnahme des Krankenhauses, in dem ich arbeite. Nach kurzer Zeit und einem positiven Covid- Test wurde ich auf die Intensivstation verlegt und intubiert. <br />
<br />
: ''An die anschließenden vier Tage kann ich mich nicht erinnern. Meine erste Wahrnehmung, an die ich mich erinnere, sind Schmerzen im Nacken und Kiefer, und dass sich mein Körper wie Blei anfühlte. Nur mit größter Anstrengung konnte ich meinen Kopf und meine Arme ein wenig hin und her rollen. Als meine KollegInnen meine Bemühungen bemerkten, unterstützten sie mich dabei, und erst jetzt konnte ich diese Bewegungsspielräume wieder entdecken und auch meine Anstrengung reduzieren. <br />
<br />
: ''Aber schon kleinste Positionsveränderungen, die ich selbst gestalten konnte, veränderten meine gefühlte Situation. Sie zeigten mir, dass ich noch etwas kann und der Situation nicht ausgeliefert bin. <br />
<br />
: ''Meine Möglichkeiten waren durch die fehlende Kraft und die verminderte Kontrolle meiner Bewegungen anfangs sehr klein. Schritt für Schritt lernte ich wieder, mich mit meinen Armen und Beinen abzustützen, um meinen Brustkorb oder mein Becken in Richtung Seitenlage drehen zu können. Es war ein langsamer Aufbau meiner Möglichkeiten. Der Versuch, Schritte zu überspringen und unterstützt von meinen KollegInnen direkt an den Bettrand zu sitzen, brachte für mich nur die Erkenntnis der Überforderung und Angst. Meine KollegInnen gestalteten deshalb ihre Unterstützung so, dass ich meine aktuellen Bewegungsmöglichkeiten auf dem Weg ins Sitzen Schritt für Schritt ausloten konnte. Wenn ich heute zurückdenke, bin ich froh, dass sie nicht auf einem Behandlungsschema beharrt, sondern mir die Zeit gegeben haben, meinen eigenen Weg zu finden.<br />
<br />
:::''Fatima R., <br>Pflegefachfrau mit Kinaesthetics-Grund- und Aufbaukurs<br />
<br />
: ''''' <u>Die Hierarchie der Kompetenzen</u>'''''<br />
<br />
:::'''''Kinästhetische Grundlagen''<br><br />
: ''Die grundsätzliche Absicht der Mobilisation ist, die PatientIn darin zu unterstützen, vom Liegen im Bett wieder zum selbstständigen Sitzen, Stehen und Gehen zu gelangen. Die Kinästhetik verwendet in diesem Zusammenhang das Modell der '''‚Hierarchie der Kompetenzen‘'''. Es ist eng mit dem Modell der Grundpositionen verbunden (vgl. Grafik unten). Es baut auf dem kinästhetischen Verständnis der Entwicklung der [[Bewegungskompetenz]] auf und betrifft ein Muster des Bewegungslernens, das auch bei der kindlichen Bewegungsentwicklung von Bedeutung ist.<br />
<br />
: ''Die Grundidee des Modells besteht darin, dass der Mensch in jeder Position und bei jedem Positionswechsel eine Reihe von grundlegenden Kompetenzen benötigt. Dazu gehört z. B. die Kompetenz, <br> – die eigene Muskelspannung wahrzunehmen und sie angemessen zu regulieren, <br> – das Gewicht der Körperteile über die körperlichen [[Knochen und Muskeln|Knochenstrukturen]] abzugeben und zu verlagern, <br> – die Körperteile in eine passende Beziehung für die Ausführung alltäglicher Aktivitäten zu bringen.<br />
<br />
: ''Ausgehend von der Rückenlage führt das Modell ins Stehen, und zwar über die Grundpositionen und die jeweiligen Positionswechsel in die nächsthöhere Grundposition.<br />
<br />
: ''Bereits in der Rückenlage sind konkrete Ausprägungen der grundlegenden Kompetenzen erforderlich: Kann ich im Liegen z. B. meine Muskelspannung wahrnehmen und angemessen regulieren, kann ich das Gewicht meiner Körperteile über [[Knochen und Muskeln|Knochenstrukturen]] abgeben und verlagern?<br />
<br />
: ''Gemäß dem Modell schafft der Erwerb grundlegender Kompetenzen in der Rückenlage die Voraussetzungen für den selbstständigen Positionswechsel in die Bauchlage mit Ellbogenstütz. Auf diesem Weg werden wiederum Ausprägungen der gleichen grundlegenden Kompetenzen trainiert. Sie sind für die selbstständige Einnahme der Bauchlage mit Ellbogenstütz oder auch für die Fortbewegung in dieser nächsthöheren Grundposition nötig.<br />
<br><br />
<br><br />
<br />
::::: ''<small>Die Grundpositionen</small><br />
<br />
: {| <br />
|- style="vertical-align:middle;"<br />
| style="height:200px; width: 30%"| [[Datei:52-detail-fortbew-vertical.jpg|300px|rahmenlos|links]] || style="vertical-align:top"| ''<small>Die Abbildung zeigt das Modell der Grundpositionen bzw. der Positionswechsel von tiefen zu höheren Grundpositionen. Die Grundpositionen ergeben sich, wenn man den Weg aus der Rückenlage bis ins Stehen in einem spiraligen Muster vollzieht (sich drehen und strecken, sich drehen und beugen).<br> Mit jeder höheren Grundposition wird es anspruchsvoller, das Gewicht der Körperteile in der Schwerkraft abzugeben. In jeder Grundposition und in jedem Positionswechsel werden die konkreten Ausprägungen der grundlegenden Kompetenzen als hierarchische Voraussetzung für die nächsthöhere Position weiterentwickelt</small>.<br />
|}<br />
<br />
<br><br />
<br />
: ''In gleicher Weise werden<br>– bei jedem Positionswechsel in die nächsthöhere Grundposition und <br>– in jeder Grundposition selbst <br> die Voraussetzungen für Fortsetzung des Weges bis ins Stehen geschaffen.<br />
<br />
: ''Mit jeder höheren Grundposition wird die Ausübung dieser Kompetenzen anspruchsvoller. Auf dem Weg vom Liegen ins Stehen lösen sich schrittweise Kopf, Brustkorb, Arme und schließlich das Becken von Unterstützungsflächen. Ihre ‚freie’ Bewegung in der Schwerkraft muss ständig reguliert werden. In diesem Sinn kann von einer '''Hierarchie der Kompetenzen''' gesprochen werden.<br />
<br><br />
<br />
::: ''''' Bedeutung für die Intensiv- oder AkutpatientIn''<br />
: ''Aus der Perspektive der '''Hierarchie der Kompetenzen''' kann eine PatientIn bereits in der Rückenlage durch kleine Aktivitäten und Positionsveränderungen grundlegende Kompetenzen erwerben. Sie sind eine Voraussetzung dafür, dass die PatientIn die nächsthöhere Grundposition mit angemessener Anstrengung, funktional-anatomisch passend usw. einnehmen und kontrollieren lernen kann. Mit hochgestelltem Kopfteil des Bettes kann die PatientIn z. B. in liegender Position lernen, das Gewicht ihres Kopfes frei und mit angemessener Muskelspannung auf ihren Brustkorb weiterzuleiten.<br />
<br />
: ''Die Rückenlage und der Weg in Richtung Sitzen ermöglichen es der PatientIn zu lernen, wie sie die Abgabe und Verlagerung des Gewichts von Brustkorb und Becken über ihre Knochenstrukturen mit ihren Extremitäten unterstützen und kontrollieren kann. Aus der kinästhetischen Perspektive ist die sogenannte Rumpfstabilität nicht nur eine Frage gefestigter Muskulatur, sondern auch eine Frage der Kompetenz, das Gewicht von Kopf, Brustkorb und Becken mit wenig Anstrengung über [[Knochen und Muskeln|Knochenstrukturen]] weiterleiten, verlagern und abgeben zu können.<br />
<br />
: ''Auch die gehende Fortbewegung kann Schritt für Schritt mit steigendem Anspruch angebahnt werden: Es ist möglich, das Prinzip des Gehens bereits im Liegen oder im Sitzen zu erfahren und sich dadurch schrittweise dem Gehen auf zwei Beinen anzunähern.''<br />
<br />
: ''[...]<br />
<br />
::: '''''Bedeutung für die Frühmobilisation''<br />
: ''Bei der medizinischen Sicht der Mobilisation stehen traditionell quantitative Aspekte im Vordergrund: Wie lange und wie oft soll eine PatientIn im Bett aufsitzen, sich an die Bettkante, in den Lehnstuhl setzen, aufstehen, gehen? Als Grundlage dient die Diagnose der PatientIn und als Orientierung die äußere Einschätzung ihrer Entwicklung.<br />
<br />
: ''Diese Sicht wird durch die Perspektive des Modells '''‚Hierarchie der Kompetenzen‘''' erweitert durch den Blick auf die einzelne PatientIn bzw. darauf, wie sie in ihrer eigenen Bewegung die Qualität der grundlegenden Kompetenzen schrittweise entwickeln kann. Frühmobilisation umfasst aus der Sicht der Kinästhetik die gezielte Förderung von grundlegenden Kompetenzen in tieferen Positionen und Positionswechseln. Dadurch schafft die PatientIn selbst fortlaufend die Voraussetzungen dafür, dass sie höhere Positionen selbstständiger, kontrollierter und in höherer Qualität einnehmen kann.<br />
<br />
: ''Die Orientierung an den grundlegenden Kompetenzen erlaubt es der PatientIn bzw. der unterstützenden Person, den Weg in eine nächsthöhere Grundposition gezielt vorzubereiten. Zugleich wird dazu beigetragen, dass die PatientIn entsprechend ihrer individuellen [[Bewegungskompetenz|Kompetenz-]] und [[Gesundheitsentwicklung]] im wahrsten Sinn des Wortes wieder selbst auf die Beine kommt.“<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022):''' Kinästhetik und Frühmobilisation – Für Fachpersonen aus dem pflegerischen, ärztlichen und therapeutischen Bereich. Unter Mitarbeit von Caroline Rüttimann Remund, Andrea Wildi Wyss, Hubert Zimmermann, Stefan Marty-Teuber und des Fachnetzwerks Akutpflege/Intensivpflege (Kinaesthetics Schweiz). Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903350-02-1. S. 19–24.<br />
<br />
===Hinweise zur Entstehung des Modells ===<br />
<br />
Einen Einblick in die Entdeckung und Entwicklung des Modells bietet eine Infobox in der Themenbroschüre „Kinästhetik und Frühmobilisation“ der European Kinaesthetics Association. Diese Infobox befindet sich in Thema 3 „Grundlegende Kompetenzen in tiefen Positionen und Positionswechseln fördern“ auf Seite 22. <br />
<br />
:'''''„Die Entstehung des Modells'''<br />
: ''Das Modell der '''‚Hierarchie der Kompetenzen‘''' entstand u. a. aus langjährigen Bewegungsinteraktionen mit erwachsenen Menschen mit schweren körperlichen Behinderungen. Dass sie je den Weg vom Rollstuhl ins Bett selbstständig bewältigen, schien aussichtslos. Durch die gezielte Förderung ihrer grundlegenden Kompetenzen der Bewegung begannen sie, ihre individuellen Voraussetzungen so zu nutzen, dass sie selbst aus der Rücken- in die Seitenlage und zurückkamen, dann in die Bauchlage, bisweilen bis ins Sitzen. Diese Lernprozesse, die ihnen niemand zugetraut hätte, führten dazu, dass die betreffenden Menschen mit geringfügiger, kompetent angepasster Unterstützung alltägliche Aktivitäten selbst gestalten konnten und ein Stück Lebensqualität gewonnen haben. (Einen Einblick in diese Lernprozesse gibt ‚Ermöglichen statt Behindern‘, DVD, ca. 30 Minuten)“<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022):''' Kinästhetik und Frühmobilisation. Themenbroschüre – Für Fachpersonen aus dem pflegerischen, ärztlichen und therapeutischen Bereich. Unter Mitarbeit von Caroline Rüttimann Remund, Andrea Wildi Wyss, Hubert Zimmermann, Stefan Marty-Teuber und des Fachnetzwerks Akutpflege/Intensivpflege (Kinaesthetics Schweiz). Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903350-02-1. S. 22.<br />
<br />
== Die Hierarchie der Kompetenzen in der Zeitschrift „lebensqualität/LQ" ==<br />
<br />
=== lebensqualität 03/2012: „Schau mal, was ich kann! Wenn Unverhofftes geschieht...“ ===<br />
<br />
Das folgende Zitat entstammt einem Artikel<ref>'''Lang, Erwin (2012):''' „Schau mal, was ich kann!“ Wenn Unverhofftes geschieht ... . In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2012, Nr. 1. S. 15–19.</ref> aus der Rubrik „praxis“ der Zeitschrift „lebensqualität“ 03/2012. Erwin Lang beschreibt in diesem Erfahrungsbericht die Umsetzung des Modells im tatsächlichen Lernprozess mit einer sturzgefährdeten Person. Die ausgewählte Textstelle findet sich als Infobox am Ende des Artikels.<br />
<br />
: '''''„Hierarchie der Kompetenzen'''''<br />
<br />
: ''Wer in der Betreuung oder Pflege von Menschen arbeitet, kennt das Phänomen: Es gibt Menschen, die können zum Beispiel gehen – schaffen es aber nicht, selbst aus dem Bett zu steigen. Kinaesthetics erforscht sich seit einigen Jahren diese interessante Beobachtung und hat das Modell der Hierarchie der Kompetenz entwickelt. Die Hierarchie der Kompetenz ist ein spezifisches Kinaesthetics-Analyse-Instrument, das hilft, die aktuellen Fähigkeiten eines Menschen aus einer Entwicklungsperspektive zu beleuchten. Dabei richtet sich das Instrument nach folgenden Thesen:<br>• In tiefen Positionen (z.B. Rückenlage) ist es einfacher das Gewicht gegenüber der Schwerkraft zu kontrollieren wie in hohen Positionen (z. B. Stehen).<br> • Die Kompetenz und Fähigkeit, die ich in einer bestimmten Position brauche, lerne ich in den tieferen Positionen und auf dem Weg in die jeweilige Position. Beispiel: Um sitzen zu können, muss ich das Gewicht des Brustkorbes mit den Armen kontrollieren können. Das lerne ich in der Bauchlage und auf dem Weg von der Bauchlage ins Sitzen.<br><nowiki>[...]</nowiki>“''<br />
<br />
Quelle: '''Lang, Erwin (2012):''' „Schau mal, was ich kann!“ Wenn Unverhofftes geschieht ... . In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2012, Nr. 1. S. 19.<br />
<br />
=== lebensqualität 01/2014: „‚Geht nicht‘ geht nicht. Der Lernprozess eines ‚nicht therapierbaren‘ Menschen“ ===<br />
<br />
Das folgende Zitat entstammt einem Artikel<ref>'''Schmidinger, Monika (2014):''' „Geht nicht“ geht nicht. Der Lernprozess eines „nicht therapierbaren“ Menschen“. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2014, Nr. 1. S. 26–31.</ref> aus der Rubrik „praxis“ der Zeitschrift „lebensqualität“ 01/2014. Monika Schmidinger zeigt auf, wie sie das Modell in einem Lernprozess umsetzt und anhand des Kinaesthetics-Konzeptrasters die Entwicklung dokumentiert. Das Zitat befindet sich am Ende des Artikels in einer Infobox.<br />
<br />
: '''''„Hierarchie der Kompetenzen'''''<br />
: ''Kinaesthetics beschreibt im Konzept ‚Menschliche Funktion“ sieben Grundpositionen. Die erste Grundposition ist die Rückenlage. Diese erfordert die Kompetenz, das Gewicht jeder Masse (d. h. von Kopf, Brustkorb, Becken, Beinen und Armen) einzeln auf die Unterstützungsfläche abgeben zu können. Wenn das gelingt, sind alle Zwischenräume frei beweglich und man kann die Massen einzeln auf der Unterstützungsfläche rollen. In der Rückenlage ist es am einfachsten zu kontrollieren, wie die Körperteile ihr Gewicht in der Schwerkraft abgeben.<br> Die nächste Grundposition (Bauchlage mit Ellbogenstütz) erfordert zusätzlich die Kompetenz, dass man das Gewicht des Kopfes und teilweise des Brustkorbs indirekt über die Arme auf die Unterstützungsfläche abgeben kann. Nur schon deshalb ist diese Grundposition anspruchsvoller.<br> Mit jeder folgenden Position geben immer weniger Massen ihr Gewicht direkt auf die Unterstützungsfläche ab und die Herausforderung der indirekten Gewichtsabgabe nimmt zu.<br> Spezifische Kompetenzen, die in diesem Sinn hierarchisch gestuft sind, haben durch alle Grundpositionen hindurch und auf allen Wegen von einer Grundposition in eine andere eine elementare Bedeutung. In der Rückenlage kann man z. B. relativ einfach lernen, mit den Beinen die Bewegung des Beckens zu unterstützen und zu kontrollieren – eine Kompetenz, die auch in allen höheren Grundpositionen eine wichtige Rolle spielt. Sie ist auch eine Erleichterung oder gar Voraussetzung, dass man mit angemessener Anstrengung in die nächsthöhere Position gelangt. Entsprechend gilt auch für die anderen spezifischen Kompetenzen, die die Grundpositionen oder der Weg zwischen ihnen erfordert, dass man sie sinnvoller und leichter in tieferen Positionen erwirbt oder erweitert als in höheren.<br><nowiki>[...]</nowiki>“''<br />
<br />
Quelle: '''Schmidinger, Monika (2014):''' „Geht nicht“ geht nicht. Der Lernprozess eines „nicht therapierbaren“ Menschen“. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2014, Nr. 1. S. 31.<br />
<br />
=== LQ 02/2022: „Die Hierarchie der Kompetenzen – Lernen, wenn es schwierig ist“ ===<br />
Das folgende Zitat ist ein Artikel aus der Rubrik „Thema“ der Zeitschrift „LQ“ 02/2022. Nach dem ersten Teil „Bewegungskompetenz beeinflussen“ bildet er den zweiten Teil zum Thema „Lernen, wenn es schwierig ist“. Stefan Knobel und Gerald Zussner stellen in diesem Artikel ihr Verständnis des Modells der Hierarchie der Kompetenzen dar mit dem Ziel, einen Beitrag zu seiner Verfeinerung und Differenzierung zu leisten.<br />
: ''''' „Die Hierarchie der Kompetenzen'''''<br />
: '''''Die Hierarchie der Kompetenzen ist ein Modell des Fachgebiets Kinästhetik. Es zeigt große Wirkung in der Praxis, wenn es darum geht, für KlientInnen Lernumgebungen zu gestalten. Trotz seiner Akzeptanz in der Praxis gilt es, das Modell zu verfeinern und zu differenzieren. Dieser Aufsatz möchte einen Beitrag dazu leisten.<br />
<br />
: ''<u>WIE DAS MODELL ENTSTANDEN IST</u><br />
: ''LEBENSQUALITÄT SICHTBAR MACHEN. Der Begriff '''‚Hierarchie der Kompetenzen‘''' ist Anfang der Nullerjahre des gegenwärtigen Jahrhunderts im Fachgebiet Kinästhetik das erste Mal aufgetaucht. Damals bildeten Brigitte Marty- Teuber, Ingo Kreyer und Stefan Knobel eine Arbeitsgruppe, die sich die folgende Frage stellte: Wie kann die individuelle Lebensqualität bei Menschen erfasst werden, die sich verbal nicht äußern können? Die Gruppe startete einen Feldforschungsprozess. Sie wollte sich den Antworten auf die Forschungsfrage durch Beobachtungstage in einem Pflegeheim annähern. Das erhoffte Instrument zur Erfassung der individuellen Lebensqualität konnte in der Folge zwar nicht entwickelt werden. Stattdessen ist aber die Idee für das Modell der Hierarchie der Kompetenzen entstanden.<br />
<br />
: ''KOMPETENZWIRRWARR. Die Protokolle der Beobachtungen zeigten ein interessantes Phänomen. Viele Menschen, die pflegerische Unterstützung benötigten, konnten zwar allein oder mit wenig Hilfe gehen. Sie schafften es aber zum Beispiel nicht, selbst vom Liegen ins Sitzen zu kommen. Diese Beobachtung widerspricht der Logik, der die Kompetenzentwicklung eines Kindes folgt. Das Kind lernt, sich Schritt für Schritt von den tiefen Positionen, also vom Liegen in die Bauchlage und von der Bauchlage ins Sitzen und über die nächsten Grundpositionen, bis ins Stehen zu bewegen. In den Positionen, in denen viel Kontakt zur Unterstützungsfläche möglich ist, ist das Gewicht in der Schwerkraft offenbar einfacher zu kontrollieren, als wenn den Massen weniger Unterstützungsfläche zur Verfügung steht. Kinder bewegen sich also von einfacheren zu immer komplexeren Herausforderungen hin. Bei den beobachteten pflegeabhängigen Menschen war es genau umgekehrt. Sie konnten sich in Bezug auf die Gewichtskontrolle in der Schwerkraft in den komplexeren Positionen fortbewegen. In den tieferen und damit grundsätzlich einfacheren Positionen waren sie aber überfordert.<br />
<br />
: ''DIE MODELLSKIZZE. In der Folge ist aus der Beobachtung dieses Phänomens das Kinästhetikmodell der '''Hierarchie der Kompetenzen''' entstanden. Das Modell wurde skizzenhaft beschrieben und in der Praxis getestet. Interessanterweise erfreute es sich sofort großer Beliebtheit, weil es als hilfreich empfunden wurde. Wie sagte doch der berühmte Biologe und Begründer der [[Autopoiese (Autopoiesis)|Autopoiesis-Theorie]] Francisco Varela: ‚Wahr ist, was funktioniert.‘ In vielen Artikeln und qualitativen Berichten zeigte sich, dass die Idee der Hierarchie der Kompetenzen neue Perspektiven ermöglicht, wenn es darum geht, die Bewegungskompetenz bei einem anderen Menschen zu beobachten und nach Wegen zu suchen, diese gezielt Schritt für Schritt zu erweitern.<br />
<br />
: ''DIE HYPOTHESE. Hinter dem Modell der '''Hierarchie der Kompetenzen''' steht die folgende Annahme: Je höher eine Position, umso herausfordernder ist es, <br>a. das Gewicht in der Position zu organisieren, also die Position im Prozess des ständigen ‚Sich-Positionierens‘ einzunehmen, <br>b. Aktivitäten der Klasse ‚Bewegung am Ort‘ zu gestalten, <br>c. die Fortbewegung in der jeweiligen Position zu gestalten und <br>d. einen Weg in die nächste Position zu finden. <br>Im Folgenden stellen wir dar, was die Basis dieser Annahmen ist.<br />
<br />
: ''<u>GRUNDLEGENDES ENTWICKLUNGSMUSTER</u><br />
: ''BEOBACHTUNG BEI KLEINEN KINDERN. Wenn man den Prozess der Kompetenzentwicklung bei einem Menschen in seinen Baby- und Kinderjahren beobachtet, zeigt sich ein klares Entwicklungsmuster. Er folgt mehr oder weniger der ‚Landkarte‘ der Grundpositionen, die in der Kinästhetik beschrieben wird (siehe Kasten). Grundsätzlich entwickeln Menschen vor der Geburt alle [[Bewegungskompetenz|Bewegungskompetenzen]], die sie im späteren Leben benötigen. Nach der Geburt sind sie plötzlich der Schwerkraft ausgesetzt und müssen in den ersten zwei bis drei Lebensjahren lernen, ihre bereits vorhandenen Möglichkeiten an die Bedingungen der Schwerkraft anzupassen.<br />
<br />
: ''ZUERST LIEGEN LERNEN. Die erste Herausforderung für Neugeborene besteht darin, das Liegen in der Rückenlage zu organisieren. Es ist deshalb herausfordernd, weil sie lernen müssen, wie jede einzelne Masse ihr Gewicht abgibt und wie sie Arme und Beine benutzen können, um diese Gewichtsabgabe differenziert zu kontrollieren, also sich zu positionieren. Sobald das einigermaßen gelingt, entstehen erste mehr oder weniger gezielte Fortbewegungsaktivitäten im Liegen. Die Kleinkinder versuchen, sich kopf-, fuß- und seitwärts fortzubewegen. Mit zunehmender Kompetenz im Liegen und im Gehen machen sich die kleinen Menschen auf den Weg in die nächste Position. Sie erforschen die spiralige, vertikale Fortbewegung. Sie können aber die Bauchlage erst dann selbstgesteuert und kompetent einnehmen, wenn sie das Liegen differenziert und die Fortbewegung im Liegen und in Richtung Bauchlage in einer bestimmten Vielfalt gestalten können.<br />
<br />
: ''DAS MUSTER SETZT SICH FORT. Sobald Kleinkinder die Bauchlage einnehmen können, entwickeln sie die Fortbewegung in dieser Position immer differenzierter — und später suchen sie den Weg ins Sitzen. Dieses Muster, also eine Position einnehmen lernen, das Fortbewegen in der Position differenzieren, den Weg in die nächste Position suchen, setzt sich immer weiter fort, bis der kleine Mensch im Stehen gehen kann. Dieser Lernprozess dauert zwei bis drei Jahre, in denen sich die [[Bewegungskompetenz]] und das Führen-und-Folgen im Körper (Body-Tracking) immer mehr differenzieren. Wir Erwachsene beobachten die kleinen Kinder fasziniert und staunend auf diesem Weg. Wir akzeptieren, dass ein Kind noch nicht auf zwei Beinen gehen lernen kann, wenn es noch nicht sitzen und sich vom Sitzen in die nächste Position bewegen kann. Wir lassen dem kleinen Menschen die Entwicklungszeit, die er braucht.<br />
<br />
: ''UNTERSTÜTZUNG DURCH DIE ELTERN. Natürlich kann das Kind auch andere Positionen einnehmen. Dafür braucht es aber Unterstützung. Wir Menschen gehören in die Säugetiergattung der Traglinge. Traglinge werden von ihren Eltern (in der Tierwelt meistens von der Mutter) während der ersten Monate und Jahre getragen. Ganz im Gegensatz dazu lernt zum Beispiel ein Fohlen schon innerhalb von wenigen Stunden selbst zu gehen und sich im Schutz der Herde fortzubewegen. Die Evolution hat verschiedenste Lebens- und Entwicklungsstrategien hervorgebracht. Traglinge entwickeln einen großen Teil ihrer [[Bewegungskompetenz]] in der engen [[Interaktion|Bewegungsinteraktion]] mit den Eltern. Es sind also nicht nur die eigenen Versuche, die dem Kind helfen, seine Bewegungskompetenz immer differenzierter auszubilden. Auch die Qualität der gemeinsamen Bewegung gehört zu seinem Entwicklungstraining dazu.<br />
<br />
: ''<u>VERKEHRTE WELT</u><br />
: ''DAS EINFACHE GEHT VERLOREN. Im Folgenden beleuchten wir das bereits in der Einleitung beschriebene Phänomen, dass sich Menschen mit einer Behinderung infolge eines Unfalls, einer Krankheit oder aufgrund von Hochaltrigkeit zwar in hohen Positionen noch fortbewegen können, die Fähigkeit, in tiefen Positionen zu gehen, aber verloren haben. Das heißt: Diese Menschen können sich in Bezug auf die Gewichtskontrolle in den komplexeren hohen Positionen organisieren. In den tieferen Positionen, in denen die Gewichtskontrolle eigentlich einfacher wäre, verlieren sie aber die dafür notwendige Fähigkeit.<br />
<br />
: ''VERSUCH EINER BEGRÜNDUNG. Es gibt eine Fülle von Gründen, mit denen sich dieses Phänomen erklären lässt. Erst einmal ist es so, dass sich eine ‚Entgleisung‘ nach einem Unfall, aufgrund einer Krankheit oder aufgrund von einschränkenden Verhaltensmustern immer in einer Abnahme der Bewegungskompetenz zeigt. Verringerte Bewegungskompetenz zeigt sich unter anderem dadurch, dass die Möglichkeiten der Führen-und-Folgen-Prozesse (Body-Tracking) im Körper weniger differenziert gestaltet werden können. Konkret zeigt sich das zum Beispiel, wenn das Spiel der [[Bewegungselemente]] — Zeit, Raum und Anstrengung — nicht mehr gut koordiniert werden kann. Wenn ein Mensch weniger räumliche Ressourcen zur Verfügung hat, kann es sein, dass das Gehen auf zwei Beinen noch möglich ist, weil es in dieser Position vordergründig vor allem Bewegungsraum zwischen Becken und Bein benötigt. Hintergründig betrachtet zeigt sich die verminderte Koordination von Zeit, Raum und Anstrengung hingegen sehr schnell. Menschen, die sich nicht mehr selbst oder nur mit viel Anstrengung vom Liegen ins Stehen fortbewegen können, sind meistens auch sturzgefährdet.<br />
<br />
[[Datei:Lq-02-22-S10-Hierarch-Komp.png|600px|thumb|zentriert|Darstellung des Weges durch die Grundpositionen aus LQ 02/22, S. 10, in seinem Zusammenhang mit dem Modell der Hierarchie der Kompetenzen]]<br />
<br />
<br />
: ''DRAMATISCHE AUSWIRKUNG. Die Abbildung auf Seite 10 zeigt symbolisch den Verlust der grundlegenden Kompetenzen, wenn ein Mensch sich in und zwischen hohen Positionen noch fortbewegen kann, diese Fähigkeit in tiefen Positionen aber verliert. Der Verlust der Kompetenzen, die man einst im Lernprozess vom Liegen ins Sitzen erworben hatte, zeigt sich aber nicht nur wie oben beschrieben in der Sturzgefahr. Diese grundlegenden Fähigkeiten des Führens und des Folgens im Körper beeinflussen alle menschlichen Funktionen und Aktivitäten. Wenn man sich nicht mehr selbst in einer gewissen Vielfalt vom Liegen ins Stehen fortbewegen kann, hat das dramatische Auswirkungen auf den Kreislauf, auf den Lymphfluss, auf die Verdauung, auf die Atmung und so weiter.<br />
<br />
: ''NICHT HINTERFRAGT. Interessant ist, dass diese ‚verkehrte Welt‘ von den Betroffenen selbst und auch von vielen professionellen UnterstützerInnen einfach hingenommen wird. Viele Menschen gehen davon aus, dass dieser Kompetenzverlust zu bestimmten Erkrankungen oder zur Hochaltrigkeit hinzugehört. Es gibt aber aus Sicht einer Entwicklungsperspektive heraus keinen Grund — außer in ganz wenigen Fällen, wie zum Beispiel bei einer Querschnittlähmung —, dass solche Situationen als gegeben anzunehmen sind. Jeder Mensch kann lernen, mit schlechten Karten gut zu spielen.<br />
<br />
[[Datei:Lq-02-22-S12-vert-Fortbew.png|600px|thumb|zentriert|Infobox aus LQ 02/22, S. 12, zur vertikalen Fortbewegung]]<br />
<br />
<br />
: ''<u>BLEIBET WIE DIE KINDER</u><br />
: ''WIE DIE KINDER. Zwei im Zusammenzug vielzitierte Sätze aus der Bibel lauten: ‚Werdet wie die Kinder […]‘, ‚[…] denn ihnen gehört das Himmelreich‘ (Matthäus 18; Matthäus 19). In Bezug auf die Fortbewegung zwischen den Positionen und mit Blick auf das Modell der '''Hierarchie der Kompetenzen''' können wir die Aussage abändern in: ‚Bleibet wie die Kinder, denn damit erschließt sich das Erdenreich.‘ Wir beobachten, dass unsere Lebensweise in der Gesellschaft mit zunehmendem Alter immer weniger Anreize schafft, die Fortbewegung vom Liegen ins Stehen weiter ins Leben zu integrieren. Wir sitzen auf Stühlen und nicht am Boden. Wir benutzen lange Schuhlöffel, um uns beim Anziehen der Schuhe nicht bücken zu müssen. Und sobald ein Mensch nicht mehr so gut vom Stuhl aufstehen kann, empfiehlt sich ein Aufsatz für das WC oder ein Stuhl, der ihm mithilfe einer Mechanik den mühsamen Weg des Aufstehens abnimmt. Die Idee hinter diesen Hilfsmitteln gründet auf der Annahme, dass das Leben selbst mit der Zeit zu Unbeweglichkeit führe und dass dagegen nichts unternommen werden könne. Bei genauerem Hinsehen helfen diese Hilfsmittel aber nicht — sie sind mittel- und langfristig vielmehr ‚Behinderungsmittel‘, weil die mit ihnen vermeintlich unterstützten Menschen ihren Bewegungsspielraum immer mehr verlieren.<br />
<br />
: ''HIER SETZT DAS MODELL AN. Das Modell der '''Hierarchie der Kompetenzen''' setzt an der Idee an, dass grundlegende Fähigkeiten und Kompetenzen besser dort trainiert werden, wo es einfach ist. Es fordert dazu auf, die Möglichkeiten des Sich-Positionierens und der Fortbewegung eines Menschen vor allem in tiefen Positionen zu beobachten und den Lern- und Entwicklungsprozess da anzusetzen, wo der unterstützte Mensch zwar gefordert, nicht aber überfordert ist. Das Modell und das dazugehörige Dokumentationswerkzeug hilft, das individuelle Unterstützungsangebot sehr präzise an den aktuellen Stand der [[Bewegungskompetenz]] des Individuums anzupassen. Dies erlaubt, mit ihm in tieferen und einfacher kontrollierbaren Positionen an Grundkompetenzen zu arbeiten, die es in höheren und somit anspruchsvolleren Positionen ebenfalls nutzen kann. Ebenso ermöglicht das Modell Entwicklungsthemen zu erkennen, die sich in verschiedenen Positionen und Fortbewegungsbemühungen immer wieder zeigen.<br />
<br />
: ''EIN BEISPIEL. Die folgenden Beispiele aus der Praxis von Pflege und Betreuung sollen dies verdeutlichen:<br />
<br />
::• ''Wenn zum Beispiel die Eltern eines Kleinkindes mit Behinderung möchten, dass dieses sitzen lernt, wird man das Kind aus der Perspektive der '''Hierarchie der Kompetenzen''' nicht einfach im Sitzen selbst unterstützen, sondern zuerst darauf achten, wie es mit den Anforderungen zurechtkommt, welche die tieferen Grundpositionen und die Positionswechsel auf dem Weg ins Sitzen stellen. Man wird es darin unterstützen, die dabei erforderlichen Kompetenzen immer differenzierter und vielfältiger zu entwickeln, damit es diese schließlich im Sitzen selbst anwenden kann.<br />
<br />
::• ''Wenn ältere Menschen darüber klagen, dass sie zwar gerade noch stehen und gehen, aber zum Beispiel nach einem Sturz nicht mehr allein vom Boden aufstehen können, befinden sie sich in einer Situation, die für die Erhaltung ihrer Selbstständigkeit kritisch ist. Deshalb ist es wichtig, sie in ihren Bewegungsmöglichkeiten in den tieferen Grundpositionen und in den Positionswechseln von der Rückenlage ins Stehen zu unterstützen.<br />
<br />
: ''DIE WICHTIGEN ATL. Wir gehen davon aus, dass die Qualität der alltäglichen Aktivitäten (ATL) den größten Einfluss auf die menschliche Individualentwicklung hat. Dadurch wird das eigene Verhalten eines Menschen und auch die Unterstützung durch die Pflege zu einem Lern- oder Entwicklungsprozess in Richtung mehr oder weniger Möglichkeiten. Wenn wir die ATL studieren, dann kommt nebst Sich-Waschen und Sich-Kleiden der Fortbewegung (vertikal und horizontal) eine riesige Bedeutung zu. Denn in diesen drei Aktivitäten braucht ein Mensch sein ganzes Bewegungspotenzial — vor allem in räumlicher Hinsicht. Im Wissen um die '''Hierarchie der Kompetenzen''' spielt die Fortbewegung dabei die wichtigste Rolle, wenn es darum geht, die Selbstständigkeit und die dafür notwendige Bewegungskompetenz wiederzuerlangen. <br>Das Modell stützt sich demzufolge einerseits auf die Kompetenz der sieben Grundpositionen. Andererseits sind auch die horizontale und die vertikale Fortbewegung zentral.<br />
<br />
[[Datei:Lq-02-22-S13-Bew-komp-Fortbew.png|800px|thumb|zentriert|Infobox aus LQ 02/22, S. 13, zum wechselseitigen Einfluss von Bewegungskompetenz und Fortbewegung]]<br />
<br />
<br />
: ''ES GIBT NOCH VIEL ZU TUN. Das Modell der '''Hierarchie der Kompetenzen''' hat sich als sehr wirksam erwiesen. Es leuchtet ein. Vielleicht sind deswegen viele Aspekte hinter dem Modell noch nicht konzeptionell beschrieben. Wir sind sicher, dass sich hinter dem Modell viele allgemeingültige Wirkungszusammenhänge verbergen, die noch darauf warten, entdeckt zu werden. Deshalb sind alle Kinaesthetics-TrainerInnen aufgefordert, vermutete oder bestätigte Muster zu beschreiben und zum Austausch ins Netzwerk zu bringen."''<br />
<br />
Quelle: '''Knobel, Stefan; Zussner, Gerald (2022):''' Die Hierarchie der Kompetenzen. Lernen, wenn es schwierig ist. In: LQ. kinaesthetics – zirkuläres denken – lebensqualität. 2022, Nr. 2. S. 9–14.<br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
<br />
*'''Kühleitner, Dagmar (2010):''' Ein revolutionärer Raster. Ein Erfahrungsbericht aus Österreich. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2010, Nr. 3. S. 24.<br />
*'''Rönsch-Braun, Holger (2011):''' Nicht alt sondern Reif. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2011, Nr. 2. S. 50.<br />
<br />
==Einzelnachweise==<br />
<br />
[[Kategorie:Konzeptsystem]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Interaktion&diff=4989Interaktion2024-03-11T11:03:05Z<p>Sabine Kaserer: /* „Herausforderndes Verhalten“ vor dem Hintergrund des kybernetischen Interaktionsverständnisses */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Stefan Marty-Teuber}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Interaktion aus kinästetischer und kybernetischer bzw. wissenschaftlicher Sicht. Er behandelt nicht das kinästhetische Konzept „Interaktion“ des Konzeptsystems, zitiert aber die dortigen definitorischen Erläuterungen. Der Begriff Interaktion wird als Wechselbeziehung zwischen HandlungspartnerInnen beschrieben, an der beide gleichzeitig und aktiv beteiligt sind. <br />
<br />
== Interaktion im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem „Kinaesthetics – Konzeptsystem“. Es ist die Einleitung zum ersten Kapitel „Konzept Interaktion“.<br />
: ''„'''Interaktion''' bezeichnet im Allgemeinen die Wechselwirkung zwischen zwei oder mehreren HandlungspartnerInnen. Kinaesthetics verwendet den Begriff auch zur Bezeichnung der Wechselwirkungen zwischen den Teilen eines Lebewesens bis hin zur zellulären und molekularen Ebene. Ein Paradebeispiel für Interaktion ist die Kommunikation. Die Unterscheidung zwischen verbaler und nonverbaler Kommunikation macht deutlich, dass grundsätzlich alle Sinnessysteme bei einer Interaktion eine Rolle spielen.''<br />
<br />
: ''Das Hauptinteresse von Kinaesthetics liegt auf der Beobachtung und Gestaltung der folgenden beiden Arten von Interaktionen:''<br />
<br />
: ''• Interaktionen zwischen Teilen unseres Körpers bei verschiedensten Aktivitäten.<br>• Interaktionen zwischen Menschen durch Berührung und Bewegung.''<br />
<br />
: ''Die Qualität der Interaktion durch Berührung und Bewegung ist für die allgemeine Interaktionskompetenz des Menschen und somit für alle seine Lernprozesse von grundlegender und zentraler Bedeutung.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 11.<br />
<br />
== Interaktion in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat stammt aus dem Glossar und beschreibt die Verwendung des Begriffs im Allgemeinen und im Kontext der Kinästhetik.<br />
<br />
: ''„'''Interaktion''' bezeichnet das, was zwischen aktiven, an einer gemeinsamen Handlung beteiligten Teilen passiert. Interaktion bezeichnet im Allgemeinen hauptsächlich die Wechselwirkung oder wechselseitige Beeinflussung von Individuen und Gruppen. Kinaesthetics verwendet den Begriff Interaktion auch für die Wechselwirkung zwischen Körperteilen. Interaktionen entstehen nur durch die gleichzeitige und gemeinsame Aktivität zweier oder mehrerer Teile. Bezüglich Zeit und Gemeinsamkeit lassen sich unter dem Blickwinkel von ‚Führen und Folgen‘ verschiedene Interaktionsformen unterscheiden. Interaktionskompetenz meint die aktuelle, erlernte Fähigkeit, Interaktionen mit Personen produktiv zu gestalten.“<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 63 (Glossar).<br />
<br />
== Interaktion in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“, und zwar aus dem abschließenden sechsten Kapitel „Kinästhetik ist praktische Kybernetik“. Das Zitat ist eingebettet in das dritte Unterkapitel „Interaktion und gemeinsames Lernen“. Vorausgehend wird die Partnererfahrung thematisiert. Das Zitat ist der Text des nachfolgenden Themas „Interaktion und Kommunikation aus kybernetischer Sicht“.<br />
: ''„Den kybernetischen Hintergrund dazu bilden zahlreiche Überlegungen und Forschungen zur Kommunikation bzw. '''Interaktion''' zwischen Lebewesen. Auch hier leistete Gregory Bateson viel Grundlagenarbeit, auf der z. B. die Gruppe von ForscherInnen um Paul Watzlawick und auch H. Maturana/F. Varela in ihrem ‚Baum der Erkenntnis‘ (Maturana; Varela 2015<ref>'''Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (2015):''' Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Aus dem Spanischen von Kurt Ludewig in Zusammenarbeit mit dem Institut für systemische Studien e. V. in Hamburg. 6. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag (Fischer Taschenbücher 17855). ISBN 978-3-596-17855-1.</ref>) aufbauen konnten.''<br />
<br />
: ''Den Ausgangspunkt dieser Überlegungen bildeten die offensichtlichen Schwächen des damals gängigen, linearen Sender-Empfänger-Modells der Kommunikation. Gemäß diesem funktioniert Kommunikation folgendermaßen: Person A sendet unter Verwendung einer Kodierung (Schrift, mündliche Sprache usw.) eine Botschaft. Sie wird von Person B empfangen und dekodiert. Auf dieser Grundlage sendet B eine Botschaft, die von A empfangen und dekodiert wird. Auf dieser neuen Grundlage sendet A eine nächste Botschaft usw. Man dachte sich Kommunikation als linearen Ablauf, bei dem sich nacheinander das eine aus dem anderen ergibt.<br />
<br />
: ''Im Rahmen der Kybernetik wurden die Interaktionen zwischen Lebewesen, zu denen auch alle Formen der verbalen und non-verbalen Kommunikation gehören, in einem neuen Licht betrachtet. Die Kerngedanken einer kybernetischen Interaktionstheorie könnte man so formulieren: Eine Interaktion entsteht dadurch, dass (mindestens) zwei Lebewesen gleichzeitig und ununterbrochen aktiv an einer gemeinsamen Handlung beteiligt sind. Diese Wechselbeziehung beruht auf einem zirkulären Prozess zwischen den InteraktionspartnerInnen: Ich beeinflusse in einer Interaktion durch mein Verhalten fortlaufend das Verhalten meiner PartnerIn und zugleich beeinflusst ihr Verhalten fortlaufend mein eigenes Verhalten: So wirkt mein Verhalten im Kreis oder eben zirkulär ständig auf mich selbst zurück.''<br />
<br />
: ''Interaktionen werden somit als zirkuläre Prozesse der Wechselbeziehung zwischen HandlungspartnerInnen verstanden, die in der Regulation ihres Verhaltens autonom sind. ‚Autonom‘ meint auch, dass alle ‚Informationen‘ einer verbalen oder non-verbalen Kommunikation fortlaufend von jeder PartnerIn individuell ‚errechnet‘ werden: In einem Gespräch gibt es keine ‚Botschaften‘, die in einer Person entstehen, gesendet werden und genau so in meinen Kopf gelangen. Wenn wir jemandem zuhören, konstruieren wir in uns ohne erfahrbare zeitliche Verzögerung fortlaufend ‚unseren‘ Sinn seiner Worte, eilen gedanklich eher noch voraus und nehmen mögliche Fortsetzungen der Aussagen vorweg. Wir passen beständig unsere Mimik und unser ganzes Verhalten daran an und beeinflussen dadurch die SprecherIn.''<br />
<br />
: ''Aus dieser kybernetischen Perspektive bestimmen die TeilnehmerInnen eines Gesprächs gleichzeitig und gemeinsam den Verlauf der Kommunikation, ob sie nun dabei zuhören/folgen oder sprechen/führen. Oder anders formuliert: Es gibt keine Botschaften oder Informationen ohne SenderIn und EmpfängerIn – wie es keine Beobachtung ohne BeobachterIn gibt (vgl. 5.3.3).''<br />
<br />
: ''Wenn jemand z. B. im Rahmen einer Partnererfahrung in eine Bewegungsinteraktion mit einem anderen Menschen tritt, gilt aus kybernetischer Sicht genau das Gleiche: Er kann mit seiner eigenen Bewegung in einer Bewegungsinteraktion eine eher führende oder folgende Rolle spielen. Der Verlauf der Interaktion wird aber in einem zirkulären Prozess durch die ständigen, wechselseitigen Anpassungen der beiden InteraktionspartnerInnen bestimmt. (European Kinaesthetics Association 2020b, S. 47<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7.</ref>)“''<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Interaktionen von Lebewesen/Vielzellern'''“:<br />
[[Datei:Interaktion Maturana Varela.jpg|mini|rechts]]<br />
: ''„Das dargestellte kybernetische Modell geht auf H. Maturana und F. Varela zurück. Sie verwenden es in ihrem Buch ‚Baum der Erkenntnis‘ (Maturana; Varela 2015, S. 196<ref>'''Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (2015):''' Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Aus dem Spanischen von Kurt Ludewig in Zusammenarbeit mit dem Institut für systemische Studien e. V. in Hamburg. 6. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag (Fischer Taschenbücher 17855). ISBN 978-3-596-17855-1.</ref>), um aus biologischer Sicht die wesentlichen Bedingungen der '''Interaktionen''' von Vielzellern (wie z. B. der Menschen) darzustellen.''<br />
<br />
: ''Die zwei geschlossenen, kreisförmigen Pfeile, die eine Kugel bilden, symbolisieren das Lebewesen in seiner operativen Autonomie ([[Autopoiese (Autopoiesis)|Autopoiese]]) und seiner zirkulären Geschlossenheit der Informationsverarbeitung. Aufgrund der strukturellen Übereinstimmungen der beiden Lebewesen wird ihre Interaktion zu einer gemeinsamen Wechselbeziehung, an der beide gleichzeitig und aktiv beteiligt sind ([[Autopoiese_(Autopoiesis)#Soziale_Ph.C3.A4nomene:_Koppelungen_dritter_Ordnung|strukturelle Koppelung zwischen Lebewesen]]).''<br />
<br />
: ''Selbstverständlich befindet sich jedes Lebewesen ständig in einem bestimmten Milieu, in einer Umgebung. Dies wird in der Abbildung durch die Wellenlinie dargestellt. Auch hier besteht aufgrund einer strukturellen Koppelung eine ständige Wechselbeziehung. Allerdings unterscheidet sie sich von der Interaktion zwischen autonomen HandlungspartnerInnen. Sie zeigt sich in den ununterbrochenen Anpassungsleistungen des Lebewesens sowohl an die konstanten als auch an die sich verändernden Bedingungen seines Milieus.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 64–66.<br />
<br />
== Interaktion im „Aufbaumodul Demenz 2“==<br />
=== Einleitung ===<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem „Aufbaumodul Demenz 2: Sich in Beziehung erfahren“<ref>''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) ''': Aufbaumodul Demenz 2: Sich in Beziehung erfahren. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-47-5.</ref>. Dieses Aufbaumodul thematisiert die ''„Beziehungsgestaltung als zentrale Herausforderung der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz“''<ref>ebd., S. 7.</ref>. Beziehungsgestaltung wird dabei als person-zentrierte Interaktionsgestaltung in doppeltem Sinn verstanden: Einerseits geht es um die individuelle Unterstützung jedes einzelnen Menschen, andererseits um die persönliche Sensibilität und Anpassungsfähigkeit der eigenen Bewegung, die Pflegende und Betreuende in die Beziehungsgestaltung einbringen<ref>ebd.</ref>.<br />
=== Interaktion aus kybernetischer Sicht ===<br />
Eine wichtige Rolle spielt dabei das erfahrungsbasierte Verständnis der Interaktion und der Interaktionsgestaltung. Im Aufbaumodul 2 widmet sich der nachfolgend zitierte dritte Teil „Interaktion aus kybernetischer Sicht“<ref>ebd., S. 36 ff.</ref> diesem Thema. Voraus gehen der erste Teil „Beziehung und Beziehungsgestaltung“<ref>ebd., S. 10 ff.</ref> und der zweite Teil „Bewegungselemente als Grunddimensionen der Interaktionsgestaltung“<ref>ebd., S. 20 ff.</ref> <br />
<br />
:'''''<big><big>„Teil 3: Interaktion aus kybernetischer Sicht</big></big><br />
: ''''' <big>Einführung</big> <br />
: ''Eine Beziehung zu einem Menschen baut sich aus den fortgesetzten Interaktionen mit ihm auf. Was aber ist eine '''Interaktion'''? Nach dem Online-Duden bedeutet der Begriff ‚aufeinander bezogenes Handeln zweier oder mehrerer Personen; Wechsel-beziehung zwischen Handlungspartnern‘ (Zugriff: 17.08.2022). Die Grundlage des Verständnisses der zwischenmenschlichen Interaktion bildet die Frage, wie der Mensch sich selbst, all seine Bewegungen und sein Verhalten reguliert. ''<br />
: ''Aus wissenschaftlicher Perspektive hat insbesondere die Kybernetik die Selbstregulation und darauf aufbauend die Interaktion beschrieben. Auf diese Forschungsrichtung stützen sich die folgenden Ausführungen.<br />
<br />
: ''''' <big>Die Grundlage: Menschen regulieren ihre Bewegung zirkulär in sich selbst </big> <br />
: ''Wie reguliert der Mensch sein Verhalten bzw. seine Bewegungen, sei es allein oder in Interaktionen mit anderen Menschen? Die Funktionsweise unserer Selbstregulation lässt sich in einer Bewegungserfahrung gut nachvollziehen. <br />
{| class="wikitable"<br />
|-<br />
| <br />
: ''Probieren Sie es aus: <br />
: ''Stehen Sie auf ein Bein und schließen sie die Augen. Nehmen Sie mit Ihrem kinästhetischen Sinnessystem wahr, wie Sie sich mit ununterbrochenen Anpassungsbewegungen fortlaufend im Gleichgewicht halten. [kursiv]<br />
|}<br />
: ''Sie werden z. B. feststellen, wie sich die Druckempfindung in Ihrer Fußsohle ständig verändert, wie Sie ununterbrochen kleine Anpassungsbewegungen in unterschiedlichste Richtungen machen oder Ihre Muskelspannung verändern. Wir können nur stehen bzw. das Gleichgewicht nicht verlieren, weil und wenn wir in der Lage sind, fortlaufend die Abweichungen, die wir selbst produzieren, rechtzeitig zu korrigieren. <br />
: ''In kybernetischer Fachsprache ausgedrückt, reguliert der Mensch seine Bewegung durch einen geschlossenen zirkulären („kreisförmigen“) Feedback- oder Rückkoppelungsprozess, durch die sogenannte [[Feedback-Control-Theorie|Feedback-Kontrolle]]:<br />
:: *''Wenn wir mit geschlossenen Augen auf einem Bein stehen, sind die ständigen Anpassungsbewegungen nur möglich, weil wir mit dem kinästhetischen Sinnessystem fortlaufend die daraus entstehenden Unterschiede wahrnehmen. <br />
:: *''Die fortlaufende Wahrnehmung dieser Unterschiede ist notwendig, damit unser Nervensystem kontinuierlich ‚berechnen‘ kann, wie wir vom Gleichgewicht abweichen. ''<br />
:: *''Aufgrund dieser ‚Berechnungen‘ werden vom Nervensystem entsprechende Anpassungsbewegungen ausgelöst, die wir wiederum wahrnehmen usw. <br />
: ''Solange wir leben, machen wir ununterbrochen solche Anpassungsbewegungen. Sie können nur von innen im aktuellen Moment erzeugt werden. Die Regulation unserer Muskelspannung oder unsere ständigen kleinen Anpassungsbewegungen bei jeder Aktivität können nicht von einer anderen Person übernommen oder von außen für uns gemacht werden.<br />
: ''Diese Selbstregulation findet immer im Hier und Jetzt statt und ist ein ständiger Lernprozess: In einer Wechselwirkung beeinflussen unsere erlernten Bewegungsmuster jede neue Erfahrung und jede neue Erfahrung beeinflusst unsere Bewegungsmuster in Richtung der Festigung, Erweiterung oder Verminderung unserer Möglichkeiten.<br />
<br />
: ''''' <big>Die Notwendigkeit der individuellen Anpassung im Hier und Jetzt </big> <br />
: ''Wenn ein Mensch einem anderen Menschen hilft, von einem Sessel aufzustehen, bringen sich beide so in diese Interaktion über Berührung und Bewegung ein, wie es ihnen mit ihren individuellen Voraussetzungen im aktuellen Moment möglich ist. Die unterstützende Person kann nicht direkt bewirken, dass sich die unterstützte Person in der von ihr beabsichtigten Weise an ihre Hilfestellung anpasst. Beide Beteiligten sind gleichermaßen gefordert, sich fortlaufend in sich selbst an die Interaktion anzupassen. <br />
: ''Für die Interaktions- und Beziehungsgestaltung bedeutet die kybernetische Erklärung der Funktionsweise des Menschen, dass man einen anderen Menschen nicht wie einen leblosen Gegenstand bewegen kann, sondern ihn nur in seiner eigenen Bewegung unterstützen kann. In jeder Unterstützungssituation reguliert sich der Mensch selbst, und jede Unterstützung ist ein Lernangebot an seine individuelle Selbstregulation. <br />
: ''Deshalb gibt es keine allgemeingültigen Handlungsanleitungen oder ‚Rezepte‘ für Unterstützungssituationen, die bei jedem Menschen funktionieren. Der Verlauf einer Interaktion ist nie vorhersagbar, sondern entsteht im aktuellen Moment.''<br />
{| class="wikitable" style="background-color:lightgrey;"<br />
|-<br />
| <br />
: ''''' Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz: <br />
: ''Jede Person mit Demenz nimmt in einer Unterstützungssituation an der Interaktion über Berührung und Bewegung so teil, wie sie es im aktuellen Moment mit ihren individuellen Voraussetzungen kann. Das Gleiche gilt für die unterstützende Bezugsperson. Die Pflegepionierin Sr. Liliane Juchli (1933–2020) hat dies im Satz ‚Ich pflege als die, die ich bin‘ auf den Punkt gebracht. <br />
: ''Jede Person mit Demenz passt sich im gegebenen Moment auf seine individuelle Art und Weise an Hilfestellungen an. Deshalb gibt es nicht den einen richtigen Weg, wie eine Bezugsperson einer Person mit Demenz z. B. helfen kann, aus dem Bett auf einen Sessel zu kommen. <br />
: ''Hilfreich für eine professionelle Interaktionsgestaltung sind hingegen Blickwinkel, auf die eine Bezugsperson während einer Interaktion achten kann, um sich fortlaufend bewusst und gezielt anzupassen. Sie ermöglichen, jede Person mit Demenz individuell in ihrer eigenen Bewegung und Selbstregulation so zu unterstützen, dass sich ihre Möglichkeiten erweitern oder erhalten und nicht abnehmen.“''<ref>ebd., S. 36 f.</ref><br />
|}<br />
<br />
=== „Herausforderndes Verhalten“ vor dem Hintergrund des kybernetischen Interaktionsverständnisses===<br />
Im nächsten Kapitel „Interaktionen als fortlaufende gemeinsame Lernprozesse“<ref>ebd., S. 38 f.</ref> wird darauf hingewiesen, dass es in Kinaesthetics-Aufbaukursen ein Kernthema ist, ''„Interaktionen als gemeinsame Lernprozesse zu verstehen und zu gestalten“''. Darauf folgt ein längeres Praxisbeispiel, das mit zwei Bewegungserfahrungen verbunden wird. <br />
<br />
Es erzählt von einer Person mit Demenz, die sich zunehmend gegen ein bisher passendes Unterstützungsangebot beim Aufstehen wehrt. Das Betreuungsteam vollzieht die Situation in eigenen Bewegungserfahrungen nach. In der Folge achtet es verstärkt darauf, die Interaktion sanft und achtsam mit veränderten Unterstützungsangeboten zu gestalten. Das führt dazu, dass die Person lernt, die Spielräume seiner Bewegung besser und in einer angemessenen Bewegungsgeschwindigkeit zu nutzen.<br />
<br />
Das Kapitel schließt mit den nachfolgend zitierten Erläuterungen. Sie verbinden die lebenslange Lernfähigkeit des Menschen aus kybernetischer Perspektive mit den Themen der Interaktionsgestaltung und herausfordernder Situationen. Im anschließend zitierten Kapitel wird vor diesem Hintergrund explizit auf die Problematik des sogenannten herausfordernden Verhaltens eingegangen.<br />
: ''„Das vorausgehende Beispiel veranschaulicht den Weg, der von einer herausfordernden Situation zum gemeinsamen Lernen im Team und schließlich zum Lernerfolg sowie zu wechselseitiger Wirksamkeitserfahrung aller Beteiligten führt. Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht darin die Professionalität des Umgangs mit schwierigen Dynamiken oder Entwicklungen. <br />
: ''Aus der kybernetischen Beschreibung der Selbstregulation folgt, dass das Leben ein fortlaufender Lern- und Entwicklungsprozess ist, der erst mit dem Tod endet. Bis zum Ende seines Lebens reguliert der Mensch sich selbst und bleibt deshalb lernfähig. Insbesondere in seiner Kindheit und im hohen Alter ist er gefordert, sich an körperliche und geistige Entwicklungen mit veränderten oder neuen Verhaltensweisen in seinen alltäglichen Aktivitäten anzupassen.<br />
{| class="wikitable" style="background-color:lightgrey;"<br />
|-<br />
| <br />
: ''''' Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz: <br />
: ''Aus der Perspektive der Kinästhetik ist es zentral, davon auszugehen, dass jede Person mit Demenz bis zum Ende ihres Lebens in alltäglichen Unterstützungssituationen Lernprozesse macht und sich weiterentwickelt. Die Leitidee ist, dass die Person durch die Interaktionsgestaltung lernen kann, ihre individuellen Möglichkeiten und ihre Differenziertheit der Bewegung zu erhalten oder zu erweitern. <br />
: ''Die Grundlage hierfür ist, dass die Bezugsperson ihre eigene Bewegung im Moment des Geschehens nuanciert wahrnehmen und anpassen kann. Ebenso nötig ist ein erfahrungsbasiertes Verständnis der menschlichen Bewegung in alltäglichen Aktivitäten. Ein wichtiger Punkt ist, gemeinsam suchend und lernend unterwegs zu sein, damit sich für alle Beteiligten neue Möglichkeiten überhaupt auftun können. <br />
: ''Dadurch wird ein wesentlicher Beitrag dazu geleistet, dass sich die Person mit Demenz als Mensch in ihrer aktuellen Situation angenommen fühlt und in einer echten Beziehung erfährt.<br />
|}<br />
<br />
: ''''' <big>Schwierige Interaktionsdynamiken sind ein Beziehungsgeschehen </big> <br />
: ''In zwischenmenschlichen Interaktionen können schwierige Dynamiken entstehen. Weil beide Beteiligten überfordert sind, einen befriedigenden Verlauf des gemeinsamen Handelns zu finden, der für beide sinnvoll und angemessen ist, läuft das Beziehungsgeschehen nicht reibungslos ab. <br />
: ''In diesem Fall treten in der Beziehung zu Menschen mit Demenz viele Phänomene auf, die in der Fachliteratur und von Bezugspersonen geschildert werden:<br />
:: *''Unvorhersehbare Wechsel im Verlauf und in der Qualität der Interaktion <br />
:: *''Das Gefühl vonseiten der Bezugspersonen, eine Person mit Demenz nicht zu ‚erreichen‘ <br />
:: *''Über-sich-ergehen-Lassen, Abwendung oder Verweigerung vonseiten der Person mit Demenz <br />
:: *''Eskalation der Interaktion durch Anspannung, Wut oder Zorn <br />
: ''Aus kybernetischer Perspektive besteht bei solchen Phänomenen die Herausforderung in der wechselseitigen Beziehungsgestaltung, für die beide InteraktionspartnerInnen gleichermaßen verantwortlich sind. Eine schwierige Interaktionsdynamik ist ein Beziehungsphänomen – und eine Interaktion bzw. Beziehung entsteht nur dadurch, dass zwei Personen gleichzeitig und gemeinsam am Geschehen aktiv beteiligt sind.<br />
: ''Die erwähnten Phänomene werden gängig als herausforderndes Verhalten von Menschen mit Demenz bezeichnet. Problematisch an diesem Begriff ist, dass er die Verantwortung für die schwierige Interaktionsdynamik einseitig der Person mit Demenz oder ihrer Diagnose zuschreibt. Aus der Perspektive der Kybernetik und der aktuellen Demenzforschung kann eine solche einseitige „Schuldzuweisung“ weder der Situation noch ihrer konstruktiven Entwicklung gerecht werden.<br />
{| class="wikitable" style="background-color:lightgrey;"<br />
|-<br />
| <br />
: ''''' Bedeutung für Menschen mit Demenz: <br />
: ''Eine Person mit Demenz verhält sich nicht unkooperativ oder herausfordernd, weil sie so ist oder aufgrund ihrer Erkrankung so geworden ist. Vielmehr hat es damit zu tun, dass sie aus dem Beziehungsgeschehen gelernt hat oder lernt, dass sie nur durch dieses Verhalten ihre persönliche Integrität und Lebensqualität erhalten kann. Ihr ‚herausforderndes‘ Verhalten ist für sie persönlich die einzige Möglichkeit, sich an die aktuelle Situation anzupassen.<br />
|}<br />
: ''Ohne Zweifel braucht es bei der professionellen Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz eine hohe Kompetenz der Bezugspersonen, sich an schwierige Interaktionsdynamiken förderlich anzupassen. Viele Bezugspersonen entwickeln diesbezüglich durch ihr Erfahrungswissen eine bewundernswerte, auf jede einzelne Person individuell ausgerichtete Interaktionskompetenz. Diese eröffnet ihnen einen Handlungsspielraum, um mit schwierigen Interaktionsdynamiken beziehungsfördernd und konstruktiv umzugehen.<br />
{| class="wikitable" style="background-color:lightgrey;"<br />
|-<br />
| <br />
: ''''' Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz: <br />
: ''In der Interaktion über Berührung und Bewegung ist es für die Bezugsperson bisweilen kaum feststellbar ist, dass sich die Person mit Demenz aktiv an der gemeinsamen Handlung beteiligt. Dadurch verblasst für die Bezugsperson oft das Gefühl, in einer förderlichen Beziehung zu stehen. Aus der Perspektive der Kinästhetik ist davon auszugehen, dass die Person mit Demenz in jedem Fall aktiv an der Interaktion teilnimmt sowie Erfahrungen und Lernprozesse macht. <br />
: ''Wenn in einer Interaktion eine schwierige Dynamik entsteht, ist es umso wichtiger, dass Bezugspersonen auf ihr eigenes Bewegungsverhalten z. B. bezüglich Geschwindigkeit und Muskelspannung achten, um einen konstruktiven Lernprozess im wechselseitigen Beziehungsgeschehen zu ermöglichen. Schwierige Situationen verlangen von Bezugspersonen in besonderem Maß, Interaktionen offen und suchend zu gestalten. “''<ref>ebd., S. 39 f.</ref><br />
|}<br />
[[Datei:S 15 Bitte nicht fotografieren.jpg|600px|zentriert]]<br />
<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) ''': Aufbaumodul Demenz 2: Sich in Beziehung erfahren. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-47-5. S. 36 ff.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[Social Tracking]]<br />
* [[Autopoiese_(Autopoiesis)#Die_Verwendung_des_Begriffs_Interaktion_in_der_Autopoiese-Beschreibung_von_Maturana.2FVarela|Die Verwendung des Begriffs Interaktion in der Autopoiese-Beschreibung von Maturana/Varela]]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Interaktion&diff=4988Interaktion2024-03-11T11:01:43Z<p>Sabine Kaserer: /* Interaktion aus kybernetischer Sicht */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Stefan Marty-Teuber}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Interaktion aus kinästetischer und kybernetischer bzw. wissenschaftlicher Sicht. Er behandelt nicht das kinästhetische Konzept „Interaktion“ des Konzeptsystems, zitiert aber die dortigen definitorischen Erläuterungen. Der Begriff Interaktion wird als Wechselbeziehung zwischen HandlungspartnerInnen beschrieben, an der beide gleichzeitig und aktiv beteiligt sind. <br />
<br />
== Interaktion im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem „Kinaesthetics – Konzeptsystem“. Es ist die Einleitung zum ersten Kapitel „Konzept Interaktion“.<br />
: ''„'''Interaktion''' bezeichnet im Allgemeinen die Wechselwirkung zwischen zwei oder mehreren HandlungspartnerInnen. Kinaesthetics verwendet den Begriff auch zur Bezeichnung der Wechselwirkungen zwischen den Teilen eines Lebewesens bis hin zur zellulären und molekularen Ebene. Ein Paradebeispiel für Interaktion ist die Kommunikation. Die Unterscheidung zwischen verbaler und nonverbaler Kommunikation macht deutlich, dass grundsätzlich alle Sinnessysteme bei einer Interaktion eine Rolle spielen.''<br />
<br />
: ''Das Hauptinteresse von Kinaesthetics liegt auf der Beobachtung und Gestaltung der folgenden beiden Arten von Interaktionen:''<br />
<br />
: ''• Interaktionen zwischen Teilen unseres Körpers bei verschiedensten Aktivitäten.<br>• Interaktionen zwischen Menschen durch Berührung und Bewegung.''<br />
<br />
: ''Die Qualität der Interaktion durch Berührung und Bewegung ist für die allgemeine Interaktionskompetenz des Menschen und somit für alle seine Lernprozesse von grundlegender und zentraler Bedeutung.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 11.<br />
<br />
== Interaktion in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat stammt aus dem Glossar und beschreibt die Verwendung des Begriffs im Allgemeinen und im Kontext der Kinästhetik.<br />
<br />
: ''„'''Interaktion''' bezeichnet das, was zwischen aktiven, an einer gemeinsamen Handlung beteiligten Teilen passiert. Interaktion bezeichnet im Allgemeinen hauptsächlich die Wechselwirkung oder wechselseitige Beeinflussung von Individuen und Gruppen. Kinaesthetics verwendet den Begriff Interaktion auch für die Wechselwirkung zwischen Körperteilen. Interaktionen entstehen nur durch die gleichzeitige und gemeinsame Aktivität zweier oder mehrerer Teile. Bezüglich Zeit und Gemeinsamkeit lassen sich unter dem Blickwinkel von ‚Führen und Folgen‘ verschiedene Interaktionsformen unterscheiden. Interaktionskompetenz meint die aktuelle, erlernte Fähigkeit, Interaktionen mit Personen produktiv zu gestalten.“<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 63 (Glossar).<br />
<br />
== Interaktion in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“, und zwar aus dem abschließenden sechsten Kapitel „Kinästhetik ist praktische Kybernetik“. Das Zitat ist eingebettet in das dritte Unterkapitel „Interaktion und gemeinsames Lernen“. Vorausgehend wird die Partnererfahrung thematisiert. Das Zitat ist der Text des nachfolgenden Themas „Interaktion und Kommunikation aus kybernetischer Sicht“.<br />
: ''„Den kybernetischen Hintergrund dazu bilden zahlreiche Überlegungen und Forschungen zur Kommunikation bzw. '''Interaktion''' zwischen Lebewesen. Auch hier leistete Gregory Bateson viel Grundlagenarbeit, auf der z. B. die Gruppe von ForscherInnen um Paul Watzlawick und auch H. Maturana/F. Varela in ihrem ‚Baum der Erkenntnis‘ (Maturana; Varela 2015<ref>'''Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (2015):''' Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Aus dem Spanischen von Kurt Ludewig in Zusammenarbeit mit dem Institut für systemische Studien e. V. in Hamburg. 6. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag (Fischer Taschenbücher 17855). ISBN 978-3-596-17855-1.</ref>) aufbauen konnten.''<br />
<br />
: ''Den Ausgangspunkt dieser Überlegungen bildeten die offensichtlichen Schwächen des damals gängigen, linearen Sender-Empfänger-Modells der Kommunikation. Gemäß diesem funktioniert Kommunikation folgendermaßen: Person A sendet unter Verwendung einer Kodierung (Schrift, mündliche Sprache usw.) eine Botschaft. Sie wird von Person B empfangen und dekodiert. Auf dieser Grundlage sendet B eine Botschaft, die von A empfangen und dekodiert wird. Auf dieser neuen Grundlage sendet A eine nächste Botschaft usw. Man dachte sich Kommunikation als linearen Ablauf, bei dem sich nacheinander das eine aus dem anderen ergibt.<br />
<br />
: ''Im Rahmen der Kybernetik wurden die Interaktionen zwischen Lebewesen, zu denen auch alle Formen der verbalen und non-verbalen Kommunikation gehören, in einem neuen Licht betrachtet. Die Kerngedanken einer kybernetischen Interaktionstheorie könnte man so formulieren: Eine Interaktion entsteht dadurch, dass (mindestens) zwei Lebewesen gleichzeitig und ununterbrochen aktiv an einer gemeinsamen Handlung beteiligt sind. Diese Wechselbeziehung beruht auf einem zirkulären Prozess zwischen den InteraktionspartnerInnen: Ich beeinflusse in einer Interaktion durch mein Verhalten fortlaufend das Verhalten meiner PartnerIn und zugleich beeinflusst ihr Verhalten fortlaufend mein eigenes Verhalten: So wirkt mein Verhalten im Kreis oder eben zirkulär ständig auf mich selbst zurück.''<br />
<br />
: ''Interaktionen werden somit als zirkuläre Prozesse der Wechselbeziehung zwischen HandlungspartnerInnen verstanden, die in der Regulation ihres Verhaltens autonom sind. ‚Autonom‘ meint auch, dass alle ‚Informationen‘ einer verbalen oder non-verbalen Kommunikation fortlaufend von jeder PartnerIn individuell ‚errechnet‘ werden: In einem Gespräch gibt es keine ‚Botschaften‘, die in einer Person entstehen, gesendet werden und genau so in meinen Kopf gelangen. Wenn wir jemandem zuhören, konstruieren wir in uns ohne erfahrbare zeitliche Verzögerung fortlaufend ‚unseren‘ Sinn seiner Worte, eilen gedanklich eher noch voraus und nehmen mögliche Fortsetzungen der Aussagen vorweg. Wir passen beständig unsere Mimik und unser ganzes Verhalten daran an und beeinflussen dadurch die SprecherIn.''<br />
<br />
: ''Aus dieser kybernetischen Perspektive bestimmen die TeilnehmerInnen eines Gesprächs gleichzeitig und gemeinsam den Verlauf der Kommunikation, ob sie nun dabei zuhören/folgen oder sprechen/führen. Oder anders formuliert: Es gibt keine Botschaften oder Informationen ohne SenderIn und EmpfängerIn – wie es keine Beobachtung ohne BeobachterIn gibt (vgl. 5.3.3).''<br />
<br />
: ''Wenn jemand z. B. im Rahmen einer Partnererfahrung in eine Bewegungsinteraktion mit einem anderen Menschen tritt, gilt aus kybernetischer Sicht genau das Gleiche: Er kann mit seiner eigenen Bewegung in einer Bewegungsinteraktion eine eher führende oder folgende Rolle spielen. Der Verlauf der Interaktion wird aber in einem zirkulären Prozess durch die ständigen, wechselseitigen Anpassungen der beiden InteraktionspartnerInnen bestimmt. (European Kinaesthetics Association 2020b, S. 47<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7.</ref>)“''<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Interaktionen von Lebewesen/Vielzellern'''“:<br />
[[Datei:Interaktion Maturana Varela.jpg|mini|rechts]]<br />
: ''„Das dargestellte kybernetische Modell geht auf H. Maturana und F. Varela zurück. Sie verwenden es in ihrem Buch ‚Baum der Erkenntnis‘ (Maturana; Varela 2015, S. 196<ref>'''Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (2015):''' Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Aus dem Spanischen von Kurt Ludewig in Zusammenarbeit mit dem Institut für systemische Studien e. V. in Hamburg. 6. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag (Fischer Taschenbücher 17855). ISBN 978-3-596-17855-1.</ref>), um aus biologischer Sicht die wesentlichen Bedingungen der '''Interaktionen''' von Vielzellern (wie z. B. der Menschen) darzustellen.''<br />
<br />
: ''Die zwei geschlossenen, kreisförmigen Pfeile, die eine Kugel bilden, symbolisieren das Lebewesen in seiner operativen Autonomie ([[Autopoiese (Autopoiesis)|Autopoiese]]) und seiner zirkulären Geschlossenheit der Informationsverarbeitung. Aufgrund der strukturellen Übereinstimmungen der beiden Lebewesen wird ihre Interaktion zu einer gemeinsamen Wechselbeziehung, an der beide gleichzeitig und aktiv beteiligt sind ([[Autopoiese_(Autopoiesis)#Soziale_Ph.C3.A4nomene:_Koppelungen_dritter_Ordnung|strukturelle Koppelung zwischen Lebewesen]]).''<br />
<br />
: ''Selbstverständlich befindet sich jedes Lebewesen ständig in einem bestimmten Milieu, in einer Umgebung. Dies wird in der Abbildung durch die Wellenlinie dargestellt. Auch hier besteht aufgrund einer strukturellen Koppelung eine ständige Wechselbeziehung. Allerdings unterscheidet sie sich von der Interaktion zwischen autonomen HandlungspartnerInnen. Sie zeigt sich in den ununterbrochenen Anpassungsleistungen des Lebewesens sowohl an die konstanten als auch an die sich verändernden Bedingungen seines Milieus.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 64–66.<br />
<br />
== Interaktion im „Aufbaumodul Demenz 2“==<br />
=== Einleitung ===<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem „Aufbaumodul Demenz 2: Sich in Beziehung erfahren“<ref>''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) ''': Aufbaumodul Demenz 2: Sich in Beziehung erfahren. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-47-5.</ref>. Dieses Aufbaumodul thematisiert die ''„Beziehungsgestaltung als zentrale Herausforderung der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz“''<ref>ebd., S. 7.</ref>. Beziehungsgestaltung wird dabei als person-zentrierte Interaktionsgestaltung in doppeltem Sinn verstanden: Einerseits geht es um die individuelle Unterstützung jedes einzelnen Menschen, andererseits um die persönliche Sensibilität und Anpassungsfähigkeit der eigenen Bewegung, die Pflegende und Betreuende in die Beziehungsgestaltung einbringen<ref>ebd.</ref>.<br />
=== Interaktion aus kybernetischer Sicht ===<br />
Eine wichtige Rolle spielt dabei das erfahrungsbasierte Verständnis der Interaktion und der Interaktionsgestaltung. Im Aufbaumodul 2 widmet sich der nachfolgend zitierte dritte Teil „Interaktion aus kybernetischer Sicht“<ref>ebd., S. 36 ff.</ref> diesem Thema. Voraus gehen der erste Teil „Beziehung und Beziehungsgestaltung“<ref>ebd., S. 10 ff.</ref> und der zweite Teil „Bewegungselemente als Grunddimensionen der Interaktionsgestaltung“<ref>ebd., S. 20 ff.</ref> <br />
<br />
:'''''<big><big>„Teil 3: Interaktion aus kybernetischer Sicht</big></big><br />
: ''''' <big>Einführung</big> <br />
: ''Eine Beziehung zu einem Menschen baut sich aus den fortgesetzten Interaktionen mit ihm auf. Was aber ist eine '''Interaktion'''? Nach dem Online-Duden bedeutet der Begriff ‚aufeinander bezogenes Handeln zweier oder mehrerer Personen; Wechsel-beziehung zwischen Handlungspartnern‘ (Zugriff: 17.08.2022). Die Grundlage des Verständnisses der zwischenmenschlichen Interaktion bildet die Frage, wie der Mensch sich selbst, all seine Bewegungen und sein Verhalten reguliert. ''<br />
: ''Aus wissenschaftlicher Perspektive hat insbesondere die Kybernetik die Selbstregulation und darauf aufbauend die Interaktion beschrieben. Auf diese Forschungsrichtung stützen sich die folgenden Ausführungen.<br />
<br />
: ''''' <big>Die Grundlage: Menschen regulieren ihre Bewegung zirkulär in sich selbst </big> <br />
: ''Wie reguliert der Mensch sein Verhalten bzw. seine Bewegungen, sei es allein oder in Interaktionen mit anderen Menschen? Die Funktionsweise unserer Selbstregulation lässt sich in einer Bewegungserfahrung gut nachvollziehen. <br />
{| class="wikitable"<br />
|-<br />
| <br />
: ''Probieren Sie es aus: <br />
: ''Stehen Sie auf ein Bein und schließen sie die Augen. Nehmen Sie mit Ihrem kinästhetischen Sinnessystem wahr, wie Sie sich mit ununterbrochenen Anpassungsbewegungen fortlaufend im Gleichgewicht halten. [kursiv]<br />
|}<br />
: ''Sie werden z. B. feststellen, wie sich die Druckempfindung in Ihrer Fußsohle ständig verändert, wie Sie ununterbrochen kleine Anpassungsbewegungen in unterschiedlichste Richtungen machen oder Ihre Muskelspannung verändern. Wir können nur stehen bzw. das Gleichgewicht nicht verlieren, weil und wenn wir in der Lage sind, fortlaufend die Abweichungen, die wir selbst produzieren, rechtzeitig zu korrigieren. <br />
: ''In kybernetischer Fachsprache ausgedrückt, reguliert der Mensch seine Bewegung durch einen geschlossenen zirkulären („kreisförmigen“) Feedback- oder Rückkoppelungsprozess, durch die sogenannte [[Feedback-Control-Theorie|Feedback-Kontrolle]]:<br />
:: *''Wenn wir mit geschlossenen Augen auf einem Bein stehen, sind die ständigen Anpassungsbewegungen nur möglich, weil wir mit dem kinästhetischen Sinnessystem fortlaufend die daraus entstehenden Unterschiede wahrnehmen. <br />
:: *''Die fortlaufende Wahrnehmung dieser Unterschiede ist notwendig, damit unser Nervensystem kontinuierlich ‚berechnen‘ kann, wie wir vom Gleichgewicht abweichen. ''<br />
:: *''Aufgrund dieser ‚Berechnungen‘ werden vom Nervensystem entsprechende Anpassungsbewegungen ausgelöst, die wir wiederum wahrnehmen usw. <br />
: ''Solange wir leben, machen wir ununterbrochen solche Anpassungsbewegungen. Sie können nur von innen im aktuellen Moment erzeugt werden. Die Regulation unserer Muskelspannung oder unsere ständigen kleinen Anpassungsbewegungen bei jeder Aktivität können nicht von einer anderen Person übernommen oder von außen für uns gemacht werden.<br />
: ''Diese Selbstregulation findet immer im Hier und Jetzt statt und ist ein ständiger Lernprozess: In einer Wechselwirkung beeinflussen unsere erlernten Bewegungsmuster jede neue Erfahrung und jede neue Erfahrung beeinflusst unsere Bewegungsmuster in Richtung der Festigung, Erweiterung oder Verminderung unserer Möglichkeiten.<br />
<br />
: ''''' <big>Die Notwendigkeit der individuellen Anpassung im Hier und Jetzt </big> <br />
: ''Wenn ein Mensch einem anderen Menschen hilft, von einem Sessel aufzustehen, bringen sich beide so in diese Interaktion über Berührung und Bewegung ein, wie es ihnen mit ihren individuellen Voraussetzungen im aktuellen Moment möglich ist. Die unterstützende Person kann nicht direkt bewirken, dass sich die unterstützte Person in der von ihr beabsichtigten Weise an ihre Hilfestellung anpasst. Beide Beteiligten sind gleichermaßen gefordert, sich fortlaufend in sich selbst an die Interaktion anzupassen. <br />
: ''Für die Interaktions- und Beziehungsgestaltung bedeutet die kybernetische Erklärung der Funktionsweise des Menschen, dass man einen anderen Menschen nicht wie einen leblosen Gegenstand bewegen kann, sondern ihn nur in seiner eigenen Bewegung unterstützen kann. In jeder Unterstützungssituation reguliert sich der Mensch selbst, und jede Unterstützung ist ein Lernangebot an seine individuelle Selbstregulation. <br />
: ''Deshalb gibt es keine allgemeingültigen Handlungsanleitungen oder ‚Rezepte‘ für Unterstützungssituationen, die bei jedem Menschen funktionieren. Der Verlauf einer Interaktion ist nie vorhersagbar, sondern entsteht im aktuellen Moment.''<br />
{| class="wikitable" style="background-color:lightgrey;"<br />
|-<br />
| <br />
: ''''' Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz: <br />
: ''Jede Person mit Demenz nimmt in einer Unterstützungssituation an der Interaktion über Berührung und Bewegung so teil, wie sie es im aktuellen Moment mit ihren individuellen Voraussetzungen kann. Das Gleiche gilt für die unterstützende Bezugsperson. Die Pflegepionierin Sr. Liliane Juchli (1933–2020) hat dies im Satz ‚Ich pflege als die, die ich bin‘ auf den Punkt gebracht. <br />
: ''Jede Person mit Demenz passt sich im gegebenen Moment auf seine individuelle Art und Weise an Hilfestellungen an. Deshalb gibt es nicht den einen richtigen Weg, wie eine Bezugsperson einer Person mit Demenz z. B. helfen kann, aus dem Bett auf einen Sessel zu kommen. <br />
: ''Hilfreich für eine professionelle Interaktionsgestaltung sind hingegen Blickwinkel, auf die eine Bezugsperson während einer Interaktion achten kann, um sich fortlaufend bewusst und gezielt anzupassen. Sie ermöglichen, jede Person mit Demenz individuell in ihrer eigenen Bewegung und Selbstregulation so zu unterstützen, dass sich ihre Möglichkeiten erweitern oder erhalten und nicht abnehmen.“''<ref>ebd., S. 36 f.</ref><br />
|}<br />
<br />
=== „Herausforderndes Verhalten“ vor dem Hintergrund des kybernetischen Interaktionsverständnisses===<br />
Im nächsten Kapitel „Interaktionen als fortlaufende gemeinsame Lernprozesse“<ref>ebd., S. 38 f.</ref> wird darauf hingewiesen, dass es in Kinaesthetics-Aufbaukursen ein Kernthema ist, ''„Interaktionen als gemeinsame Lernprozesse zu verstehen und zu gestalten“''. Darauf folgt ein längeres Praxisbeispiel, das mit zwei Bewegungserfahrungen verbunden wird. <br />
<br />
Es erzählt von einer Person mit Demenz, die sich zunehmend gegen ein bisher passendes Unterstützungsangebot beim Aufstehen wehrt. Das Betreuungsteam vollzieht die Situation in eigenen Bewegungserfahrungen nach. In der Folge achtet es verstärkt darauf, die Interaktion sanft und achtsam mit veränderten Unterstützungsangeboten zu gestalten. Das führt dazu, dass die Person lernt, die Spielräume seiner Bewegung besser und in einer angemessenen Bewegungsgeschwindigkeit zu nutzen.<br />
<br />
Das Kapitel schließt mit den nachfolgend zitierten Erläuterungen. Sie verbinden die lebenslange Lernfähigkeit des Menschen aus kybernetischer Perspektive mit den Themen der Interaktionsgestaltung und herausfordernder Situationen. Im anschließend zitierten Kapitel wird vor diesem Hintergrund explizit auf die Problematik des sogenannten herausfordernden Verhaltens eingegangen.<br />
: ''„Das vorausgehende Beispiel veranschaulicht den Weg, der von einer herausfordernden Situation zum gemeinsamen Lernen im Team und schließlich zum Lernerfolg sowie zu wechselseitiger Wirksamkeitserfahrung aller Beteiligten führt. Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht darin die Professionalität des Umgangs mit schwierigen Dynamiken oder Entwicklungen. <br />
: ''Aus der kybernetischen Beschreibung der Selbstregulation folgt, dass das Leben ein fortlaufender Lern- und Entwicklungsprozess ist, der erst mit dem Tod endet. Bis zum Ende seines Lebens reguliert der Mensch sich selbst und bleibt deshalb lernfähig. Insbesondere in seiner Kindheit und im hohen Alter ist er gefordert, sich an körperliche und geistige Entwicklungen mit veränderten oder neuen Verhaltensweisen in seinen alltäglichen Aktivitäten anzupassen.<br />
{| class="wikitable" style="background-color:lightgrey;"<br />
|-<br />
| <br />
: ''''' Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz: <br />
: ''Aus der Perspektive der Kinästhetik ist es zentral, davon auszugehen, dass jede Person mit Demenz bis zum Ende ihres Lebens in alltäglichen Unterstützungssituationen Lernprozesse macht und sich weiterentwickelt. Die Leitidee ist, dass die Person durch die Interaktionsgestaltung lernen kann, ihre individuellen Möglichkeiten und ihre Differenziertheit der Bewegung zu erhalten oder zu erweitern. <br />
: ''Die Grundlage hierfür ist, dass die Bezugsperson ihre eigene Bewegung im Moment des Geschehens nuanciert wahrnehmen und anpassen kann. Ebenso nötig ist ein erfahrungsbasiertes Verständnis der menschlichen Bewegung in alltäglichen Aktivitäten. Ein wichtiger Punkt ist, gemeinsam suchend und lernend unterwegs zu sein, damit sich für alle Beteiligten neue Möglichkeiten überhaupt auftun können. <br />
: ''Dadurch wird ein wesentlicher Beitrag dazu geleistet, dass sich die Person mit Demenz als Mensch in ihrer aktuellen Situation angenommen fühlt und in einer echten Beziehung erfährt.<br />
|}<br />
<br />
: ''''' <big>Schwierige Interaktionsdynamiken sind ein Beziehungsgeschehen </big> <br />
: ''In zwischenmenschlichen Interaktionen können schwierige Dynamiken entstehen. Weil beide Beteiligten überfordert sind, einen befriedigenden Verlauf des gemeinsamen Handelns zu finden, der für beide sinnvoll und angemessen ist, läuft das Beziehungsgeschehen nicht reibungslos ab. <br />
: ''In diesem Fall treten in der Beziehung zu Menschen mit Demenz viele Phänomene auf, die in der Fachliteratur und von Bezugspersonen geschildert werden:<br />
:: *''Unvorhersehbare Wechsel im Verlauf und in der Qualität der Interaktion <br />
:: *''Das Gefühl vonseiten der Bezugspersonen, eine Person mit Demenz nicht zu ‚erreichen‘ <br />
:: *''Über-sich-ergehen-Lassen, Abwendung oder Verweigerung vonseiten der Person mit Demenz <br />
:: *''Eskalation der Interaktion durch Anspannung, Wut oder Zorn <br />
: ''Aus kybernetischer Perspektive besteht bei solchen Phänomenen die Herausforderung in der wechselseitigen Beziehungsgestaltung, für die beide InteraktionspartnerInnen gleichermaßen verantwortlich sind. Eine schwierige Interaktionsdynamik ist ein Beziehungsphänomen – und eine Interaktion bzw. Beziehung entsteht nur dadurch, dass zwei Personen gleichzeitig und gemeinsam am Geschehen aktiv beteiligt sind.<br />
: ''Die erwähnten Phänomene werden gängig als herausforderndes Verhalten von Menschen mit Demenz bezeichnet. Problematisch an diesem Begriff ist, dass er die Verantwortung für die schwierige Interaktionsdynamik einseitig der Person mit Demenz oder ihrer Diagnose zuschreibt. Aus der Perspektive der Kybernetik und der aktuellen Demenzforschung kann eine solche einseitige „Schuldzuweisung“ weder der Situation noch ihrer konstruktiven Entwicklung gerecht werden.<br />
{| class="wikitable" style="background-color:lightgrey;"<br />
|-<br />
| <br />
: ''''' Bedeutung für Menschen mit Demenz: <br />
: ''Eine Person mit Demenz verhält sich nicht unkooperativ oder herausfordernd, weil sie so ist oder aufgrund ihrer Erkrankung so geworden ist. Vielmehr hat es damit zu tun, dass sie aus dem Beziehungsgeschehen gelernt hat oder lernt, dass sie nur durch dieses Verhalten ihre persönliche Integrität und Lebensqualität erhalten kann. Ihr „herausforderndes“ Verhalten ist für sie persönlich die einzige Möglichkeit, sich an die aktuelle Situation anzupassen.<br />
|}<br />
: ''Ohne Zweifel braucht es bei der professionellen Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz eine hohe Kompetenz der Bezugspersonen, sich an schwierige Interaktionsdynamiken förderlich anzupassen. Viele Bezugspersonen entwickeln diesbezüglich durch ihr Erfahrungswissen eine bewundernswerte, auf jede einzelne Person individuell ausgerichtete Interaktionskompetenz. Diese eröffnet ihnen einen Handlungsspielraum, um mit schwierigen Interaktionsdynamiken beziehungsfördernd und konstruktiv umzugehen.<br />
{| class="wikitable" style="background-color:lightgrey;"<br />
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| <br />
: ''''' Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz: <br />
: ''In der Interaktion über Berührung und Bewegung ist es für die Bezugsperson bisweilen kaum feststellbar ist, dass sich die Person mit Demenz aktiv an der gemeinsamen Handlung beteiligt. Dadurch verblasst für die Bezugsperson oft das Gefühl, in einer förderlichen Beziehung zu stehen. Aus der Perspektive der Kinästhetik ist davon auszugehen, dass die Person mit Demenz in jedem Fall aktiv an der Interaktion teilnimmt sowie Erfahrungen und Lernprozesse macht. <br />
: ''Wenn in einer Interaktion eine schwierige Dynamik entsteht, ist es umso wichtiger, dass Bezugspersonen auf ihr eigenes Bewegungsverhalten z. B. bezüglich Geschwindigkeit und Muskelspannung achten, um einen konstruktiven Lernprozess im wechselseitigen Beziehungsgeschehen zu ermöglichen. Schwierige Situationen verlangen von Bezugspersonen in besonderem Maß, Interaktionen offen und suchend zu gestalten. “''<ref>ebd., S. 39 f.</ref><br />
|}<br />
[[Datei:S 15 Bitte nicht fotografieren.jpg|600px|zentriert]]<br />
<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) ''': Aufbaumodul Demenz 2: Sich in Beziehung erfahren. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-47-5. S. 36 ff.<br />
<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[Social Tracking]]<br />
* [[Autopoiese_(Autopoiesis)#Die_Verwendung_des_Begriffs_Interaktion_in_der_Autopoiese-Beschreibung_von_Maturana.2FVarela|Die Verwendung des Begriffs Interaktion in der Autopoiese-Beschreibung von Maturana/Varela]]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Interaktion&diff=4987Interaktion2024-03-11T11:00:44Z<p>Sabine Kaserer: /* Interaktion aus kybernetischer Sicht */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Stefan Marty-Teuber}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Interaktion aus kinästetischer und kybernetischer bzw. wissenschaftlicher Sicht. Er behandelt nicht das kinästhetische Konzept „Interaktion“ des Konzeptsystems, zitiert aber die dortigen definitorischen Erläuterungen. Der Begriff Interaktion wird als Wechselbeziehung zwischen HandlungspartnerInnen beschrieben, an der beide gleichzeitig und aktiv beteiligt sind. <br />
<br />
== Interaktion im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem „Kinaesthetics – Konzeptsystem“. Es ist die Einleitung zum ersten Kapitel „Konzept Interaktion“.<br />
: ''„'''Interaktion''' bezeichnet im Allgemeinen die Wechselwirkung zwischen zwei oder mehreren HandlungspartnerInnen. Kinaesthetics verwendet den Begriff auch zur Bezeichnung der Wechselwirkungen zwischen den Teilen eines Lebewesens bis hin zur zellulären und molekularen Ebene. Ein Paradebeispiel für Interaktion ist die Kommunikation. Die Unterscheidung zwischen verbaler und nonverbaler Kommunikation macht deutlich, dass grundsätzlich alle Sinnessysteme bei einer Interaktion eine Rolle spielen.''<br />
<br />
: ''Das Hauptinteresse von Kinaesthetics liegt auf der Beobachtung und Gestaltung der folgenden beiden Arten von Interaktionen:''<br />
<br />
: ''• Interaktionen zwischen Teilen unseres Körpers bei verschiedensten Aktivitäten.<br>• Interaktionen zwischen Menschen durch Berührung und Bewegung.''<br />
<br />
: ''Die Qualität der Interaktion durch Berührung und Bewegung ist für die allgemeine Interaktionskompetenz des Menschen und somit für alle seine Lernprozesse von grundlegender und zentraler Bedeutung.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 11.<br />
<br />
== Interaktion in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat stammt aus dem Glossar und beschreibt die Verwendung des Begriffs im Allgemeinen und im Kontext der Kinästhetik.<br />
<br />
: ''„'''Interaktion''' bezeichnet das, was zwischen aktiven, an einer gemeinsamen Handlung beteiligten Teilen passiert. Interaktion bezeichnet im Allgemeinen hauptsächlich die Wechselwirkung oder wechselseitige Beeinflussung von Individuen und Gruppen. Kinaesthetics verwendet den Begriff Interaktion auch für die Wechselwirkung zwischen Körperteilen. Interaktionen entstehen nur durch die gleichzeitige und gemeinsame Aktivität zweier oder mehrerer Teile. Bezüglich Zeit und Gemeinsamkeit lassen sich unter dem Blickwinkel von ‚Führen und Folgen‘ verschiedene Interaktionsformen unterscheiden. Interaktionskompetenz meint die aktuelle, erlernte Fähigkeit, Interaktionen mit Personen produktiv zu gestalten.“<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 63 (Glossar).<br />
<br />
== Interaktion in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“, und zwar aus dem abschließenden sechsten Kapitel „Kinästhetik ist praktische Kybernetik“. Das Zitat ist eingebettet in das dritte Unterkapitel „Interaktion und gemeinsames Lernen“. Vorausgehend wird die Partnererfahrung thematisiert. Das Zitat ist der Text des nachfolgenden Themas „Interaktion und Kommunikation aus kybernetischer Sicht“.<br />
: ''„Den kybernetischen Hintergrund dazu bilden zahlreiche Überlegungen und Forschungen zur Kommunikation bzw. '''Interaktion''' zwischen Lebewesen. Auch hier leistete Gregory Bateson viel Grundlagenarbeit, auf der z. B. die Gruppe von ForscherInnen um Paul Watzlawick und auch H. Maturana/F. Varela in ihrem ‚Baum der Erkenntnis‘ (Maturana; Varela 2015<ref>'''Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (2015):''' Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Aus dem Spanischen von Kurt Ludewig in Zusammenarbeit mit dem Institut für systemische Studien e. V. in Hamburg. 6. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag (Fischer Taschenbücher 17855). ISBN 978-3-596-17855-1.</ref>) aufbauen konnten.''<br />
<br />
: ''Den Ausgangspunkt dieser Überlegungen bildeten die offensichtlichen Schwächen des damals gängigen, linearen Sender-Empfänger-Modells der Kommunikation. Gemäß diesem funktioniert Kommunikation folgendermaßen: Person A sendet unter Verwendung einer Kodierung (Schrift, mündliche Sprache usw.) eine Botschaft. Sie wird von Person B empfangen und dekodiert. Auf dieser Grundlage sendet B eine Botschaft, die von A empfangen und dekodiert wird. Auf dieser neuen Grundlage sendet A eine nächste Botschaft usw. Man dachte sich Kommunikation als linearen Ablauf, bei dem sich nacheinander das eine aus dem anderen ergibt.<br />
<br />
: ''Im Rahmen der Kybernetik wurden die Interaktionen zwischen Lebewesen, zu denen auch alle Formen der verbalen und non-verbalen Kommunikation gehören, in einem neuen Licht betrachtet. Die Kerngedanken einer kybernetischen Interaktionstheorie könnte man so formulieren: Eine Interaktion entsteht dadurch, dass (mindestens) zwei Lebewesen gleichzeitig und ununterbrochen aktiv an einer gemeinsamen Handlung beteiligt sind. Diese Wechselbeziehung beruht auf einem zirkulären Prozess zwischen den InteraktionspartnerInnen: Ich beeinflusse in einer Interaktion durch mein Verhalten fortlaufend das Verhalten meiner PartnerIn und zugleich beeinflusst ihr Verhalten fortlaufend mein eigenes Verhalten: So wirkt mein Verhalten im Kreis oder eben zirkulär ständig auf mich selbst zurück.''<br />
<br />
: ''Interaktionen werden somit als zirkuläre Prozesse der Wechselbeziehung zwischen HandlungspartnerInnen verstanden, die in der Regulation ihres Verhaltens autonom sind. ‚Autonom‘ meint auch, dass alle ‚Informationen‘ einer verbalen oder non-verbalen Kommunikation fortlaufend von jeder PartnerIn individuell ‚errechnet‘ werden: In einem Gespräch gibt es keine ‚Botschaften‘, die in einer Person entstehen, gesendet werden und genau so in meinen Kopf gelangen. Wenn wir jemandem zuhören, konstruieren wir in uns ohne erfahrbare zeitliche Verzögerung fortlaufend ‚unseren‘ Sinn seiner Worte, eilen gedanklich eher noch voraus und nehmen mögliche Fortsetzungen der Aussagen vorweg. Wir passen beständig unsere Mimik und unser ganzes Verhalten daran an und beeinflussen dadurch die SprecherIn.''<br />
<br />
: ''Aus dieser kybernetischen Perspektive bestimmen die TeilnehmerInnen eines Gesprächs gleichzeitig und gemeinsam den Verlauf der Kommunikation, ob sie nun dabei zuhören/folgen oder sprechen/führen. Oder anders formuliert: Es gibt keine Botschaften oder Informationen ohne SenderIn und EmpfängerIn – wie es keine Beobachtung ohne BeobachterIn gibt (vgl. 5.3.3).''<br />
<br />
: ''Wenn jemand z. B. im Rahmen einer Partnererfahrung in eine Bewegungsinteraktion mit einem anderen Menschen tritt, gilt aus kybernetischer Sicht genau das Gleiche: Er kann mit seiner eigenen Bewegung in einer Bewegungsinteraktion eine eher führende oder folgende Rolle spielen. Der Verlauf der Interaktion wird aber in einem zirkulären Prozess durch die ständigen, wechselseitigen Anpassungen der beiden InteraktionspartnerInnen bestimmt. (European Kinaesthetics Association 2020b, S. 47<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7.</ref>)“''<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Interaktionen von Lebewesen/Vielzellern'''“:<br />
[[Datei:Interaktion Maturana Varela.jpg|mini|rechts]]<br />
: ''„Das dargestellte kybernetische Modell geht auf H. Maturana und F. Varela zurück. Sie verwenden es in ihrem Buch ‚Baum der Erkenntnis‘ (Maturana; Varela 2015, S. 196<ref>'''Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (2015):''' Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Aus dem Spanischen von Kurt Ludewig in Zusammenarbeit mit dem Institut für systemische Studien e. V. in Hamburg. 6. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag (Fischer Taschenbücher 17855). ISBN 978-3-596-17855-1.</ref>), um aus biologischer Sicht die wesentlichen Bedingungen der '''Interaktionen''' von Vielzellern (wie z. B. der Menschen) darzustellen.''<br />
<br />
: ''Die zwei geschlossenen, kreisförmigen Pfeile, die eine Kugel bilden, symbolisieren das Lebewesen in seiner operativen Autonomie ([[Autopoiese (Autopoiesis)|Autopoiese]]) und seiner zirkulären Geschlossenheit der Informationsverarbeitung. Aufgrund der strukturellen Übereinstimmungen der beiden Lebewesen wird ihre Interaktion zu einer gemeinsamen Wechselbeziehung, an der beide gleichzeitig und aktiv beteiligt sind ([[Autopoiese_(Autopoiesis)#Soziale_Ph.C3.A4nomene:_Koppelungen_dritter_Ordnung|strukturelle Koppelung zwischen Lebewesen]]).''<br />
<br />
: ''Selbstverständlich befindet sich jedes Lebewesen ständig in einem bestimmten Milieu, in einer Umgebung. Dies wird in der Abbildung durch die Wellenlinie dargestellt. Auch hier besteht aufgrund einer strukturellen Koppelung eine ständige Wechselbeziehung. Allerdings unterscheidet sie sich von der Interaktion zwischen autonomen HandlungspartnerInnen. Sie zeigt sich in den ununterbrochenen Anpassungsleistungen des Lebewesens sowohl an die konstanten als auch an die sich verändernden Bedingungen seines Milieus.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 64–66.<br />
<br />
== Interaktion im „Aufbaumodul Demenz 2“==<br />
=== Einleitung ===<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem „Aufbaumodul Demenz 2: Sich in Beziehung erfahren“<ref>''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) ''': Aufbaumodul Demenz 2: Sich in Beziehung erfahren. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-47-5.</ref>. Dieses Aufbaumodul thematisiert die ''„Beziehungsgestaltung als zentrale Herausforderung der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz“''<ref>ebd., S. 7.</ref>. Beziehungsgestaltung wird dabei als person-zentrierte Interaktionsgestaltung in doppeltem Sinn verstanden: Einerseits geht es um die individuelle Unterstützung jedes einzelnen Menschen, andererseits um die persönliche Sensibilität und Anpassungsfähigkeit der eigenen Bewegung, die Pflegende und Betreuende in die Beziehungsgestaltung einbringen<ref>ebd.</ref>.<br />
=== Interaktion aus kybernetischer Sicht ===<br />
Eine wichtige Rolle spielt dabei das erfahrungsbasierte Verständnis der Interaktion und der Interaktionsgestaltung. Im Aufbaumodul 2 widmet sich der nachfolgend zitierte dritte Teil „Interaktion aus kybernetischer Sicht“<ref>ebd., S. 36 ff.</ref> diesem Thema. Voraus gehen der erste Teil „Beziehung und Beziehungsgestaltung“<ref>ebd., S. 10 ff.</ref> und der zweite Teil „Bewegungselemente als Grunddimensionen der Interaktionsgestaltung“<ref>ebd., S. 20 ff.</ref> <br />
<br />
:'''''<big><big>„Teil 3: Interaktion aus kybernetischer Sicht</big></big><br />
: ''''' <big>Einführung</big> <br />
: ''Eine Beziehung zu einem Menschen baut sich aus den fortgesetzten Interaktionen mit ihm auf. Was aber ist eine '''Interaktion'''? Nach dem Online-Duden bedeutet der Begriff ‚aufeinander bezogenes Handeln zweier oder mehrerer Personen; Wechsel-beziehung zwischen Handlungspartnern‘ (Zugriff: 17.08.2022). Die Grundlage des Verständnisses der zwischenmenschlichen Interaktion bildet die Frage, wie der Mensch sich selbst, all seine Bewegungen und sein Verhalten reguliert. ''<br />
: ''Aus wissenschaftlicher Perspektive hat insbesondere die Kybernetik die Selbstregulation und darauf aufbauend die Interaktion beschrieben. Auf diese Forschungsrichtung stützen sich die folgenden Ausführungen.<br />
<br />
: ''''' <big>Die Grundlage: Menschen regulieren ihre Bewegung zirkulär in sich selbst </big> <br />
: ''Wie reguliert der Mensch sein Verhalten bzw. seine Bewegungen, sei es allein oder in Interaktionen mit anderen Menschen? Die Funktionsweise unserer Selbstregulation lässt sich in einer Bewegungserfahrung gut nachvollziehen. <br />
{| class="wikitable"<br />
|-<br />
| <br />
: ''Probieren Sie es aus: <br />
: ''Stehen Sie auf ein Bein und schließen sie die Augen. Nehmen Sie mit Ihrem kinästhetischen Sinnessystem wahr, wie Sie sich mit ununterbrochenen Anpassungsbewegungen fortlaufend im Gleichgewicht halten. [kursiv]<br />
|}<br />
: ''Sie werden z. B. feststellen, wie sich die Druckempfindung in Ihrer Fußsohle ständig verändert, wie Sie ununterbrochen kleine Anpassungsbewegungen in unterschiedlichste Richtungen machen oder Ihre Muskelspannung verändern. Wir können nur stehen bzw. das Gleichgewicht nicht verlieren, weil und wenn wir in der Lage sind, fortlaufend die Abweichungen, die wir selbst produzieren, rechtzeitig zu korrigieren. <br />
: ''In kybernetischer Fachsprache ausgedrückt, reguliert der Mensch seine Bewegung durch einen geschlossenen zirkulären („kreisförmigen“) Feedback- oder Rückkoppelungsprozess, durch die sogenannte [[Feedback-Control-Theorie|Feedback-Kontrolle]]:<br />
:: *''Wenn wir mit geschlossenen Augen auf einem Bein stehen, sind die ständigen Anpassungsbewegungen nur möglich, weil wir mit dem kinästhetischen Sinnessystem fortlaufend die daraus entstehenden Unterschiede wahrnehmen. <br />
:: *''Die fortlaufende Wahrnehmung dieser Unterschiede ist notwendig, damit unser Nervensystem kontinuierlich ‚berechnen‘ kann, wie wir vom Gleichgewicht abweichen. ''<br />
:: *''Aufgrund dieser ‚Berechnungen‘ werden vom Nervensystem entsprechende Anpassungsbewegungen ausgelöst, die wir wiederum wahrnehmen usw. <br />
: ''Solange wir leben, machen wir ununterbrochen solche Anpassungsbewegungen. Sie können nur von innen im aktuellen Moment erzeugt werden. Die Regulation unserer Muskelspannung oder unsere ständigen kleinen Anpassungsbewegungen bei jeder Aktivität können nicht von einer anderen Person übernommen oder von außen für uns gemacht werden.<br />
: ''Diese Selbstregulation findet immer im Hier und Jetzt statt und ist ein ständiger Lernprozess: In einer Wechselwirkung beeinflussen unsere erlernten Bewegungsmuster jede neue Erfahrung und jede neue Erfahrung beeinflusst unsere Bewegungsmuster in Richtung der Festigung, Erweiterung oder Verminderung unserer Möglichkeiten.<br />
<br />
: ''''' <big>Die Notwendigkeit der individuellen Anpassung im Hier und Jetzt </big> <br />
: ''Wenn ein Mensch einem anderen Menschen hilft, von einem Sessel aufzustehen, bringen sich beide so in diese Interaktion über Berührung und Bewegung ein, wie es ihnen mit ihren individuellen Voraussetzungen im aktuellen Moment möglich ist. Die unterstützende Person kann nicht direkt bewirken, dass sich die unterstützte Person in der von ihr beabsichtigten Weise an ihre Hilfestellung anpasst. Beide Beteiligten sind gleichermaßen gefordert, sich fortlaufend in sich selbst an die Interaktion anzupassen. <br />
: ''Für die Interaktions- und Beziehungsgestaltung bedeutet die kybernetische Erklärung der Funktionsweise des Menschen, dass man einen anderen Menschen nicht wie einen leblosen Gegenstand bewegen kann, sondern ihn nur in seiner eigenen Bewegung unterstützen kann. In jeder Unterstützungssituation reguliert sich der Mensch selbst, und jede Unterstützung ist ein Lernangebot an seine individuelle Selbstregulation. <br />
: ''Deshalb gibt es keine allgemeingültigen Handlungsanleitungen oder ‚Rezepte‘ für Unterstützungssituationen, die bei jedem Menschen funktionieren. Der Verlauf einer Interaktion ist nie vorhersagbar, sondern entsteht im aktuellen Moment.''<br />
{| class="wikitable" style="background-color:lightgrey;"<br />
|-<br />
| <br />
: ''''' Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz: <br />
: ''Jede Person mit Demenz nimmt in einer Unterstützungssituation an der Interaktion über Berührung und Bewegung so teil, wie sie es im aktuellen Moment mit ihren individuellen Voraussetzungen kann. Das Gleiche gilt für die unterstützende Bezugsperson. Die Pflegepionierin Sr. Liliane Juchli (1933–2020) hat dies im Satz „Ich pflege als die, die ich bin“ auf den Punkt gebracht. <br />
: ''Jede Person mit Demenz passt sich im gegebenen Moment auf seine individuelle Art und Weise an Hilfestellungen an. Deshalb gibt es nicht den einen richtigen Weg, wie eine Bezugsperson einer Person mit Demenz z. B. helfen kann, aus dem Bett auf einen Sessel zu kommen. <br />
: ''Hilfreich für eine professionelle Interaktionsgestaltung sind hingegen Blickwinkel, auf die eine Bezugsperson während einer Interaktion achten kann, um sich fortlaufend bewusst und gezielt anzupassen. Sie ermöglichen, jede Person mit Demenz individuell in ihrer eigenen Bewegung und Selbstregulation so zu unterstützen, dass sich ihre Möglichkeiten erweitern oder erhalten und nicht abnehmen.“''<ref>ebd., S. 36 f.</ref><br />
|}<br />
<br />
=== „Herausforderndes Verhalten“ vor dem Hintergrund des kybernetischen Interaktionsverständnisses===<br />
Im nächsten Kapitel „Interaktionen als fortlaufende gemeinsame Lernprozesse“<ref>ebd., S. 38 f.</ref> wird darauf hingewiesen, dass es in Kinaesthetics-Aufbaukursen ein Kernthema ist, ''„Interaktionen als gemeinsame Lernprozesse zu verstehen und zu gestalten“''. Darauf folgt ein längeres Praxisbeispiel, das mit zwei Bewegungserfahrungen verbunden wird. <br />
<br />
Es erzählt von einer Person mit Demenz, die sich zunehmend gegen ein bisher passendes Unterstützungsangebot beim Aufstehen wehrt. Das Betreuungsteam vollzieht die Situation in eigenen Bewegungserfahrungen nach. In der Folge achtet es verstärkt darauf, die Interaktion sanft und achtsam mit veränderten Unterstützungsangeboten zu gestalten. Das führt dazu, dass die Person lernt, die Spielräume seiner Bewegung besser und in einer angemessenen Bewegungsgeschwindigkeit zu nutzen.<br />
<br />
Das Kapitel schließt mit den nachfolgend zitierten Erläuterungen. Sie verbinden die lebenslange Lernfähigkeit des Menschen aus kybernetischer Perspektive mit den Themen der Interaktionsgestaltung und herausfordernder Situationen. Im anschließend zitierten Kapitel wird vor diesem Hintergrund explizit auf die Problematik des sogenannten herausfordernden Verhaltens eingegangen.<br />
: ''„Das vorausgehende Beispiel veranschaulicht den Weg, der von einer herausfordernden Situation zum gemeinsamen Lernen im Team und schließlich zum Lernerfolg sowie zu wechselseitiger Wirksamkeitserfahrung aller Beteiligten führt. Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht darin die Professionalität des Umgangs mit schwierigen Dynamiken oder Entwicklungen. <br />
: ''Aus der kybernetischen Beschreibung der Selbstregulation folgt, dass das Leben ein fortlaufender Lern- und Entwicklungsprozess ist, der erst mit dem Tod endet. Bis zum Ende seines Lebens reguliert der Mensch sich selbst und bleibt deshalb lernfähig. Insbesondere in seiner Kindheit und im hohen Alter ist er gefordert, sich an körperliche und geistige Entwicklungen mit veränderten oder neuen Verhaltensweisen in seinen alltäglichen Aktivitäten anzupassen.<br />
{| class="wikitable" style="background-color:lightgrey;"<br />
|-<br />
| <br />
: ''''' Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz: <br />
: ''Aus der Perspektive der Kinästhetik ist es zentral, davon auszugehen, dass jede Person mit Demenz bis zum Ende ihres Lebens in alltäglichen Unterstützungssituationen Lernprozesse macht und sich weiterentwickelt. Die Leitidee ist, dass die Person durch die Interaktionsgestaltung lernen kann, ihre individuellen Möglichkeiten und ihre Differenziertheit der Bewegung zu erhalten oder zu erweitern. <br />
: ''Die Grundlage hierfür ist, dass die Bezugsperson ihre eigene Bewegung im Moment des Geschehens nuanciert wahrnehmen und anpassen kann. Ebenso nötig ist ein erfahrungsbasiertes Verständnis der menschlichen Bewegung in alltäglichen Aktivitäten. Ein wichtiger Punkt ist, gemeinsam suchend und lernend unterwegs zu sein, damit sich für alle Beteiligten neue Möglichkeiten überhaupt auftun können. <br />
: ''Dadurch wird ein wesentlicher Beitrag dazu geleistet, dass sich die Person mit Demenz als Mensch in ihrer aktuellen Situation angenommen fühlt und in einer echten Beziehung erfährt.<br />
|}<br />
<br />
: ''''' <big>Schwierige Interaktionsdynamiken sind ein Beziehungsgeschehen </big> <br />
: ''In zwischenmenschlichen Interaktionen können schwierige Dynamiken entstehen. Weil beide Beteiligten überfordert sind, einen befriedigenden Verlauf des gemeinsamen Handelns zu finden, der für beide sinnvoll und angemessen ist, läuft das Beziehungsgeschehen nicht reibungslos ab. <br />
: ''In diesem Fall treten in der Beziehung zu Menschen mit Demenz viele Phänomene auf, die in der Fachliteratur und von Bezugspersonen geschildert werden:<br />
:: *''Unvorhersehbare Wechsel im Verlauf und in der Qualität der Interaktion <br />
:: *''Das Gefühl vonseiten der Bezugspersonen, eine Person mit Demenz nicht zu ‚erreichen‘ <br />
:: *''Über-sich-ergehen-Lassen, Abwendung oder Verweigerung vonseiten der Person mit Demenz <br />
:: *''Eskalation der Interaktion durch Anspannung, Wut oder Zorn <br />
: ''Aus kybernetischer Perspektive besteht bei solchen Phänomenen die Herausforderung in der wechselseitigen Beziehungsgestaltung, für die beide InteraktionspartnerInnen gleichermaßen verantwortlich sind. Eine schwierige Interaktionsdynamik ist ein Beziehungsphänomen – und eine Interaktion bzw. Beziehung entsteht nur dadurch, dass zwei Personen gleichzeitig und gemeinsam am Geschehen aktiv beteiligt sind.<br />
: ''Die erwähnten Phänomene werden gängig als herausforderndes Verhalten von Menschen mit Demenz bezeichnet. Problematisch an diesem Begriff ist, dass er die Verantwortung für die schwierige Interaktionsdynamik einseitig der Person mit Demenz oder ihrer Diagnose zuschreibt. Aus der Perspektive der Kybernetik und der aktuellen Demenzforschung kann eine solche einseitige „Schuldzuweisung“ weder der Situation noch ihrer konstruktiven Entwicklung gerecht werden.<br />
{| class="wikitable" style="background-color:lightgrey;"<br />
|-<br />
| <br />
: ''''' Bedeutung für Menschen mit Demenz: <br />
: ''Eine Person mit Demenz verhält sich nicht unkooperativ oder herausfordernd, weil sie so ist oder aufgrund ihrer Erkrankung so geworden ist. Vielmehr hat es damit zu tun, dass sie aus dem Beziehungsgeschehen gelernt hat oder lernt, dass sie nur durch dieses Verhalten ihre persönliche Integrität und Lebensqualität erhalten kann. Ihr „herausforderndes“ Verhalten ist für sie persönlich die einzige Möglichkeit, sich an die aktuelle Situation anzupassen.<br />
|}<br />
: ''Ohne Zweifel braucht es bei der professionellen Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz eine hohe Kompetenz der Bezugspersonen, sich an schwierige Interaktionsdynamiken förderlich anzupassen. Viele Bezugspersonen entwickeln diesbezüglich durch ihr Erfahrungswissen eine bewundernswerte, auf jede einzelne Person individuell ausgerichtete Interaktionskompetenz. Diese eröffnet ihnen einen Handlungsspielraum, um mit schwierigen Interaktionsdynamiken beziehungsfördernd und konstruktiv umzugehen.<br />
{| class="wikitable" style="background-color:lightgrey;"<br />
|-<br />
| <br />
: ''''' Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz: <br />
: ''In der Interaktion über Berührung und Bewegung ist es für die Bezugsperson bisweilen kaum feststellbar ist, dass sich die Person mit Demenz aktiv an der gemeinsamen Handlung beteiligt. Dadurch verblasst für die Bezugsperson oft das Gefühl, in einer förderlichen Beziehung zu stehen. Aus der Perspektive der Kinästhetik ist davon auszugehen, dass die Person mit Demenz in jedem Fall aktiv an der Interaktion teilnimmt sowie Erfahrungen und Lernprozesse macht. <br />
: ''Wenn in einer Interaktion eine schwierige Dynamik entsteht, ist es umso wichtiger, dass Bezugspersonen auf ihr eigenes Bewegungsverhalten z. B. bezüglich Geschwindigkeit und Muskelspannung achten, um einen konstruktiven Lernprozess im wechselseitigen Beziehungsgeschehen zu ermöglichen. Schwierige Situationen verlangen von Bezugspersonen in besonderem Maß, Interaktionen offen und suchend zu gestalten. “''<ref>ebd., S. 39 f.</ref><br />
|}<br />
[[Datei:S 15 Bitte nicht fotografieren.jpg|600px|zentriert]]<br />
<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) ''': Aufbaumodul Demenz 2: Sich in Beziehung erfahren. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-47-5. S. 36 ff.<br />
<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[Social Tracking]]<br />
* [[Autopoiese_(Autopoiesis)#Die_Verwendung_des_Begriffs_Interaktion_in_der_Autopoiese-Beschreibung_von_Maturana.2FVarela|Die Verwendung des Begriffs Interaktion in der Autopoiese-Beschreibung von Maturana/Varela]]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Heinz_von_Foerster&diff=4986Heinz von Foerster2024-03-11T10:52:39Z<p>Sabine Kaserer: /* Ausgewählte Aussagen */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|in Bearbeitung|Lutz Zierbeck/Sabine Kaserer}}{| class="wikitable" <br />
<br />
|-<br />
! Jahr !! Leben und Werk<br />
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| 1911 || Geboren am 13. November in Wien. <br />
|-<br />
| ab 1930 || Studium der Physik an der Technischen Hochschule Wien. <br />
|-<br />
|-<br />
| 1938 || Erste Arbeitsstelle als Physiker im Forschungslabor und kurzzeitig auch als Vertreter bei der Firma E. Leybold´s Nachfolger, Vakuumpumpenfabrik in Köln.<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019): ''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). ISBN 978-3-89670-557-0. S. 116 ff.</ref> <br />
|-<br />
|-<br />
| 1939 || Lernt am Neujahrsabend die Schauspielerin Mai Stürmer kennen, sie heiraten wenige Monate später.<ref>ebd., S. 119 ff</ref><br />
<br />
|-<br />
|-<br />
| 1939 || Umzug nach Berlin, Direktor des Forschungslabors der GEMA (Gesellschaft für elektroakustische und mechanische Apparate mbH, dem Pionierunternehmen auf dem Gebiet der Radar- und Funkmesstechnik).<ref>ebd., S. 121 ff</ref> <br />
<br />
|-<br />
|-<br />
| 1944 || Er reicht seine Dissertation zum Thema Plasmaoszillationen an der Universität Breslau ein, wird aber nicht promoviert, da er keinen Ariernachweis vorlegen kann.<ref>ebd., S. 127 ff.</ref><br />
|-<br />
|-<br />
| 1945 || Neuanfang in Wien als Kulturchef des amerikanischen Radiosenders „Rot-Weiß-Rot“.<ref>ebd., S. 146 ff.</ref><br />
|-<br />
|-<br />
| 1948 || Veröffentlichung des Buches „Das Gedächtnis – eine quantenphysikalische Untersuchung“.<ref>ebd., S. 151 f</ref> <br />
|-<br />
|-<br />
| 1949 || Übersiedlung in die USA, Teilnahme an der 6. [[Macy-Konferenzen|Macy-Konferenz]], Direktor des Mikrowellenlabors der Universität Illinois.<ref>ebd., S. 153 ff.</ref> <br />
<br />
|-<br />
|1956 / 57||2 Freisemester (Sabbatical) Studium biologischer Themen.<ref>ebd., S. 206 ff.</ref> <br />
<br />
|-<br />
| 1958||Gründung seines eigenen Labors „Biological Computer Lab, BCL“.<ref>ebd., S. 211 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1959||„Selforganization Systems Conference“.<ref>ebd., S. 222 ff</ref> <br />
|-<br />
| 1960||„Principles of Selforganization Conference“.<ref>ebd., S. 227 ff</ref> <br />
|-<br />
| 1962||„Information Processing in the Nervous System“ Konferenz in Leiden, NL. Macht dort Bekanntschaft mit dem Biologen Humberto Maturana.<ref>ebd., S. 232 ff.</ref><br />
|-<br />
| 1968||Heuristics I und II.<ref>ebd., S. 241 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1969||Heuristics III, Zeit der Studentenrevolutionen. Verfasst einen Katalog mit StudentInnen zusammen.<ref>ebd., S. 244 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1970||Unterricht der „honours class ingeneering group“. Schreibt mit StudentInnen zusammen das „Ecological Source book“.<ref>ebd., S. 250 f.</ref> <br />
|-<br />
| 1973||„Om-Conference“.<ref>ebd., S. 271 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1974||Kurs für Studenten und gemeinsames Buch darüber: „Cybernetcs of Cybernetics“.<ref>ebd., S. 251 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1975||Baut sein Haus (größtenteils eigenhändig) auf dem Rattlesnake Hill in Pescadero, Kalifornien.<ref>ebd., S. 281 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1976||Schließung des BCL, Emeritierung.<ref>ebd., S. 266 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1990||Familientherapie-Konferenz in Paris: „Ethik und Kybernetik 2. Ordnung“.<ref>ebd., S. 286 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1994||Weltkongress f. Soziale Psychiatrie in Hamburg: „Abschied von Babylon“.<ref>ebd., S. 288 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1996||Konferenz in Heidelberg: „Die Schule neu erfinden“ mit Ernst von Glasersfeld.<ref>ebd., S. 292 f.</ref> <br />
|-<br />
| 2002||Tod am 2. Oktober in Pescadero, Kalifornien.<br />
|}<br />
<br />
== Vertiefung ausgewählter Themen ==<br />
Das Werk von Heinz von Foerster ist umfangreich und vielfältig. Einige Themen, die für das Verständnis des Menschen HvF und für die Entwicklung seiner Ideen interessant sind, sowie verschiedene Forschungs- und Entwicklungsprojekte sollen im Folgenden etwas vertieft dargestellt werden. <br />
<br />
=== Kindheit und Jugend - Herkunft und Einflüsse === <br />
Sein Vater, der Ingenieur Emil von Foerster, muss 3 Jahre nach der Geburt von Heinz in den ersten Weltkrieg ziehen und ist lange Jahre in Kriegsgefangenschaft.<ref>ebd., S. 72 ff.</ref> Somit wird er hauptsächlich von seine Mutter Lilith von Foerster erzogen, die in künstlerisch-intellektuellen Kreisen verkehrt (z. B. mit dem Maler Oskar Kokoschka oder dem Philosophen Rudolf Kassner). Ihre Mutter war Marie Lang, eine der ersten Frauenrechtlerinnen Europas, deren Gedankengut einen deutlichen Einfluss auf ihn hat.<br />
<br />
Ebenso hat in seiner Kindheit die Tante Grete Wiesenthal Einfluss auf seine Entwicklung, eine weltberühmte Tänzerin, deren Kostüme größtenteils seine Mutter entwirft. Er berichtet schwärmerisch über viele Stunden in den Garderoben und hinter der Bühne, wo er die „''unglaublich schönen Frauen''“<ref>ebd., S. 79.</ref> beobachtet. <br />
<br />
Über seinen Onkel Erwin Lang kommt er in Berührung mit der chinesischen Philosophie des Tao, die ihn fasziniert.<ref>ebd., S. 84 und 296 ff.</ref> <br />
<br />
Zusammen mit seinem Cousin Martin Lang beginnt er sich im Alter von 14 Jahren mit der Zauberei zu befassen. Sie bringen es bis zur Aufnahme in die IAO (internationale Artistenorganisation) mit einem Zauber-Diplom<ref>ebd., S. 92 ff.</ref> In dieser Zeit entwickelt er seine Kompetenzen, vor einem grossen Publikum wirkungsvoll aufzutreten, aber auch wichtige Grundätze des Konstruktivismus. Als Zauberer sind beide so erfolgreich, weil sie imstande sind, „''ein Ambiente, einen Kontext zu erzeugen; eine'' ''Welt, in der die Zuschauer mitspielen, diese Welt zu erzeugen.''“<ref>ebd., S. 95.</ref><br />
: '' „Wir haben es so gemacht, dass der Zuschauer sich eine Welt aufbaut, in dem das geschieht, was er gehofft hat, dass es geschehen würde. Das hat mich zu dem Satz gebracht: Der Hörer, nicht der Sprecher bestimmt die Bedeutung einer Aussage.“''<ref>ebd., S. 98.</ref> <br />
<br />
: '' „Das Wesentliche des Zauberns liegt darin, den Zuschauer zu überreden, eine Welt für sich zu konstruieren, in der Wunderbares passiert. So ist sozusagen meine frühe Assoziation mit der Zauberei direkt mit Konstruktivismus verknüpft.“ ''<ref>ebd., S. 99.</ref><br />
<br />
=== Studienzeit - Grundlagen und Arbeitsweise === <br />
Er studiert Physik an der Technischen Hochschule Wien. In dieser Zeit knüpft er Kontakt zum „Wiener Kreis“, in dem Philosophen, Logiker, Mathematiker, Historiker und andere eine eigene philosophische Haltung begründen. Hier erlebt er eine Zusammenarbeit von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fachrichtungen, die sich gegenseitig in ihrem Denken befruchten. Dieser anregende und kreative Austausch beeindruckt ihn so, dass er ihn in seiner weiteren Laufbahn als Forscher stets sucht und verwirklicht (siehe Macy-Konferenzen und Biological Computer Lab).<br />
<br />
=== Erste Forschungstätigkeit - Elektroakustik === <br />
Er wird Direktor des Forschungslabors der GEMA (Gesellschaft für elektroakustische und mechanische Apparate mbH, dem Pionierunternehmen auf dem Gebiet der Radar- und Funkmesstechnik). Hier forscht er bereits zum Thema Interaktion, mit dem er sich Zeit seines Lebens immer wieder in höchst unterschiedlichen Aspekten beschäftigt.<br />
Spätestens als 1939 der zweite Weltkrieg beginnt, wird alle Energie auf sogenannte kriegswichtige Themen ausgerichtet. Dazu sagt Heinz von Foerster: <br />
: '' „Die Firma GEMA war ja ein Rüstungsbetrieb; Kriegsindustrie. Die haben die Radare für die Deutschen gebaut. Und ich habe dort im Forschungslabor an Sachen geforscht, die einfach unerforschbar waren. Das habe ich zusammen mit den Leuten gemacht, die gesagt haben: ‚Wir müssen das boykottieren‘. Also haben wir das boykottiert, indem wir immer Forschungsprogramme gewählt haben, die eigentlich undurchführbar waren. Und da konnte ich eben weiterarbeiten, denn die Projekte haben sehr vielversprechend ausgeschaut. Wir haben sie auch so formuliert, dass sie vielversprechend ausgeschaut haben.<ref>ebd., S. 132.</ref>“<br />
Die Firma wird nach dem Beginn des Bombenkrieges von Berlin nach Schlesien (heute Polen) verlegt.<br />
<br />
=== Kriegsende, Neuanfang in Wien === <br />
Kurz vor Kriegsende flieht seine Frau Mai von Foerster mit den drei Söhnen mit einem der letzten Züge aus Schlesien zu ihrer Mutter in die Nähe von Heidelberg. HvF bleibt zunächst, später schlägt er sich auf höchst abenteuerlichen Wegen durch bis zu seiner Familie. Von dort geht es mit seiner Frau und 2 von 3 Söhnen weiter in die Gegend von Kufstein / Österreich, der 3. Sohn Johannes bleibt vorübergehend bei seiner Großmutter<ref>ebd., S. 129 ff.</ref>. <br />
<br />
Um seine Mutter und die Geschwister wieder zu sehen, geht er nach Wien, was zu dieser Zeit eine sehr mühselige Reise in eine besetzte und gefährliche Stadt ist. Dort bekommt er beim neu gegründeten Amerikanischen Radiosender „Rot-Weiss-Rot“ als Mitglied Nummer 7 eine Anstellung als Techniker und Rundfunkjournalist und wird zum Kulturchef des Senders<ref>ebd., S. 146 ff.</ref> Gleichzeitig hat er (verbotenerweise) eine 2 Arbeit, er baut die Telefonfirma Schrack-Ericcson wieder auf, die von den Besatzern geplündert wurde.<br />
<br />
Nachdem seine Frau mit den beiden Söhnen in Wien angekommen sind, versuchten sie ihr drittes Kind aus Deutschland einreisen zu lassen. Da es auf legalem Wege nicht möglich ist, holen sie es schließlich nach 4 Jahren Trennung illegal über die geschlossene Grenze<ref>ebd., S. 150 f.</ref> <br />
: '' „Zu fünft haben wir bei Tante Haserl, einer älteren Schwester meines Vaters, in einer winzigen Wohnung, in einem winzigen Kabinett gewohnt.“''<ref>ebd., S. 151.</ref><br />
<br />
=== Buchveröffentlichung: „Das Gedächtnis – eine quantenphysikalische Untersuchung“=== <br />
Neben seiner Arbeit verfasst er in Nachtschichten sein erstes Buch, darin vertritt er die später verworfene Theorie, dass Elementarbewusstseinsinhalte auf Molekülen gespeichert werden, deren Zerfall das Phänomen des Vergessens erklären könne<ref>ebd., S. 160.</ref>. Er verknüpft dabei Quantenphysik mit Physiologie. <br />
: '' „In'' ''meinem Vorwort habe ich geschrieben: ‚Die Zeit scheint gekommen, wo die Wege geistigen Forschens heterogenster Gebiete zu ihrem gemeinsamen Ursprung zusammenfinden.‘ Da bin ich sehr stolz, dass ich in einem kleinen Paragraphen, der meinem'' Gedächtnis ''vorangeht, sozusagen über die Vorteile der Interdisziplinarität geschrieben habe; schon im Jahre 1948."<ref>ebd., S. 152.</ref>“''<br />
<br />
=== Übersiedlung in die USA - Vorträge und Anstellung im Mikrowellenlabor === <br />
Sein Buch „Das Gedächtnis“ erregt Aufmerksamkeit beim Neurophysiologen Warren McCulloch, Direktor der Neuropsychiatrie der Universität Illinois in Chicago, der ihn 1949 zur Vorstellung seiner Theorie über Gedächtnis und Vergessen an seine Universität einlädt.<br />
<br />
Er bekommt daraufhin eine Einladung zur 6. [[Macy-Konferenzen|Macy-Konferenz]], auf der er über seine Thesen zum Gedächtnis spricht und eine grossen Anzahl Forscher aus verschiedensten Fachgebieten kennenlernt. Siehe Kapitel 2.7.<br />
<br />
''„McCulloch schickte ihn als Physiker an das physikalische Departement der Universität von Illinois in Champaign-Urbana, wo im ‚Department of Electrical Engineering‘ der Direktorposten des Mikrowellenlabors verwaist war. HvF bekam die Stelle und mit vielen Schwierigkeiten die Immigrationsbewilligung für sich sowie wenig später auch für seine Frau Mai und die drei Söhne.“ ''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 45.</ref><br />
<br />
In diesem Labor mit Namen Electron Tube Research Lab (Elektroröhrenlaboratorium) befasst man sich mit der drahtlosen Telegraphie mittels Mikrowellen und anderen Themen. HvF spezialisiert sich auf die Modulation von Licht mittels Mikrowellen zur Nachrichtenübermittlung<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019): ''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). ISBN 978-3-89670-557-0. S. 201 ff.</ref>. <br />
Zu den erfolgreichsten Projekten dieses Labors gehört auch eine Stoppuhr, mit der man ein Millionstel einer Millionstel Sekunde messen kann, zu dem Zeitpunkt die schnellste der Welt.<br />
<br />
=== Die [[Macy-Konferenzen]] === <br />
Ein Meilenstein im Werdegang von HvF ist die Einladung zur 6. Macy-Konferenz vom 24. bis 25. März 1949 in New York. Thema der Konferenz ist "Circular Causal and Feedback Mechanisms in Biological and Social Systems". Dieses jährlich stattfindende Treffen hochkarätiger Wissenschaftler zeichnet sich durch eine sehr lebendige und inspirierende Diskussionskultur und einer Vernetzung über Wissensgebiete hinweg aus. Vertreten sind Fachgebiete wie Mathematik, Informatik (John von Neumann, ein Vater der Computertechnologie), Anthropologie (Margaret Mead und [[Gregory Bateson]]), Kybernetik ([[Norbert Wiener]]), Physiologie, Psychologie, Psychoanalyse, Psychiatrie, Elektrotechnik, Medizin, Zoologie, Soziologie, Ethnologie, Anatomie, Neurologie, Verhaltensforschung, Mathematik, Radiobiologie, Biophysik, Philosophie, Ökonomie u. a.. Er hält dort seinen Vortrag über Gedächtnis und Vergessen. Er wird zum Herausgeber der Publikation der Konferenzakten bestimmt (angeblich, um seine schlechten Englischkenntnisse zu verbessern)<ref>American Society for Cybernetics, Washington USA, 2021. https://asc-cybernetics.org/foundations/history/MacySummary.htm Zugriff 3.12.2021</ref>. Diese Rolle behält er bis zur letzten Macy-Konferenz. <br />
<br />
: ''„In sehr kurzer Zeit war er von der äußersten Peripherie (dem Nachkriegs-Wien) ins Zentrum einer der bedeutendsten Wissenschafts-Bewegungen des 20. Jahrhunderts geraten.<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11 (1): 9-30. https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref>''“ <br />
<br />
Von 1949 bis 1953 nimmt er jedes Jahr an den Macy-Konferenzen teil. Dazu schreibt er: <br />
: „''Mein Geist, mein Spirit, meine Erfahrungen, meine Fähigkeiten und meine Technologie waren da, um diese Röhren zu bauen, aber mein Herz und'' ''meine Seele waren bei den Kybernetikern, den Macy-Leuten.“''<ref>ebd., S. 206.</ref><br />
<br />
=== Freisemester, Biologiestudium === <br />
1956 / 57 nutzt er zwei ihn zustehende Freisemester (sabaticals), um Teilgebiete der Biologie zu studieren. Das erste Semester verbringt er bei bei Warren McCulloch am berühmten Massachusetts Institute of Technologies (MIT) im Research Laboratory of Electronics. Thema dort ist zu dem Zeitpunkt künstliche Intelligenz. Das zweite Semester studiert er auf Empfehlung von [[Norbert Wiener]] bei Arturo Rosenblueth, einem Neurophysiologen, der sich zu der Zeit in Mexico City mit Kardiologie befasst. Foerster setzt sich dort mit kybernetischer Biologie auseinander, speziell mit der Arbeitsweise von Muskelfasern. <br />
: „''Während dieses Aufenthalts verfasste er unter anderem ein - dann unveröffentlicht gebliebenes - Manuskript, dessen Inhalt die Kybernetik der Muskelaktivität betraf.“''<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. ''Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften'' 11 (1): 9-30. <br />
<br />
https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref><br />
<br />
=== Biological Computer Lab, BCL === <br />
1958 gründet er sein eigenes Labor, das Biological Computer Lab, BCL. <br />
: „''In einer interdisziplinären Atmosphäre des Vertrauens wurden so technische Projekte verwirklicht, konnten aber auch grundsätzliche Fragen und Erklärungsmodelle diskutiert werden. Schwerpunkte dieser Diskussionen waren das Modell der Zirkularität, die Selbstorganisations- und Chaostheorie, die Funktionsweise der Wahrnehmung und neuronaler Netzwerke und selbstverständlich ganz grundsätzliche erkenntnistheoretische Fragen. HvF und sein BCL entwickelten sich so zu einem Zentrum, das mit den Argumentationen der führenden KybernetikerInnen vertraut war und zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Formulierung und Entwicklung der Kybernetik leistete.<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 49.</ref>“ '' <br />
<br />
Als Professor und Direktor der BCL ist er nun mit Forschung und Lehre betraut. Typisch für ihn ist sein Verständnis von Lehren.<br />
: „''Unterrichten nicht als einseitiges Dozieren von oben herab, sondern als ein gemeinsames Forschen, zu dem alle Beteiligten mit ihren Kompetenzen ihren Beitrag leisten. In den 68er-Jahren hatten seine Veranstaltungen großen Zulauf, weil er die StudentInnen und ihre Anliegen ernst nahm.<ref>ebd., S. 48.</ref>“ ''<br />
<br />
Die Bedeutung dieses Labors und die Reichweite seiner Wirkung wird vom Wissenschaftshistoriker Albert Müller so eingeschätzt: <br />
:„''Und ebenso motiviert mich der Umstand, daß das BCL in der Literatur zur Geschichte der Kybernetik, der Systemtheorie, der nun wieder neu debattierten Bionik, des parallelen Rechnens, der Neurophysiologie, der Bio-Logik, der künstlichen Intelligenz, des symbolischen Rechnens oder des Konstruktivismus als Denktradition - man könnte noch weitere Wissensgebiete von gegenwärtig großem Renommee aufzählen - nur sehr selten erwähnt wird, obwohl Mitarbeiter dieser Einrichtung, des BCL, als maßgeblich für die jeweilige Domäne in der Literatur zu diesen Wissensgebieten erscheinen. Ist das eine spezielle Vergeßlichkeit der history of science (die Vergeßlichkeit der science selbst ist ja weithin bekannt)?<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11 (1): 9-30. https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref>“ '' <br />
<br />
Die Wechselwirkung dieser gegenseitigen Beeinflussung der Forscher beschreibt Albert Müller in einem Beispiel: <br />
: „''[[Humberto Maturana]] kam also an das BCL und erarbeitete dort unter anderem einen wichtigen Artikel auf dem Weg zu seiner - heute weltweit bekannten - Theorie der [[Autopoiese (Autopoiesis)]]. Aber auch die erste Ausformulierung der nun auf den Begriff gebrachten Theorie der Autopoiesis erschien zuerst als interne Publikation des BCL. Schüler und Mitarbeiter Maturanas entwickelten ebenfalls Beziehungen zum BCL, und zentrale erste Publikationen - zum Beispiel jene von Francisco Varela wurden als BCL-Reports herausgegeben... Wahrscheinlich war es die Herausforderung durch den Impuls der chilenischen Gruppe, die es Heinz von Foerster ermöglichte, die Entwicklung seiner radikalen Version einer Kybernetik zweiter Ordnung (second order cybernetics) voranzutreiben. Dies soll nicht heißen, daß sich Foersters Konzepte aus denen Maturanas ableiten ließen, oder umgekehrt. Die Parallelen und die wechselseitige Stimulierung wurde auf einer Konferenz zu Cognitive Studies and Artificial Intelligence Research 1969 sichtbar. Foersters Beitrag kann als direkte Antwort auf jenen von Maturana gelesen werden - und vice versa<ref>ebd.</ref>.“ '' <br />
<br />
: „''Mehrere wichtige Konferenzen kamen im unmittelbaren Umfeld des BCL zustande. Thematisch kreisten sie um Probleme der Systemtheorie und speziell um den Bereich selbstorganisierender Systeme. Noch heute sind die Konferenzbände wie Self-Organizing Systems oder Principles of Self-Organization grundlegend für diesen Forschungsbereich.<ref>ebd.</ref>“ '' <br />
<br />
Dazu gehört das Erforschen vom Parallelrechnen der Nervennetze von Lebewesen im Gegensatz zu den seriellen Rechenoperationen in Computern (wie sie John von Neumann zu der Zeit baut). Ein "biologischer Computer" namens Numarete wird entwickelt, der die Funktionsweise des Auges von Lebewesen als Vorbild hat (bei dem gleichzeitig eine grosse Menge an Informationen berechnet werden im Zusammenspiel von Muskel-, Sinnes- und neuronalen Zellen). Ein weiterer Schritt auf diesem Gebiet ist der Bau eines Computers zur Analyse akustischer Signale.<br />
Bionik wird als Alternative zur 1956 formulierten Artificial Intelligence verstanden, die sich aber letztendlich ihr gegenüber durchsetzt.<br />
<br />
Das Biological Computer Lab wird 1976 geschlossen, weil die Finanzierung nicht mehr gewährleistet war. Mit seiner unkonventionellen Art des Denkens hat sich HvF im Universitätsbereich nicht nur Freunde gemacht. Er selbst sagt dazu: <br />
:''„Ich glaube, das ist meine Schuld gewesen. Ich glaube, ich habe die die Politik der Wissenschaft zu wenig verstanden. (...) Ich habe nicht daran gedacht: ‚Wie verkauft man das? Was muss man machen, dass es an die Öffentlichkeit kommt, dass es in die Zeitungen kommt, dass es die Institute wissen, die die Gelder hergeben?‘ Also in Public Relations habe ich völlig versagt.“''<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019):''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). <nowiki>ISBN 978-3-89670-557-0</nowiki>. 1. Auflage: 2002. S. 271.</ref>"<br />
Da sich das abgezeichnet hatte, lässt sich HvF zum 65. Geburtstag emeritieren.<br />
<br />
== Ausgewählte Aussagen ==<br />
=== Kybernetik, Zirkularität ===<br />
: „'' Am besten sprechen wir über das Steuern eines Bootes, da der Begriff Kybernetik, den Norbert Wiener prägte und im Jahre 1948 zum Titel seines Buches machte, auf das griechische Wort für Steuermann (kybernetes) zurückgeht, [...] Was macht ein Steuermann, der sein Schiff sicher in den Hafen hineinmanövrieren möchte? Er absolviert kein ein für allemal festgelegtes Programm, sondern er variiert dies permanent. Wenn das Boot vom Kurs und seinem Ziel nach links abweicht, weil der Wind so stark bläst, schätzt er diese Kursabweichung ein, so daß er weiterhin auf den Hafen zufährt. Er versucht, den Fehler zu korrigieren. Und vielleicht steuert er etwas zu stark gegen. Das Ergebnis ist womöglich eine Kursabweichung nach rechts – und die Notwendigkeit, erneut gegenzusteuern. In jedem Moment wird die Abweichung in Relation zu dem ins Auge gefassten Ziel, dem Telos, das zum Beispiel ein Hafen sein kann, korrigiert. Das Betätigen des Steuers, eine Ursache, erzeugt also eine Wirkung; das ist die Kurskorrektur. Und diese Wirkung wird wieder zu einer Ursache, denn man stellt eine neue Kursabweichung fest. Und diese erzeugt ihrerseits eine Wirkung, nämlich wiederum eine Kurskorrektur. Solche Steuerungsvorgänge sind ein wunderbares Beispiel zirkulärer Kausalität.''“<ref> ''' Foerster, Heinz von; Pörksen, Bernhard (2006) ''': Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. 7. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag. ISBN 13-3-89670-214-0. 1. Auflage: 1998. S. 107.</ref><br />
HvF beschreibt in seiner bekannt einfachen, aber sehr nachvollziehbaren Ausdrucksweise die [[Feedback-Control-Theorie]], die im Fachgebiet Kinästhetik eine zentrale Rolle beim Verständnis der Bewegungssteuerung bzw. allgemein der Verhaltenssteuerung von Lebewesen spielt.<br />
<br />
=== Hermeneutik des Hörens ===<br />
: „'' Der Hörer, nicht der Sprecher, bestimmt die Bedeutung einer Aussage. Gewöhnlich glaubt man, daß der Sprecher festlegt, was ein Satz bedeutet, und der Hörer verstehen muß, was der Sprecher gesagt hat. Aber das ist ein fundamentaler Irrtum. Der Hörer ist es, der die merkwürdigen Laute, die ich oder ein anderer mit Hilfe der eigenen Stimmlippen hervorrufen, interpretiert und ihnen einen bzw. seinen Sinn gibt. ''“<ref> ' ebd., S. 100.</ref><br />
<br />
=== Der Schüler als nichttriviale Maschine ===<br />
: „''Das Schreckliche mit den Kindern ist, so glauben viele, daß sie sich nicht auf eine voraussagbare Weise gebärden. Sie agieren noch nicht wie triviale Maschinen, die auf einen bestimmten Input immer ein und denselben Output erzeugen.''“<ref> ' ebd., S. 65.</ref><br />
Zur Erläuterung berichtet HvF von seinem Geschichtslehrer im Gymnasium, der auf die Frage „Was waren die Griechen für ein Volk?“ keine andere Antwort als „Ein heiteres Volk.“ akzeptierte. So schalte man Unberechenbarkeit und Kreativität aus.<br />
: „''Der Großteil unserer institutionalisierten Erziehungsbemühungen hat zum Ziel, unsere Kinder zu trivialisieren.''“<ref> ' ebd., S. 65.</ref><br />
<br />
=== Ethischer Imperativ === <br />
: „''Ich habe einmal gesagt: ‚Handle stets so, daß die Anzahl der Möglichkeiten wächst.‘ Das ist mein ethischer Imperativ [...] Gemeint ist, daß man die Aktivitäten eines anderen nicht einschränken soll, sondern daß es gut wäre, sich auf eine Weise zu verhalten, die die Freiheit des anderen und der Gemeinschaft vergrößert. Denn je größer die Freiheit ist, desto größer sind die Wahlmöglichkeiten und desto eher ist auch die Chance gegeben, für die eigenen Handlungen Verantwortung zu übernehmen. Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Nur wer frei ist – und immer wieder anders agieren könnte –, kann verantwortlich handeln.''“<ref> ' ebd., S. 36.</ref><br />
<br />
==Bedeutung für Kinästhetik==<br />
Zu diesem Thema hat eine Diskussion begonnen, bei der weiterhin Mitwirken erwünscht ist. Siehe Diskussionsseite [[Diskussion: Heinz von Foerster]] dieses Artikels.<br />
<br />
==Weiterführende Literatur und Medien==<br />
'''Maria Pruckner:''' 90 Jahre Heinz von Foerster | Relaunch 2021. <br />
https://www.youtube.com/watch?v=-OPdH8Pk6x4 (Zugriff: 07.02.2022).<br />
<br />
'''Nikola Bock und Jutta Schubert:''' Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners - Tanz mit der Welt. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=RNdTrdi5nG4 (Zugriff: 27.10.2021).<br />
<br />
'''Lucas Pawlik:''' Einführung in die Kybern-ethik Heinz von Foersters Teil I. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=PeE9eAoT6x8 (Zugriff: 09.12.2021).<br />
<br />
'''Lucas Pawlik:''' Einführung in die Kybern-ethik Heinz von Foersters Teil II. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=y9oRamZyq28<br />
(Zugriff: 09.12.2021).<br />
<br />
''' Universität Wien, Artikel aus der Zeitschrift für Geschichtswissenschaften: ''' Im Goldenen Hecht. Über Konstruktivismus und Geschichte. Ein Gespräch zwischen Heinz von Foerster, Albert Müller und Karl H. Müller <br><br />
https://www.univie.ac.at/heinz-von-foerster-archive/etexte/int.pdf (Zugriff: 11.08.2021).<br />
<br />
==Einzelnachweise==<br />
<br />
<references /></div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Fehler&diff=4985Fehler2024-03-11T10:43:19Z<p>Sabine Kaserer: /* Fehler in „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Dagmar Panzer, Sabine Kaserer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema „Fehler“. Es geht vor allem um das Verständnis des Fehlers als notwendiger Bestandteil der Selbstregulation und somit des Lernens. Es geht nicht um die Frage "richtig oder falsch", sondern um das Fehler-Machen als bedeutsamen Unterschied für Bewegungs- und Verhaltensanpassung. <br>Die ersten Zitate stammen aus dem Buch „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“. Weitere Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“.<br />
<br />
== Fehler in „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“. Das erste Zitat ist in das fünfte Kapitel „Lernen: Allgemeine Blickpunkte“ eingebettet. <br />
Das Zitat ist der Text der Infobox „Eine Definition des Lernens“ des sechsten Unterkapitels „Leben heißt Lernen“.<br />
<br />
: ''„Der Fehler<br>Bei vielen Lernprozessen des gesellschaftlichen Lebens wird durch festgeschriebene Regelwerke vorgegeben, was richtig und falsch ist. Fehler haben eine negative Bedeutung und beim Lernen scheint es darum zu gehen, dass man lernt, alles richtig bzw. keine Fehler zu machen.<br>Aus kybernetischer Sicht hingegen funktioniert die Verhaltenssteuerung eines Lebewesens aufgrund einer fortlaufenden Fehlerkorrektur. Diese ‚Fehler‘ sind ein unabdingbarer Bestandteil der Steuerung. Somit könnte man sagen: Wir können nur dadurch lernen, dass wir fortlaufend Fehler machen.<br>In ähnlicher Weise ist es oft ein wichtiger Anreiz zum Lernen, dass wir einen ‚Fehler‘ wahrnehmen, d. h. den Unterschied zwischen dem beabsichtigten Ziel und dem erreichten Ergebnis.<br>Auf dem Lernweg selbst sind einerseits die Einsicht, wo etwas nicht wie erwünscht klappt, und andererseits die Freude über entsprechende Fortschritte wichtige Triebfedern des Lernens.“''<br />
<br />
Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.), Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz, 2020, ISBN 978-3-903180-01-7, S. 58<br />
<br />
Das zweite Zitat ist in das vierte Kapitel „Theoretische Grundlagen von Kinaesthetics“ eingebettet. <br />
Das Zitat ist der Text der Infobox „Wir können nicht stehen“ des dritten Unterkapitels „Zirkuläre Selbstregulationsprozesse als Grundlage des menschlichen Verhaltens“.<br />
<br />
: ''"Wir können nicht stehen<br>Die Funktionsweise unserer Bewegungssteuerung, und damit der Feedback-Kontroll- Theorie, lässt sich ausgezeichnet in einer Bewegungserfahrung nachvollziehen: Stehen Sie auf einem Bein und schließen Sie die Augen. Achten Sie nun darauf, wie Sie auf der Ebene der Bewegung diese Aktivität zustande bringen. Sie werden feststellen, dass Sie fortlaufend Anpassungsbewegungen machen und die ‚Fehler‘ und Unsicherheiten korrigieren, die Sie selbst produzieren. Man könnte folglich sagen, dass wir gar nicht stehen können, sondern nur fortlaufend verhindern, dass wir umfallen."''<br />
<br />
Quelle: ebd., S.44<br />
<br />
Das dritte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Lernen: Allgemeine Blickpunkte“ eingebettet. <br />
Das Zitat ist Teil des sechsten Unterkapitels „Leben heißt Lernen„ unter der Überschrift „Eine Definition des Lernens“.<br />
: ''"Natürlich baut unser konkretes Verhalten, d. h. jede Ausführung einer Aktivität, auf einem individuellen Muster auf. Dieses ist aus der Reihe der vergangenen Ausführungen entstanden und beeinflusst die Art und Weise der Fehlerkorrektur der nächsten Ausführung derselben Aktivität. Die damit verbundenen ständigen Lernprozesse können ein Muster verfestigen oder erweitern, aber auch einschränken oder abbauen." <br />
<br />
Quelle: ebd., S.58<br />
<br />
== Fehler in „Kybernetik und Kinästhetik“==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“. Das erste Zitat ist in das dritte Kapitel „Der Kern: Feedback und [[Zirkularität]]“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel „Selbstregulation durch Feedback “ und „Wie funktioniert ein Heizsystem?“ beleuchten die Funktionsweise der Selbstregulation künstlicher und natürlicher Systeme. Hier geht um das grundlegende Verständnis von Selbstregulation mit der Unterscheidung von linearen und [[Zirkuläre Wirkungszusammenhänge|zirkulären Wirkungszusammenhängen]]. Das Zitat ist der Text des Unterkapitels „ 3.3. Ist-Wert, Soll-Wert und Rückkoppelung“. <br />
: ''"Damit ist der Kreislauf geschlossen und man kann relativ leicht nachvollziehen, was zirkuläre Logik im Zusammenhang mit Selbstregulations-Prozessen bedeutet: <br />
: ''Wenn die Heizung läuft, wird die Raumtemperatur steigen. Dadurch wird das Thermometer über 20 °C anzeigen. Der Rechner wird diesen Unterschied zwischen dem Soll-Wert (20 °C) und dem Ist-Wert (aktuelle Raumtemperatur) bei einem bestimmten Wert feststellen und dem Heizkessel den ‚off‘-Befehl geben. Sinkt die Raumtemperatur bzw. das Thermometer in der Folge unter 20 °C, wird der Rechner den ‚Fehler‘ merken und der Heizung die Information ‚on‘ zukommen lassen. So beeinflussen sich im Kreis die drei Elemente durch ihre Rückkoppelung (Feedback). Der Regulationsprozess des Systems besteht in fortgesetzten Fehlerkorrekturen, im Ausgleichen von systemrelevanten Unterschieden. ''<br />
: ''In unserem Beispiel pendelt die tatsächliche Raumtemperatur, der Ist-Wert, folglich um den Soll-Wert. Das Ideal von 20 °C wird gar nicht gehalten, sondern von den Ist-Werten nur vorübergehend erreicht. Wenn man den Rechner auf sehr feine Unterschiede einstellen würde, käme es nämlich in unserem System zu einem ständigen, unsinnigen An- und Abschalten des Heizkessels." <br />
[[Datei:Der zirkuläre Rückkoppelungsprozess eines Heizsystems.jpeg|500px|thumb|zentriert|]]<br />
<br />
Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020): Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 21-22<br />
<br />
Das zweite Zitat ist in das sechste Kapitel „Kinästhetik ist praktische Kybernetik“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Frage der konkreten Verbindung von Kybernetik und Kinästhetik. Das Zitat ist Teil des Textes des zweiten Unterkapitels „Selbstregulation und persönliches Lernen“ unter der Überschrift "6.2.1. Wie reguliere ich mich?" .<br />
: ''"[...]Die Kybernetik geht davon aus, dass diese Selbstregulation auf ununterbrochenen, sehr unmittelbaren zirkulären Prozessen zwischen Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem beruht. Diese Prozesse werden im Modell als kybernetische Regelkreise oder Feedback-Schleifen dargestellt (vgl. Infobox S. 59). Wie im vierten Kapitel erwähnt, versteht die Kinästhetik Positionen wie Liegen, Sitzen oder Stehen, die von außen betrachtet nach statischen, ‚bewegungslosen‘ Zuständen aussehen, als aktive Bewegungen. Eine entsprechende Anleitung zu einer Bewegungserfahrung im Stehen findet sich in der Infobox auf Seite 35. Vielleicht ist im Stehen leichter als im Sitzen erfahrbar, dass es unmöglich ist, bewegungs- los in einer Position zu verweilen. Aber tatsächlich sind wir nur dazu imstande, fortlaufend mit vielen kleinen Bewegungen zu verhindern, dass wir umfallen (oder im Liegen einen Dekubitus entwickeln). Bei jeder Aktivität findet also durch Selbstregulation ununterbrochen ein Ausgleich von ‚Fehlern‘ statt, die wir selbst produzieren – und ohne diese ständigen Korrekturen und Anpassungen an die Absicht ist keine zielgerichtete Bewegung möglich. Bei kleinen Kindern, die dabei sind, stehen zu lernen, lässt sich gut beobachten, wie sie in eine tiefere Position plumpsen, wenn eine rechtzeitige ‚Korrektur‘ misslingt. ''<br />
[[Datei:Feedback Kontroll Theorie.png|mini|rechts|Regelkreis der Bewegungs- bzw. Verhaltensregulation]]<br />
: ''Wegen ihrer konstanten Unmittelbarkeit, ihrer ‚Geschwindigkeit‘, sind solche Regelkreise oder Feedback-Schleifen nur als Ganzes erfahrbar. Die beteiligten Systeme (Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem) sind isoliert nicht erfahrbar. Wie wichtig aber dieses ununterbrochene Zusammenspiel bzw. diese Selbstregulation ist, kann einem z. B. unter starkem Alkoholeinfluss auffallen. In diesem Zustand passiert es leicht, dass man ‚Fehler‘ der Bewegung so verzögert wahrnimmt, dass das Nervensystem die Abweichung nicht mehr rechtzeitig berechnen, und damit keine Korrekturen veranlassen kann. Dadurch kommt man zumindest ins Schwanken oder landet gar im Straßengraben ... Für die Effekte solcher zeitlichen Verzögerungen des sensorischen Feedbacks interessierte sich insbesondere der Verhaltenskyber- netiker K. U. Smith (vgl. Kapitel 4.3.4); darauf dass Phänomene wie Ataxie und Intentionstremor als Störungen von Regelkreisen erklärt werden können, hatte bereits Norbert Wiener verwiesen (vgl. Infobox S. 26)."''<br />
Quelle: ebd., S. 59<br />
<br />
<br />
[[Kategorie: Kybernetische Grundlagen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Diskussion:Entwicklungsbewegung&diff=4984Diskussion:Entwicklungsbewegung2024-03-11T10:12:08Z<p>Sabine Kaserer: /* Entwicklungsbewegung in „Lebensqualität 02/2013 — Optimal Handling auf der Neonatologie“ */</p>
<hr />
<div>{{Diskussionsseiten|Entwicklungsbewegung}}<br />
{{Infobox|Diskussion eröffnet|N. N./Joachim Reif}}<br />
<br />
{| class="wikitable"<br />
|-<br />
! Anregung durch TrainerInnen<br />
|-<br />
| Diese Diskussion entsteht auf Anfrage einer Gruppe von Schweizer Kinaesthetics-TrainerInnen, die sich auf der Suche nach Quellen an das Redaktionsteam gewandt und auf das Fehlen entsprechender Einträge hingewiesen haben. Wir bedanken uns für das Interesse und hoffen auf einen regen Austausch. Vorab hat das Redaktionsteam sich auf die Suche nach aktuellen bestehenden Quellen und diese hier zugänglich gemacht. Für weitere Quellen, Hinweise und Gedanken sind wir dankbar.<br />
|}<br />
==Entwicklungsbewegung in Kinästhetik-Bulletin von 1990==<br />
--[[Benutzer:Joachim Reif|Joachim Reif]] ([[Benutzer Diskussion:Joachim Reif|Diskussion]]) 20:23, 23. Jul. 2020 (CEST)<br />
<br />
Das Folgende Zitat findet sich im 16. Kinästhetik-Bulletin. Es ist eingebettet in das 4. Kapitel „Grundprinzipien“. Dieses stellt die früheste zusammenhängende Beschreibung der späteren Konzepte dar. Im Kapitel 4.5., „Funktionen“ finden wir als viertes Unterkapitel „4.5.4 Entwicklungsbewegung“.<br />
<br />
: '''4.5.4. Entwicklunqsbewegung'''<br />
: ''Prof. Dr. med. E. Blechschmidt<ref>'''Blechschmidt, Erich (2008):'''Wie beginnt das menschliche Leben. Vom Ei zum Embryo. 8. Auflage. Stein am Rhein: Christiana Verlag. ISBN 978.3-7171-0653-1.</ref>, ein bedeutender Wissenschafter und Forscher im Gebiet der Humanembryologie, befasste sich u.a. mit dem Studium der Bewegungen, welche der menschlichen Entwicklung zugrunde liegen. So wurde nach langjähriger Forschung an Embryonen festgestellt, dass Leistungen des erwachsenen Menschen durch frühembryonale Elementarfunktionen des Organismus vorbereitet werden.<br />
<br />
: ''Die Zellteilung ist die Urbewegung für die menschliche Entwicklung. Eine Zelle teilt sich, d.h. die Zelle wächst und dehnt sich, bis die Aussenwand keine Dehnung mehr zulässt. Dann teilt sie sich. Die Bewegung dieser Teilung verläuft in einer Richtung. Mit zunehmender Zellteilung beginnen zwischen den Zellen Kräfte wirksam zu werden (Zug, Druck, Reibung, Scherung, usw.), welche Bewegungen in vielen verschiedenen Richtungen auslösen. Bewegungsrichtungen und Kräfteverhältnisse sind bestimmend für die sich entwickelnde Form und Funktion des Organismus.<ref>'''Blechschmidt, Erich (2008):'''Wie beginnt das menschliche Leben. Vom Ei zum Embryo. 8. Auflage. Stein am Rhein: Christiana Verlag. ISBN 978.3-7171-0653-1. S. 11 ff</ref><br />
<br />
: ''Es ist ein Differenzierungsprozess, verbunden mit einer zunehmenden Komplexität. Die Art der Differenzierung hängt dabei von den obgenannten Kräften, den Bewegungsrichtungen und der Lage, Form und Struktur der Organe und den entsprechenden Stoffwechselfeldern ab. Diese räumlich verschiedenen Differenzierungsprozesse sind unmittelbarer Ausdruck von Kräften im physikalischen Sinne. Z.B.: In Feldern, wo Zellen hart gegeneinander gedrückt werden, bilden sich Knochen usw. Mit anderen Worten, Wachstum und Entwicklung hat ganz entscheidend mit Bewegung zwischen verschiedenen Teilen zu tun.<br />
<br />
: ''Diese '''Entwicklungsbewegung'''en bleiben eine Art von Grundmuster im menschlichen Leben überhaupt.“<br />
<br />
Quelle: '''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990 Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Knästhetik.Ohne ISBN. S. 26 f.<br />
<br />
==Entwicklungsbewegung in „Kinaesthetics Infant Handling“==<br />
<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinaesthetics Infant Handling“ von Lenny Maietta (1950-2018) und Frank Hatch (*1940), in dem das Kind und seine Entwicklung ins Zentrum gestellt wird. Sie erscheinen in den Unterkapiteln „3.5.1.1. Metabolische Felder“ und „3.5.1.2. Bewegung und Wachstum“ als Teil des Kapitels „Theorie der Gesundheitsentwicklung“<br />
<br />
: '''''„Metabolische Felder'''<br />
: ''Blechschmidt studierte die Auswirkungen der Zellteilung auf die Entwicklung des Embryos. Er fand heraus, dass sich Zellen in verschiedenen biomechanischen, metabolischen Feldern entwickeln und differenzieren. Beispielsweise werden die Knochen des Embryos in Feldern gebildet, in denen Flüssigkeiten unter großem Druck aus dem Gewebe der umgebenden Zellen herausgedrückt werden. Andere Zellen in Feldern, in denen Zugkräfte vorherrschen, werden zu Muskelgewebe.<br />
<br />
: ''Blechschmidts Studien zeigen, dass die Bewegungsqualitäten bei der Entwicklung jeder Gewebeart die Aufgaben widerspiegeln, die das Gewebe später einnehmen wird. Beispiel Knochen. Sie sorgen nach der Entwicklung des Fetus sowie im weiteren Verlauf des Lebens für die Übertragung von Gewicht auf ein Stützgewebe (wird als Druck durch die Knochen bewegt). Die Knochen entwickeln sich nur im physiologischen Sinn weiter, wenn sie unter den Bedingungen arbeiten, unter denen sie ursprünglich gebildet wurden. Das bedeutet: Fehlt der notwendige Druck aufgrund mangelnder Aktivität, verlieren sie ihre strukturelle Integrität. Gleiches gilt für die Muskulatur: Sie bleibt bei Bewegungen physiologisch aktiv, atrophiert aber bei mangelnder Bewegung.<br />
<br />
: '''''Bewegung und Wachstum'''<br />
: ''Ab der 12. Woche verfügt der Fetus bereits über alle anatomisch-physiologischen Qualitäten des Neugeborenen. Dr. Blechschmidt beschäftigte sich mit der Entwicklung von motorischen, sensorischen und physiologischen Strukturen und Prozessen nach der Ausbildung des Feten. Er entdeckte, dass kontinuierliches Wachstum und die Entwicklung sämtlicher anatomischer Strukturen sowie der sensorischen, motorischen und inneren Prozesse, die für das Leben außerhalb des Uterus erforderlich sind, die ständige Bewegung des ungeborenen Kindes voraus setzt."<br />
<br />
Quelle: '''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 44, 45<br />
<br />
==Entwicklungsbewegung in „Lebensqualität 04/2014 — Jeder Mensch verdient Respekt“==<br />
<br />
Die folgenden Zitate erschienen in der Ausgabe 04/2014 der Kinaesthetics Fachzeitschrift „lebensqualität“ in der Rubrik „Auf der Spur von...“. Der Artikel mit dem Titel „Jeder Mensch verdient Respekt“ besteht aus einem Interview von Maren Asmussen mit Pater Meinulf Blechschmidt, einem Sohn von Erich Blechschmidt, einem biografischen Kasten zu Erich Blechschmidts Leben, Forschung und wissenschaftlicher Rezeption, und einem Kasten zum Thema „Bewegungsentwicklung und Entwicklungsbewegung“.<br />
Das erste Zitat entstammt dem biografischen Kasten „Erich Blechschmidt (1904-1992)“.<br />
<br />
: ''„Durch ihre Modelle konnten Blechschmidt und seine KollegInnen die Gestaltungsprozesse nach der Befruchtung des menschlichen Eies Schritt für Schritt nachvollziehen. Dadurch war es ihnen möglich, Schlüsse auf die Biodynamik der menschlichen Ontogenese zu ziehen. Im Laufe der jahrzehntelangen Arbeit wies Blechschmidt nach, ‚dass die lebendigen Gestaltungen bereits als Bewegungsprozess, die den ganzen Körper betreffen, einheitlich zu beschreiben sind‘. Demnach ist die Entstehung des frühen Embryos vor allem durch seine eigene Bewegung beeinflusst, die Blechschmidt '''Entwicklungsbewegung''' nennt. So konnte er aufzeigen, dass z. B. die Entstehung der Hand auf eine Greifbewegung zurückzuführen ist und dass alle Aktivitäten, die ein Mensch ausführen kann, durch die frühen embryonalen ‚'''Entwicklungsbewegung'''en‘ des Organismus vorbereitet werden.“<br />
<br />
[[Datei:Morphologische Felder - Blechchmidt Erich LQ 04-2014.jpeg|gerahmt|rechts|Quelle: '''Asmussen Maren (2014):''' Jeder Mensch verdient Respekt - Auf der Spur von Erich Blechschmidt. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2014, Nr. 4. S. 35.]]<br />
Das zweite Zitat besteht aus dem Text des zweiten Kastens.<br />
<br />
: '''''„Bewegungsentwicklung und Entwicklungsbewegung'''<br />
: ''In Kinaesthetics wird die Frage gestellt, welche Grundmuster der menschlichen Entwicklung dem menschlichen Verhalten zugrunde liegen und wie diese in alltäglichen Aktivitäten erfahrbar sind. Wenn man diese Frage im Sinn von Blechschmidt stellt, kommt man nicht umhin, die vorgeburtliche Entwicklungsgeschichte des Menschen zu studieren – oder sogar Zusammenhänge zur Evolution des Menschen. Die Forschungsresultate von Blechschmidt sind für Kinaesthetics interessant, weil sie darauf hinweisen, dass sich menschliche Funktionen aus '''Entwicklungsbewegung'''en ergeben. Blechschmidt drückte diese Erkenntnis so aus: ,Wir dürfen für die Individualentwicklung feststellen: Jedes Organ hat sowohl eine Lageentwicklung als auch eine ihr zugehörige Form- und Strukturentwicklung. Alle Organe besitzen damit als Bestandteile des Organismus Gestaltungsfunktionen. Diese sind Elementarfunktionen des Organismus. Jedes Organ funktioniert im Rahmen seiner Gestaltungsfunktion entsprechend den Eigenschaften, die es bis zu einer jeweiligen Entwicklungsphase entwickelt hat. Funktionslose Organe gibt es nicht.‘ (Blechschmidt 2002, S. 144)<ref>'''Blechschmidt, Erich (2008):'''Wie beginnt das menschliche Leben. Vom Ei zum Embryo. 8. Auflage. Stein am Rhein: Christiana Verlag. ISBN 978.3-7171-0653-1. S. 144 </ref><br />
: ''Mit anderen Worten: Der individuelle Mensch ist das Resultat seiner eigenen '''Entwicklungsbewegung'''. Knochen entstehen z. B. da, wo in Zellhaufen durch sogenannte Detraktionsfelder viel Druck entsteht. Gewicht zu tragen und hohen Druck auszuhalten, ist einerseits die Funktion der Knochen. Andererseits können die Knochen zeitlebens ihre Funktion nur weiter ausführen, wenn sie immer wieder und möglichst differenziert Druck und Gewicht ausgesetzt werden. Ein anderes Beispiel sind die sogenannten Dilationsfelder, die in der frühen Embryonalentwicklung durch die gemeinsame Bewegung der Zellen entstehen. In diesen Feldern werden die Zellen durch Zug beansprucht und gedehnt, wodurch die Muskeln entstehen. Auch hier kann im Verlauf des Lebens beobachtet werden, dass die Funktion von Muskeln, die nicht immer wieder gedehnt werden, eingeschränkt wird. Somit lässt die Auseinandersetzung mit dieser Entwicklungsbewegung einen besser verstehen, wie die lebenslange Bewegungsentwicklung funktioniert.“<br />
<br />
Quelle: '''Asmussen, Maren (2014):''' Jeder Mensch verdient Respekt. Auf der Spur von Erich Blechschmidt. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2014, Nr. 4. S. 34-35<br />
<br />
==Entwicklungsbewegung in „Lebensqualität 02/2013 — Optimal Handling auf der Neonatologie“==<br />
<br />
Das folgende Zitat erschien in der Ausgabe 02/2013 der Kinaesthetics-Fachzeitschrift „Lebensqualität“,im Artikel „Optimal Handling auf der Neonatologie - Kinaesthetics Infant Handling“. Das Zitat ist Teil des Kapitels „Was braucht der kleine Mensch?“.<br />
<br />
: '''''"Entwicklung heißt aktiv sein.''' Die menschliche Entwicklung ist geprägt von aktiver Bewegung. Von dem Moment der Befruchtung an teilt sich der menschliche Keim aktiv. Der Anatom Erich Blechschmidt entdeckte in seinen Forschungen aktive Stoffwechselbewegungen, die er als '''Entwicklungsbewegung'''en bezeichnete (Blechschmidt 2008, S. 207).<br />
: ''Jede embryonale Differenzierung ist ein aktiver Prozess. Nicht alle Nahrungsstoffe gelangen durch passive Diffusion in den kindlichen Organismus. Aminosäuren und Elektrolyte können die uteroplazentare Schranke nicht passiv, sondern ‚... nur durch aktive Transportprozesse … überwinden.‘ (Rohen; Lütjen-Decoll 2012, S. 36)<br />
: ''Auch die Organsysteme entwickeln sich durch aktive Bewegung. Muskeln entwickeln sich z. B. in sogenannten Dilationsfeldern (Dehnungsfeldern), in denen das Gewebe durch Zug gedehnt wird. Die Kontraktionsfähigkeit der Muskeln ist die Folge dieser Wachstumsdehnung. Sie lernen in der embryonalen Entwicklung durch die '''Entwicklungsbewegung''' jene Funktion, die sie ein Leben lang ausüben (Blechschmidt 2008, S. 148). Diese aktive Bewegung ermöglicht erst die Entwicklung des Muskel- und Skelettsystems, der inneren Organe, des Wahrnehmungssystems oder der vegetativen Prozesse.<br />
<br />
: '''''Entwicklung heißt lernen.''' Jedes Organ entwickelt sich durch seine spezifische Bewegung und differenziert während des Wachstums seine zukünftige Funktion aus. Zum Beispiel entwickelt sich die Lunge in einem sogenannten Sogfeld, das durch den wachsenden Brustkorb entsteht. Aus dieser Entwicklungsbewegung entstehen später die Atembewegungen. Sehr früh entwickeln sich die Rezeptoren des kinästhetischen Sinnessystems und die Nervenzellen wachsen in das Gewebe ein. Dadurch wird der Feedback-Kontroll-Prozess immer differenzierter (vgl. Kirov; Knobel, 2013)."<br />
<br />
Quelle: '''Kirov, Ute (2013):''' Optimal Handling auf der Neonatologie. Kinaesthetics Infant Handling. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2013, Nr. 2. S. 17.<br />
<br />
==Einzelnachweise==</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Diskussion:Entwicklungsbewegung&diff=4983Diskussion:Entwicklungsbewegung2024-03-11T10:11:03Z<p>Sabine Kaserer: /* Entwicklungsbewegung in „Kinaesthetics Infant Handling“ */</p>
<hr />
<div>{{Diskussionsseiten|Entwicklungsbewegung}}<br />
{{Infobox|Diskussion eröffnet|N. N./Joachim Reif}}<br />
<br />
{| class="wikitable"<br />
|-<br />
! Anregung durch TrainerInnen<br />
|-<br />
| Diese Diskussion entsteht auf Anfrage einer Gruppe von Schweizer Kinaesthetics-TrainerInnen, die sich auf der Suche nach Quellen an das Redaktionsteam gewandt und auf das Fehlen entsprechender Einträge hingewiesen haben. Wir bedanken uns für das Interesse und hoffen auf einen regen Austausch. Vorab hat das Redaktionsteam sich auf die Suche nach aktuellen bestehenden Quellen und diese hier zugänglich gemacht. Für weitere Quellen, Hinweise und Gedanken sind wir dankbar.<br />
|}<br />
==Entwicklungsbewegung in Kinästhetik-Bulletin von 1990==<br />
--[[Benutzer:Joachim Reif|Joachim Reif]] ([[Benutzer Diskussion:Joachim Reif|Diskussion]]) 20:23, 23. Jul. 2020 (CEST)<br />
<br />
Das Folgende Zitat findet sich im 16. Kinästhetik-Bulletin. Es ist eingebettet in das 4. Kapitel „Grundprinzipien“. Dieses stellt die früheste zusammenhängende Beschreibung der späteren Konzepte dar. Im Kapitel 4.5., „Funktionen“ finden wir als viertes Unterkapitel „4.5.4 Entwicklungsbewegung“.<br />
<br />
: '''4.5.4. Entwicklunqsbewegung'''<br />
: ''Prof. Dr. med. E. Blechschmidt<ref>'''Blechschmidt, Erich (2008):'''Wie beginnt das menschliche Leben. Vom Ei zum Embryo. 8. Auflage. Stein am Rhein: Christiana Verlag. ISBN 978.3-7171-0653-1.</ref>, ein bedeutender Wissenschafter und Forscher im Gebiet der Humanembryologie, befasste sich u.a. mit dem Studium der Bewegungen, welche der menschlichen Entwicklung zugrunde liegen. So wurde nach langjähriger Forschung an Embryonen festgestellt, dass Leistungen des erwachsenen Menschen durch frühembryonale Elementarfunktionen des Organismus vorbereitet werden.<br />
<br />
: ''Die Zellteilung ist die Urbewegung für die menschliche Entwicklung. Eine Zelle teilt sich, d.h. die Zelle wächst und dehnt sich, bis die Aussenwand keine Dehnung mehr zulässt. Dann teilt sie sich. Die Bewegung dieser Teilung verläuft in einer Richtung. Mit zunehmender Zellteilung beginnen zwischen den Zellen Kräfte wirksam zu werden (Zug, Druck, Reibung, Scherung, usw.), welche Bewegungen in vielen verschiedenen Richtungen auslösen. Bewegungsrichtungen und Kräfteverhältnisse sind bestimmend für die sich entwickelnde Form und Funktion des Organismus.<ref>'''Blechschmidt, Erich (2008):'''Wie beginnt das menschliche Leben. Vom Ei zum Embryo. 8. Auflage. Stein am Rhein: Christiana Verlag. ISBN 978.3-7171-0653-1. S. 11 ff</ref><br />
<br />
: ''Es ist ein Differenzierungsprozess, verbunden mit einer zunehmenden Komplexität. Die Art der Differenzierung hängt dabei von den obgenannten Kräften, den Bewegungsrichtungen und der Lage, Form und Struktur der Organe und den entsprechenden Stoffwechselfeldern ab. Diese räumlich verschiedenen Differenzierungsprozesse sind unmittelbarer Ausdruck von Kräften im physikalischen Sinne. Z.B.: In Feldern, wo Zellen hart gegeneinander gedrückt werden, bilden sich Knochen usw. Mit anderen Worten, Wachstum und Entwicklung hat ganz entscheidend mit Bewegung zwischen verschiedenen Teilen zu tun.<br />
<br />
: ''Diese '''Entwicklungsbewegung'''en bleiben eine Art von Grundmuster im menschlichen Leben überhaupt.“<br />
<br />
Quelle: '''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990 Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Knästhetik.Ohne ISBN. S. 26 f.<br />
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==Entwicklungsbewegung in „Kinaesthetics Infant Handling“==<br />
<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinaesthetics Infant Handling“ von Lenny Maietta (1950-2018) und Frank Hatch (*1940), in dem das Kind und seine Entwicklung ins Zentrum gestellt wird. Sie erscheinen in den Unterkapiteln „3.5.1.1. Metabolische Felder“ und „3.5.1.2. Bewegung und Wachstum“ als Teil des Kapitels „Theorie der Gesundheitsentwicklung“<br />
<br />
: '''''„Metabolische Felder'''<br />
: ''Blechschmidt studierte die Auswirkungen der Zellteilung auf die Entwicklung des Embryos. Er fand heraus, dass sich Zellen in verschiedenen biomechanischen, metabolischen Feldern entwickeln und differenzieren. Beispielsweise werden die Knochen des Embryos in Feldern gebildet, in denen Flüssigkeiten unter großem Druck aus dem Gewebe der umgebenden Zellen herausgedrückt werden. Andere Zellen in Feldern, in denen Zugkräfte vorherrschen, werden zu Muskelgewebe.<br />
<br />
: ''Blechschmidts Studien zeigen, dass die Bewegungsqualitäten bei der Entwicklung jeder Gewebeart die Aufgaben widerspiegeln, die das Gewebe später einnehmen wird. Beispiel Knochen. Sie sorgen nach der Entwicklung des Fetus sowie im weiteren Verlauf des Lebens für die Übertragung von Gewicht auf ein Stützgewebe (wird als Druck durch die Knochen bewegt). Die Knochen entwickeln sich nur im physiologischen Sinn weiter, wenn sie unter den Bedingungen arbeiten, unter denen sie ursprünglich gebildet wurden. Das bedeutet: Fehlt der notwendige Druck aufgrund mangelnder Aktivität, verlieren sie ihre strukturelle Integrität. Gleiches gilt für die Muskulatur: Sie bleibt bei Bewegungen physiologisch aktiv, atrophiert aber bei mangelnder Bewegung.<br />
<br />
: '''''Bewegung und Wachstum'''<br />
: ''Ab der 12. Woche verfügt der Fetus bereits über alle anatomisch-physiologischen Qualitäten des Neugeborenen. Dr. Blechschmidt beschäftigte sich mit der Entwicklung von motorischen, sensorischen und physiologischen Strukturen und Prozessen nach der Ausbildung des Feten. Er entdeckte, dass kontinuierliches Wachstum und die Entwicklung sämtlicher anatomischer Strukturen sowie der sensorischen, motorischen und inneren Prozesse, die für das Leben außerhalb des Uterus erforderlich sind, die ständige Bewegung des ungeborenen Kindes voraus setzt."<br />
<br />
Quelle: '''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 44, 45<br />
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==Entwicklungsbewegung in „Lebensqualität 04/2014 — Jeder Mensch verdient Respekt“==<br />
<br />
Die folgenden Zitate erschienen in der Ausgabe 04/2014 der Kinaesthetics Fachzeitschrift „lebensqualität“ in der Rubrik „Auf der Spur von...“. Der Artikel mit dem Titel „Jeder Mensch verdient Respekt“ besteht aus einem Interview von Maren Asmussen mit Pater Meinulf Blechschmidt, einem Sohn von Erich Blechschmidt, einem biografischen Kasten zu Erich Blechschmidts Leben, Forschung und wissenschaftlicher Rezeption, und einem Kasten zum Thema „Bewegungsentwicklung und Entwicklungsbewegung“.<br />
Das erste Zitat entstammt dem biografischen Kasten „Erich Blechschmidt (1904-1992)“.<br />
<br />
: ''„Durch ihre Modelle konnten Blechschmidt und seine KollegInnen die Gestaltungsprozesse nach der Befruchtung des menschlichen Eies Schritt für Schritt nachvollziehen. Dadurch war es ihnen möglich, Schlüsse auf die Biodynamik der menschlichen Ontogenese zu ziehen. Im Laufe der jahrzehntelangen Arbeit wies Blechschmidt nach, ‚dass die lebendigen Gestaltungen bereits als Bewegungsprozess, die den ganzen Körper betreffen, einheitlich zu beschreiben sind‘. Demnach ist die Entstehung des frühen Embryos vor allem durch seine eigene Bewegung beeinflusst, die Blechschmidt '''Entwicklungsbewegung''' nennt. So konnte er aufzeigen, dass z. B. die Entstehung der Hand auf eine Greifbewegung zurückzuführen ist und dass alle Aktivitäten, die ein Mensch ausführen kann, durch die frühen embryonalen ‚'''Entwicklungsbewegung'''en‘ des Organismus vorbereitet werden.“<br />
<br />
[[Datei:Morphologische Felder - Blechchmidt Erich LQ 04-2014.jpeg|gerahmt|rechts|Quelle: '''Asmussen Maren (2014):''' Jeder Mensch verdient Respekt - Auf der Spur von Erich Blechschmidt. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2014, Nr. 4. S. 35.]]<br />
Das zweite Zitat besteht aus dem Text des zweiten Kastens.<br />
<br />
: '''''„Bewegungsentwicklung und Entwicklungsbewegung'''<br />
: ''In Kinaesthetics wird die Frage gestellt, welche Grundmuster der menschlichen Entwicklung dem menschlichen Verhalten zugrunde liegen und wie diese in alltäglichen Aktivitäten erfahrbar sind. Wenn man diese Frage im Sinn von Blechschmidt stellt, kommt man nicht umhin, die vorgeburtliche Entwicklungsgeschichte des Menschen zu studieren – oder sogar Zusammenhänge zur Evolution des Menschen. Die Forschungsresultate von Blechschmidt sind für Kinaesthetics interessant, weil sie darauf hinweisen, dass sich menschliche Funktionen aus '''Entwicklungsbewegung'''en ergeben. Blechschmidt drückte diese Erkenntnis so aus: ,Wir dürfen für die Individualentwicklung feststellen: Jedes Organ hat sowohl eine Lageentwicklung als auch eine ihr zugehörige Form- und Strukturentwicklung. Alle Organe besitzen damit als Bestandteile des Organismus Gestaltungsfunktionen. Diese sind Elementarfunktionen des Organismus. Jedes Organ funktioniert im Rahmen seiner Gestaltungsfunktion entsprechend den Eigenschaften, die es bis zu einer jeweiligen Entwicklungsphase entwickelt hat. Funktionslose Organe gibt es nicht.‘ (Blechschmidt 2002, S. 144)<ref>'''Blechschmidt, Erich (2008):'''Wie beginnt das menschliche Leben. Vom Ei zum Embryo. 8. Auflage. Stein am Rhein: Christiana Verlag. ISBN 978.3-7171-0653-1. S. 144 </ref><br />
: ''Mit anderen Worten: Der individuelle Mensch ist das Resultat seiner eigenen '''Entwicklungsbewegung'''. Knochen entstehen z. B. da, wo in Zellhaufen durch sogenannte Detraktionsfelder viel Druck entsteht. Gewicht zu tragen und hohen Druck auszuhalten, ist einerseits die Funktion der Knochen. Andererseits können die Knochen zeitlebens ihre Funktion nur weiter ausführen, wenn sie immer wieder und möglichst differenziert Druck und Gewicht ausgesetzt werden. Ein anderes Beispiel sind die sogenannten Dilationsfelder, die in der frühen Embryonalentwicklung durch die gemeinsame Bewegung der Zellen entstehen. In diesen Feldern werden die Zellen durch Zug beansprucht und gedehnt, wodurch die Muskeln entstehen. Auch hier kann im Verlauf des Lebens beobachtet werden, dass die Funktion von Muskeln, die nicht immer wieder gedehnt werden, eingeschränkt wird. Somit lässt die Auseinandersetzung mit dieser Entwicklungsbewegung einen besser verstehen, wie die lebenslange Bewegungsentwicklung funktioniert.“<br />
<br />
Quelle: '''Asmussen, Maren (2014):''' Jeder Mensch verdient Respekt. Auf der Spur von Erich Blechschmidt. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2014, Nr. 4. S. 34-35<br />
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==Entwicklungsbewegung in „Lebensqualität 02/2013 — Optimal Handling auf der Neonatologie“==<br />
<br />
Das folgende Zitat erschien in der Ausgabe 02/2013 der Kinaesthetics-Fachzeitschrift „Lebensqualität“,im Artikel „Optimal Handling auf der Neonatologie - Kinaesthetics Infant Handling“. Das Zitat ist Teil des Kapitels „Was braucht der kleine Mensch?“.<br />
<br />
: '''''Entwicklung heißt aktiv sein.''' Die menschliche Entwicklung ist geprägt von aktiver Bewegung. Von dem Moment der Befruchtung an teilt sich der menschliche Keim aktiv. Der Anatom Erich Blechschmidt entdeckte in seinen Forschungen aktive Stoffwechselbewegungen, die er als '''Entwicklungsbewegung'''en bezeichnete (Blechschmidt 2008, S. 207).<br />
: ''Jede embryonale Differenzierung ist ein aktiver Prozess. Nicht alle Nahrungsstoffe gelangen durch passive Diffusion in den kindlichen Organismus. Aminosäuren und Elektrolyte können die uteroplazentare Schranke nicht passiv, sondern ‚... nur durch aktive Transportprozesse … überwinden.‘ (Rohen; Lütjen-Decoll 2012, S. 36)<br />
: ''Auch die Organsysteme entwickeln sich durch aktive Bewegung. Muskeln entwickeln sich z. B. in sogenannten Dilationsfeldern (Dehnungsfeldern), in denen das Gewebe durch Zug gedehnt wird. Die Kontraktionsfähigkeit der Muskeln ist die Folge dieser Wachstumsdehnung. Sie lernen in der embryonalen Entwicklung durch die '''Entwicklungsbewegung''' jene Funktion, die sie ein Leben lang ausüben (Blechschmidt 2008, S. 148). Diese aktive Bewegung ermöglicht erst die Entwicklung des Muskel- und Skelettsystems, der inneren Organe, des Wahrnehmungssystems oder der vegetativen Prozesse.<br />
<br />
: '''''Entwicklung heißt lernen.''' Jedes Organ entwickelt sich durch seine spezifische Bewegung und differenziert während des Wachstums seine zukünftige Funktion aus. Zum Beispiel entwickelt sich die Lunge in einem sogenannten Sogfeld, das durch den wachsenden Brustkorb entsteht. Aus dieser Entwicklungsbewegung entstehen später die Atembewegungen. Sehr früh entwickeln sich die Rezeptoren des kinästhetischen Sinnessystems und die Nervenzellen wachsen in das Gewebe ein. Dadurch wird der Feedback-Kontroll-Prozess immer differenzierter (vgl. Kirov; Knobel, 2013).<br />
<br />
Quelle: '''Kirov, Ute (2013):''' Optimal Handling auf der Neonatologie. Kinaesthetics Infant Handling. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2013, Nr. 2. S. 17.<br />
<br />
==Einzelnachweise==</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Bewegungserfahrung&diff=4982Bewegungserfahrung2024-03-11T10:08:55Z<p>Sabine Kaserer: /* Bewegungserfahrung in „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Es geht um die '''Bewegungserfahrung''' als Grundlage des Lernens. Diese spezifische Lernmethode erlaubt es, während der Ausführung einer Aktivität die Aufmerksamkeit bewusst auf erfahrbare Unterschiede zu lenken. Als wichtiges Instrument zur Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung hat die Bewegungserfahrung eine direkte Wirkung auf das Körperbewusstsein. <br>Der Artikel besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Bewegungserfahrung. <br />
== Bewegungserfahrung in „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird und eine grundlegende Beschreibung des Verständnisses von Lernen im Kontext von Kinästhetik und Kybernetik darstellt. Das Zitat umfasst den Beginn des ersten Kapitels „1. Lernen in Kinaesthetics-Kursen“ und zeigt Ausschnitte der Unterkapitel „1.1. Was und wie lernen Sie in Kinaesthetics-Kursen?“ „1.2. Vom Tun und der Innenperspektive zur Theoriebildung“ sowie den Text von „1.3. Die Bewegungserfahrungen“.<br />
<br />
: „'''''<big>1. Lernen in Kinaesthetics-Kursen</big>'''''<br><br />
:''In diesem Kapitel wird das Lernen in den Basiskursen in einem kurzen Überblick dargestellt und Kinaesthetics als eine [[1.-Person-Methode]] beschrieben, die von der konkreten, individuellen und subjektiven Erfahrung ausgeht. Die folgenden Unterthemen beschreiben die elementaren Kinaesthetics-Lernwerkzeuge der '''Bewegungserfahrungen''' sowie der schriftlichen und gemeinsamen Reflexion. Auf diesen Grundlagen wird zuletzt die Rolle der Kinaesthetics-TrainerIn thematisiert.''<br />
<br />
: '''''1.1. Was und wie lernen Sie in Kinaesthetics-Kursen?'''''<br><br />
:''In Kinaesthetics-Kursen werden Sie dazu angeleitet, die eigene Bewegung differenziert wahrzunehmen, zu steuern und anzupassen. Dies geschieht durch die Ausführung ganz einfacher und alltäglicher Aktivitäten: Sie drehen sich z. B. vom Liegen in der Rückenlage auf den Bauch oder Sie sitzen auf dem Boden und stehen auf, allein oder zusammen mit einer anderen Person. Diese Aktivitäten werden durch die gezielte Lenkung der Aufmerksamkeit zu bewussten '''Bewegungserfahrungen''', welche die Quelle Ihres eigenen Forschungsprozesses bilden. Mit Ihrem kinästhetischen Sinnessystem versuchen Sie zu merken, welche Unterschiede für Sie unter einem bestimmten Blickwinkel des Kinaesthetics-Konzeptsystems erfahrbar sind und welche Rolle diese in Ihrer Bewegung spielen. Auf dieser Grundlage und durch die persönliche und gemeinsame Reflexion Ihrer Erfahrungen entwickeln Sie mit Kinaesthetics die Sensibilität Ihrer Bewegungswahrnehmung, Ihre Bewegungskompetenz und ein differenziertes Verständnis der menschlichen Bewegung.''<br />
:''Das Interesse für die fein abgestufte Wahrnehmung, Steuerung und Anpassung unserer ganz alltäglichen Bewegungsmuster macht eine Besonderheit von Kinaesthetics aus. Es geht darum, ein differenziertes Bewusstsein für etwas Selbstverständliches zu entwickeln, das im Alltag meist ‚automatisch‘ und unbewusst abläuft. [...]''<br />
<br />
: ''''' 1.2. Vom Tun und der Innenperspektive zur Theoriebildung '''''<br><br />
: '' Kinaesthetics verfolgte von Anfang an eine Methode des Lehrens und Lernens, die sich grundsätzlich von traditionellen und althergebrachten Formen von Schulungen unterscheidet. Die Grundlage des Lernens in Kinaesthetics bildet stets das praktische Tun, d. h. Ihre persönliche und subjektive Bewegungswahrnehmung in '''Bewegungserfahrungen'''. Das mit diesem Grundsatz verbundene Lernverständnis und die spezifischen Lern- und Schulungsmethoden sind untrennbar mit Kinaesthetics verbunden. Daher handelt es sich um eine ‚Erfahrungswissenschaft‘ im wahrsten Sinne des Wortes: Kinaesthetics schafft Wissen durch Erfahrung. […]''<br />
<br />
: '''''1.3. Die Bewegungserfahrungen'''''<br><br />
: '''''1.3.1. Einführung'''''<br><br />
: ''Die '''Bewegungserfahrungen''' bilden die Grundlage des Lernens in Kinaesthetics. Bei dieser spezifischen Lernmethode geht es darum, dass Sie während der Ausführung einer Aktivität Ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Unterschiede lenken, die für Sie mit Ihrer Bewegungswahrnehmung erfahrbar sind. Dabei ermöglicht Ihnen ein bestimmter Fokus (lateinisch, ‚Brennpunkt‘) oder Blickwinkel der sechs Kinaesthetics-Konzepte die bewusste Lenkung der Achtsamkeit. So erforschen Sie allein oder in einer gemeinsamen Bewegung mit einer anderen Person, wie Sie z. B. den Unterschied zwischen parallelen und spiraligen Bewegungsmustern in sich selbst wahrnehmen.<br />
: ''Es ist wichtig, dass Sie sich nicht von Ihren Annahmen oder von Ihrem Denken leiten lassen, was für Sie wie oder warum erfahrbar sein wird. Versuchen Sie, auf ein vorausgehendes oder gleichzeitiges Denken und Reflektieren zu verzichten, um möglichst tief und differenziert in die Erfahrung Ihrer Bewegung zu gehen. Versuchen Sie ebenso, die Erfahrung eines Unterschiedes nicht gleichzeitig zu werten (‚So geht es besser, so schlechter‘). Lenken Sie in '''Bewegungserfahrungen''' unvoreingenommen Ihre volle Achtsamkeit darauf, wie Sie die Unterschiede, die Sie durch Ihre eigene Bewegung hervorbringen, wahrnehmen.<br />
: ''Diese Methode der differenzierten Auseinandersetzung mit der eigenen Bewegung ist ein über viele Jahre entwickeltes und erprobtes Instrument zur Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung im Tun und zur Entwicklung der individuellen Bewegungskompetenz. Vielleicht konnten Sie schon in Ihrem Grundkurs feststellen, dass ein Kurstag mit vielen '''Bewegungserfahrungen''' eine direkte Wirkung auf Ihr körperliches Befinden und Ihr ganzes ,Körperbewusstsein‘ hat.<br />
: ''Kinaesthetics unterscheidet zwischen den beiden, im Folgenden beschriebenen Arten von '''Bewegungserfahrungen '''.<br />
<br />
: '''''1.3.2. Die Einzelerfahrungen'''''<br><br />
: ''In einer Einzelerfahrung werden Sie von der Kinaesthetics-TrainerIn angeleitet, mit einem bestimmten Fokus/Blickwinkel des Kinaesthetics-Konzeptsystems auf die Unterschiede zu achten, die Sie mit Ihrem kinästhetischen Sinn erfahren und wahrnehmen können. Sie führen dabei in oder ausgehend von irgendeiner Position eine alltägliche Aktivität aus. Die Unterschiede ergeben sich aus Ihrer individuellen Ausführung und Ihren Variationen der Aktivität. Das heißt, Sie sensibilisieren Ihre Bewegungswahrnehmung und erhöhen Ihre Bewegungskompetenz in Einzelerfahrungen dadurch, dass Sie lernen, unter den verschiedenen Blickwinkeln der sechs Kinaesthetics-Konzepte Unterschiede immer feiner und möglichst im ganzen Körper zu produzieren und wahrzunehmen.<br />
<br />
: '''''1.3.3. Die Partnererfahrungen'''''<br><br />
: ''Die Partnererfahrungen sind ein wichtiges Element von Kinaesthetics, da sie Lernprozesse erlauben, die in der Einzelerfahrung nicht möglich sind.<br />
: ''In der Partnererfahrung achten Sie wie in der Einzelerfahrung mit einem bestimmten Fokus auf die eigene Bewegung und führen dabei Aktivitäten in einer gemeinsamen Bewegung mit einer PartnerIn aus. Solche Bewegungsinteraktionen mit anderen Menschen sind deswegen eine hervorragende Lernmöglichkeit, weil die InteraktionspartnerInnen fortlaufend in irgendeiner Form Anpassungen an das Verhalten des Gegenübers vollziehen müssen. Die Partnererfahrungen stellen somit Ihre Bewegungskompetenz vor Herausforderungen, die sich nicht stellen, wenn Sie sich allein bewegen.<br />
: ''Die gemeinsame Bewegung mit einem anderen Menschen und die daraus entstehenden Unterschiede zu den eigenen, gewohnten Bewegungsmustern helfen auch, diese überhaupt oder leichter zu erkennen. Zusätzlich können Sie dadurch Varianten erfahren, die Ihnen ungewohnt sind. Darum sind Partnererfahrungen ein ausgezeichnetes Mittel zur Erweiterung und zu einem vertieften Verständnis des persönlichen Handlungsspielraumes.“'' <br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Erfahrung/Wahrnehmung und Wertung trennen'''“:<br />
: ''„In Kinaesthetics steht die präzise Wahrnehmung und Beschreibung der '''Bewegungserfahrungen''' im Vordergrund. Dabei wird das ‚Gewahrwerden‘ der eigenen Bewegung und seine Beschreibung von der Wertung der Erfahrung (richtig – falsch, besser – schlechter) getrennt. Kinaesthetics geht nicht davon aus, dass es eine bestimmte ‚richtige‘ Art und Weise gibt, wie jeder Mensch sich allein oder mit anderen Menschen zusammen bewegen sollte. Die Bewertung der Ausführung einer Aktivität ergibt sich nur aus einem konkreten Kontext und besonders aus den Absichten der Beteiligten. So ist z. B. ein paralleles Bewegungsmuster richtig bzw. passend für ein gezieltes Training bestimmter Muskeln, aber unpassend zum Aufsitzen nach einer Bauchoperation.“''<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Innen und außen'''“:<br />
: '' „Es ist eine große Herausforderung, sich während einer Partnererfahrung v. a. auf die Qualität der eigenen Bewegung zu konzentrieren. Wenn wir im Alltag mit einem anderen Menschen Körperkontakt haben, richten wir unsere Aufmerksamkeit meistens viel stärker auf diesen und nach außen als nach innen und auf die eigene Bewegung(swahrnehmung). Genau durch sie können wir aber sehr präzise Rückmeldungen über die Bewegungsmöglichkeiten eines anderen Menschen erhalten, wenn wir ihn in seiner Bewegung unterstützen wollen.''<br />
: ''Kinaesthetics geht davon aus, dass die Qualität und das Lernpotenzial einer Bewegungsinteraktion wesentlich dadurch bestimmt wird, wie gut und differenziert die InteraktionspartnerInnen auf ihre eigene Bewegung achten und sie an die gemeinsame Absicht anpassen können." ''<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 8 ff.''<br />
<br />
Im Unterkapitel 2.2.1. „Der [[Lernzyklus]]“ findet sich eine Beschreibung der Bedeutung von '''Bewegungserfahrungen''' innerhalb der einzelnen Aktivitäten des Kinaesthetics-Lernzyklus.<br />
<br />
[...]<br />
[[Datei:Lernzyklus-color DE.jpg|500px|zentriert]]<br />
''Der Lernzyklus<br>Der Aufbau, die Teile und Schwerpunkte des Lernzyklus''<br />
<br />
:„'''''Einstiegsaktivitäten'''''<br>''Im Einstieg wird Ihnen das Thema vorgestellt und es erfolgt eine Einführung mithilfe der Sprache oder auch mit kurzen '''Bewegungserfahrungen'''. Dabei ist wichtig zu klären, in welchem Kontext und mit welcher Absicht das Thema untersucht wird, welche Bedeutung es in diesem Kontext haben kann und welche Anknüpfungspunkte es zu anderen Themen bietet.''<br />
: ''Der Einstieg dient auch der Bestimmung Ihrer persönlichen Ausgangslage bezüglich des Themas. Dies kann durch die Ausführung und Dokumentation einer geeigneten '''Bewegungserfahrung''' geschehen oder durch irgendeine andere Erfahrung, die Ihnen z. B. Aufschluss über Ihre aktuellen Annahmen gibt. Diese ,Vergleichsaktivität (A1)‘ wird am Ende des Lernzyklus als ,Vergleichsaktivität (A2)‘ wieder aufgenommen, um einen Vergleich vorzunehmen. Das schriftliche Dokumentieren der Vergleichsaktivitäten erlaubt Ihnen dabei einen zuverlässigeren Vergleich Ihrer Erfahrungen oder Annahmen.''<br />
:'''''Lernaktivitäten'''''<br>[...] ''In einem Lernzyklus zu einem Kinaesthetics-Konzept werden v. a. die Einzel- und Partnererfahrungen (vgl. Kapitel 1.3.) als Lernaktivitäten verwendet. Für diese Bewegungserfahrungen wird jeweils ein Fokus des Konzeptsystems festgelegt und erklärt.''<br />
: ''Das hauptsächliche Lernthema ist die Entwicklung einer differenzierten Bewegungswahrnehmung, -steuerung und -anpassung durch die Erforschung und Analyse Ihrer grundsätzlichen Bewegungsmöglichkeiten.[...]<br />
:'''''Ausstiegsaktivitäten'''''<br>''Im Ausstiegsteil führen Sie die Vergleichsaktivität des Einstiegs erneut aus und beschreiben, wie Sie diese jetzt wahrnehmen und was Ihr aktueller Standort in Bezug auf das Thema ist. Der Vergleich zwischen der Ausgangslage und dem aktuellen Standort erleichtert es Ihnen, Ihre Lernfortschritte zu erkennen und auszuwerten. Achten Sie bei der Auswertung Ihres Lernprozesses darauf, welche Erfahrungen, Erkenntnisse und Ideen aus dem ganzen Lernzyklus für Sie eine besondere Bedeutung haben, aber auch darauf, wo für Sie noch offene Fragen bestehen.“''<br />
''<br />
<br />
Im Unterkapitel 2.2.2. „Die [[Lernspirale]]“ findet sich die Beschreibung dieser Methode, '''Bewegungserfahrungen''' strukturiert zur Bearbeitung einer konkreten Problemstellung zu nutzen. <br />
[[Datei:Lernspirale-color DE.jpg|500px|zentriert]]<br />
: „'''''2.2.1. Die Lernspirale'''''<br><br />
: ''Die ,Lernspirale‘ ist eine Methode, die Sie anwenden lernen, um konkrete Problemstellungen aus Ihrem beruflichen oder privaten Alltag mit Kinaesthetics zu bearbeiten. Sie geht von der Erfahrung der Situation im Tun aus und kann in der Form einer Spirale über die Schritte des Reflektierens, Variierens, Entscheidens und erneuten Tuns beliebig fortgesetzt werden.<br />
: ''Die Lernspirale durchbricht das gängige Muster, dass beim Auftreten eines Problems geradlinig nach seiner Lösung und Behebung gesucht wird. Ihr Motto heißt: Es geht nicht darum, das Problem zu lösen, sondern sich vom Problem zu lösen.<br />
: ''Die Analyse und Reflexion der Situation aus der Innenperspektive Ihrer '''Bewegungserfahrungen''', die Beschäftigung mit vielen möglichen Varianten und die Auswertung Ihrer Erfahrungen lenken Ihre Aufmerksamkeit weg von der Suche nach Lösungen. Mit diesem Vorgehen achten Sie vielmehr auf das Lern- und Entwicklungspotenzial der Situation und loten es differenziert und in aller Breite aus. Der spiralförmige Aufbau der Methode führt dazu, dass Sie die ,Lösungen‘ des Problems stets wieder mit demselben Vorgehen der Entwicklung der Situation anpassen können. Dadurch wird eine nachhaltige Bearbeitung von Problemstellungen möglich.[...]<br />
<br />
: '''''Reflektieren'''''<br>''Sie reflektieren die Erfahrung der Ausgangslage, indem Sie mit eigenen '''Bewegungserfahrungen''' die Aktivitäten der Situation nachvollziehen. Wenn mehrere Personen in die Situation einbezogen sind, begeben Sie sich in alle Rollen. Es ist sinnvoll die Zahl der Aktivitäten, die Sie analysieren wollen, zu beschränken. Zudem lohnt es sich, auf die Schlüsselstellen der Situation zu achten, wo es ‚klemmt‘ oder spannend wird, und besonders die damit verbundenen Aktivitäten zu untersuchen. Verwenden Sie für Ihre Einzel- und Partnererfahrungen die verschiedenen Blickwinkel des Kinaesthetics-Konzeptsystems. Dokumentieren Sie Ihre Erfahrungen z. B. mit dem [[Konzept-Raster]] und achten Sie dabei darauf, Ihre Beobachtungen und nicht die Bewertung derselben zu beschreiben. Überlegen Sie sich, welche Blickwinkel des Konzeptsystems Ihnen für die Situation besonders bedeutsam erscheinen.''<br />
<br />
: ''Dieser Teil der Lernspirale ermöglicht es Ihnen, aus der Bewegungs- und Innenperspektive die ausgewählten Aktivitäten der Praxissituation differenziert zu analysieren und Konzeptblickwinkel zu finden, die für die Schlüsselstellen bedeutsam sind.<br />
<br />
: '''''Variieren'''''<br>''Im nächsten Schritt gilt es – ohne sich an der Lösung des Problems zu orientieren – die Aktivitäten der Schlüsselstellen, die Sie beim Reflektieren untersucht haben, in '''Bewegungserfahrungen''' möglichst breit zu variieren. Sie benutzen dazu die auf der Grundlage der Reflexion ausgewählte Blickwinkel des Konzeptsystems, um die [[Unterschied|Unterschiede]] in der Gestaltung der Aktivität präzise wahrnehmen, beschreiben und vergleichen zu können. Gehen Sie feinen, kleinen Unterschieden nach, suchen Sie aber auch nach ungewöhnlichen oder ,verrückten‘ Varianten. Nicht selten zeigt sich in ihnen die zugrunde liegende Problematik in aller Schärfe oder es tut sich überraschenderweise ein gangbarer Weg auf. Gleichzeitig besteht für Sie die Möglichkeit, die eigene Kreativität in der Bewegung auf diese Weise spielerisch zu entwickeln.[...]<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 20 ff.'''<br />
<br />
== Bewegungserfahrung in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“ und bieten uns konkrete Anleitungen für Bewegungserfahrung. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „K. U. Smith: Die Verhaltenskybernetik“ eingebettet. Das zweite Zitat ist Teil des Unterkapitels 4.3.4. „Wahrnehmung und Bewegung “.<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „''Wir können nicht stehen!''“:<br />
: ''„Um darzustellen, wie das menschliche Verhalten funktioniert, wird oft eine Computer-Metapher verwendet. Dementsprechend wäre z. B. die Fähigkeit ,Stehen‘ im Gehirn gespeichert, würde bei Bedarf von dieser ,Festplatte‘ abgerufen und von der Motorik ausgeführt. K. U. Smith konnte nachweisen, dass eine solche lineare Computer-Metapher die Verhaltensregulation unzutreffend beschreibt. Aus einer kybernetischen Perspektive ist es vielmehr so, dass durch das zirkuläre Zusammenspiel zwischen der motorischen Aktivität, der Sinneswahrnehmung und der Verarbeitung dieser Wahrnehmung durch das Nervensystem ein Regelkreis entsteht, der das Stehen steuert, oder treffender formuliert: durch fortlaufende Fehlerkorrektur das Umfallen verhindert. Smith prägte hierfür den Begriff ,Feedback Control‘ (Rückkoppelungskontrolle).<br />
: ''Eine kleine '''Bewegungserfahrung'''. Probieren Sie es selbst aus. Stehen Sie auf ein Bein und schließen Sie dabei die Augen. Anfänglich beschreiben Sie diese Erfahrung vielleicht als Unsicherheit. Achten Sie auf Ihre eigene Bewegung. Nun erfahren Sie, was grundsätzlich für die Verhaltensregulation gilt, solange Sie leben: Sie korrigieren ständig ,Fehler‘, die Sie durch ihre eigene Bewegung erzeugen und wahrnehmen. Wenn Sie das Experiment weiterführen, können Sie feststellen, dass Sie auch in allen anderen Positionen ständig damit beschäftigt sind, mit ihrer eigenen, aktiven Bewegung ihre Position in der Schwerkraft zu kontrollieren und zu korrigieren.“'' <br />
<br />
Das zweite Zitat ist in das sechste Kapitel „Kinästhetik ist praktische Kybernetik“ eingebettet und fungiert dort als Grundlage für die Formulierung grundsätzlicher und weiterführender Fragestellungen, sowie für das Unterthema 6.2. Selbstregulation und persönliches Lernen.<br />
<br />
: ''„'''Bewegungserfahrung'''<br />
: ''Nehmen Sie sich zu Beginn der Lektüre dieser Zeilen ein paar Minuten Zeit, um die folgende Anleitung zu einer für die Kinästhetik typischen Bewegungserfahrung auszuführen (genauer: Einzelerfahrung; European Kinaesthetics Association 2020b<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7.</ref>, S. 10 f.). Dies wird Ihnen zum nötigen Anknüpfungspunkt für die Fortsetzung Ihrer Lektüre verhelfen und Ihnen das Verständnis der sich anschließenden Themen erleichtern.''<br />
: ''Setzen Sie sich auf die Vorderkante eines Stuhles. Schließen Sie die Augen und beobachten Sie, wie Sie Ihr Sitzen wahrnehmen. Was ist für Sie mit Ihrem kinästhetischen Sinnessystem (vgl. Infobox S. 56) erfahrbar? Achten Sie besonders auf Ihre Spannung und auf die kleinen Anpassungsbewegungen, die es Ihnen ermöglichen, in dieser Position zu bleiben. Heben Sie anschließend Ihre Beine so an, dass die Füße den Boden nicht mehr berühren. Beschreiben Sie wieder für sich, wie Sie jetzt Ihr Sitzen, Ihre Spannung und die damit verbundenen Anpassungsbewegungen wahrnehmen. Erforschen Sie dann die Unterschiede, die Ihnen mit Ihrer Bewegungswahrnehmung erfahrbar sind, je nachdem, wie Sie die Position Ihrer Füße, Arme usw. im Sitzen verändern.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 35 und S. 56.<br />
<br />
== Bewegungserfahrung im 16. Kinästhetik-Bulletin von 1990 ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Heft Kinästhetik Bulletin Nr.16 von 1990. In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik wird im zweiten Kapitel unter der Überschrift „Kinästhetisches Lehrmodell“ die „Grundüberzeugung“ beschrieben, „dass Bewegung- und Wahrnehmungserfahrung die Grundlage allen Lernens ist“. <ref>'''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 8.</ref>. <br />
: „'''''Das Lehrmodell'''''<br><br />
: ''Das Grundsätzliche war nicht immer Ausgangspunkt für die Entwicklung unserer Methode. Diese ergab sich viel eher aus einem Zickzack-Prozess, bei dem wir das eine Mal Ideen übernahmen und im eigenen Körper erlebten, und ein anderes Mal von ''' Bewegungserfahrungen ''' ausgingen, die wir dann zu erklären versuchten. Im Verlauf der Jahre fassten wir diese Grundsätze des menschlichen Lebens und die Art zu lernen in ein Lehrmodell, bei dem Lehrer und Schüler gemeinsam lernen. Es ist unsere Grundüberzeugung, dass ''' Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrung ''' die Grundlage allen Lernens ist. Daraus haben sich viele weitere Grundsätze ergeben, woraus wir Übungen entwickelten, die den Leuten helfen, Beziehungen und Muster in der eigenen Bewegung zu erkennen. Durch strukturierte '''Bewegungserfahrungen''' entwickelt ein Teilnehmer im Kinästhetik-Unterricht differenziertere sensomotorische Fähigkeiten, die Grundlage aller menschlichen Fähigkeiten überhaupt. Er lernt dabei, seine Erfahrungen einzuordnen, indem er ihre Muster und Beziehungen analysiert. Es ist wichtig für den Lernprozess, zwischen Erfahrung und deren Formulierung hin- und herzugehen. Sie sind zugleich Metaphern, die uns helfen, komplexere kognitive Ebenen von Lernen und Kommunikation zu verstehen.<br />
<br />
: ''Wer einen Kinästhetik-Kurs oder eine Einzelsitzung besucht, wird unter vielen Gesichtspunkten - sei es in der Bewegung allein oder mit anderen - Beziehungen erforschen. Im eigenen Körper erfahrene Themen begegnen ihm auch in anderen Situationen: bei der Arbeit, in der Schule oder in sozialen Begegnungen usw. Die zentrale Rolle eines Kinästhetik-Kurses ist die persönliche Erfahrung der Bewegung und deren Bewusstwerdung.<br />
: ''Frank Hatch, Lenny Maietta, 17. Juni 1989 (Übers. Brigitte Huber)."''<br />
<br />
Im fünften Kapitel „Anwendungen“, „5.2. Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ (verfasst von Hugo Krakau), finden sich unter „2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten?“ Beschreibungen des Verständnisses und der Bedeutung von Bewegungserfahrung für die Lernfähigkeit. Das folgende Zitat umfasst die ersten beiden Unterkapitel „2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium“ und „2.2. Orientierung an den Fähigkeiten des Kindes“ sowie „3. Führen und Folgen als Metapher für schulisches Lernen“.<br />
<br />
: „'''''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium'''''<br><br />
: ''Die theoretische Grundannahme der Kinästhetik geht davon aus, dass die Lernfähigkeit des Menschen in seiner Bewegungs- und Wahrnehmungsfähigkeit begründet liegt.<br />
: ''Deshalb ist die Basis der Kinästhetik die eigene '''Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrung'''.<br />
: ''Alle Sinne des Menschen sind Systeme, die Bewegungsmustern folgen und damit auf seiner Bewegungsfähigkeit basieren. Ohne Bewegung gibt es keine Wahrnehmung (Poincaré 1904<ref>'''Poincaré, Henri (1904):''' Wissenschaft und Hypothese. Übersetzt von E. und H. Weber. Leipzig: B. G. Teubner. Originaltitel: La science et l'hypothèse.</ref>). Weder Hören, Sehen, Riechen, Schmecken noch Tasten sind möglich ohne zumindest minimale Bewegungen. Somit fällt beim menschlichen Wahrnehmungsprozess dem kinästhetischen Sinn eine zentrale Rolle zu.<br />
: ''Ebenso zentral und elementar ist das Phänomen der Berührung für die menschliche Entwicklung. Für Piaget hat die frühkindliche senso-motorische Wahrnehmung des Kindes nicht nur eine Schlüsselfunktion für seine intellektuelle, sondern für die gesamte Entwicklung (vgl. Piaget, 1984<ref>'''Piaget, Jean (1984):''' Psychologie der Intelligenz. Mit e. Einf. von Hans Aebli. 8. Aufl. in d. vollst. überarb. Übers. d. 2. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta. ISBN 978-3-12-936360-7. Originaltitel: La psychologie de l'intelligence.</ref>).''<br />
: ''Das taktile System hat einen besonderen Stellenwert innerhalb des Sinnessystems. Berührung ist die Sinneserfahrung, die die unmittelbarste Form von Interaktion und den direktesten Kontakt zu einem anderen Menschen erlaubt. Berührung stellt ferner die direkteste Verbindung zur Bewegung des anderen Menschen her. Die Rückmeldung über Berührung ist schneller und präziser als das Feedback aller anderen Sinnessysteme (vgl. Smith, K. U. 1972<ref>'''Smith, K. U. (1972): '''Social Tracking and Social Feedback Control: The Experimental Foundation of Social Cybernetics. Madison, Wisconsin: Behavioral Cybernetics Laboratory.</ref>).<br />
: ''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern<br />
: ''So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird: ''<br />
: '',Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br />
: ''Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.: ''<br />
: ''Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.‘<br />
: ''(Ayres, A.J. 1984, S.66<ref>'''Ayres, A. Jean (1984):''' Bausteine der kindlichen Entwicklung. Die Bedeutung der Integration der Sinne für die Entwicklung des Kindes. Mit Unterstützung von Jeff Robbins; aus dem Amerikan. übers. von I. Flehmig und R.-W. Flehmig. Berlin: Springer. ISBN 3-540-13303-8. Originaltitel: Sensory integration and the child.</ref>)''<br />
<br />
: '''''2.2. Orientierung an den Fähigkeiten des Kindes'''''<br><br />
: ''Kinästhetik bietet in dieser vierjährigen berufsbegleitenden Zusatzausbildung ein Handlungskonzept, das sich nicht primär an den Defiziten der Schüler orientiert, an der Frage, was er nicht kann, wie es zum Beispiel im Sonderschulaufnahmeverfahren üblich ist, sondern sie orientiert sich an den Fähigkeiten des Kindes, an dem, was es kann. Um beim Beispiel des Schülers zu bleiben, dessen Lese-Schreib-Lehrgang bisher ohne grossen Lernerfolg blieb: Die Arbeit des kinästhetisch denkenden Lehrers beginnt mit der Stützung und mit dem Ausbau der Bewegungsfähigkeiten, die für den Lese-Schreib-Prozess von Bedeutung sind und die der Schüler kann, wie etwa:<br />
: ''Spielerisches Ausführen von vertikalen und horizontalen Augenbewegungen, Differenzierung von Augenbewegung und Kopfbewegung, Unterstützung der Augen- bzw. Kopfbewegung durch andere Körperteile wie Hand, Arm, Finger, Füsse usw.: ''<br />
: ''Die Aufmerksamkeit des kinästhetisch orientierten Lehrers liegt auf den senso-motorischen Komponenten dieses komplexen Lernvorgangs.<br />
: ''Von der Plattform seiner Fähigkeiten ausgehend, macht der Schüler neue '''Bewegungserfahrungen''' und erweitert damit seine Fähigkeiten, die bald dazu führen, dass er die Defizite, die zu seinem Versagen im Lese-Schreib- Lehrgang geführt haben, abgebaut hat, ohne durch frustrierendes Schreiben und Lesen-Oben noch mehr entmutigt worden zu sein.<br />
: ''Die Orientierung der Kinästhetik an den Fähigkeiten der Schüler ist nicht neu. Neu jedoch ist das methodische Konzept, der Theoriehintergrund, der die Brücke schlägt zwischen der Theorie und dem praktischen sonderpädagogischen Handeln über die motorische und taktile Lernbahn.<br />
<br />
: ''[...]<br />
<br />
: '''''3. Führen und Folgen als Metapher für schulisches Lernen'''''<br><br />
: ''Aus kinästhetischer Sicht lässt sich Lernen als Interaktionsprozess von Führen und Folgen beschreiben, der in seiner optimalen Form die Rollenverteilung von Führen (Lehren) und Folgen (Lernen) nicht festschreibt und den idealen Lernprozess im Bild des Tanzes beschreibt, bei dem die Führung zwischen den Tanzenden hin und her wechselt bzw. beide Tanzpartner führen oder beide folgen.: ''<br />
: ''Ich möchte im folgenden den Versuch machen, am praktischen Beispiel kinästhetische Arbeit zu dokumentieren, wohl wissend, dass Sprache, und noch mehr Schriftsprache, das nicht geeignete Medium ist, '''Bewegungserfahrung''' zu vermitteln. Beschreibung und Bilddokumentation werden ein unangemessener Übermittlungsversuch bleiben, weil Bewegungserfahrung nicht über Sprache, sondern nur über Bewegungserfahrung vermittelbar ist.<br />
: ''In der Kinästhetik wird der eigene Körper als die entscheidende Lern-Metapher benutzt. Du bist dein Körper. Du lernst so, wie dein Körper ist. Die Beherrschung unterschiedlicher körperlicher Funktionen führt zu unterschiedlichen Arten des Lernens und zu differenzierter Qualität von Wahrnehmung.<br />
: ''Eine wesentliche funktionale Grunderfahrung menschlicher Bewegung ist, dass bei Bewegungen ein Körperteil die Führung übernimmt und im laufenden Bewegungsprozess der ,Restkörper‘ durch Skelett-, Muskel- und Sehnenapparat verbunden, folgt. Wenn ich gehe, so verlagere ich mein Gewicht auf das Standbein, lasse das andere Bein die Führung übernehmen und organisierte meinen gesamten ,Restkörper‘ so, dass über Gewichtsverlagerung, Gleichgewichthalten und Folgen der anderen Körperteile der Schritt nach vorne gelingt. Diese Bewegungserfahrung des Führens und Folgens ist in beliebigen Bewegungsabläufen nachvollziehbar und wird besonders dann deutlich, wenn Menschen miteinander in eine Bewegungsinteraktion eintreten.''<br />
: ''Da in der Schule Lernen in einer Gruppe stattfindet, halte ich es für wichtig, am Beispiel des Führens und Folgens den interaktionalen Bewegungsaspekt - als Metapher schulischen Lernens - zu dokumentieren.<br />
: ''Indem Schüler lernen, einen anderen Schüler möglichst mit geschlossenen Augen durch einen Raum zu führen, machen sie auf der Bewegungsebene so grundsätzliche Erfahrungen, die in ihren Einzelheiten nur punktuell zu beschreiben sind.<br />
: ''Sie bringen Vertrauen in den Interaktionsprozess mit ein, sie lassen Körperkontakt zu, sie machen neue Erfahrungen im taktilen und motorischen Bereich sowie in ihrer Bewegungswahrnehmung, sie differenzieren ihre Bewegung, sie passen sich an, sie orientieren sich, sie entdecken neue Bewegungen, sie agieren und reagieren, sie kommunizieren in wechselseitigem Führen und Folgen. Nahtstelle der Kommunikation ist die Art und Weise des Berührungskontaktes, die Qualität und Intensität der feinmotorischen Kontaktebene, die immer neu verändert und variiert wird.<br />
: ''Ein solches Lernen differenziert nicht nur die Bewegungs- und Wahrnehmungsfähigkeit der Schüler, sondern macht ihnen auch sehr viel Spass; es schafft Nähe und Vertrauen und fördert ein Lernklima, in dem sich der einzelne Schüler verstanden fühlt. ''<br />
: ''Lernen die Schüler ihre Körper differenzierter und beweglicher zu benutzen und wahrzunehmen, werden sie nicht nur auf der körperlichen Ebene gelenkiger, sondern sie werden ganzheitlich beweglicher, d.h. sie erweitern und differenzieren über diese Körperarbeit auch ihre kognitiven, emotionalen und sprachlichen Fähigkeiten, ohne diese Lernbahnen für diese Lernprozesse überhaupt benutzt zu haben."'' <br />
<br />
Quelle: '''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):'''Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 10 und S. 39ff<br />
<br />
== Kommentare, Auswertung und offene Fragen ==<br />
Im Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ findet der Begriff Bewegungserfahrung weitere Erwähnung als grundlegendes Werkzeug im Zusammenhang mit den Themen [[Lernmodell]], [[Feedback-Control-Theorie]], Lernen und Lernen, Erfahrung und Denken.<br />
<br />
Mit den Quellenangaben aus dem Originaltext, des Heftes Kinästhetik Bulletin Nr.16 von 1990, konnten die angegebenen Zitate nicht einfach gefunden werden. Die Angaben in den Einzelnachweisen entsprechen aktuellen Recherchen.<br />
<br />
Zu den Texten von K. U. Smith waren nur Spuren auffindbar.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[1.-Person-Methode]]<br />
* [[Feedback-Control-Theorie]]<br />
* [[Lernspirale]]<br />
* [[Lernzyklus]]<br />
* [[Erfahren (Begriff)]]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Lernen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Bewegungserfahrung&diff=4940Bewegungserfahrung2024-01-30T10:37:59Z<p>Sabine Kaserer: /* Bewegungserfahrung in „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Es geht um die '''Bewegungserfahrung''' als Grundlage des Lernens. Diese spezifische Lernmethode erlaubt es, während der Ausführung einer Aktivität die Aufmerksamkeit bewusst auf erfahrbare Unterschiede zu lenken. Als wichtiges Instrument zur Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung hat die Bewegungserfahrung eine direkte Wirkung auf das Körperbewusstsein. <br>Der Artikel besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Bewegungserfahrung. <br />
== Bewegungserfahrung in „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird und eine grundlegende Beschreibung des Verständnisses von Lernen im Kontext von Kinästhetik und Kybernetik darstellt. Das Zitat umfasst den Beginn des ersten Kapitels „1. Lernen in Kinaesthetics-Kursen“ und zeigt Ausschnitte der Unterkapitel „1.1. Was und wie lernen Sie in Kinaesthetics-Kursen?“ „1.2. Vom Tun und der Innenperspektive zur Theoriebildung“ sowie den Text von „1.3. Die Bewegungserfahrungen“.<br />
<br />
: „'''''<big>1. Lernen in Kinaesthetics-Kursen</big>'''''<br><br />
:''In diesem Kapitel wird das Lernen in den Basiskursen in einem kurzen Überblick dargestellt und Kinaesthetics als eine [[1.-Person-Methode]] beschrieben, die von der konkreten, individuellen und subjektiven Erfahrung ausgeht. Die folgenden Unterthemen beschreiben die elementaren Kinaesthetics-Lernwerkzeuge der '''Bewegungserfahrungen''' sowie der schriftlichen und gemeinsamen Reflexion. Auf diesen Grundlagen wird zuletzt die Rolle der Kinaesthetics-TrainerIn thematisiert.''<br />
<br />
: '''''1.1. Was und wie lernen Sie in Kinaesthetics-Kursen?'''''<br><br />
:''In Kinaesthetics-Kursen werden Sie dazu angeleitet, die eigene Bewegung differenziert wahrzunehmen, zu steuern und anzupassen. Dies geschieht durch die Ausführung ganz einfacher und alltäglicher Aktivitäten: Sie drehen sich z. B. vom Liegen in der Rückenlage auf den Bauch oder Sie sitzen auf dem Boden und stehen auf, allein oder zusammen mit einer anderen Person. Diese Aktivitäten werden durch die gezielte Lenkung der Aufmerksamkeit zu bewussten '''Bewegungserfahrungen''', welche die Quelle Ihres eigenen Forschungsprozesses bilden. Mit Ihrem kinästhetischen Sinnessystem versuchen Sie zu merken, welche Unterschiede für Sie unter einem bestimmten Blickwinkel des Kinaesthetics-Konzeptsystems erfahrbar sind und welche Rolle diese in Ihrer Bewegung spielen. Auf dieser Grundlage und durch die persönliche und gemeinsame Reflexion Ihrer Erfahrungen entwickeln Sie mit Kinaesthetics die Sensibilität Ihrer Bewegungswahrnehmung, Ihre Bewegungskompetenz und ein differenziertes Verständnis der menschlichen Bewegung.''<br />
:''Das Interesse für die fein abgestufte Wahrnehmung, Steuerung und Anpassung unserer ganz alltäglichen Bewegungsmuster macht eine Besonderheit von Kinaesthetics aus. Es geht darum, ein differenziertes Bewusstsein für etwas Selbstverständliches zu entwickeln, das im Alltag meist ‚automatisch‘ und unbewusst abläuft. [...]''<br />
<br />
: ''''' 1.2. Vom Tun und der Innenperspektive zur Theoriebildung '''''<br><br />
: '' Kinaesthetics verfolgte von Anfang an eine Methode des Lehrens und Lernens, die sich grundsätzlich von traditionellen und althergebrachten Formen von Schulungen unterscheidet. Die Grundlage des Lernens in Kinaesthetics bildet stets das praktische Tun, d. h. Ihre persönliche und subjektive Bewegungswahrnehmung in '''Bewegungserfahrungen'''. Das mit diesem Grundsatz verbundene Lernverständnis und die spezifischen Lern- und Schulungsmethoden sind untrennbar mit Kinaesthetics verbunden. Daher handelt es sich um eine ‚Erfahrungswissenschaft‘ im wahrsten Sinne des Wortes: Kinaesthetics schafft Wissen durch Erfahrung. […]''<br />
<br />
: '''''1.3. Die Bewegungserfahrungen'''''<br><br />
: '''''1.3.1. Einführung'''''<br><br />
: ''Die '''Bewegungserfahrungen''' bilden die Grundlage des Lernens in Kinaesthetics. Bei dieser spezifischen Lernmethode geht es darum, dass Sie während der Ausführung einer Aktivität Ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Unterschiede lenken, die für Sie mit Ihrer Bewegungswahrnehmung erfahrbar sind. Dabei ermöglicht Ihnen ein bestimmter Fokus (lateinisch, ‚Brennpunkt‘) oder Blickwinkel der sechs Kinaesthetics-Konzepte die bewusste Lenkung der Achtsamkeit. So erforschen Sie allein oder in einer gemeinsamen Bewegung mit einer anderen Person, wie Sie z. B. den Unterschied zwischen parallelen und spiraligen Bewegungsmustern in sich selbst wahrnehmen.<br />
: ''Es ist wichtig, dass Sie sich nicht von Ihren Annahmen oder von Ihrem Denken leiten lassen, was für Sie wie oder warum erfahrbar sein wird. Versuchen Sie, auf ein vorausgehendes oder gleichzeitiges Denken und Reflektieren zu verzichten, um möglichst tief und differenziert in die Erfahrung Ihrer Bewegung zu gehen. Versuchen Sie ebenso, die Erfahrung eines Unterschiedes nicht gleichzeitig zu werten (‚So geht es besser, so schlechter‘). Lenken Sie in '''Bewegungserfahrungen''' unvoreingenommen Ihre volle Achtsamkeit darauf, wie Sie die Unterschiede, die Sie durch Ihre eigene Bewegung hervorbringen, wahrnehmen.<br />
: ''Diese Methode der differenzierten Auseinandersetzung mit der eigenen Bewegung ist ein über viele Jahre entwickeltes und erprobtes Instrument zur Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung im Tun und zur Entwicklung der individuellen Bewegungskompetenz. Vielleicht konnten Sie schon in Ihrem Grundkurs feststellen, dass ein Kurstag mit vielen '''Bewegungserfahrungen''' eine direkte Wirkung auf Ihr körperliches Befinden und Ihr ganzes ,Körperbewusstsein‘ hat.<br />
: ''Kinaesthetics unterscheidet zwischen den beiden, im Folgenden beschriebenen Arten von '''Bewegungserfahrungen '''.<br />
<br />
: '''''1.3.2. Die Einzelerfahrungen'''''<br><br />
: ''In einer Einzelerfahrung werden Sie von der Kinaesthetics-TrainerIn angeleitet, mit einem bestimmten Fokus/Blickwinkel des Kinaesthetics-Konzeptsystems auf die Unterschiede zu achten, die Sie mit Ihrem kinästhetischen Sinn erfahren und wahrnehmen können. Sie führen dabei in oder ausgehend von irgendeiner Position eine alltägliche Aktivität aus. Die Unterschiede ergeben sich aus Ihrer individuellen Ausführung und Ihren Variationen der Aktivität. Das heißt, Sie sensibilisieren Ihre Bewegungswahrnehmung und erhöhen Ihre Bewegungskompetenz in Einzelerfahrungen dadurch, dass Sie lernen, unter den verschiedenen Blickwinkeln der sechs Kinaesthetics-Konzepte Unterschiede immer feiner und möglichst im ganzen Körper zu produzieren und wahrzunehmen.<br />
<br />
: '''''1.3.3. Die Partnererfahrungen'''''<br><br />
: ''Die Partnererfahrungen sind ein wichtiges Element von Kinaesthetics, da sie Lernprozesse erlauben, die in der Einzelerfahrung nicht möglich sind.<br />
: ''In der Partnererfahrung achten Sie wie in der Einzelerfahrung mit einem bestimmten Fokus auf die eigene Bewegung und führen dabei Aktivitäten in einer gemeinsamen Bewegung mit einer PartnerIn aus. Solche Bewegungsinteraktionen mit anderen Menschen sind deswegen eine hervorragende Lernmöglichkeit, weil die InteraktionspartnerInnen fortlaufend in irgendeiner Form Anpassungen an das Verhalten des Gegenübers vollziehen müssen. Die Partnererfahrungen stellen somit Ihre Bewegungskompetenz vor Herausforderungen, die sich nicht stellen, wenn Sie sich allein bewegen.<br />
: ''Die gemeinsame Bewegung mit einem anderen Menschen und die daraus entstehenden Unterschiede zu den eigenen, gewohnten Bewegungsmustern helfen auch, diese überhaupt oder leichter zu erkennen. Zusätzlich können Sie dadurch Varianten erfahren, die Ihnen ungewohnt sind. Darum sind Partnererfahrungen ein ausgezeichnetes Mittel zur Erweiterung und zu einem vertieften Verständnis des persönlichen Handlungsspielraumes.“'' <br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Erfahrung/Wahrnehmung und Wertung trennen'''“:<br />
: ''„In Kinaesthetics steht die präzise Wahrnehmung und Beschreibung der '''Bewegungserfahrungen''' im Vordergrund. Dabei wird das ‚Gewahrwerden‘ der eigenen Bewegung und seine Beschreibung von der Wertung der Erfahrung (richtig – falsch, besser – schlechter) getrennt. Kinaesthetics geht nicht davon aus, dass es eine bestimmte ‚richtige‘ Art und Weise gibt, wie jeder Mensch sich allein oder mit anderen Menschen zusammen bewegen sollte. Die Bewertung der Ausführung einer Aktivität ergibt sich nur aus einem konkreten Kontext und besonders aus den Absichten der Beteiligten. So ist z. B. ein paralleles Bewegungsmuster richtig bzw. passend für ein gezieltes Training bestimmter Muskeln, aber unpassend zum Aufsitzen nach einer Bauchoperation.“''<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Innen und außen'''“:<br />
: '' „Es ist eine große Herausforderung, sich während einer Partnererfahrung v. a. auf die Qualität der eigenen Bewegung zu konzentrieren. Wenn wir im Alltag mit einem anderen Menschen Körperkontakt haben, richten wir unsere Aufmerksamkeit meistens viel stärker auf diesen und nach außen als nach innen und auf die eigene Bewegung(swahrnehmung). Genau durch sie können wir aber sehr präzise Rückmeldungen über die Bewegungsmöglichkeiten eines anderen Menschen erhalten, wenn wir ihn in seiner Bewegung unterstützen wollen.''<br />
: ''Kinaesthetics geht davon aus, dass die Qualität und das Lernpotenzial einer Bewegungsinteraktion wesentlich dadurch bestimmt wird, wie gut und differenziert die InteraktionspartnerInnen auf ihre eigene Bewegung achten und sie an die gemeinsame Absicht anpassen können. ''<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 8 ff.''<br />
<br />
Im Unterkapitel 2.2.1. „Der [[Lernzyklus]]“ findet sich eine Beschreibung der Bedeutung von '''Bewegungserfahrungen''' innerhalb der einzelnen Aktivitäten des Kinaesthetics-Lernzyklus.<br />
<br />
[...]<br />
[[Datei:Lernzyklus-color DE.jpg|500px|zentriert]]<br />
''Der Lernzyklus<br>Der Aufbau, die Teile und Schwerpunkte des Lernzyklus''<br />
<br />
:„'''''Einstiegsaktivitäten'''''<br>''Im Einstieg wird Ihnen das Thema vorgestellt und es erfolgt eine Einführung mithilfe der Sprache oder auch mit kurzen '''Bewegungserfahrungen'''. Dabei ist wichtig zu klären, in welchem Kontext und mit welcher Absicht das Thema untersucht wird, welche Bedeutung es in diesem Kontext haben kann und welche Anknüpfungspunkte es zu anderen Themen bietet.''<br />
: ''Der Einstieg dient auch der Bestimmung Ihrer persönlichen Ausgangslage bezüglich des Themas. Dies kann durch die Ausführung und Dokumentation einer geeigneten '''Bewegungserfahrung''' geschehen oder durch irgendeine andere Erfahrung, die Ihnen z. B. Aufschluss über Ihre aktuellen Annahmen gibt. Diese ,Vergleichsaktivität (A1)‘ wird am Ende des Lernzyklus als ,Vergleichsaktivität (A2)‘ wieder aufgenommen, um einen Vergleich vorzunehmen. Das schriftliche Dokumentieren der Vergleichsaktivitäten erlaubt Ihnen dabei einen zuverlässigeren Vergleich Ihrer Erfahrungen oder Annahmen.''<br />
:'''''Lernaktivitäten'''''<br>[...] ''In einem Lernzyklus zu einem Kinaesthetics-Konzept werden v. a. die Einzel- und Partnererfahrungen (vgl. Kapitel 1.3.) als Lernaktivitäten verwendet. Für diese Bewegungserfahrungen wird jeweils ein Fokus des Konzeptsystems festgelegt und erklärt.''<br />
: ''Das hauptsächliche Lernthema ist die Entwicklung einer differenzierten Bewegungswahrnehmung, -steuerung und -anpassung durch die Erforschung und Analyse Ihrer grundsätzlichen Bewegungsmöglichkeiten.[...]<br />
:'''''Ausstiegsaktivitäten'''''<br>''Im Ausstiegsteil führen Sie die Vergleichsaktivität des Einstiegs erneut aus und beschreiben, wie Sie diese jetzt wahrnehmen und was Ihr aktueller Standort in Bezug auf das Thema ist. Der Vergleich zwischen der Ausgangslage und dem aktuellen Standort erleichtert es Ihnen, Ihre Lernfortschritte zu erkennen und auszuwerten. Achten Sie bei der Auswertung Ihres Lernprozesses darauf, welche Erfahrungen, Erkenntnisse und Ideen aus dem ganzen Lernzyklus für Sie eine besondere Bedeutung haben, aber auch darauf, wo für Sie noch offene Fragen bestehen.“''<br />
''<br />
<br />
Im Unterkapitel 2.2.2. „Die [[Lernspirale]]“ findet sich die Beschreibung dieser Methode, '''Bewegungserfahrungen''' strukturiert zur Bearbeitung einer konkreten Problemstellung zu nutzen. <br />
[[Datei:Lernspirale-color DE.jpg|500px|zentriert]]<br />
: „'''''2.2.1. Die Lernspirale'''''<br><br />
: ''Die ,Lernspirale‘ ist eine Methode, die Sie anwenden lernen, um konkrete Problemstellungen aus Ihrem beruflichen oder privaten Alltag mit Kinaesthetics zu bearbeiten. Sie geht von der Erfahrung der Situation im Tun aus und kann in der Form einer Spirale über die Schritte des Reflektierens, Variierens, Entscheidens und erneuten Tuns beliebig fortgesetzt werden.<br />
: ''Die Lernspirale durchbricht das gängige Muster, dass beim Auftreten eines Problems geradlinig nach seiner Lösung und Behebung gesucht wird. Ihr Motto heißt: Es geht nicht darum, das Problem zu lösen, sondern sich vom Problem zu lösen.<br />
: ''Die Analyse und Reflexion der Situation aus der Innenperspektive Ihrer '''Bewegungserfahrungen''', die Beschäftigung mit vielen möglichen Varianten und die Auswertung Ihrer Erfahrungen lenken Ihre Aufmerksamkeit weg von der Suche nach Lösungen. Mit diesem Vorgehen achten Sie vielmehr auf das Lern- und Entwicklungspotenzial der Situation und loten es differenziert und in aller Breite aus. Der spiralförmige Aufbau der Methode führt dazu, dass Sie die ,Lösungen‘ des Problems stets wieder mit demselben Vorgehen der Entwicklung der Situation anpassen können. Dadurch wird eine nachhaltige Bearbeitung von Problemstellungen möglich.[...]<br />
<br />
: '''''Reflektieren'''''<br>''Sie reflektieren die Erfahrung der Ausgangslage, indem Sie mit eigenen '''Bewegungserfahrungen''' die Aktivitäten der Situation nachvollziehen. Wenn mehrere Personen in die Situation einbezogen sind, begeben Sie sich in alle Rollen. Es ist sinnvoll die Zahl der Aktivitäten, die Sie analysieren wollen, zu beschränken. Zudem lohnt es sich, auf die Schlüsselstellen der Situation zu achten, wo es ‚klemmt‘ oder spannend wird, und besonders die damit verbundenen Aktivitäten zu untersuchen. Verwenden Sie für Ihre Einzel- und Partnererfahrungen die verschiedenen Blickwinkel des Kinaesthetics-Konzeptsystems. Dokumentieren Sie Ihre Erfahrungen z. B. mit dem [[Konzept-Raster]] und achten Sie dabei darauf, Ihre Beobachtungen und nicht die Bewertung derselben zu beschreiben. Überlegen Sie sich, welche Blickwinkel des Konzeptsystems Ihnen für die Situation besonders bedeutsam erscheinen.''<br />
<br />
: ''Dieser Teil der Lernspirale ermöglicht es Ihnen, aus der Bewegungs- und Innenperspektive die ausgewählten Aktivitäten der Praxissituation differenziert zu analysieren und Konzeptblickwinkel zu finden, die für die Schlüsselstellen bedeutsam sind.<br />
<br />
: '''''Variieren'''''<br>''Im nächsten Schritt gilt es – ohne sich an der Lösung des Problems zu orientieren – die Aktivitäten der Schlüsselstellen, die Sie beim Reflektieren untersucht haben, in '''Bewegungserfahrungen''' möglichst breit zu variieren. Sie benutzen dazu die auf der Grundlage der Reflexion ausgewählte Blickwinkel des Konzeptsystems, um die [[Unterschied|Unterschiede]] in der Gestaltung der Aktivität präzise wahrnehmen, beschreiben und vergleichen zu können. Gehen Sie feinen, kleinen Unterschieden nach, suchen Sie aber auch nach ungewöhnlichen oder ,verrückten‘ Varianten. Nicht selten zeigt sich in ihnen die zugrunde liegende Problematik in aller Schärfe oder es tut sich überraschenderweise ein gangbarer Weg auf. Gleichzeitig besteht für Sie die Möglichkeit, die eigene Kreativität in der Bewegung auf diese Weise spielerisch zu entwickeln.[...]<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 20 ff.'''<br />
<br />
== Bewegungserfahrung in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“ und bieten uns konkrete Anleitungen für Bewegungserfahrung. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „K. U. Smith: Die Verhaltenskybernetik“ eingebettet. Das zweite Zitat ist Teil des Unterkapitels 4.3.4. „Wahrnehmung und Bewegung “.<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „''Wir können nicht stehen!''“:<br />
: ''„Um darzustellen, wie das menschliche Verhalten funktioniert, wird oft eine Computer-Metapher verwendet. Dementsprechend wäre z. B. die Fähigkeit ,Stehen‘ im Gehirn gespeichert, würde bei Bedarf von dieser ,Festplatte‘ abgerufen und von der Motorik ausgeführt. K. U. Smith konnte nachweisen, dass eine solche lineare Computer-Metapher die Verhaltensregulation unzutreffend beschreibt. Aus einer kybernetischen Perspektive ist es vielmehr so, dass durch das zirkuläre Zusammenspiel zwischen der motorischen Aktivität, der Sinneswahrnehmung und der Verarbeitung dieser Wahrnehmung durch das Nervensystem ein Regelkreis entsteht, der das Stehen steuert, oder treffender formuliert: durch fortlaufende Fehlerkorrektur das Umfallen verhindert. Smith prägte hierfür den Begriff ,Feedback Control‘ (Rückkoppelungskontrolle).<br />
: ''Eine kleine '''Bewegungserfahrung'''. Probieren Sie es selbst aus. Stehen Sie auf ein Bein und schließen Sie dabei die Augen. Anfänglich beschreiben Sie diese Erfahrung vielleicht als Unsicherheit. Achten Sie auf Ihre eigene Bewegung. Nun erfahren Sie, was grundsätzlich für die Verhaltensregulation gilt, solange Sie leben: Sie korrigieren ständig ,Fehler‘, die Sie durch ihre eigene Bewegung erzeugen und wahrnehmen. Wenn Sie das Experiment weiterführen, können Sie feststellen, dass Sie auch in allen anderen Positionen ständig damit beschäftigt sind, mit ihrer eigenen, aktiven Bewegung ihre Position in der Schwerkraft zu kontrollieren und zu korrigieren.“'' <br />
<br />
Das zweite Zitat ist in das sechste Kapitel „Kinästhetik ist praktische Kybernetik“ eingebettet und fungiert dort als Grundlage für die Formulierung grundsätzlicher und weiterführender Fragestellungen, sowie für das Unterthema 6.2. Selbstregulation und persönliches Lernen.<br />
<br />
: ''„'''Bewegungserfahrung'''<br />
: ''Nehmen Sie sich zu Beginn der Lektüre dieser Zeilen ein paar Minuten Zeit, um die folgende Anleitung zu einer für die Kinästhetik typischen Bewegungserfahrung auszuführen (genauer: Einzelerfahrung; European Kinaesthetics Association 2020b<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7.</ref>, S. 10 f.). Dies wird Ihnen zum nötigen Anknüpfungspunkt für die Fortsetzung Ihrer Lektüre verhelfen und Ihnen das Verständnis der sich anschließenden Themen erleichtern.''<br />
: ''Setzen Sie sich auf die Vorderkante eines Stuhles. Schließen Sie die Augen und beobachten Sie, wie Sie Ihr Sitzen wahrnehmen. Was ist für Sie mit Ihrem kinästhetischen Sinnessystem (vgl. Infobox S. 56) erfahrbar? Achten Sie besonders auf Ihre Spannung und auf die kleinen Anpassungsbewegungen, die es Ihnen ermöglichen, in dieser Position zu bleiben. Heben Sie anschließend Ihre Beine so an, dass die Füße den Boden nicht mehr berühren. Beschreiben Sie wieder für sich, wie Sie jetzt Ihr Sitzen, Ihre Spannung und die damit verbundenen Anpassungsbewegungen wahrnehmen. Erforschen Sie dann die Unterschiede, die Ihnen mit Ihrer Bewegungswahrnehmung erfahrbar sind, je nachdem, wie Sie die Position Ihrer Füße, Arme usw. im Sitzen verändern.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 35 und S. 56.<br />
<br />
== Bewegungserfahrung im 16. Kinästhetik-Bulletin von 1990 ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Heft Kinästhetik Bulletin Nr.16 von 1990. In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik wird im zweiten Kapitel unter der Überschrift „Kinästhetisches Lehrmodell“ die „Grundüberzeugung“ beschrieben, „dass Bewegung- und Wahrnehmungserfahrung die Grundlage allen Lernens ist“. <ref>'''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 8.</ref>. <br />
: „'''''Das Lehrmodell'''''<br><br />
: ''Das Grundsätzliche war nicht immer Ausgangspunkt für die Entwicklung unserer Methode. Diese ergab sich viel eher aus einem Zickzack-Prozess, bei dem wir das eine Mal Ideen übernahmen und im eigenen Körper erlebten, und ein anderes Mal von ''' Bewegungserfahrungen ''' ausgingen, die wir dann zu erklären versuchten. Im Verlauf der Jahre fassten wir diese Grundsätze des menschlichen Lebens und die Art zu lernen in ein Lehrmodell, bei dem Lehrer und Schüler gemeinsam lernen. Es ist unsere Grundüberzeugung, dass ''' Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrung ''' die Grundlage allen Lernens ist. Daraus haben sich viele weitere Grundsätze ergeben, woraus wir Übungen entwickelten, die den Leuten helfen, Beziehungen und Muster in der eigenen Bewegung zu erkennen. Durch strukturierte '''Bewegungserfahrungen''' entwickelt ein Teilnehmer im Kinästhetik-Unterricht differenziertere sensomotorische Fähigkeiten, die Grundlage aller menschlichen Fähigkeiten überhaupt. Er lernt dabei, seine Erfahrungen einzuordnen, indem er ihre Muster und Beziehungen analysiert. Es ist wichtig für den Lernprozess, zwischen Erfahrung und deren Formulierung hin- und herzugehen. Sie sind zugleich Metaphern, die uns helfen, komplexere kognitive Ebenen von Lernen und Kommunikation zu verstehen.<br />
<br />
: ''Wer einen Kinästhetik-Kurs oder eine Einzelsitzung besucht, wird unter vielen Gesichtspunkten - sei es in der Bewegung allein oder mit anderen - Beziehungen erforschen. Im eigenen Körper erfahrene Themen begegnen ihm auch in anderen Situationen: bei der Arbeit, in der Schule oder in sozialen Begegnungen usw. Die zentrale Rolle eines Kinästhetik-Kurses ist die persönliche Erfahrung der Bewegung und deren Bewusstwerdung.<br />
: ''Frank Hatch, Lenny Maietta, 17. Juni 1989 (Übers. Brigitte Huber)."''<br />
<br />
Im fünften Kapitel „Anwendungen“, „5.2. Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ (verfasst von Hugo Krakau), finden sich unter „2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten?“ Beschreibungen des Verständnisses und der Bedeutung von Bewegungserfahrung für die Lernfähigkeit. Das folgende Zitat umfasst die ersten beiden Unterkapitel „2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium“ und „2.2. Orientierung an den Fähigkeiten des Kindes“ sowie „3. Führen und Folgen als Metapher für schulisches Lernen“.<br />
<br />
: „'''''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium'''''<br><br />
: ''Die theoretische Grundannahme der Kinästhetik geht davon aus, dass die Lernfähigkeit des Menschen in seiner Bewegungs- und Wahrnehmungsfähigkeit begründet liegt.<br />
: ''Deshalb ist die Basis der Kinästhetik die eigene '''Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrung'''.<br />
: ''Alle Sinne des Menschen sind Systeme, die Bewegungsmustern folgen und damit auf seiner Bewegungsfähigkeit basieren. Ohne Bewegung gibt es keine Wahrnehmung (Poincaré 1904<ref>'''Poincaré, Henri (1904):''' Wissenschaft und Hypothese. Übersetzt von E. und H. Weber. Leipzig: B. G. Teubner. Originaltitel: La science et l'hypothèse.</ref>). Weder Hören, Sehen, Riechen, Schmecken noch Tasten sind möglich ohne zumindest minimale Bewegungen. Somit fällt beim menschlichen Wahrnehmungsprozess dem kinästhetischen Sinn eine zentrale Rolle zu.<br />
: ''Ebenso zentral und elementar ist das Phänomen der Berührung für die menschliche Entwicklung. Für Piaget hat die frühkindliche senso-motorische Wahrnehmung des Kindes nicht nur eine Schlüsselfunktion für seine intellektuelle, sondern für die gesamte Entwicklung (vgl. Piaget, 1984<ref>'''Piaget, Jean (1984):''' Psychologie der Intelligenz. Mit e. Einf. von Hans Aebli. 8. Aufl. in d. vollst. überarb. Übers. d. 2. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta. ISBN 978-3-12-936360-7. Originaltitel: La psychologie de l'intelligence.</ref>).''<br />
: ''Das taktile System hat einen besonderen Stellenwert innerhalb des Sinnessystems. Berührung ist die Sinneserfahrung, die die unmittelbarste Form von Interaktion und den direktesten Kontakt zu einem anderen Menschen erlaubt. Berührung stellt ferner die direkteste Verbindung zur Bewegung des anderen Menschen her. Die Rückmeldung über Berührung ist schneller und präziser als das Feedback aller anderen Sinnessysteme (vgl. Smith, K. U. 1972<ref>'''Smith, K. U. (1972): '''Social Tracking and Social Feedback Control: The Experimental Foundation of Social Cybernetics. Madison, Wisconsin: Behavioral Cybernetics Laboratory.</ref>).<br />
: ''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern<br />
: ''So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird: ''<br />
: '',Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br />
: ''Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.: ''<br />
: ''Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.‘<br />
: ''(Ayres, A.J. 1984, S.66<ref>'''Ayres, A. Jean (1984):''' Bausteine der kindlichen Entwicklung. Die Bedeutung der Integration der Sinne für die Entwicklung des Kindes. Mit Unterstützung von Jeff Robbins; aus dem Amerikan. übers. von I. Flehmig und R.-W. Flehmig. Berlin: Springer. ISBN 3-540-13303-8. Originaltitel: Sensory integration and the child.</ref>)''<br />
<br />
: '''''2.2. Orientierung an den Fähigkeiten des Kindes'''''<br><br />
: ''Kinästhetik bietet in dieser vierjährigen berufsbegleitenden Zusatzausbildung ein Handlungskonzept, das sich nicht primär an den Defiziten der Schüler orientiert, an der Frage, was er nicht kann, wie es zum Beispiel im Sonderschulaufnahmeverfahren üblich ist, sondern sie orientiert sich an den Fähigkeiten des Kindes, an dem, was es kann. Um beim Beispiel des Schülers zu bleiben, dessen Lese-Schreib-Lehrgang bisher ohne grossen Lernerfolg blieb: Die Arbeit des kinästhetisch denkenden Lehrers beginnt mit der Stützung und mit dem Ausbau der Bewegungsfähigkeiten, die für den Lese-Schreib-Prozess von Bedeutung sind und die der Schüler kann, wie etwa:<br />
: ''Spielerisches Ausführen von vertikalen und horizontalen Augenbewegungen, Differenzierung von Augenbewegung und Kopfbewegung, Unterstützung der Augen- bzw. Kopfbewegung durch andere Körperteile wie Hand, Arm, Finger, Füsse usw.: ''<br />
: ''Die Aufmerksamkeit des kinästhetisch orientierten Lehrers liegt auf den senso-motorischen Komponenten dieses komplexen Lernvorgangs.<br />
: ''Von der Plattform seiner Fähigkeiten ausgehend, macht der Schüler neue '''Bewegungserfahrungen''' und erweitert damit seine Fähigkeiten, die bald dazu führen, dass er die Defizite, die zu seinem Versagen im Lese-Schreib- Lehrgang geführt haben, abgebaut hat, ohne durch frustrierendes Schreiben und Lesen-Oben noch mehr entmutigt worden zu sein.<br />
: ''Die Orientierung der Kinästhetik an den Fähigkeiten der Schüler ist nicht neu. Neu jedoch ist das methodische Konzept, der Theoriehintergrund, der die Brücke schlägt zwischen der Theorie und dem praktischen sonderpädagogischen Handeln über die motorische und taktile Lernbahn.<br />
<br />
: ''[...]<br />
<br />
: '''''3. Führen und Folgen als Metapher für schulisches Lernen'''''<br><br />
: ''Aus kinästhetischer Sicht lässt sich Lernen als Interaktionsprozess von Führen und Folgen beschreiben, der in seiner optimalen Form die Rollenverteilung von Führen (Lehren) und Folgen (Lernen) nicht festschreibt und den idealen Lernprozess im Bild des Tanzes beschreibt, bei dem die Führung zwischen den Tanzenden hin und her wechselt bzw. beide Tanzpartner führen oder beide folgen.: ''<br />
: ''Ich möchte im folgenden den Versuch machen, am praktischen Beispiel kinästhetische Arbeit zu dokumentieren, wohl wissend, dass Sprache, und noch mehr Schriftsprache, das nicht geeignete Medium ist, '''Bewegungserfahrung''' zu vermitteln. Beschreibung und Bilddokumentation werden ein unangemessener Übermittlungsversuch bleiben, weil Bewegungserfahrung nicht über Sprache, sondern nur über Bewegungserfahrung vermittelbar ist.<br />
: ''In der Kinästhetik wird der eigene Körper als die entscheidende Lern-Metapher benutzt. Du bist dein Körper. Du lernst so, wie dein Körper ist. Die Beherrschung unterschiedlicher körperlicher Funktionen führt zu unterschiedlichen Arten des Lernens und zu differenzierter Qualität von Wahrnehmung.<br />
: ''Eine wesentliche funktionale Grunderfahrung menschlicher Bewegung ist, dass bei Bewegungen ein Körperteil die Führung übernimmt und im laufenden Bewegungsprozess der ,Restkörper‘ durch Skelett-, Muskel- und Sehnenapparat verbunden, folgt. Wenn ich gehe, so verlagere ich mein Gewicht auf das Standbein, lasse das andere Bein die Führung übernehmen und organisierte meinen gesamten ,Restkörper‘ so, dass über Gewichtsverlagerung, Gleichgewichthalten und Folgen der anderen Körperteile der Schritt nach vorne gelingt. Diese Bewegungserfahrung des Führens und Folgens ist in beliebigen Bewegungsabläufen nachvollziehbar und wird besonders dann deutlich, wenn Menschen miteinander in eine Bewegungsinteraktion eintreten.''<br />
: ''Da in der Schule Lernen in einer Gruppe stattfindet, halte ich es für wichtig, am Beispiel des Führens und Folgens den interaktionalen Bewegungsaspekt - als Metapher schulischen Lernens - zu dokumentieren.<br />
: ''Indem Schüler lernen, einen anderen Schüler möglichst mit geschlossenen Augen durch einen Raum zu führen, machen sie auf der Bewegungsebene so grundsätzliche Erfahrungen, die in ihren Einzelheiten nur punktuell zu beschreiben sind.<br />
: ''Sie bringen Vertrauen in den Interaktionsprozess mit ein, sie lassen Körperkontakt zu, sie machen neue Erfahrungen im taktilen und motorischen Bereich sowie in ihrer Bewegungswahrnehmung, sie differenzieren ihre Bewegung, sie passen sich an, sie orientieren sich, sie entdecken neue Bewegungen, sie agieren und reagieren, sie kommunizieren in wechselseitigem Führen und Folgen. Nahtstelle der Kommunikation ist die Art und Weise des Berührungskontaktes, die Qualität und Intensität der feinmotorischen Kontaktebene, die immer neu verändert und variiert wird.<br />
: ''Ein solches Lernen differenziert nicht nur die Bewegungs- und Wahrnehmungsfähigkeit der Schüler, sondern macht ihnen auch sehr viel Spass; es schafft Nähe und Vertrauen und fördert ein Lernklima, in dem sich der einzelne Schüler verstanden fühlt. ''<br />
: ''Lernen die Schüler ihre Körper differenzierter und beweglicher zu benutzen und wahrzunehmen, werden sie nicht nur auf der körperlichen Ebene gelenkiger, sondern sie werden ganzheitlich beweglicher, d.h. sie erweitern und differenzieren über diese Körperarbeit auch ihre kognitiven, emotionalen und sprachlichen Fähigkeiten, ohne diese Lernbahnen für diese Lernprozesse überhaupt benutzt zu haben."'' <br />
<br />
Quelle: '''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):'''Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 10 und S. 39ff<br />
<br />
== Kommentare, Auswertung und offene Fragen ==<br />
Im Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ findet der Begriff Bewegungserfahrung weitere Erwähnung als grundlegendes Werkzeug im Zusammenhang mit den Themen [[Lernmodell]], [[Feedback-Control-Theorie]], Lernen und Lernen, Erfahrung und Denken.<br />
<br />
Mit den Quellenangaben aus dem Originaltext, des Heftes Kinästhetik Bulletin Nr.16 von 1990, konnten die angegebenen Zitate nicht einfach gefunden werden. Die Angaben in den Einzelnachweisen entsprechen aktuellen Recherchen.<br />
<br />
Zu den Texten von K. U. Smith waren nur Spuren auffindbar.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[1.-Person-Methode]]<br />
* [[Feedback-Control-Theorie]]<br />
* [[Lernspirale]]<br />
* [[Lernzyklus]]<br />
* [[Erfahren (Begriff)]]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Lernen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Bewegungserfahrung&diff=4925Bewegungserfahrung2024-01-10T15:02:33Z<p>Sabine Kaserer: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Es geht um die '''Bewegungserfahrung''' als Grundlage des Lernens. Diese spezifische Lernmethode erlaubt es, während der Ausführung einer Aktivität die Aufmerksamkeit bewusst auf erfahrbare Unterschiede zu lenken. Als wichtiges Instrument zur Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung hat die Bewegungserfahrung eine direkte Wirkung auf das Körperbewusstsein. <br>Der Artikel besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Bewegungserfahrung. <br />
== Bewegungserfahrung in „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird und eine grundlegende Beschreibung des Verständnisses von Lernen im Kontext von Kinästhetik und Kybernetik darstellt. Das Zitat umfasst den Beginn des ersten Kapitels „1. Lernen in Kinaesthetics-Kursen“ und zeigt Ausschnitte der Unterkapitel „1.1. Was und wie lernen Sie in Kinaesthetics-Kursen?“ „1.2. Vom Tun und der Innenperspektive zur Theoriebildung“ sowie den Text von „1.3. Die Bewegungserfahrungen“.<br />
<br />
: „'''''<big>1. Lernen in Kinaesthetics-Kursen</big>'''''<br><br />
:''In diesem Kapitel wird das Lernen in den Basiskursen in einem kurzen Überblick dargestellt und Kinaesthetics als eine [[1.-Person-Methode]] beschrieben, die von der konkreten, individuellen und subjektiven Erfahrung ausgeht. Die folgenden Unterthemen beschreiben die elementaren Kinaesthetics-Lernwerkzeuge der '''Bewegungserfahrungen''' sowie der schriftlichen und gemeinsamen Reflexion. Auf diesen Grundlagen wird zuletzt die Rolle der Kinaesthetics-TrainerIn thematisiert.''<br />
<br />
: '''''1.1. Was und wie lernen Sie in Kinaesthetics-Kursen?'''''<br><br />
:''In Kinaesthetics-Kursen werden Sie dazu angeleitet, die eigene Bewegung differenziert wahrzunehmen, zu steuern und anzupassen. Dies geschieht durch die Ausführung ganz einfacher und alltäglicher Aktivitäten: Sie drehen sich z. B. vom Liegen in der Rückenlage auf den Bauch oder Sie sitzen auf dem Boden und stehen auf, allein oder zusammen mit einer anderen Person. Diese Aktivitäten werden durch die gezielte Lenkung der Aufmerksamkeit zu bewussten '''Bewegungserfahrungen''', welche die Quelle Ihres eigenen Forschungsprozesses bilden. Mit Ihrem kinästhetischen Sinnessystem versuchen Sie zu merken, welche Unterschiede für Sie unter einem bestimmten Blickwinkel des Kinaesthetics-Konzeptsystems erfahrbar sind und welche Rolle diese in Ihrer Bewegung spielen. Auf dieser Grundlage und durch die persönliche und gemeinsame Reflexion Ihrer Erfahrungen entwickeln Sie mit Kinaesthetics die Sensibilität Ihrer Bewegungswahrnehmung, Ihre Bewegungskompetenz und ein differenziertes Verständnis der menschlichen Bewegung.''<br />
:''Das Interesse für die fein abgestufte Wahrnehmung, Steuerung und Anpassung unserer ganz alltäglichen Bewegungsmuster macht eine Besonderheit von Kinaesthetics aus. Es geht darum, ein differenziertes Bewusstsein für etwas Selbstverständliches zu entwickeln, das im Alltag meist ‚automatisch‘ und unbewusst abläuft. [...]''<br />
<br />
: ''''' 1.2. Vom Tun und der Innenperspektive zur Theoriebildung '''''<br><br />
: '' Kinaesthetics verfolgte von Anfang an eine Methode des Lehrens und Lernens, die sich grundsätzlich von traditionellen und althergebrachten Formen von Schulungen unterscheidet. Die Grundlage des Lernens in Kinaesthetics bildet stets das praktische Tun, d. h. Ihre persönliche und subjektive Bewegungswahrnehmung in '''Bewegungserfahrungen'''. Das mit diesem Grundsatz verbundene Lernverständnis und die spezifischen Lern- und Schulungsmethoden sind untrennbar mit Kinaesthetics verbunden. Daher handelt es sich um eine ‚Erfahrungswissenschaft‘ im wahrsten Sinne des Wortes: Kinaesthetics schafft Wissen durch Erfahrung. […]''<br />
<br />
: '''''1.3. Die Bewegungserfahrungen'''''<br><br />
: '''''1.3.1. Einführung'''''<br><br />
: ''Die '''Bewegungserfahrungen''' bilden die Grundlage des Lernens in Kinaesthetics. Bei dieser spezifischen Lernmethode geht es darum, dass Sie während der Ausführung einer Aktivität Ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Unterschiede lenken, die für Sie mit Ihrer Bewegungswahrnehmung erfahrbar sind. Dabei ermöglicht Ihnen ein bestimmter Fokus (lateinisch, ‚Brennpunkt‘) oder Blickwinkel der sechs Kinaesthetics-Konzepte die bewusste Lenkung der Achtsamkeit. So erforschen Sie allein oder in einer gemeinsamen Bewegung mit einer anderen Person, wie Sie z. B. den Unterschied zwischen parallelen und spiraligen Bewegungsmustern in sich selbst wahrnehmen.<br />
: ''Es ist wichtig, dass Sie sich nicht von Ihren Annahmen oder von Ihrem Denken leiten lassen, was für Sie wie oder warum erfahrbar sein wird. Versuchen Sie, auf ein vorausgehendes oder gleichzeitiges Denken und Reflektieren zu verzichten, um möglichst tief und differenziert in die Erfahrung Ihrer Bewegung zu gehen. Versuchen Sie ebenso, die Erfahrung eines Unterschiedes nicht gleichzeitig zu werten (‚So geht es besser, so schlechter‘). Lenken Sie in '''Bewegungserfahrungen''' unvoreingenommen Ihre volle Achtsamkeit darauf, wie Sie die Unterschiede, die Sie durch Ihre eigene Bewegung hervorbringen, wahrnehmen.<br />
: ''Diese Methode der differenzierten Auseinandersetzung mit der eigenen Bewegung ist ein über viele Jahre entwickeltes und erprobtes Instrument zur Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung im Tun und zur Entwicklung der individuellen Bewegungskompetenz. Vielleicht konnten Sie schon in Ihrem Grundkurs feststellen, dass ein Kurstag mit vielen '''Bewegungserfahrungen''' eine direkte Wirkung auf Ihr körperliches Befinden und Ihr ganzes ,Körperbewusstsein‘ hat.<br />
: ''Kinaesthetics unterscheidet zwischen den beiden, im Folgenden beschriebenen Arten von '''Bewegungserfahrungen '''.<br />
<br />
: '''''1.3.2. Die Einzelerfahrungen'''''<br><br />
: ''In einer Einzelerfahrung werden Sie von der Kinaesthetics-TrainerIn angeleitet, mit einem bestimmten Fokus/Blickwinkel des Kinaesthetics-Konzeptsystems auf die Unterschiede zu achten, die Sie mit Ihrem kinästhetischen Sinn erfahren und wahrnehmen können. Sie führen dabei in oder ausgehend von irgendeiner Position eine alltägliche Aktivität aus. Die Unterschiede ergeben sich aus Ihrer individuellen Ausführung und Ihren Variationen der Aktivität. Das heißt, Sie sensibilisieren Ihre Bewegungswahrnehmung und erhöhen Ihre Bewegungskompetenz in Einzelerfahrungen dadurch, dass Sie lernen, unter den verschiedenen Blickwinkeln der sechs Kinaesthetics-Konzepte Unterschiede immer feiner und möglichst im ganzen Körper zu produzieren und wahrzunehmen.<br />
<br />
: '''''1.3.3. Die Partnererfahrungen'''''<br><br />
: ''Die Partnererfahrungen sind ein wichtiges Element von Kinaesthetics, da sie Lernprozesse erlauben, die in der Einzelerfahrung nicht möglich sind.<br />
: ''In der Partnererfahrung achten Sie wie in der Einzelerfahrung mit einem bestimmten Fokus auf die eigene Bewegung und führen dabei Aktivitäten in einer gemeinsamen Bewegung mit einer PartnerIn aus. Solche Bewegungsinteraktionen mit anderen Menschen sind deswegen eine hervorragende Lernmöglichkeit, weil die InteraktionspartnerInnen fortlaufend in irgendeiner Form Anpassungen an das Verhalten des Gegenübers vollziehen müssen. Die Partnererfahrungen stellen somit Ihre Bewegungskompetenz vor Herausforderungen, die sich nicht stellen, wenn Sie sich allein bewegen.<br />
: ''Die gemeinsame Bewegung mit einem anderen Menschen und die daraus entstehenden Unterschiede zu den eigenen, gewohnten Bewegungsmustern helfen auch, diese überhaupt oder leichter zu erkennen. Zusätzlich können Sie dadurch Varianten erfahren, die Ihnen ungewohnt sind. Darum sind Partnererfahrungen ein ausgezeichnetes Mittel zur Erweiterung und zu einem vertieften Verständnis des persönlichen Handlungsspielraumes.“'' <br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Erfahrung/Wahrnehmung und Wertung trennen'''“:<br />
: ''„In Kinaesthetics steht die präzise Wahrnehmung und Beschreibung der '''Bewegungserfahrungen''' im Vordergrund. Dabei wird das ‚Gewahrwerden‘ der eigenen Bewegung und seine Beschreibung von der Wertung der Erfahrung (richtig – falsch, besser – schlechter) getrennt. Kinaesthetics geht nicht davon aus, dass es eine bestimmte ‚richtige‘ Art und Weise gibt, wie jeder Mensch sich allein oder mit anderen Menschen zusammen bewegen sollte. Die Bewertung der Ausführung einer Aktivität ergibt sich nur aus einem konkreten Kontext und besonders aus den Absichten der Beteiligten. So ist z. B. ein paralleles Bewegungsmuster richtig bzw. passend für ein gezieltes Training bestimmter Muskeln, aber unpassend zum Aufsitzen nach einer Bauchoperation.“''<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Innen und außen'''“:<br />
: '' „Es ist eine große Herausforderung, sich während einer Partnererfahrung v. a. auf die Qualität der eigenen Bewegung zu konzentrieren. Wenn wir im Alltag mit einem anderen Menschen Körperkontakt haben, richten wir unsere Aufmerksamkeit meistens viel stärker auf diesen und nach außen als nach innen und auf die eigene Bewegung(swahrnehmung). Genau durch sie können wir aber sehr präzise Rückmeldungen über die Bewegungsmöglichkeiten eines anderen Menschen erhalten, wenn wir ihn in seiner Bewegung unterstützen wollen.''<br />
: ''Kinaesthetics geht davon aus, dass die Qualität und das Lernpotenzial einer Bewegungsinteraktion wesentlich dadurch bestimmt wird, wie gut und differenziert die InteraktionspartnerInnen auf ihre eigene Bewegung achten und sie an die gemeinsame Absicht anpassen können. ''<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 8 ff.''<br />
<br />
Im Unterkapitel 2.2.1. „Der [[Lernzyklus]]“ findet sich eine Beschreibung der Bedeutung von '''Bewegungserfahrungen''' innerhalb der einzelnen Aktivitäten des Kinaesthetics-Lernzyklus.<br />
<br />
[...]<br />
[[Datei:Lernzyklus-color DE.jpg|500px|zentriert]]<br />
''Der Lernzyklus<br>Der Aufbau, die Teile und Schwerpunkte des Lernzyklus''<br />
<br />
:'''''Einstiegsaktivitäten'''''<br><br />
: ''Im Einstieg wird Ihnen das Thema vorgestellt und es erfolgt eine Einführung mithilfe der Sprache oder auch mit kurzen '''Bewegungserfahrungen'''. Dabei ist wichtig zu klären, in welchem Kontext und mit welcher Absicht das Thema untersucht wird, welche Bedeutung es in diesem Kontext haben kann und welche Anknüpfungspunkte es zu anderen Themen bietet.<br />
: ''Der Einstieg dient auch der Bestimmung Ihrer persönlichen Ausgangslage bezüglich des Themas. Dies kann durch die Ausführung und Dokumentation einer geeigneten '''Bewegungserfahrung''' geschehen oder durch irgendeine andere Erfahrung, die Ihnen z. B. Aufschluss über Ihre aktuellen Annahmen gibt. Diese ,Vergleichsaktivität (A1)‘ wird am Ende des Lernzyklus als ,Vergleichsaktivität (A2)‘ wieder aufgenommen, um einen Vergleich vorzunehmen. Das schriftliche Dokumentieren der Vergleichsaktivitäten erlaubt Ihnen dabei einen zuverlässigeren Vergleich Ihrer Erfahrungen oder Annahmen.''<br />
:'''''Lernaktivitäten'''''<br><br />
:[...] ''In einem Lernzyklus zu einem Kinaesthetics-Konzept werden v. a. die Einzel- und Partnererfahrungen (vgl. Kapitel 1.3.) als Lernaktivitäten verwendet. Für diese Bewegungserfahrungen wird jeweils ein Fokus des Konzeptsystems festgelegt und erklärt.<br />
: ''Das hauptsächliche Lernthema ist die Entwicklung einer differenzierten Bewegungswahrnehmung, -steuerung und -anpassung durch die Erforschung und Analyse Ihrer grundsätzlichen Bewegungsmöglichkeiten.[...]<br />
:'''''Ausstiegsaktivitäten'''''<br><br />
: ''Im Ausstiegsteil führen Sie die Vergleichsaktivität des Einstiegs erneut aus und beschreiben, wie Sie diese jetzt wahrnehmen und was Ihr aktueller Standort in Bezug auf das Thema ist. Der Vergleich zwischen der Ausgangslage und dem aktuellen Standort erleichtert es Ihnen, Ihre Lernfortschritte zu erkennen und auszuwerten. Achten Sie bei der Auswertung Ihres Lernprozesses darauf, welche Erfahrungen, Erkenntnisse und Ideen aus dem ganzen Lernzyklus für Sie eine besondere Bedeutung haben, aber auch darauf, wo für Sie noch offene Fragen bestehen.“<br />
''<br />
<br />
Im Unterkapitel 2.2.2. „Die [[Lernspirale]]“ findet sich die Beschreibung dieser Methode, '''Bewegungserfahrungen''' strukturiert zur Bearbeitung einer konkreten Problemstellung zu nutzen. <br />
[[Datei:Lernspirale-color DE.jpg|500px|zentriert]]<br />
: „'''''2.2.1. Die Lernspirale'''''<br><br />
: ''Die ,Lernspirale‘ ist eine Methode, die Sie anwenden lernen, um konkrete Problemstellungen aus Ihrem beruflichen oder privaten Alltag mit Kinaesthetics zu bearbeiten. Sie geht von der Erfahrung der Situation im Tun aus und kann in der Form einer Spirale über die Schritte des Reflektierens, Variierens, Entscheidens und erneuten Tuns beliebig fortgesetzt werden.<br />
: ''Die Lernspirale durchbricht das gängige Muster, dass beim Auftreten eines Problems geradlinig nach seiner Lösung und Behebung gesucht wird. Ihr Motto heißt: Es geht nicht darum, das Problem zu lösen, sondern sich vom Problem zu lösen.<br />
: ''Die Analyse und Reflexion der Situation aus der Innenperspektive Ihrer '''Bewegungserfahrungen''', die Beschäftigung mit vielen möglichen Varianten und die Auswertung Ihrer Erfahrungen lenken Ihre Aufmerksamkeit weg von der Suche nach Lösungen. Mit diesem Vorgehen achten Sie vielmehr auf das Lern- und Entwicklungspotenzial der Situation und loten es differenziert und in aller Breite aus. Der spiralförmige Aufbau der Methode führt dazu, dass Sie die ,Lösungen‘ des Problems stets wieder mit demselben Vorgehen der Entwicklung der Situation anpassen können. Dadurch wird eine nachhaltige Bearbeitung von Problemstellungen möglich.[...]<br />
<br />
: '''''Reflektieren'''''<br>''Sie reflektieren die Erfahrung der Ausgangslage, indem Sie mit eigenen '''Bewegungserfahrungen''' die Aktivitäten der Situation nachvollziehen. Wenn mehrere Personen in die Situation einbezogen sind, begeben Sie sich in alle Rollen. Es ist sinnvoll die Zahl der Aktivitäten, die Sie analysieren wollen, zu beschränken. Zudem lohnt es sich, auf die Schlüsselstellen der Situation zu achten, wo es ‚klemmt‘ oder spannend wird, und besonders die damit verbundenen Aktivitäten zu untersuchen. Verwenden Sie für Ihre Einzel- und Partnererfahrungen die verschiedenen Blickwinkel des Kinaesthetics-Konzeptsystems. Dokumentieren Sie Ihre Erfahrungen z. B. mit dem [[Konzept-Raster]] und achten Sie dabei darauf, Ihre Beobachtungen und nicht die Bewertung derselben zu beschreiben. Überlegen Sie sich, welche Blickwinkel des Konzeptsystems Ihnen für die Situation besonders bedeutsam erscheinen.''<br />
<br />
: ''Dieser Teil der Lernspirale ermöglicht es Ihnen, aus der Bewegungs- und Innenperspektive die ausgewählten Aktivitäten der Praxissituation differenziert zu analysieren und Konzeptblickwinkel zu finden, die für die Schlüsselstellen bedeutsam sind.<br />
<br />
: '''''Variieren'''''<br>''Im nächsten Schritt gilt es – ohne sich an der Lösung des Problems zu orientieren – die Aktivitäten der Schlüsselstellen, die Sie beim Reflektieren untersucht haben, in '''Bewegungserfahrungen''' möglichst breit zu variieren. Sie benutzen dazu die auf der Grundlage der Reflexion ausgewählte Blickwinkel des Konzeptsystems, um die [[Unterschied|Unterschiede]] in der Gestaltung der Aktivität präzise wahrnehmen, beschreiben und vergleichen zu können. Gehen Sie feinen, kleinen Unterschieden nach, suchen Sie aber auch nach ungewöhnlichen oder ,verrückten‘ Varianten. Nicht selten zeigt sich in ihnen die zugrunde liegende Problematik in aller Schärfe oder es tut sich überraschenderweise ein gangbarer Weg auf. Gleichzeitig besteht für Sie die Möglichkeit, die eigene Kreativität in der Bewegung auf diese Weise spielerisch zu entwickeln.[...]<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 20 ff.'''<br />
<br />
== Bewegungserfahrung in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“ und bieten uns konkrete Anleitungen für Bewegungserfahrung. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „K. U. Smith: Die Verhaltenskybernetik“ eingebettet. Das zweite Zitat ist Teil des Unterkapitels 4.3.4. „Wahrnehmung und Bewegung “.<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „''Wir können nicht stehen!''“:<br />
: ''„Um darzustellen, wie das menschliche Verhalten funktioniert, wird oft eine Computer-Metapher verwendet. Dementsprechend wäre z. B. die Fähigkeit ,Stehen‘ im Gehirn gespeichert, würde bei Bedarf von dieser ,Festplatte‘ abgerufen und von der Motorik ausgeführt. K. U. Smith konnte nachweisen, dass eine solche lineare Computer-Metapher die Verhaltensregulation unzutreffend beschreibt. Aus einer kybernetischen Perspektive ist es vielmehr so, dass durch das zirkuläre Zusammenspiel zwischen der motorischen Aktivität, der Sinneswahrnehmung und der Verarbeitung dieser Wahrnehmung durch das Nervensystem ein Regelkreis entsteht, der das Stehen steuert, oder treffender formuliert: durch fortlaufende Fehlerkorrektur das Umfallen verhindert. Smith prägte hierfür den Begriff ,Feedback Control‘ (Rückkoppelungskontrolle).<br />
: ''Eine kleine '''Bewegungserfahrung'''. Probieren Sie es selbst aus. Stehen Sie auf ein Bein und schließen Sie dabei die Augen. Anfänglich beschreiben Sie diese Erfahrung vielleicht als Unsicherheit. Achten Sie auf Ihre eigene Bewegung. Nun erfahren Sie, was grundsätzlich für die Verhaltensregulation gilt, solange Sie leben: Sie korrigieren ständig ,Fehler‘, die Sie durch ihre eigene Bewegung erzeugen und wahrnehmen. Wenn Sie das Experiment weiterführen, können Sie feststellen, dass Sie auch in allen anderen Positionen ständig damit beschäftigt sind, mit ihrer eigenen, aktiven Bewegung ihre Position in der Schwerkraft zu kontrollieren und zu korrigieren.“'' <br />
<br />
Das zweite Zitat ist in das sechste Kapitel „Kinästhetik ist praktische Kybernetik“ eingebettet und fungiert dort als Grundlage für die Formulierung grundsätzlicher und weiterführender Fragestellungen, sowie für das Unterthema 6.2. Selbstregulation und persönliches Lernen.<br />
<br />
: ''„'''Bewegungserfahrung'''<br />
: ''Nehmen Sie sich zu Beginn der Lektüre dieser Zeilen ein paar Minuten Zeit, um die folgende Anleitung zu einer für die Kinästhetik typischen Bewegungserfahrung auszuführen (genauer: Einzelerfahrung; European Kinaesthetics Association 2020b<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7.</ref>, S. 10 f.). Dies wird Ihnen zum nötigen Anknüpfungspunkt für die Fortsetzung Ihrer Lektüre verhelfen und Ihnen das Verständnis der sich anschließenden Themen erleichtern.''<br />
: ''Setzen Sie sich auf die Vorderkante eines Stuhles. Schließen Sie die Augen und beobachten Sie, wie Sie Ihr Sitzen wahrnehmen. Was ist für Sie mit Ihrem kinästhetischen Sinnessystem (vgl. Infobox S. 56) erfahrbar? Achten Sie besonders auf Ihre Spannung und auf die kleinen Anpassungsbewegungen, die es Ihnen ermöglichen, in dieser Position zu bleiben. Heben Sie anschließend Ihre Beine so an, dass die Füße den Boden nicht mehr berühren. Beschreiben Sie wieder für sich, wie Sie jetzt Ihr Sitzen, Ihre Spannung und die damit verbundenen Anpassungsbewegungen wahrnehmen. Erforschen Sie dann die Unterschiede, die Ihnen mit Ihrer Bewegungswahrnehmung erfahrbar sind, je nachdem, wie Sie die Position Ihrer Füße, Arme usw. im Sitzen verändern.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 35 und S. 56.<br />
<br />
== Bewegungserfahrung im 16. Kinästhetik-Bulletin von 1990 ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Heft Kinästhetik Bulletin Nr.16 von 1990. In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik wird im zweiten Kapitel unter der Überschrift „Kinästhetisches Lehrmodell“ die „Grundüberzeugung“ beschrieben, „dass Bewegung- und Wahrnehmungserfahrung die Grundlage allen Lernens ist“. <ref>'''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 8.</ref>. <br />
: „'''''Das Lehrmodell'''''<br><br />
: ''Das Grundsätzliche war nicht immer Ausgangspunkt für die Entwicklung unserer Methode. Diese ergab sich viel eher aus einem Zickzack-Prozess, bei dem wir das eine Mal Ideen übernahmen und im eigenen Körper erlebten, und ein anderes Mal von ''' Bewegungserfahrungen ''' ausgingen, die wir dann zu erklären versuchten. Im Verlauf der Jahre fassten wir diese Grundsätze des menschlichen Lebens und die Art zu lernen in ein Lehrmodell, bei dem Lehrer und Schüler gemeinsam lernen. Es ist unsere Grundüberzeugung, dass ''' Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrung ''' die Grundlage allen Lernens ist. Daraus haben sich viele weitere Grundsätze ergeben, woraus wir Übungen entwickelten, die den Leuten helfen, Beziehungen und Muster in der eigenen Bewegung zu erkennen. Durch strukturierte '''Bewegungserfahrungen''' entwickelt ein Teilnehmer im Kinästhetik-Unterricht differenziertere sensomotorische Fähigkeiten, die Grundlage aller menschlichen Fähigkeiten überhaupt. Er lernt dabei, seine Erfahrungen einzuordnen, indem er ihre Muster und Beziehungen analysiert. Es ist wichtig für den Lernprozess, zwischen Erfahrung und deren Formulierung hin- und herzugehen. Sie sind zugleich Metaphern, die uns helfen, komplexere kognitive Ebenen von Lernen und Kommunikation zu verstehen.<br />
<br />
: ''Wer einen Kinästhetik-Kurs oder eine Einzelsitzung besucht, wird unter vielen Gesichtspunkten - sei es in der Bewegung allein oder mit anderen - Beziehungen erforschen. Im eigenen Körper erfahrene Themen begegnen ihm auch in anderen Situationen: bei der Arbeit, in der Schule oder in sozialen Begegnungen usw. Die zentrale Rolle eines Kinästhetik-Kurses ist die persönliche Erfahrung der Bewegung und deren Bewusstwerdung.<br />
: ''Frank Hatch, Lenny Maietta, 17. Juni 1989 (Übers. Brigitte Huber)."''<br />
<br />
Im fünften Kapitel „Anwendungen“, „5.2. Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ (verfasst von Hugo Krakau), finden sich unter „2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten?“ Beschreibungen des Verständnisses und der Bedeutung von Bewegungserfahrung für die Lernfähigkeit. Das folgende Zitat umfasst die ersten beiden Unterkapitel „2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium“ und „2.2. Orientierung an den Fähigkeiten des Kindes“ sowie „3. Führen und Folgen als Metapher für schulisches Lernen“.<br />
<br />
: „'''''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium'''''<br><br />
: ''Die theoretische Grundannahme der Kinästhetik geht davon aus, dass die Lernfähigkeit des Menschen in seiner Bewegungs- und Wahrnehmungsfähigkeit begründet liegt.<br />
: ''Deshalb ist die Basis der Kinästhetik die eigene '''Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrung'''.<br />
: ''Alle Sinne des Menschen sind Systeme, die Bewegungsmustern folgen und damit auf seiner Bewegungsfähigkeit basieren. Ohne Bewegung gibt es keine Wahrnehmung (Poincaré 1904<ref>'''Poincaré, Henri (1904):''' Wissenschaft und Hypothese. Übersetzt von E. und H. Weber. Leipzig: B. G. Teubner. Originaltitel: La science et l'hypothèse.</ref>). Weder Hören, Sehen, Riechen, Schmecken noch Tasten sind möglich ohne zumindest minimale Bewegungen. Somit fällt beim menschlichen Wahrnehmungsprozess dem kinästhetischen Sinn eine zentrale Rolle zu.<br />
: ''Ebenso zentral und elementar ist das Phänomen der Berührung für die menschliche Entwicklung. Für Piaget hat die frühkindliche senso-motorische Wahrnehmung des Kindes nicht nur eine Schlüsselfunktion für seine intellektuelle, sondern für die gesamte Entwicklung (vgl. Piaget, 1984<ref>'''Piaget, Jean (1984):''' Psychologie der Intelligenz. Mit e. Einf. von Hans Aebli. 8. Aufl. in d. vollst. überarb. Übers. d. 2. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta. ISBN 978-3-12-936360-7. Originaltitel: La psychologie de l'intelligence.</ref>).''<br />
: ''Das taktile System hat einen besonderen Stellenwert innerhalb des Sinnessystems. Berührung ist die Sinneserfahrung, die die unmittelbarste Form von Interaktion und den direktesten Kontakt zu einem anderen Menschen erlaubt. Berührung stellt ferner die direkteste Verbindung zur Bewegung des anderen Menschen her. Die Rückmeldung über Berührung ist schneller und präziser als das Feedback aller anderen Sinnessysteme (vgl. Smith, K. U. 1972<ref>'''Smith, K. U. (1972): '''Social Tracking and Social Feedback Control: The Experimental Foundation of Social Cybernetics. Madison, Wisconsin: Behavioral Cybernetics Laboratory.</ref>).<br />
: ''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern<br />
: ''So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird: ''<br />
: '',Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br />
: ''Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.: ''<br />
: ''Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.‘<br />
: ''(Ayres, A.J. 1984, S.66<ref>'''Ayres, A. Jean (1984):''' Bausteine der kindlichen Entwicklung. Die Bedeutung der Integration der Sinne für die Entwicklung des Kindes. Mit Unterstützung von Jeff Robbins; aus dem Amerikan. übers. von I. Flehmig und R.-W. Flehmig. Berlin: Springer. ISBN 3-540-13303-8. Originaltitel: Sensory integration and the child.</ref>)''<br />
<br />
: '''''2.2. Orientierung an den Fähigkeiten des Kindes'''''<br><br />
: ''Kinästhetik bietet in dieser vierjährigen berufsbegleitenden Zusatzausbildung ein Handlungskonzept, das sich nicht primär an den Defiziten der Schüler orientiert, an der Frage, was er nicht kann, wie es zum Beispiel im Sonderschulaufnahmeverfahren üblich ist, sondern sie orientiert sich an den Fähigkeiten des Kindes, an dem, was es kann. Um beim Beispiel des Schülers zu bleiben, dessen Lese-Schreib-Lehrgang bisher ohne grossen Lernerfolg blieb: Die Arbeit des kinästhetisch denkenden Lehrers beginnt mit der Stützung und mit dem Ausbau der Bewegungsfähigkeiten, die für den Lese-Schreib-Prozess von Bedeutung sind und die der Schüler kann, wie etwa:<br />
: ''Spielerisches Ausführen von vertikalen und horizontalen Augenbewegungen, Differenzierung von Augenbewegung und Kopfbewegung, Unterstützung der Augen- bzw. Kopfbewegung durch andere Körperteile wie Hand, Arm, Finger, Füsse usw.: ''<br />
: ''Die Aufmerksamkeit des kinästhetisch orientierten Lehrers liegt auf den senso-motorischen Komponenten dieses komplexen Lernvorgangs.<br />
: ''Von der Plattform seiner Fähigkeiten ausgehend, macht der Schüler neue '''Bewegungserfahrungen''' und erweitert damit seine Fähigkeiten, die bald dazu führen, dass er die Defizite, die zu seinem Versagen im Lese-Schreib- Lehrgang geführt haben, abgebaut hat, ohne durch frustrierendes Schreiben und Lesen-Oben noch mehr entmutigt worden zu sein.<br />
: ''Die Orientierung der Kinästhetik an den Fähigkeiten der Schüler ist nicht neu. Neu jedoch ist das methodische Konzept, der Theoriehintergrund, der die Brücke schlägt zwischen der Theorie und dem praktischen sonderpädagogischen Handeln über die motorische und taktile Lernbahn.<br />
<br />
: ''[...]<br />
<br />
: '''''3. Führen und Folgen als Metapher für schulisches Lernen'''''<br><br />
: ''Aus kinästhetischer Sicht lässt sich Lernen als Interaktionsprozess von Führen und Folgen beschreiben, der in seiner optimalen Form die Rollenverteilung von Führen (Lehren) und Folgen (Lernen) nicht festschreibt und den idealen Lernprozess im Bild des Tanzes beschreibt, bei dem die Führung zwischen den Tanzenden hin und her wechselt bzw. beide Tanzpartner führen oder beide folgen.: ''<br />
: ''Ich möchte im folgenden den Versuch machen, am praktischen Beispiel kinästhetische Arbeit zu dokumentieren, wohl wissend, dass Sprache, und noch mehr Schriftsprache, das nicht geeignete Medium ist, '''Bewegungserfahrung''' zu vermitteln. Beschreibung und Bilddokumentation werden ein unangemessener Übermittlungsversuch bleiben, weil Bewegungserfahrung nicht über Sprache, sondern nur über Bewegungserfahrung vermittelbar ist.<br />
: ''In der Kinästhetik wird der eigene Körper als die entscheidende Lern-Metapher benutzt. Du bist dein Körper. Du lernst so, wie dein Körper ist. Die Beherrschung unterschiedlicher körperlicher Funktionen führt zu unterschiedlichen Arten des Lernens und zu differenzierter Qualität von Wahrnehmung.<br />
: ''Eine wesentliche funktionale Grunderfahrung menschlicher Bewegung ist, dass bei Bewegungen ein Körperteil die Führung übernimmt und im laufenden Bewegungsprozess der "Restkörper" durch Skelett-, Muskel- und Sehnenapparat verbunden, folgt. Wenn ich gehe, so verlagere ich mein Gewicht auf das Standbein, lasse das andere Bein die Führung übernehmen und organisierte meinen gesamten ,Restkörper‘ so, dass über Gewichtsverlagerung, Gleichgewichthalten und Folgen der anderen Körperteile der Schritt nach vorne gelingt. Diese Bewegungserfahrung des Führens und Folgens ist in beliebigen Bewegungsabläufen nachvollziehbar und wird besonders dann deutlich, wenn Menschen miteinander in eine Bewegungsinteraktion eintreten.<br />
: ''Da in der Schule Lernen in einer Gruppe stattfindet, halte ich es für wichtig, am Beispiel des Führens und Folgens den interaktionalen Bewegungsaspekt - als Metapher schulischen Lernens - zu dokumentieren.<br />
: ''Indem Schüler lernen, einen anderen Schüler möglichst mit geschlossenen Augen durch einen Raum zu führen, machen sie auf der Bewegungsebene so grundsätzliche Erfahrungen, die in ihren Einzelheiten nur punktuell zu beschreiben sind.<br />
: ''Sie bringen Vertrauen in den Interaktionsprozess mit ein, sie lassen Körperkontakt zu, sie machen neue Erfahrungen im taktilen und motorischen Bereich sowie in ihrer Bewegungswahrnehmung, sie differenzieren ihre Bewegung, sie passen sich an, sie orientieren sich, sie entdecken neue Bewegungen, sie agieren und reagieren, sie kommunizieren in wechselseitigem Führen und Folgen. Nahtstelle der Kommunikation ist die Art und Weise des Berührungskontaktes, die Qualität und Intensität der feinmotorischen Kontaktebene, die immer neu verändert und variiert wird.<br />
: ''Ein solches Lernen differenziert nicht nur die Bewegungs- und Wahrnehmungsfähigkeit der Schüler, sondern macht ihnen auch sehr viel Spass; es schafft Nähe und Vertrauen und fördert ein Lernklima, in dem sich der einzelne Schüler verstanden fühlt. ''<br />
: ''Lernen die Schüler ihre Körper differenzierter und beweglicher zu benutzen und wahrzunehmen, werden sie nicht nur auf der körperlichen Ebene gelenkiger, sondern sie werden ganzheitlich beweglicher, d.h. sie erweitern und differenzieren über diese Körperarbeit auch ihre kognitiven, emotionalen und sprachlichen Fähigkeiten, ohne diese Lernbahnen für diese Lernprozesse überhaupt benutzt zu haben."'' <br />
<br />
Quelle: '''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):'''Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 10 und S. 39ff<br />
<br />
== Kommentare, Auswertung und offene Fragen ==<br />
Im Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ findet der Begriff Bewegungserfahrung weitere Erwähnung als grundlegendes Werkzeug im Zusammenhang mit den Themen [[Lernmodell]], [[Feedback-Control-Theorie]], Lernen und Lernen, Erfahrung und Denken.<br />
<br />
Mit den Quellenangaben aus dem Originaltext, des Heftes Kinästhetik Bulletin Nr.16 von 1990, konnten die angegebenen Zitate nicht einfach gefunden werden. Die Angaben in den Einzelnachweisen entsprechen aktuellen Recherchen.<br />
<br />
Zu den Texten von K. U. Smith waren nur Spuren auffindbar.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[1.-Person-Methode]]<br />
* [[Feedback-Control-Theorie]]<br />
* [[Lernspirale]]<br />
* [[Lernzyklus]]<br />
* [[Erfahren (Begriff)]]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Lernen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Bewegungserfahrung&diff=4924Bewegungserfahrung2024-01-10T15:01:08Z<p>Sabine Kaserer: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Es geht um ''die '''Bewegungserfahrung''' als Grundlage des Lernens. Diese spezifische Lernmethode erlaubt es, während der Ausführung einer Aktivität die Aufmerksamkeit bewusst auf erfahrbare Unterschiede zu lenken. Als wichtiges Instrument zur Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung hat die Bewegungserfahrung eine direkte Wirkung auf das ,Körperbewusstsein‘.'' <br>Der Artikel besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Bewegungserfahrung. <br />
== Bewegungserfahrung in „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird und eine grundlegende Beschreibung des Verständnisses von Lernen im Kontext von Kinästhetik und Kybernetik darstellt. Das Zitat umfasst den Beginn des ersten Kapitels „1. Lernen in Kinaesthetics-Kursen“ und zeigt Ausschnitte der Unterkapitel „1.1. Was und wie lernen Sie in Kinaesthetics-Kursen?“ „1.2. Vom Tun und der Innenperspektive zur Theoriebildung“ sowie den Text von „1.3. Die Bewegungserfahrungen“.<br />
<br />
: „'''''<big>1. Lernen in Kinaesthetics-Kursen</big>'''''<br><br />
:''In diesem Kapitel wird das Lernen in den Basiskursen in einem kurzen Überblick dargestellt und Kinaesthetics als eine [[1.-Person-Methode]] beschrieben, die von der konkreten, individuellen und subjektiven Erfahrung ausgeht. Die folgenden Unterthemen beschreiben die elementaren Kinaesthetics-Lernwerkzeuge der '''Bewegungserfahrungen''' sowie der schriftlichen und gemeinsamen Reflexion. Auf diesen Grundlagen wird zuletzt die Rolle der Kinaesthetics-TrainerIn thematisiert.''<br />
<br />
: '''''1.1. Was und wie lernen Sie in Kinaesthetics-Kursen?'''''<br><br />
:''In Kinaesthetics-Kursen werden Sie dazu angeleitet, die eigene Bewegung differenziert wahrzunehmen, zu steuern und anzupassen. Dies geschieht durch die Ausführung ganz einfacher und alltäglicher Aktivitäten: Sie drehen sich z. B. vom Liegen in der Rückenlage auf den Bauch oder Sie sitzen auf dem Boden und stehen auf, allein oder zusammen mit einer anderen Person. Diese Aktivitäten werden durch die gezielte Lenkung der Aufmerksamkeit zu bewussten '''Bewegungserfahrungen''', welche die Quelle Ihres eigenen Forschungsprozesses bilden. Mit Ihrem kinästhetischen Sinnessystem versuchen Sie zu merken, welche Unterschiede für Sie unter einem bestimmten Blickwinkel des Kinaesthetics-Konzeptsystems erfahrbar sind und welche Rolle diese in Ihrer Bewegung spielen. Auf dieser Grundlage und durch die persönliche und gemeinsame Reflexion Ihrer Erfahrungen entwickeln Sie mit Kinaesthetics die Sensibilität Ihrer Bewegungswahrnehmung, Ihre Bewegungskompetenz und ein differenziertes Verständnis der menschlichen Bewegung.''<br />
:''Das Interesse für die fein abgestufte Wahrnehmung, Steuerung und Anpassung unserer ganz alltäglichen Bewegungsmuster macht eine Besonderheit von Kinaesthetics aus. Es geht darum, ein differenziertes Bewusstsein für etwas Selbstverständliches zu entwickeln, das im Alltag meist ‚automatisch‘ und unbewusst abläuft. [...]''<br />
<br />
: ''''' 1.2. Vom Tun und der Innenperspektive zur Theoriebildung '''''<br><br />
: '' Kinaesthetics verfolgte von Anfang an eine Methode des Lehrens und Lernens, die sich grundsätzlich von traditionellen und althergebrachten Formen von Schulungen unterscheidet. Die Grundlage des Lernens in Kinaesthetics bildet stets das praktische Tun, d. h. Ihre persönliche und subjektive Bewegungswahrnehmung in '''Bewegungserfahrungen'''. Das mit diesem Grundsatz verbundene Lernverständnis und die spezifischen Lern- und Schulungsmethoden sind untrennbar mit Kinaesthetics verbunden. Daher handelt es sich um eine ‚Erfahrungswissenschaft‘ im wahrsten Sinne des Wortes: Kinaesthetics schafft Wissen durch Erfahrung. […]''<br />
<br />
: '''''1.3. Die Bewegungserfahrungen'''''<br><br />
: '''''1.3.1. Einführung'''''<br><br />
: ''Die '''Bewegungserfahrungen''' bilden die Grundlage des Lernens in Kinaesthetics. Bei dieser spezifischen Lernmethode geht es darum, dass Sie während der Ausführung einer Aktivität Ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Unterschiede lenken, die für Sie mit Ihrer Bewegungswahrnehmung erfahrbar sind. Dabei ermöglicht Ihnen ein bestimmter Fokus (lateinisch, ‚Brennpunkt‘) oder Blickwinkel der sechs Kinaesthetics-Konzepte die bewusste Lenkung der Achtsamkeit. So erforschen Sie allein oder in einer gemeinsamen Bewegung mit einer anderen Person, wie Sie z. B. den Unterschied zwischen parallelen und spiraligen Bewegungsmustern in sich selbst wahrnehmen.<br />
: ''Es ist wichtig, dass Sie sich nicht von Ihren Annahmen oder von Ihrem Denken leiten lassen, was für Sie wie oder warum erfahrbar sein wird. Versuchen Sie, auf ein vorausgehendes oder gleichzeitiges Denken und Reflektieren zu verzichten, um möglichst tief und differenziert in die Erfahrung Ihrer Bewegung zu gehen. Versuchen Sie ebenso, die Erfahrung eines Unterschiedes nicht gleichzeitig zu werten (‚So geht es besser, so schlechter‘). Lenken Sie in '''Bewegungserfahrungen''' unvoreingenommen Ihre volle Achtsamkeit darauf, wie Sie die Unterschiede, die Sie durch Ihre eigene Bewegung hervorbringen, wahrnehmen.<br />
: ''Diese Methode der differenzierten Auseinandersetzung mit der eigenen Bewegung ist ein über viele Jahre entwickeltes und erprobtes Instrument zur Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung im Tun und zur Entwicklung der individuellen Bewegungskompetenz. Vielleicht konnten Sie schon in Ihrem Grundkurs feststellen, dass ein Kurstag mit vielen '''Bewegungserfahrungen''' eine direkte Wirkung auf Ihr körperliches Befinden und Ihr ganzes ,Körperbewusstsein‘ hat.<br />
: ''Kinaesthetics unterscheidet zwischen den beiden, im Folgenden beschriebenen Arten von '''Bewegungserfahrungen '''.<br />
<br />
: '''''1.3.2. Die Einzelerfahrungen'''''<br><br />
: ''In einer Einzelerfahrung werden Sie von der Kinaesthetics-TrainerIn angeleitet, mit einem bestimmten Fokus/Blickwinkel des Kinaesthetics-Konzeptsystems auf die Unterschiede zu achten, die Sie mit Ihrem kinästhetischen Sinn erfahren und wahrnehmen können. Sie führen dabei in oder ausgehend von irgendeiner Position eine alltägliche Aktivität aus. Die Unterschiede ergeben sich aus Ihrer individuellen Ausführung und Ihren Variationen der Aktivität. Das heißt, Sie sensibilisieren Ihre Bewegungswahrnehmung und erhöhen Ihre Bewegungskompetenz in Einzelerfahrungen dadurch, dass Sie lernen, unter den verschiedenen Blickwinkeln der sechs Kinaesthetics-Konzepte Unterschiede immer feiner und möglichst im ganzen Körper zu produzieren und wahrzunehmen.<br />
<br />
: '''''1.3.3. Die Partnererfahrungen'''''<br><br />
: ''Die Partnererfahrungen sind ein wichtiges Element von Kinaesthetics, da sie Lernprozesse erlauben, die in der Einzelerfahrung nicht möglich sind.<br />
: ''In der Partnererfahrung achten Sie wie in der Einzelerfahrung mit einem bestimmten Fokus auf die eigene Bewegung und führen dabei Aktivitäten in einer gemeinsamen Bewegung mit einer PartnerIn aus. Solche Bewegungsinteraktionen mit anderen Menschen sind deswegen eine hervorragende Lernmöglichkeit, weil die InteraktionspartnerInnen fortlaufend in irgendeiner Form Anpassungen an das Verhalten des Gegenübers vollziehen müssen. Die Partnererfahrungen stellen somit Ihre Bewegungskompetenz vor Herausforderungen, die sich nicht stellen, wenn Sie sich allein bewegen.<br />
: ''Die gemeinsame Bewegung mit einem anderen Menschen und die daraus entstehenden Unterschiede zu den eigenen, gewohnten Bewegungsmustern helfen auch, diese überhaupt oder leichter zu erkennen. Zusätzlich können Sie dadurch Varianten erfahren, die Ihnen ungewohnt sind. Darum sind Partnererfahrungen ein ausgezeichnetes Mittel zur Erweiterung und zu einem vertieften Verständnis des persönlichen Handlungsspielraumes.“'' <br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Erfahrung/Wahrnehmung und Wertung trennen'''“:<br />
: ''„In Kinaesthetics steht die präzise Wahrnehmung und Beschreibung der '''Bewegungserfahrungen''' im Vordergrund. Dabei wird das ‚Gewahrwerden‘ der eigenen Bewegung und seine Beschreibung von der Wertung der Erfahrung (richtig – falsch, besser – schlechter) getrennt. Kinaesthetics geht nicht davon aus, dass es eine bestimmte ‚richtige‘ Art und Weise gibt, wie jeder Mensch sich allein oder mit anderen Menschen zusammen bewegen sollte. Die Bewertung der Ausführung einer Aktivität ergibt sich nur aus einem konkreten Kontext und besonders aus den Absichten der Beteiligten. So ist z. B. ein paralleles Bewegungsmuster richtig bzw. passend für ein gezieltes Training bestimmter Muskeln, aber unpassend zum Aufsitzen nach einer Bauchoperation.“''<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Innen und außen'''“:<br />
: '' „Es ist eine große Herausforderung, sich während einer Partnererfahrung v. a. auf die Qualität der eigenen Bewegung zu konzentrieren. Wenn wir im Alltag mit einem anderen Menschen Körperkontakt haben, richten wir unsere Aufmerksamkeit meistens viel stärker auf diesen und nach außen als nach innen und auf die eigene Bewegung(swahrnehmung). Genau durch sie können wir aber sehr präzise Rückmeldungen über die Bewegungsmöglichkeiten eines anderen Menschen erhalten, wenn wir ihn in seiner Bewegung unterstützen wollen.''<br />
: ''Kinaesthetics geht davon aus, dass die Qualität und das Lernpotenzial einer Bewegungsinteraktion wesentlich dadurch bestimmt wird, wie gut und differenziert die InteraktionspartnerInnen auf ihre eigene Bewegung achten und sie an die gemeinsame Absicht anpassen können. ''<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 8 ff.''<br />
<br />
Im Unterkapitel 2.2.1. „Der [[Lernzyklus]]“ findet sich eine Beschreibung der Bedeutung von '''Bewegungserfahrungen''' innerhalb der einzelnen Aktivitäten des Kinaesthetics-Lernzyklus.<br />
<br />
[...]<br />
[[Datei:Lernzyklus-color DE.jpg|500px|zentriert]]<br />
''Der Lernzyklus<br>Der Aufbau, die Teile und Schwerpunkte des Lernzyklus''<br />
<br />
:'''''Einstiegsaktivitäten'''''<br><br />
: ''Im Einstieg wird Ihnen das Thema vorgestellt und es erfolgt eine Einführung mithilfe der Sprache oder auch mit kurzen '''Bewegungserfahrungen'''. Dabei ist wichtig zu klären, in welchem Kontext und mit welcher Absicht das Thema untersucht wird, welche Bedeutung es in diesem Kontext haben kann und welche Anknüpfungspunkte es zu anderen Themen bietet.<br />
: ''Der Einstieg dient auch der Bestimmung Ihrer persönlichen Ausgangslage bezüglich des Themas. Dies kann durch die Ausführung und Dokumentation einer geeigneten '''Bewegungserfahrung''' geschehen oder durch irgendeine andere Erfahrung, die Ihnen z. B. Aufschluss über Ihre aktuellen Annahmen gibt. Diese ,Vergleichsaktivität (A1)‘ wird am Ende des Lernzyklus als ,Vergleichsaktivität (A2)‘ wieder aufgenommen, um einen Vergleich vorzunehmen. Das schriftliche Dokumentieren der Vergleichsaktivitäten erlaubt Ihnen dabei einen zuverlässigeren Vergleich Ihrer Erfahrungen oder Annahmen.''<br />
:'''''Lernaktivitäten'''''<br><br />
:[...] ''In einem Lernzyklus zu einem Kinaesthetics-Konzept werden v. a. die Einzel- und Partnererfahrungen (vgl. Kapitel 1.3.) als Lernaktivitäten verwendet. Für diese Bewegungserfahrungen wird jeweils ein Fokus des Konzeptsystems festgelegt und erklärt.<br />
: ''Das hauptsächliche Lernthema ist die Entwicklung einer differenzierten Bewegungswahrnehmung, -steuerung und -anpassung durch die Erforschung und Analyse Ihrer grundsätzlichen Bewegungsmöglichkeiten.[...]<br />
:'''''Ausstiegsaktivitäten'''''<br><br />
: ''Im Ausstiegsteil führen Sie die Vergleichsaktivität des Einstiegs erneut aus und beschreiben, wie Sie diese jetzt wahrnehmen und was Ihr aktueller Standort in Bezug auf das Thema ist. Der Vergleich zwischen der Ausgangslage und dem aktuellen Standort erleichtert es Ihnen, Ihre Lernfortschritte zu erkennen und auszuwerten. Achten Sie bei der Auswertung Ihres Lernprozesses darauf, welche Erfahrungen, Erkenntnisse und Ideen aus dem ganzen Lernzyklus für Sie eine besondere Bedeutung haben, aber auch darauf, wo für Sie noch offene Fragen bestehen.“<br />
''<br />
<br />
Im Unterkapitel 2.2.2. „Die [[Lernspirale]]“ findet sich die Beschreibung dieser Methode, '''Bewegungserfahrungen''' strukturiert zur Bearbeitung einer konkreten Problemstellung zu nutzen. <br />
[[Datei:Lernspirale-color DE.jpg|500px|zentriert]]<br />
: „'''''2.2.1. Die Lernspirale'''''<br><br />
: ''Die ,Lernspirale‘ ist eine Methode, die Sie anwenden lernen, um konkrete Problemstellungen aus Ihrem beruflichen oder privaten Alltag mit Kinaesthetics zu bearbeiten. Sie geht von der Erfahrung der Situation im Tun aus und kann in der Form einer Spirale über die Schritte des Reflektierens, Variierens, Entscheidens und erneuten Tuns beliebig fortgesetzt werden.<br />
: ''Die Lernspirale durchbricht das gängige Muster, dass beim Auftreten eines Problems geradlinig nach seiner Lösung und Behebung gesucht wird. Ihr Motto heißt: Es geht nicht darum, das Problem zu lösen, sondern sich vom Problem zu lösen.<br />
: ''Die Analyse und Reflexion der Situation aus der Innenperspektive Ihrer '''Bewegungserfahrungen''', die Beschäftigung mit vielen möglichen Varianten und die Auswertung Ihrer Erfahrungen lenken Ihre Aufmerksamkeit weg von der Suche nach Lösungen. Mit diesem Vorgehen achten Sie vielmehr auf das Lern- und Entwicklungspotenzial der Situation und loten es differenziert und in aller Breite aus. Der spiralförmige Aufbau der Methode führt dazu, dass Sie die ,Lösungen‘ des Problems stets wieder mit demselben Vorgehen der Entwicklung der Situation anpassen können. Dadurch wird eine nachhaltige Bearbeitung von Problemstellungen möglich.[...]<br />
<br />
: '''''Reflektieren'''''<br>''Sie reflektieren die Erfahrung der Ausgangslage, indem Sie mit eigenen '''Bewegungserfahrungen''' die Aktivitäten der Situation nachvollziehen. Wenn mehrere Personen in die Situation einbezogen sind, begeben Sie sich in alle Rollen. Es ist sinnvoll die Zahl der Aktivitäten, die Sie analysieren wollen, zu beschränken. Zudem lohnt es sich, auf die Schlüsselstellen der Situation zu achten, wo es ‚klemmt‘ oder spannend wird, und besonders die damit verbundenen Aktivitäten zu untersuchen. Verwenden Sie für Ihre Einzel- und Partnererfahrungen die verschiedenen Blickwinkel des Kinaesthetics-Konzeptsystems. Dokumentieren Sie Ihre Erfahrungen z. B. mit dem [[Konzept-Raster]] und achten Sie dabei darauf, Ihre Beobachtungen und nicht die Bewertung derselben zu beschreiben. Überlegen Sie sich, welche Blickwinkel des Konzeptsystems Ihnen für die Situation besonders bedeutsam erscheinen.''<br />
<br />
: ''Dieser Teil der Lernspirale ermöglicht es Ihnen, aus der Bewegungs- und Innenperspektive die ausgewählten Aktivitäten der Praxissituation differenziert zu analysieren und Konzeptblickwinkel zu finden, die für die Schlüsselstellen bedeutsam sind.<br />
<br />
: '''''Variieren'''''<br>''Im nächsten Schritt gilt es – ohne sich an der Lösung des Problems zu orientieren – die Aktivitäten der Schlüsselstellen, die Sie beim Reflektieren untersucht haben, in '''Bewegungserfahrungen''' möglichst breit zu variieren. Sie benutzen dazu die auf der Grundlage der Reflexion ausgewählte Blickwinkel des Konzeptsystems, um die [[Unterschied|Unterschiede]] in der Gestaltung der Aktivität präzise wahrnehmen, beschreiben und vergleichen zu können. Gehen Sie feinen, kleinen Unterschieden nach, suchen Sie aber auch nach ungewöhnlichen oder ,verrückten‘ Varianten. Nicht selten zeigt sich in ihnen die zugrunde liegende Problematik in aller Schärfe oder es tut sich überraschenderweise ein gangbarer Weg auf. Gleichzeitig besteht für Sie die Möglichkeit, die eigene Kreativität in der Bewegung auf diese Weise spielerisch zu entwickeln.[...]<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 20 ff.'''<br />
<br />
== Bewegungserfahrung in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“ und bieten uns konkrete Anleitungen für Bewegungserfahrung. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „K. U. Smith: Die Verhaltenskybernetik“ eingebettet. Das zweite Zitat ist Teil des Unterkapitels 4.3.4. „Wahrnehmung und Bewegung “.<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „''Wir können nicht stehen!''“:<br />
: ''„Um darzustellen, wie das menschliche Verhalten funktioniert, wird oft eine Computer-Metapher verwendet. Dementsprechend wäre z. B. die Fähigkeit ,Stehen‘ im Gehirn gespeichert, würde bei Bedarf von dieser ,Festplatte‘ abgerufen und von der Motorik ausgeführt. K. U. Smith konnte nachweisen, dass eine solche lineare Computer-Metapher die Verhaltensregulation unzutreffend beschreibt. Aus einer kybernetischen Perspektive ist es vielmehr so, dass durch das zirkuläre Zusammenspiel zwischen der motorischen Aktivität, der Sinneswahrnehmung und der Verarbeitung dieser Wahrnehmung durch das Nervensystem ein Regelkreis entsteht, der das Stehen steuert, oder treffender formuliert: durch fortlaufende Fehlerkorrektur das Umfallen verhindert. Smith prägte hierfür den Begriff ,Feedback Control‘ (Rückkoppelungskontrolle).<br />
: ''Eine kleine '''Bewegungserfahrung'''. Probieren Sie es selbst aus. Stehen Sie auf ein Bein und schließen Sie dabei die Augen. Anfänglich beschreiben Sie diese Erfahrung vielleicht als Unsicherheit. Achten Sie auf Ihre eigene Bewegung. Nun erfahren Sie, was grundsätzlich für die Verhaltensregulation gilt, solange Sie leben: Sie korrigieren ständig ,Fehler‘, die Sie durch ihre eigene Bewegung erzeugen und wahrnehmen. Wenn Sie das Experiment weiterführen, können Sie feststellen, dass Sie auch in allen anderen Positionen ständig damit beschäftigt sind, mit ihrer eigenen, aktiven Bewegung ihre Position in der Schwerkraft zu kontrollieren und zu korrigieren.“'' <br />
<br />
Das zweite Zitat ist in das sechste Kapitel „Kinästhetik ist praktische Kybernetik“ eingebettet und fungiert dort als Grundlage für die Formulierung grundsätzlicher und weiterführender Fragestellungen, sowie für das Unterthema 6.2. Selbstregulation und persönliches Lernen.<br />
<br />
: ''„'''Bewegungserfahrung'''<br />
: ''Nehmen Sie sich zu Beginn der Lektüre dieser Zeilen ein paar Minuten Zeit, um die folgende Anleitung zu einer für die Kinästhetik typischen Bewegungserfahrung auszuführen (genauer: Einzelerfahrung; European Kinaesthetics Association 2020b<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7.</ref>, S. 10 f.). Dies wird Ihnen zum nötigen Anknüpfungspunkt für die Fortsetzung Ihrer Lektüre verhelfen und Ihnen das Verständnis der sich anschließenden Themen erleichtern.''<br />
: ''Setzen Sie sich auf die Vorderkante eines Stuhles. Schließen Sie die Augen und beobachten Sie, wie Sie Ihr Sitzen wahrnehmen. Was ist für Sie mit Ihrem kinästhetischen Sinnessystem (vgl. Infobox S. 56) erfahrbar? Achten Sie besonders auf Ihre Spannung und auf die kleinen Anpassungsbewegungen, die es Ihnen ermöglichen, in dieser Position zu bleiben. Heben Sie anschließend Ihre Beine so an, dass die Füße den Boden nicht mehr berühren. Beschreiben Sie wieder für sich, wie Sie jetzt Ihr Sitzen, Ihre Spannung und die damit verbundenen Anpassungsbewegungen wahrnehmen. Erforschen Sie dann die Unterschiede, die Ihnen mit Ihrer Bewegungswahrnehmung erfahrbar sind, je nachdem, wie Sie die Position Ihrer Füße, Arme usw. im Sitzen verändern.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 35 und S. 56.<br />
<br />
== Bewegungserfahrung im 16. Kinästhetik-Bulletin von 1990 ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Heft Kinästhetik Bulletin Nr.16 von 1990. In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik wird im zweiten Kapitel unter der Überschrift „Kinästhetisches Lehrmodell“ die „Grundüberzeugung“ beschrieben, „dass Bewegung- und Wahrnehmungserfahrung die Grundlage allen Lernens ist“. <ref>'''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 8.</ref>. <br />
: „'''''Das Lehrmodell'''''<br><br />
: ''Das Grundsätzliche war nicht immer Ausgangspunkt für die Entwicklung unserer Methode. Diese ergab sich viel eher aus einem Zickzack-Prozess, bei dem wir das eine Mal Ideen übernahmen und im eigenen Körper erlebten, und ein anderes Mal von ''' Bewegungserfahrungen ''' ausgingen, die wir dann zu erklären versuchten. Im Verlauf der Jahre fassten wir diese Grundsätze des menschlichen Lebens und die Art zu lernen in ein Lehrmodell, bei dem Lehrer und Schüler gemeinsam lernen. Es ist unsere Grundüberzeugung, dass ''' Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrung ''' die Grundlage allen Lernens ist. Daraus haben sich viele weitere Grundsätze ergeben, woraus wir Übungen entwickelten, die den Leuten helfen, Beziehungen und Muster in der eigenen Bewegung zu erkennen. Durch strukturierte '''Bewegungserfahrungen''' entwickelt ein Teilnehmer im Kinästhetik-Unterricht differenziertere sensomotorische Fähigkeiten, die Grundlage aller menschlichen Fähigkeiten überhaupt. Er lernt dabei, seine Erfahrungen einzuordnen, indem er ihre Muster und Beziehungen analysiert. Es ist wichtig für den Lernprozess, zwischen Erfahrung und deren Formulierung hin- und herzugehen. Sie sind zugleich Metaphern, die uns helfen, komplexere kognitive Ebenen von Lernen und Kommunikation zu verstehen.<br />
<br />
: ''Wer einen Kinästhetik-Kurs oder eine Einzelsitzung besucht, wird unter vielen Gesichtspunkten - sei es in der Bewegung allein oder mit anderen - Beziehungen erforschen. Im eigenen Körper erfahrene Themen begegnen ihm auch in anderen Situationen: bei der Arbeit, in der Schule oder in sozialen Begegnungen usw. Die zentrale Rolle eines Kinästhetik-Kurses ist die persönliche Erfahrung der Bewegung und deren Bewusstwerdung.<br />
: ''Frank Hatch, Lenny Maietta, 17. Juni 1989 (Übers. Brigitte Huber)."''<br />
<br />
Im fünften Kapitel „Anwendungen“, „5.2. Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ (verfasst von Hugo Krakau), finden sich unter „2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten?“ Beschreibungen des Verständnisses und der Bedeutung von Bewegungserfahrung für die Lernfähigkeit. Das folgende Zitat umfasst die ersten beiden Unterkapitel „2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium“ und „2.2. Orientierung an den Fähigkeiten des Kindes“ sowie „3. Führen und Folgen als Metapher für schulisches Lernen“.<br />
<br />
: „'''''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium'''''<br><br />
: ''Die theoretische Grundannahme der Kinästhetik geht davon aus, dass die Lernfähigkeit des Menschen in seiner Bewegungs- und Wahrnehmungsfähigkeit begründet liegt.<br />
: ''Deshalb ist die Basis der Kinästhetik die eigene '''Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrung'''.<br />
: ''Alle Sinne des Menschen sind Systeme, die Bewegungsmustern folgen und damit auf seiner Bewegungsfähigkeit basieren. Ohne Bewegung gibt es keine Wahrnehmung (Poincaré 1904<ref>'''Poincaré, Henri (1904):''' Wissenschaft und Hypothese. Übersetzt von E. und H. Weber. Leipzig: B. G. Teubner. Originaltitel: La science et l'hypothèse.</ref>). Weder Hören, Sehen, Riechen, Schmecken noch Tasten sind möglich ohne zumindest minimale Bewegungen. Somit fällt beim menschlichen Wahrnehmungsprozess dem kinästhetischen Sinn eine zentrale Rolle zu.<br />
: ''Ebenso zentral und elementar ist das Phänomen der Berührung für die menschliche Entwicklung. Für Piaget hat die frühkindliche senso-motorische Wahrnehmung des Kindes nicht nur eine Schlüsselfunktion für seine intellektuelle, sondern für die gesamte Entwicklung (vgl. Piaget, 1984<ref>'''Piaget, Jean (1984):''' Psychologie der Intelligenz. Mit e. Einf. von Hans Aebli. 8. Aufl. in d. vollst. überarb. Übers. d. 2. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta. ISBN 978-3-12-936360-7. Originaltitel: La psychologie de l'intelligence.</ref>).''<br />
: ''Das taktile System hat einen besonderen Stellenwert innerhalb des Sinnessystems. Berührung ist die Sinneserfahrung, die die unmittelbarste Form von Interaktion und den direktesten Kontakt zu einem anderen Menschen erlaubt. Berührung stellt ferner die direkteste Verbindung zur Bewegung des anderen Menschen her. Die Rückmeldung über Berührung ist schneller und präziser als das Feedback aller anderen Sinnessysteme (vgl. Smith, K. U. 1972<ref>'''Smith, K. U. (1972): '''Social Tracking and Social Feedback Control: The Experimental Foundation of Social Cybernetics. Madison, Wisconsin: Behavioral Cybernetics Laboratory.</ref>).<br />
: ''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern<br />
: ''So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird: ''<br />
: '',Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br />
: ''Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.: ''<br />
: ''Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.‘<br />
: ''(Ayres, A.J. 1984, S.66<ref>'''Ayres, A. Jean (1984):''' Bausteine der kindlichen Entwicklung. Die Bedeutung der Integration der Sinne für die Entwicklung des Kindes. Mit Unterstützung von Jeff Robbins; aus dem Amerikan. übers. von I. Flehmig und R.-W. Flehmig. Berlin: Springer. ISBN 3-540-13303-8. Originaltitel: Sensory integration and the child.</ref>)''<br />
<br />
: '''''2.2. Orientierung an den Fähigkeiten des Kindes'''''<br><br />
: ''Kinästhetik bietet in dieser vierjährigen berufsbegleitenden Zusatzausbildung ein Handlungskonzept, das sich nicht primär an den Defiziten der Schüler orientiert, an der Frage, was er nicht kann, wie es zum Beispiel im Sonderschulaufnahmeverfahren üblich ist, sondern sie orientiert sich an den Fähigkeiten des Kindes, an dem, was es kann. Um beim Beispiel des Schülers zu bleiben, dessen Lese-Schreib-Lehrgang bisher ohne grossen Lernerfolg blieb: Die Arbeit des kinästhetisch denkenden Lehrers beginnt mit der Stützung und mit dem Ausbau der Bewegungsfähigkeiten, die für den Lese-Schreib-Prozess von Bedeutung sind und die der Schüler kann, wie etwa:<br />
: ''Spielerisches Ausführen von vertikalen und horizontalen Augenbewegungen, Differenzierung von Augenbewegung und Kopfbewegung, Unterstützung der Augen- bzw. Kopfbewegung durch andere Körperteile wie Hand, Arm, Finger, Füsse usw.: ''<br />
: ''Die Aufmerksamkeit des kinästhetisch orientierten Lehrers liegt auf den senso-motorischen Komponenten dieses komplexen Lernvorgangs.<br />
: ''Von der Plattform seiner Fähigkeiten ausgehend, macht der Schüler neue '''Bewegungserfahrungen''' und erweitert damit seine Fähigkeiten, die bald dazu führen, dass er die Defizite, die zu seinem Versagen im Lese-Schreib- Lehrgang geführt haben, abgebaut hat, ohne durch frustrierendes Schreiben und Lesen-Oben noch mehr entmutigt worden zu sein.<br />
: ''Die Orientierung der Kinästhetik an den Fähigkeiten der Schüler ist nicht neu. Neu jedoch ist das methodische Konzept, der Theoriehintergrund, der die Brücke schlägt zwischen der Theorie und dem praktischen sonderpädagogischen Handeln über die motorische und taktile Lernbahn.<br />
<br />
: ''[...]<br />
<br />
: '''''3. Führen und Folgen als Metapher für schulisches Lernen'''''<br><br />
: ''Aus kinästhetischer Sicht lässt sich Lernen als Interaktionsprozess von Führen und Folgen beschreiben, der in seiner optimalen Form die Rollenverteilung von Führen (Lehren) und Folgen (Lernen) nicht festschreibt und den idealen Lernprozess im Bild des Tanzes beschreibt, bei dem die Führung zwischen den Tanzenden hin und her wechselt bzw. beide Tanzpartner führen oder beide folgen.: ''<br />
: ''Ich möchte im folgenden den Versuch machen, am praktischen Beispiel kinästhetische Arbeit zu dokumentieren, wohl wissend, dass Sprache, und noch mehr Schriftsprache, das nicht geeignete Medium ist, '''Bewegungserfahrung''' zu vermitteln. Beschreibung und Bilddokumentation werden ein unangemessener Übermittlungsversuch bleiben, weil Bewegungserfahrung nicht über Sprache, sondern nur über Bewegungserfahrung vermittelbar ist.<br />
: ''In der Kinästhetik wird der eigene Körper als die entscheidende Lern-Metapher benutzt. Du bist dein Körper. Du lernst so, wie dein Körper ist. Die Beherrschung unterschiedlicher körperlicher Funktionen führt zu unterschiedlichen Arten des Lernens und zu differenzierter Qualität von Wahrnehmung.<br />
: ''Eine wesentliche funktionale Grunderfahrung menschlicher Bewegung ist, dass bei Bewegungen ein Körperteil die Führung übernimmt und im laufenden Bewegungsprozess der "Restkörper" durch Skelett-, Muskel- und Sehnenapparat verbunden, folgt. Wenn ich gehe, so verlagere ich mein Gewicht auf das Standbein, lasse das andere Bein die Führung übernehmen und organisierte meinen gesamten ,Restkörper‘ so, dass über Gewichtsverlagerung, Gleichgewichthalten und Folgen der anderen Körperteile der Schritt nach vorne gelingt. Diese Bewegungserfahrung des Führens und Folgens ist in beliebigen Bewegungsabläufen nachvollziehbar und wird besonders dann deutlich, wenn Menschen miteinander in eine Bewegungsinteraktion eintreten.<br />
: ''Da in der Schule Lernen in einer Gruppe stattfindet, halte ich es für wichtig, am Beispiel des Führens und Folgens den interaktionalen Bewegungsaspekt - als Metapher schulischen Lernens - zu dokumentieren.<br />
: ''Indem Schüler lernen, einen anderen Schüler möglichst mit geschlossenen Augen durch einen Raum zu führen, machen sie auf der Bewegungsebene so grundsätzliche Erfahrungen, die in ihren Einzelheiten nur punktuell zu beschreiben sind.<br />
: ''Sie bringen Vertrauen in den Interaktionsprozess mit ein, sie lassen Körperkontakt zu, sie machen neue Erfahrungen im taktilen und motorischen Bereich sowie in ihrer Bewegungswahrnehmung, sie differenzieren ihre Bewegung, sie passen sich an, sie orientieren sich, sie entdecken neue Bewegungen, sie agieren und reagieren, sie kommunizieren in wechselseitigem Führen und Folgen. Nahtstelle der Kommunikation ist die Art und Weise des Berührungskontaktes, die Qualität und Intensität der feinmotorischen Kontaktebene, die immer neu verändert und variiert wird.<br />
: ''Ein solches Lernen differenziert nicht nur die Bewegungs- und Wahrnehmungsfähigkeit der Schüler, sondern macht ihnen auch sehr viel Spass; es schafft Nähe und Vertrauen und fördert ein Lernklima, in dem sich der einzelne Schüler verstanden fühlt. ''<br />
: ''Lernen die Schüler ihre Körper differenzierter und beweglicher zu benutzen und wahrzunehmen, werden sie nicht nur auf der körperlichen Ebene gelenkiger, sondern sie werden ganzheitlich beweglicher, d.h. sie erweitern und differenzieren über diese Körperarbeit auch ihre kognitiven, emotionalen und sprachlichen Fähigkeiten, ohne diese Lernbahnen für diese Lernprozesse überhaupt benutzt zu haben."'' <br />
<br />
Quelle: '''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):'''Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 10 und S. 39ff<br />
<br />
== Kommentare, Auswertung und offene Fragen ==<br />
Im Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ findet der Begriff Bewegungserfahrung weitere Erwähnung als grundlegendes Werkzeug im Zusammenhang mit den Themen [[Lernmodell]], [[Feedback-Control-Theorie]], Lernen und Lernen, Erfahrung und Denken.<br />
<br />
Mit den Quellenangaben aus dem Originaltext, des Heftes Kinästhetik Bulletin Nr.16 von 1990, konnten die angegebenen Zitate nicht einfach gefunden werden. Die Angaben in den Einzelnachweisen entsprechen aktuellen Recherchen.<br />
<br />
Zu den Texten von K. U. Smith waren nur Spuren auffindbar.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[1.-Person-Methode]]<br />
* [[Feedback-Control-Theorie]]<br />
* [[Lernspirale]]<br />
* [[Lernzyklus]]<br />
* [[Erfahren (Begriff)]]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Lernen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Bewegungserfahrung&diff=4923Bewegungserfahrung2024-01-10T14:59:06Z<p>Sabine Kaserer: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Es geht um ''die '''Bewegungserfahrung''' als Grundlage des Lernens. Diese spezifische Lernmethode erlaubt es, während der Ausführung einer Aktivität die Aufmerksamkeit bewusst auf erfahrbare Unterschiede zu lenken. Als wichtiges Instrument zur Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung hat die Bewegungserfahrung eine direkte Wirkung auf das ,Körperbewusstsein‘. im Tun dar.'' Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Bewegungserfahrung. <br />
== Bewegungserfahrung in „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird und eine grundlegende Beschreibung des Verständnisses von Lernen im Kontext von Kinästhetik und Kybernetik darstellt. Das Zitat umfasst den Beginn des ersten Kapitels „1. Lernen in Kinaesthetics-Kursen“ und zeigt Ausschnitte der Unterkapitel „1.1. Was und wie lernen Sie in Kinaesthetics-Kursen?“ „1.2. Vom Tun und der Innenperspektive zur Theoriebildung“ sowie den Text von „1.3. Die Bewegungserfahrungen“.<br />
<br />
: „'''''<big>1. Lernen in Kinaesthetics-Kursen</big>'''''<br><br />
:''In diesem Kapitel wird das Lernen in den Basiskursen in einem kurzen Überblick dargestellt und Kinaesthetics als eine [[1.-Person-Methode]] beschrieben, die von der konkreten, individuellen und subjektiven Erfahrung ausgeht. Die folgenden Unterthemen beschreiben die elementaren Kinaesthetics-Lernwerkzeuge der '''Bewegungserfahrungen''' sowie der schriftlichen und gemeinsamen Reflexion. Auf diesen Grundlagen wird zuletzt die Rolle der Kinaesthetics-TrainerIn thematisiert.''<br />
<br />
: '''''1.1. Was und wie lernen Sie in Kinaesthetics-Kursen?'''''<br><br />
:''In Kinaesthetics-Kursen werden Sie dazu angeleitet, die eigene Bewegung differenziert wahrzunehmen, zu steuern und anzupassen. Dies geschieht durch die Ausführung ganz einfacher und alltäglicher Aktivitäten: Sie drehen sich z. B. vom Liegen in der Rückenlage auf den Bauch oder Sie sitzen auf dem Boden und stehen auf, allein oder zusammen mit einer anderen Person. Diese Aktivitäten werden durch die gezielte Lenkung der Aufmerksamkeit zu bewussten '''Bewegungserfahrungen''', welche die Quelle Ihres eigenen Forschungsprozesses bilden. Mit Ihrem kinästhetischen Sinnessystem versuchen Sie zu merken, welche Unterschiede für Sie unter einem bestimmten Blickwinkel des Kinaesthetics-Konzeptsystems erfahrbar sind und welche Rolle diese in Ihrer Bewegung spielen. Auf dieser Grundlage und durch die persönliche und gemeinsame Reflexion Ihrer Erfahrungen entwickeln Sie mit Kinaesthetics die Sensibilität Ihrer Bewegungswahrnehmung, Ihre Bewegungskompetenz und ein differenziertes Verständnis der menschlichen Bewegung.''<br />
:''Das Interesse für die fein abgestufte Wahrnehmung, Steuerung und Anpassung unserer ganz alltäglichen Bewegungsmuster macht eine Besonderheit von Kinaesthetics aus. Es geht darum, ein differenziertes Bewusstsein für etwas Selbstverständliches zu entwickeln, das im Alltag meist ‚automatisch‘ und unbewusst abläuft. [...]''<br />
<br />
: ''''' 1.2. Vom Tun und der Innenperspektive zur Theoriebildung '''''<br><br />
: '' Kinaesthetics verfolgte von Anfang an eine Methode des Lehrens und Lernens, die sich grundsätzlich von traditionellen und althergebrachten Formen von Schulungen unterscheidet. Die Grundlage des Lernens in Kinaesthetics bildet stets das praktische Tun, d. h. Ihre persönliche und subjektive Bewegungswahrnehmung in '''Bewegungserfahrungen'''. Das mit diesem Grundsatz verbundene Lernverständnis und die spezifischen Lern- und Schulungsmethoden sind untrennbar mit Kinaesthetics verbunden. Daher handelt es sich um eine ‚Erfahrungswissenschaft‘ im wahrsten Sinne des Wortes: Kinaesthetics schafft Wissen durch Erfahrung. […]''<br />
<br />
: '''''1.3. Die Bewegungserfahrungen'''''<br><br />
: '''''1.3.1. Einführung'''''<br><br />
: ''Die '''Bewegungserfahrungen''' bilden die Grundlage des Lernens in Kinaesthetics. Bei dieser spezifischen Lernmethode geht es darum, dass Sie während der Ausführung einer Aktivität Ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Unterschiede lenken, die für Sie mit Ihrer Bewegungswahrnehmung erfahrbar sind. Dabei ermöglicht Ihnen ein bestimmter Fokus (lateinisch, ‚Brennpunkt‘) oder Blickwinkel der sechs Kinaesthetics-Konzepte die bewusste Lenkung der Achtsamkeit. So erforschen Sie allein oder in einer gemeinsamen Bewegung mit einer anderen Person, wie Sie z. B. den Unterschied zwischen parallelen und spiraligen Bewegungsmustern in sich selbst wahrnehmen.<br />
: ''Es ist wichtig, dass Sie sich nicht von Ihren Annahmen oder von Ihrem Denken leiten lassen, was für Sie wie oder warum erfahrbar sein wird. Versuchen Sie, auf ein vorausgehendes oder gleichzeitiges Denken und Reflektieren zu verzichten, um möglichst tief und differenziert in die Erfahrung Ihrer Bewegung zu gehen. Versuchen Sie ebenso, die Erfahrung eines Unterschiedes nicht gleichzeitig zu werten (‚So geht es besser, so schlechter‘). Lenken Sie in '''Bewegungserfahrungen''' unvoreingenommen Ihre volle Achtsamkeit darauf, wie Sie die Unterschiede, die Sie durch Ihre eigene Bewegung hervorbringen, wahrnehmen.<br />
: ''Diese Methode der differenzierten Auseinandersetzung mit der eigenen Bewegung ist ein über viele Jahre entwickeltes und erprobtes Instrument zur Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung im Tun und zur Entwicklung der individuellen Bewegungskompetenz. Vielleicht konnten Sie schon in Ihrem Grundkurs feststellen, dass ein Kurstag mit vielen '''Bewegungserfahrungen''' eine direkte Wirkung auf Ihr körperliches Befinden und Ihr ganzes ,Körperbewusstsein‘ hat.<br />
: ''Kinaesthetics unterscheidet zwischen den beiden, im Folgenden beschriebenen Arten von '''Bewegungserfahrungen '''.<br />
<br />
: '''''1.3.2. Die Einzelerfahrungen'''''<br><br />
: ''In einer Einzelerfahrung werden Sie von der Kinaesthetics-TrainerIn angeleitet, mit einem bestimmten Fokus/Blickwinkel des Kinaesthetics-Konzeptsystems auf die Unterschiede zu achten, die Sie mit Ihrem kinästhetischen Sinn erfahren und wahrnehmen können. Sie führen dabei in oder ausgehend von irgendeiner Position eine alltägliche Aktivität aus. Die Unterschiede ergeben sich aus Ihrer individuellen Ausführung und Ihren Variationen der Aktivität. Das heißt, Sie sensibilisieren Ihre Bewegungswahrnehmung und erhöhen Ihre Bewegungskompetenz in Einzelerfahrungen dadurch, dass Sie lernen, unter den verschiedenen Blickwinkeln der sechs Kinaesthetics-Konzepte Unterschiede immer feiner und möglichst im ganzen Körper zu produzieren und wahrzunehmen.<br />
<br />
: '''''1.3.3. Die Partnererfahrungen'''''<br><br />
: ''Die Partnererfahrungen sind ein wichtiges Element von Kinaesthetics, da sie Lernprozesse erlauben, die in der Einzelerfahrung nicht möglich sind.<br />
: ''In der Partnererfahrung achten Sie wie in der Einzelerfahrung mit einem bestimmten Fokus auf die eigene Bewegung und führen dabei Aktivitäten in einer gemeinsamen Bewegung mit einer PartnerIn aus. Solche Bewegungsinteraktionen mit anderen Menschen sind deswegen eine hervorragende Lernmöglichkeit, weil die InteraktionspartnerInnen fortlaufend in irgendeiner Form Anpassungen an das Verhalten des Gegenübers vollziehen müssen. Die Partnererfahrungen stellen somit Ihre Bewegungskompetenz vor Herausforderungen, die sich nicht stellen, wenn Sie sich allein bewegen.<br />
: ''Die gemeinsame Bewegung mit einem anderen Menschen und die daraus entstehenden Unterschiede zu den eigenen, gewohnten Bewegungsmustern helfen auch, diese überhaupt oder leichter zu erkennen. Zusätzlich können Sie dadurch Varianten erfahren, die Ihnen ungewohnt sind. Darum sind Partnererfahrungen ein ausgezeichnetes Mittel zur Erweiterung und zu einem vertieften Verständnis des persönlichen Handlungsspielraumes.“'' <br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Erfahrung/Wahrnehmung und Wertung trennen'''“:<br />
: ''„In Kinaesthetics steht die präzise Wahrnehmung und Beschreibung der '''Bewegungserfahrungen''' im Vordergrund. Dabei wird das ‚Gewahrwerden‘ der eigenen Bewegung und seine Beschreibung von der Wertung der Erfahrung (richtig – falsch, besser – schlechter) getrennt. Kinaesthetics geht nicht davon aus, dass es eine bestimmte ‚richtige‘ Art und Weise gibt, wie jeder Mensch sich allein oder mit anderen Menschen zusammen bewegen sollte. Die Bewertung der Ausführung einer Aktivität ergibt sich nur aus einem konkreten Kontext und besonders aus den Absichten der Beteiligten. So ist z. B. ein paralleles Bewegungsmuster richtig bzw. passend für ein gezieltes Training bestimmter Muskeln, aber unpassend zum Aufsitzen nach einer Bauchoperation.“''<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Innen und außen'''“:<br />
: '' „Es ist eine große Herausforderung, sich während einer Partnererfahrung v. a. auf die Qualität der eigenen Bewegung zu konzentrieren. Wenn wir im Alltag mit einem anderen Menschen Körperkontakt haben, richten wir unsere Aufmerksamkeit meistens viel stärker auf diesen und nach außen als nach innen und auf die eigene Bewegung(swahrnehmung). Genau durch sie können wir aber sehr präzise Rückmeldungen über die Bewegungsmöglichkeiten eines anderen Menschen erhalten, wenn wir ihn in seiner Bewegung unterstützen wollen.''<br />
: ''Kinaesthetics geht davon aus, dass die Qualität und das Lernpotenzial einer Bewegungsinteraktion wesentlich dadurch bestimmt wird, wie gut und differenziert die InteraktionspartnerInnen auf ihre eigene Bewegung achten und sie an die gemeinsame Absicht anpassen können. ''<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 8 ff.''<br />
<br />
Im Unterkapitel 2.2.1. „Der [[Lernzyklus]]“ findet sich eine Beschreibung der Bedeutung von '''Bewegungserfahrungen''' innerhalb der einzelnen Aktivitäten des Kinaesthetics-Lernzyklus.<br />
<br />
[...]<br />
[[Datei:Lernzyklus-color DE.jpg|500px|zentriert]]<br />
''Der Lernzyklus<br>Der Aufbau, die Teile und Schwerpunkte des Lernzyklus''<br />
<br />
:'''''Einstiegsaktivitäten'''''<br><br />
: ''Im Einstieg wird Ihnen das Thema vorgestellt und es erfolgt eine Einführung mithilfe der Sprache oder auch mit kurzen '''Bewegungserfahrungen'''. Dabei ist wichtig zu klären, in welchem Kontext und mit welcher Absicht das Thema untersucht wird, welche Bedeutung es in diesem Kontext haben kann und welche Anknüpfungspunkte es zu anderen Themen bietet.<br />
: ''Der Einstieg dient auch der Bestimmung Ihrer persönlichen Ausgangslage bezüglich des Themas. Dies kann durch die Ausführung und Dokumentation einer geeigneten '''Bewegungserfahrung''' geschehen oder durch irgendeine andere Erfahrung, die Ihnen z. B. Aufschluss über Ihre aktuellen Annahmen gibt. Diese ,Vergleichsaktivität (A1)‘ wird am Ende des Lernzyklus als ,Vergleichsaktivität (A2)‘ wieder aufgenommen, um einen Vergleich vorzunehmen. Das schriftliche Dokumentieren der Vergleichsaktivitäten erlaubt Ihnen dabei einen zuverlässigeren Vergleich Ihrer Erfahrungen oder Annahmen.''<br />
:'''''Lernaktivitäten'''''<br><br />
:[...] ''In einem Lernzyklus zu einem Kinaesthetics-Konzept werden v. a. die Einzel- und Partnererfahrungen (vgl. Kapitel 1.3.) als Lernaktivitäten verwendet. Für diese Bewegungserfahrungen wird jeweils ein Fokus des Konzeptsystems festgelegt und erklärt.<br />
: ''Das hauptsächliche Lernthema ist die Entwicklung einer differenzierten Bewegungswahrnehmung, -steuerung und -anpassung durch die Erforschung und Analyse Ihrer grundsätzlichen Bewegungsmöglichkeiten.[...]<br />
:'''''Ausstiegsaktivitäten'''''<br><br />
: ''Im Ausstiegsteil führen Sie die Vergleichsaktivität des Einstiegs erneut aus und beschreiben, wie Sie diese jetzt wahrnehmen und was Ihr aktueller Standort in Bezug auf das Thema ist. Der Vergleich zwischen der Ausgangslage und dem aktuellen Standort erleichtert es Ihnen, Ihre Lernfortschritte zu erkennen und auszuwerten. Achten Sie bei der Auswertung Ihres Lernprozesses darauf, welche Erfahrungen, Erkenntnisse und Ideen aus dem ganzen Lernzyklus für Sie eine besondere Bedeutung haben, aber auch darauf, wo für Sie noch offene Fragen bestehen.“<br />
''<br />
<br />
Im Unterkapitel 2.2.2. „Die [[Lernspirale]]“ findet sich die Beschreibung dieser Methode, '''Bewegungserfahrungen''' strukturiert zur Bearbeitung einer konkreten Problemstellung zu nutzen. <br />
[[Datei:Lernspirale-color DE.jpg|500px|zentriert]]<br />
: „'''''2.2.1. Die Lernspirale'''''<br><br />
: ''Die ,Lernspirale‘ ist eine Methode, die Sie anwenden lernen, um konkrete Problemstellungen aus Ihrem beruflichen oder privaten Alltag mit Kinaesthetics zu bearbeiten. Sie geht von der Erfahrung der Situation im Tun aus und kann in der Form einer Spirale über die Schritte des Reflektierens, Variierens, Entscheidens und erneuten Tuns beliebig fortgesetzt werden.<br />
: ''Die Lernspirale durchbricht das gängige Muster, dass beim Auftreten eines Problems geradlinig nach seiner Lösung und Behebung gesucht wird. Ihr Motto heißt: Es geht nicht darum, das Problem zu lösen, sondern sich vom Problem zu lösen.<br />
: ''Die Analyse und Reflexion der Situation aus der Innenperspektive Ihrer '''Bewegungserfahrungen''', die Beschäftigung mit vielen möglichen Varianten und die Auswertung Ihrer Erfahrungen lenken Ihre Aufmerksamkeit weg von der Suche nach Lösungen. Mit diesem Vorgehen achten Sie vielmehr auf das Lern- und Entwicklungspotenzial der Situation und loten es differenziert und in aller Breite aus. Der spiralförmige Aufbau der Methode führt dazu, dass Sie die ,Lösungen‘ des Problems stets wieder mit demselben Vorgehen der Entwicklung der Situation anpassen können. Dadurch wird eine nachhaltige Bearbeitung von Problemstellungen möglich.[...]<br />
<br />
: '''''Reflektieren'''''<br>''Sie reflektieren die Erfahrung der Ausgangslage, indem Sie mit eigenen '''Bewegungserfahrungen''' die Aktivitäten der Situation nachvollziehen. Wenn mehrere Personen in die Situation einbezogen sind, begeben Sie sich in alle Rollen. Es ist sinnvoll die Zahl der Aktivitäten, die Sie analysieren wollen, zu beschränken. Zudem lohnt es sich, auf die Schlüsselstellen der Situation zu achten, wo es ‚klemmt‘ oder spannend wird, und besonders die damit verbundenen Aktivitäten zu untersuchen. Verwenden Sie für Ihre Einzel- und Partnererfahrungen die verschiedenen Blickwinkel des Kinaesthetics-Konzeptsystems. Dokumentieren Sie Ihre Erfahrungen z. B. mit dem [[Konzept-Raster]] und achten Sie dabei darauf, Ihre Beobachtungen und nicht die Bewertung derselben zu beschreiben. Überlegen Sie sich, welche Blickwinkel des Konzeptsystems Ihnen für die Situation besonders bedeutsam erscheinen.''<br />
<br />
: ''Dieser Teil der Lernspirale ermöglicht es Ihnen, aus der Bewegungs- und Innenperspektive die ausgewählten Aktivitäten der Praxissituation differenziert zu analysieren und Konzeptblickwinkel zu finden, die für die Schlüsselstellen bedeutsam sind.<br />
<br />
: '''''Variieren'''''<br>''Im nächsten Schritt gilt es – ohne sich an der Lösung des Problems zu orientieren – die Aktivitäten der Schlüsselstellen, die Sie beim Reflektieren untersucht haben, in '''Bewegungserfahrungen''' möglichst breit zu variieren. Sie benutzen dazu die auf der Grundlage der Reflexion ausgewählte Blickwinkel des Konzeptsystems, um die [[Unterschied|Unterschiede]] in der Gestaltung der Aktivität präzise wahrnehmen, beschreiben und vergleichen zu können. Gehen Sie feinen, kleinen Unterschieden nach, suchen Sie aber auch nach ungewöhnlichen oder ,verrückten‘ Varianten. Nicht selten zeigt sich in ihnen die zugrunde liegende Problematik in aller Schärfe oder es tut sich überraschenderweise ein gangbarer Weg auf. Gleichzeitig besteht für Sie die Möglichkeit, die eigene Kreativität in der Bewegung auf diese Weise spielerisch zu entwickeln.[...]<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 20 ff.'''<br />
<br />
== Bewegungserfahrung in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“ und bieten uns konkrete Anleitungen für Bewegungserfahrung. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „K. U. Smith: Die Verhaltenskybernetik“ eingebettet. Das zweite Zitat ist Teil des Unterkapitels 4.3.4. „Wahrnehmung und Bewegung “.<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „''Wir können nicht stehen!''“:<br />
: ''„Um darzustellen, wie das menschliche Verhalten funktioniert, wird oft eine Computer-Metapher verwendet. Dementsprechend wäre z. B. die Fähigkeit ,Stehen‘ im Gehirn gespeichert, würde bei Bedarf von dieser ,Festplatte‘ abgerufen und von der Motorik ausgeführt. K. U. Smith konnte nachweisen, dass eine solche lineare Computer-Metapher die Verhaltensregulation unzutreffend beschreibt. Aus einer kybernetischen Perspektive ist es vielmehr so, dass durch das zirkuläre Zusammenspiel zwischen der motorischen Aktivität, der Sinneswahrnehmung und der Verarbeitung dieser Wahrnehmung durch das Nervensystem ein Regelkreis entsteht, der das Stehen steuert, oder treffender formuliert: durch fortlaufende Fehlerkorrektur das Umfallen verhindert. Smith prägte hierfür den Begriff ,Feedback Control‘ (Rückkoppelungskontrolle).<br />
: ''Eine kleine '''Bewegungserfahrung'''. Probieren Sie es selbst aus. Stehen Sie auf ein Bein und schließen Sie dabei die Augen. Anfänglich beschreiben Sie diese Erfahrung vielleicht als Unsicherheit. Achten Sie auf Ihre eigene Bewegung. Nun erfahren Sie, was grundsätzlich für die Verhaltensregulation gilt, solange Sie leben: Sie korrigieren ständig ,Fehler‘, die Sie durch ihre eigene Bewegung erzeugen und wahrnehmen. Wenn Sie das Experiment weiterführen, können Sie feststellen, dass Sie auch in allen anderen Positionen ständig damit beschäftigt sind, mit ihrer eigenen, aktiven Bewegung ihre Position in der Schwerkraft zu kontrollieren und zu korrigieren.“'' <br />
<br />
Das zweite Zitat ist in das sechste Kapitel „Kinästhetik ist praktische Kybernetik“ eingebettet und fungiert dort als Grundlage für die Formulierung grundsätzlicher und weiterführender Fragestellungen, sowie für das Unterthema 6.2. Selbstregulation und persönliches Lernen.<br />
<br />
: ''„'''Bewegungserfahrung'''<br />
: ''Nehmen Sie sich zu Beginn der Lektüre dieser Zeilen ein paar Minuten Zeit, um die folgende Anleitung zu einer für die Kinästhetik typischen Bewegungserfahrung auszuführen (genauer: Einzelerfahrung; European Kinaesthetics Association 2020b<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7.</ref>, S. 10 f.). Dies wird Ihnen zum nötigen Anknüpfungspunkt für die Fortsetzung Ihrer Lektüre verhelfen und Ihnen das Verständnis der sich anschließenden Themen erleichtern.''<br />
: ''Setzen Sie sich auf die Vorderkante eines Stuhles. Schließen Sie die Augen und beobachten Sie, wie Sie Ihr Sitzen wahrnehmen. Was ist für Sie mit Ihrem kinästhetischen Sinnessystem (vgl. Infobox S. 56) erfahrbar? Achten Sie besonders auf Ihre Spannung und auf die kleinen Anpassungsbewegungen, die es Ihnen ermöglichen, in dieser Position zu bleiben. Heben Sie anschließend Ihre Beine so an, dass die Füße den Boden nicht mehr berühren. Beschreiben Sie wieder für sich, wie Sie jetzt Ihr Sitzen, Ihre Spannung und die damit verbundenen Anpassungsbewegungen wahrnehmen. Erforschen Sie dann die Unterschiede, die Ihnen mit Ihrer Bewegungswahrnehmung erfahrbar sind, je nachdem, wie Sie die Position Ihrer Füße, Arme usw. im Sitzen verändern.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 35 und S. 56.<br />
<br />
== Bewegungserfahrung im 16. Kinästhetik-Bulletin von 1990 ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Heft Kinästhetik Bulletin Nr.16 von 1990. In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik wird im zweiten Kapitel unter der Überschrift „Kinästhetisches Lehrmodell“ die „Grundüberzeugung“ beschrieben, „dass Bewegung- und Wahrnehmungserfahrung die Grundlage allen Lernens ist“. <ref>'''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 8.</ref>. <br />
: „'''''Das Lehrmodell'''''<br><br />
: ''Das Grundsätzliche war nicht immer Ausgangspunkt für die Entwicklung unserer Methode. Diese ergab sich viel eher aus einem Zickzack-Prozess, bei dem wir das eine Mal Ideen übernahmen und im eigenen Körper erlebten, und ein anderes Mal von ''' Bewegungserfahrungen ''' ausgingen, die wir dann zu erklären versuchten. Im Verlauf der Jahre fassten wir diese Grundsätze des menschlichen Lebens und die Art zu lernen in ein Lehrmodell, bei dem Lehrer und Schüler gemeinsam lernen. Es ist unsere Grundüberzeugung, dass ''' Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrung ''' die Grundlage allen Lernens ist. Daraus haben sich viele weitere Grundsätze ergeben, woraus wir Übungen entwickelten, die den Leuten helfen, Beziehungen und Muster in der eigenen Bewegung zu erkennen. Durch strukturierte '''Bewegungserfahrungen''' entwickelt ein Teilnehmer im Kinästhetik-Unterricht differenziertere sensomotorische Fähigkeiten, die Grundlage aller menschlichen Fähigkeiten überhaupt. Er lernt dabei, seine Erfahrungen einzuordnen, indem er ihre Muster und Beziehungen analysiert. Es ist wichtig für den Lernprozess, zwischen Erfahrung und deren Formulierung hin- und herzugehen. Sie sind zugleich Metaphern, die uns helfen, komplexere kognitive Ebenen von Lernen und Kommunikation zu verstehen.<br />
<br />
: ''Wer einen Kinästhetik-Kurs oder eine Einzelsitzung besucht, wird unter vielen Gesichtspunkten - sei es in der Bewegung allein oder mit anderen - Beziehungen erforschen. Im eigenen Körper erfahrene Themen begegnen ihm auch in anderen Situationen: bei der Arbeit, in der Schule oder in sozialen Begegnungen usw. Die zentrale Rolle eines Kinästhetik-Kurses ist die persönliche Erfahrung der Bewegung und deren Bewusstwerdung.<br />
: ''Frank Hatch, Lenny Maietta, 17. Juni 1989 (Übers. Brigitte Huber)."''<br />
<br />
Im fünften Kapitel „Anwendungen“, „5.2. Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ (verfasst von Hugo Krakau), finden sich unter „2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten?“ Beschreibungen des Verständnisses und der Bedeutung von Bewegungserfahrung für die Lernfähigkeit. Das folgende Zitat umfasst die ersten beiden Unterkapitel „2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium“ und „2.2. Orientierung an den Fähigkeiten des Kindes“ sowie „3. Führen und Folgen als Metapher für schulisches Lernen“.<br />
<br />
: „'''''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium'''''<br><br />
: ''Die theoretische Grundannahme der Kinästhetik geht davon aus, dass die Lernfähigkeit des Menschen in seiner Bewegungs- und Wahrnehmungsfähigkeit begründet liegt.<br />
: ''Deshalb ist die Basis der Kinästhetik die eigene '''Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrung'''.<br />
: ''Alle Sinne des Menschen sind Systeme, die Bewegungsmustern folgen und damit auf seiner Bewegungsfähigkeit basieren. Ohne Bewegung gibt es keine Wahrnehmung (Poincaré 1904<ref>'''Poincaré, Henri (1904):''' Wissenschaft und Hypothese. Übersetzt von E. und H. Weber. Leipzig: B. G. Teubner. Originaltitel: La science et l'hypothèse.</ref>). Weder Hören, Sehen, Riechen, Schmecken noch Tasten sind möglich ohne zumindest minimale Bewegungen. Somit fällt beim menschlichen Wahrnehmungsprozess dem kinästhetischen Sinn eine zentrale Rolle zu.<br />
: ''Ebenso zentral und elementar ist das Phänomen der Berührung für die menschliche Entwicklung. Für Piaget hat die frühkindliche senso-motorische Wahrnehmung des Kindes nicht nur eine Schlüsselfunktion für seine intellektuelle, sondern für die gesamte Entwicklung (vgl. Piaget, 1984<ref>'''Piaget, Jean (1984):''' Psychologie der Intelligenz. Mit e. Einf. von Hans Aebli. 8. Aufl. in d. vollst. überarb. Übers. d. 2. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta. ISBN 978-3-12-936360-7. Originaltitel: La psychologie de l'intelligence.</ref>).''<br />
: ''Das taktile System hat einen besonderen Stellenwert innerhalb des Sinnessystems. Berührung ist die Sinneserfahrung, die die unmittelbarste Form von Interaktion und den direktesten Kontakt zu einem anderen Menschen erlaubt. Berührung stellt ferner die direkteste Verbindung zur Bewegung des anderen Menschen her. Die Rückmeldung über Berührung ist schneller und präziser als das Feedback aller anderen Sinnessysteme (vgl. Smith, K. U. 1972<ref>'''Smith, K. U. (1972): '''Social Tracking and Social Feedback Control: The Experimental Foundation of Social Cybernetics. Madison, Wisconsin: Behavioral Cybernetics Laboratory.</ref>).<br />
: ''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern<br />
: ''So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird: ''<br />
: '',Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br />
: ''Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.: ''<br />
: ''Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.‘<br />
: ''(Ayres, A.J. 1984, S.66<ref>'''Ayres, A. Jean (1984):''' Bausteine der kindlichen Entwicklung. Die Bedeutung der Integration der Sinne für die Entwicklung des Kindes. Mit Unterstützung von Jeff Robbins; aus dem Amerikan. übers. von I. Flehmig und R.-W. Flehmig. Berlin: Springer. ISBN 3-540-13303-8. Originaltitel: Sensory integration and the child.</ref>)''<br />
<br />
: '''''2.2. Orientierung an den Fähigkeiten des Kindes'''''<br><br />
: ''Kinästhetik bietet in dieser vierjährigen berufsbegleitenden Zusatzausbildung ein Handlungskonzept, das sich nicht primär an den Defiziten der Schüler orientiert, an der Frage, was er nicht kann, wie es zum Beispiel im Sonderschulaufnahmeverfahren üblich ist, sondern sie orientiert sich an den Fähigkeiten des Kindes, an dem, was es kann. Um beim Beispiel des Schülers zu bleiben, dessen Lese-Schreib-Lehrgang bisher ohne grossen Lernerfolg blieb: Die Arbeit des kinästhetisch denkenden Lehrers beginnt mit der Stützung und mit dem Ausbau der Bewegungsfähigkeiten, die für den Lese-Schreib-Prozess von Bedeutung sind und die der Schüler kann, wie etwa:<br />
: ''Spielerisches Ausführen von vertikalen und horizontalen Augenbewegungen, Differenzierung von Augenbewegung und Kopfbewegung, Unterstützung der Augen- bzw. Kopfbewegung durch andere Körperteile wie Hand, Arm, Finger, Füsse usw.: ''<br />
: ''Die Aufmerksamkeit des kinästhetisch orientierten Lehrers liegt auf den senso-motorischen Komponenten dieses komplexen Lernvorgangs.<br />
: ''Von der Plattform seiner Fähigkeiten ausgehend, macht der Schüler neue '''Bewegungserfahrungen''' und erweitert damit seine Fähigkeiten, die bald dazu führen, dass er die Defizite, die zu seinem Versagen im Lese-Schreib- Lehrgang geführt haben, abgebaut hat, ohne durch frustrierendes Schreiben und Lesen-Oben noch mehr entmutigt worden zu sein.<br />
: ''Die Orientierung der Kinästhetik an den Fähigkeiten der Schüler ist nicht neu. Neu jedoch ist das methodische Konzept, der Theoriehintergrund, der die Brücke schlägt zwischen der Theorie und dem praktischen sonderpädagogischen Handeln über die motorische und taktile Lernbahn.<br />
<br />
: ''[...]<br />
<br />
: '''''3. Führen und Folgen als Metapher für schulisches Lernen'''''<br><br />
: ''Aus kinästhetischer Sicht lässt sich Lernen als Interaktionsprozess von Führen und Folgen beschreiben, der in seiner optimalen Form die Rollenverteilung von Führen (Lehren) und Folgen (Lernen) nicht festschreibt und den idealen Lernprozess im Bild des Tanzes beschreibt, bei dem die Führung zwischen den Tanzenden hin und her wechselt bzw. beide Tanzpartner führen oder beide folgen.: ''<br />
: ''Ich möchte im folgenden den Versuch machen, am praktischen Beispiel kinästhetische Arbeit zu dokumentieren, wohl wissend, dass Sprache, und noch mehr Schriftsprache, das nicht geeignete Medium ist, '''Bewegungserfahrung''' zu vermitteln. Beschreibung und Bilddokumentation werden ein unangemessener Übermittlungsversuch bleiben, weil Bewegungserfahrung nicht über Sprache, sondern nur über Bewegungserfahrung vermittelbar ist.<br />
: ''In der Kinästhetik wird der eigene Körper als die entscheidende Lern-Metapher benutzt. Du bist dein Körper. Du lernst so, wie dein Körper ist. Die Beherrschung unterschiedlicher körperlicher Funktionen führt zu unterschiedlichen Arten des Lernens und zu differenzierter Qualität von Wahrnehmung.<br />
: ''Eine wesentliche funktionale Grunderfahrung menschlicher Bewegung ist, dass bei Bewegungen ein Körperteil die Führung übernimmt und im laufenden Bewegungsprozess der "Restkörper" durch Skelett-, Muskel- und Sehnenapparat verbunden, folgt. Wenn ich gehe, so verlagere ich mein Gewicht auf das Standbein, lasse das andere Bein die Führung übernehmen und organisierte meinen gesamten ,Restkörper‘ so, dass über Gewichtsverlagerung, Gleichgewichthalten und Folgen der anderen Körperteile der Schritt nach vorne gelingt. Diese Bewegungserfahrung des Führens und Folgens ist in beliebigen Bewegungsabläufen nachvollziehbar und wird besonders dann deutlich, wenn Menschen miteinander in eine Bewegungsinteraktion eintreten.<br />
: ''Da in der Schule Lernen in einer Gruppe stattfindet, halte ich es für wichtig, am Beispiel des Führens und Folgens den interaktionalen Bewegungsaspekt - als Metapher schulischen Lernens - zu dokumentieren.<br />
: ''Indem Schüler lernen, einen anderen Schüler möglichst mit geschlossenen Augen durch einen Raum zu führen, machen sie auf der Bewegungsebene so grundsätzliche Erfahrungen, die in ihren Einzelheiten nur punktuell zu beschreiben sind.<br />
: ''Sie bringen Vertrauen in den Interaktionsprozess mit ein, sie lassen Körperkontakt zu, sie machen neue Erfahrungen im taktilen und motorischen Bereich sowie in ihrer Bewegungswahrnehmung, sie differenzieren ihre Bewegung, sie passen sich an, sie orientieren sich, sie entdecken neue Bewegungen, sie agieren und reagieren, sie kommunizieren in wechselseitigem Führen und Folgen. Nahtstelle der Kommunikation ist die Art und Weise des Berührungskontaktes, die Qualität und Intensität der feinmotorischen Kontaktebene, die immer neu verändert und variiert wird.<br />
: ''Ein solches Lernen differenziert nicht nur die Bewegungs- und Wahrnehmungsfähigkeit der Schüler, sondern macht ihnen auch sehr viel Spass; es schafft Nähe und Vertrauen und fördert ein Lernklima, in dem sich der einzelne Schüler verstanden fühlt. ''<br />
: ''Lernen die Schüler ihre Körper differenzierter und beweglicher zu benutzen und wahrzunehmen, werden sie nicht nur auf der körperlichen Ebene gelenkiger, sondern sie werden ganzheitlich beweglicher, d.h. sie erweitern und differenzieren über diese Körperarbeit auch ihre kognitiven, emotionalen und sprachlichen Fähigkeiten, ohne diese Lernbahnen für diese Lernprozesse überhaupt benutzt zu haben."'' <br />
<br />
Quelle: '''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):'''Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 10 und S. 39ff<br />
<br />
== Kommentare, Auswertung und offene Fragen ==<br />
Im Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ findet der Begriff Bewegungserfahrung weitere Erwähnung als grundlegendes Werkzeug im Zusammenhang mit den Themen [[Lernmodell]], [[Feedback-Control-Theorie]], Lernen und Lernen, Erfahrung und Denken.<br />
<br />
Mit den Quellenangaben aus dem Originaltext, des Heftes Kinästhetik Bulletin Nr.16 von 1990, konnten die angegebenen Zitate nicht einfach gefunden werden. Die Angaben in den Einzelnachweisen entsprechen aktuellen Recherchen.<br />
<br />
Zu den Texten von K. U. Smith waren nur Spuren auffindbar.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[1.-Person-Methode]]<br />
* [[Feedback-Control-Theorie]]<br />
* [[Lernspirale]]<br />
* [[Lernzyklus]]<br />
* [[Erfahren (Begriff)]]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Lernen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Fehler&diff=4922Fehler2024-01-10T14:37:37Z<p>Sabine Kaserer: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Dagmar Panzer, Sabine Kaserer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema „Fehler“. Es geht vor allem um das Verständnis des Fehlers als notwendiger Bestandteil der Selbstregulation und somit des Lernens. Es geht nicht um die Frage "richtig oder falsch", sondern um das Fehler-Machen als bedeutsamen Unterschied für Bewegungs- und Verhaltensanpassung. <br>Die ersten Zitate stammen aus dem Buch „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“. Weitere Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“.<br />
<br />
== Fehler in „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“. Das erste Zitat ist in das fünfte Kapitel „Lernen: Allgemeine Blickpunkte“ eingebettet. <br />
Das Zitat ist der Text der Infobox „Eine Definition des Lernens“ des sechsten Unterkapitels „Leben heißt Lernen“.<br />
<br />
: ''„Der Fehler<br>Bei vielen Lernprozessen des gesellschaftlichen Lebens wird durch festgeschriebene Regelwerke vorgegeben, was richtig und falsch ist. Fehler haben eine negative Bedeutung und beim Lernen scheint es darum zu gehen, dass man lernt, alles richtig bzw. keine Fehler zu machen.<br>Aus kybernetischer Sicht hingegen funktioniert die Verhaltenssteuerung eines Lebewesens aufgrund einer fortlaufenden Fehlerkorrektur. Diese „Fehler“ sind ein unabdingbarer Bestandteil der Steuerung. Somit könnte man sagen: Wir können nur dadurch lernen, dass wir fortlaufend Fehler machen.<br>In ähnlicher Weise ist es oft ein wichtiger Anreiz zum Lernen, dass wir einen „Fehler“ wahrnehmen, d. h. den Unterschied zwischen dem beabsichtigten Ziel und dem erreichten Ergebnis.<br>Auf dem Lernweg selbst sind einerseits die Einsicht, wo etwas nicht wie erwünscht klappt, und andererseits die Freude über entsprechende Fortschritte wichtige Triebfedern des Lernens.“''<br />
<br />
Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.), Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz, 2020, ISBN 978-3-903180-01-7, S. 58<br />
<br />
Das zweite Zitat ist in das vierte Kapitel „Theoretische Grundlagen von Kinaesthetics“ eingebettet. <br />
Das Zitat ist der Text der Infobox „Wir können nicht stehen“ des dritten Unterkapitels „Zirkuläre Selbstregulationsprozesse als Grundlage des menschlichen Verhaltens“.<br />
<br />
: ''"Wir können nicht stehen<br>Die Funktionsweise unserer Bewegungssteuerung, und damit der Feedback-Kontroll- Theorie, lässt sich ausgezeichnet in einer Bewegungserfahrung nachvollziehen: Stehen Sie auf einem Bein und schließen Sie die Augen. Achten Sie nun darauf, wie Sie auf der Ebene der Bewegung diese Aktivität zustande bringen. Sie werden feststellen, dass Sie fortlaufend Anpassungsbewegungen machen und die „Fehler“ und Unsicherheiten korrigieren, die Sie selbst produzieren. Man könnte folglich sagen, dass wir gar nicht stehen können, sondern nur fortlaufend verhindern, dass wir umfallen."''<br />
<br />
Quelle: ebd., S.44<br />
<br />
Das dritte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Lernen: Allgemeine Blickpunkte“ eingebettet. <br />
Das Zitat ist Teil des sechsten Unterkapitels „Leben heißt Lernen„ unter der Überschrift „Eine Definition des Lernens“.<br />
: ''"Natürlich baut unser konkretes Verhalten, d. h. jede Ausführung einer Aktivität, auf einem individuellen Muster auf. Dieses ist aus der Reihe der vergangenen Ausführungen entstanden und beeinflusst die Art und Weise der Fehlerkorrektur der nächsten Ausführung derselben Aktivität. Die damit verbundenen ständigen Lernprozesse können ein Muster verfestigen oder erweitern, aber auch einschränken oder abbauen." <br />
<br />
Quelle: ebd., S.58<br />
<br />
== Fehler in „Kybernetik und Kinästhetik“==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“. Das erste Zitat ist in das dritte Kapitel „Der Kern: Feedback und [[Zirkularität]]“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel „Selbstregulation durch Feedback “ und „Wie funktioniert ein Heizsystem?“ beleuchten die Funktionsweise der Selbstregulation künstlicher und natürlicher Systeme. Hier geht um das grundlegende Verständnis von Selbstregulation mit der Unterscheidung von linearen und [[Zirkuläre Wirkungszusammenhänge|zirkulären Wirkungszusammenhängen]]. Das Zitat ist der Text des Unterkapitels „ 3.3. Ist-Wert, Soll-Wert und Rückkoppelung“. <br />
: ''"Damit ist der Kreislauf geschlossen und man kann relativ leicht nachvollziehen, was zirkuläre Logik im Zusammenhang mit Selbstregulations-Prozessen bedeutet: <br />
: ''Wenn die Heizung läuft, wird die Raumtemperatur steigen. Dadurch wird das Thermometer über 20 °C anzeigen. Der Rechner wird diesen Unterschied zwischen dem Soll-Wert (20 °C) und dem Ist-Wert (aktuelle Raumtemperatur) bei einem bestimmten Wert feststellen und dem Heizkessel den „off“-Befehl geben. Sinkt die Raumtemperatur bzw. das Thermometer in der Folge unter 20 °C, wird der Rechner den „Fehler“ merken und der Heizung die Information „on“ zukommen lassen. So beeinflussen sich im Kreis die drei Elemente durch ihre Rückkoppelung (Feedback). Der Regulationsprozess des Systems besteht in fortgesetzten Fehlerkorrekturen, im Ausgleichen von systemrelevanten Unterschieden. <br />
: ''In unserem Beispiel pendelt die tatsächliche Raumtemperatur, der Ist-Wert, folglich um den Soll-Wert. Das Ideal von 20 °C wird gar nicht gehalten, sondern von den Ist-Werten nur vorübergehend erreicht. Wenn man den Rechner auf sehr feine Unterschiede einstellen würde, käme es nämlich in unserem System zu einem ständigen, unsinnigen An- und Abschalten des Heizkessels." <br />
[[Datei:Der zirkuläre Rückkoppelungsprozess eines Heizsystems.jpeg|500px|thumb|zentriert|]]<br />
<br />
Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020): Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 21-22<br />
<br />
Das zweite Zitat ist in das sechste Kapitel „Kinästhetik ist praktische Kybernetik“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Frage der konkreten Verbindung von Kybernetik und Kinästhetik. Das Zitat ist Teil des Textes des zweiten Unterkapitels „Selbstregulation und persönliches Lernen“ unter der Überschrift "6.2.1. Wie reguliere ich mich?" .<br />
: ''"[...]Die Kybernetik geht davon aus, dass diese Selbstregulation auf ununterbrochenen, sehr unmittelbaren zirkulären Prozessen zwischen Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem beruht. Diese Prozesse werden im Modell als kybernetische Regelkreise oder Feedback-Schleifen dargestellt (vgl. Infobox S. 59). Wie im vierten Kapitel erwähnt, versteht die Kinästhetik Positionen wie Liegen, Sitzen oder Stehen, die von außen betrachtet nach statischen, „bewegungslosen“ Zuständen aussehen, als aktive Bewegungen. Eine entsprechende Anleitung zu einer Bewegungserfahrung im Stehen findet sich in der Infobox auf Seite 35. Vielleicht ist im Stehen leichter als im Sitzen erfahrbar, dass es unmöglich ist, bewegungs- los in einer Position zu verweilen. Aber tatsächlich sind wir nur dazu imstande, fortlaufend mit vielen kleinen Bewegungen zu verhindern, dass wir umfallen (oder im Liegen einen Dekubitus entwickeln). Bei jeder Aktivität findet also durch Selbstregulation ununterbrochen ein Ausgleich von „Fehlern“ statt, die wir selbst produzieren – und ohne diese ständigen Korrekturen und Anpassungen an die Absicht ist keine zielgerichtete Bewegung möglich. Bei kleinen Kindern, die dabei sind, stehen zu lernen, lässt sich gut beobachten, wie sie in eine tiefere Position plumpsen, wenn eine rechtzeitige „Korrektur“ misslingt. <br />
[[Datei:Feedback Kontroll Theorie.png|mini|rechts|Regelkreis der Bewegungs- bzw. Verhaltensregulation]]<br />
: ''Wegen ihrer konstanten Unmittelbarkeit, ihrer „Geschwindigkeit“, sind solche Regelkreise oder Feedback-Schleifen nur als Ganzes erfahrbar. Die beteiligten Systeme (Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem) sind isoliert nicht erfahrbar. Wie wichtig aber dieses ununterbrochene Zusammenspiel bzw. diese Selbstregulation ist, kann einem z. B. unter starkem Alkoholeinfluss auffallen. In diesem Zustand passiert es leicht, dass man „Fehler“ der Bewegung so verzögert wahrnimmt, dass das Nervensystem die Abweichung nicht mehr rechtzeitig berechnen, und damit keine Korrekturen veranlassen kann. Dadurch kommt man zumindest ins Schwanken oder landet gar im Straßengraben ... Für die Effekte solcher zeitlichen Verzögerungen des sensorischen Feedbacks interessierte sich insbesondere der Verhaltenskyber- netiker K. U. Smith (vgl. Kapitel 4.3.4); darauf dass Phänomene wie Ataxie und Intentionstremor als Störungen von Regelkreisen erklärt werden können, hatte bereits Norbert Wiener verwiesen (vgl. Infobox S. 26)."<br />
Quelle: ebd., S. 59<br />
<br />
<br />
[[Kategorie: Kybernetische Grundlagen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Fehler&diff=4921Fehler2024-01-10T14:35:43Z<p>Sabine Kaserer: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Dagmar Panzer, Sabine Kaserer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema „Fehler“. Es geht vor allem um das Verständnis der Fehlers als notwendiger Bestandteil der Selbstregulation und somit des Lernens. Es geht nicht um die Frage "richtig oder falsch", sondern um das Fehler-Machen als bedeutsamen Unterschied und als Grundlage für Bewegungs- und Verhaltensanpassung. <br>Die ersten Zitate stammen aus dem Buch „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“. Weitere Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“.<br />
<br />
== Fehler in „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“. Das erste Zitat ist in das fünfte Kapitel „Lernen: Allgemeine Blickpunkte“ eingebettet. <br />
Das Zitat ist der Text der Infobox „Eine Definition des Lernens“ des sechsten Unterkapitels „Leben heißt Lernen“.<br />
<br />
: ''„Der Fehler<br>Bei vielen Lernprozessen des gesellschaftlichen Lebens wird durch festgeschriebene Regelwerke vorgegeben, was richtig und falsch ist. Fehler haben eine negative Bedeutung und beim Lernen scheint es darum zu gehen, dass man lernt, alles richtig bzw. keine Fehler zu machen.<br>Aus kybernetischer Sicht hingegen funktioniert die Verhaltenssteuerung eines Lebewesens aufgrund einer fortlaufenden Fehlerkorrektur. Diese „Fehler“ sind ein unabdingbarer Bestandteil der Steuerung. Somit könnte man sagen: Wir können nur dadurch lernen, dass wir fortlaufend Fehler machen.<br>In ähnlicher Weise ist es oft ein wichtiger Anreiz zum Lernen, dass wir einen „Fehler“ wahrnehmen, d. h. den Unterschied zwischen dem beabsichtigten Ziel und dem erreichten Ergebnis.<br>Auf dem Lernweg selbst sind einerseits die Einsicht, wo etwas nicht wie erwünscht klappt, und andererseits die Freude über entsprechende Fortschritte wichtige Triebfedern des Lernens.“''<br />
<br />
Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.), Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz, 2020, ISBN 978-3-903180-01-7, S. 58<br />
<br />
Das zweite Zitat ist in das vierte Kapitel „Theoretische Grundlagen von Kinaesthetics“ eingebettet. <br />
Das Zitat ist der Text der Infobox „Wir können nicht stehen“ des dritten Unterkapitels „Zirkuläre Selbstregulationsprozesse als Grundlage des menschlichen Verhaltens“.<br />
<br />
: ''"Wir können nicht stehen<br>Die Funktionsweise unserer Bewegungssteuerung, und damit der Feedback-Kontroll- Theorie, lässt sich ausgezeichnet in einer Bewegungserfahrung nachvollziehen: Stehen Sie auf einem Bein und schließen Sie die Augen. Achten Sie nun darauf, wie Sie auf der Ebene der Bewegung diese Aktivität zustande bringen. Sie werden feststellen, dass Sie fortlaufend Anpassungsbewegungen machen und die „Fehler“ und Unsicherheiten korrigieren, die Sie selbst produzieren. Man könnte folglich sagen, dass wir gar nicht stehen können, sondern nur fortlaufend verhindern, dass wir umfallen."''<br />
<br />
Quelle: ebd., S.44<br />
<br />
Das dritte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Lernen: Allgemeine Blickpunkte“ eingebettet. <br />
Das Zitat ist Teil des sechsten Unterkapitels „Leben heißt Lernen„ unter der Überschrift „Eine Definition des Lernens“.<br />
: ''"Natürlich baut unser konkretes Verhalten, d. h. jede Ausführung einer Aktivität, auf einem individuellen Muster auf. Dieses ist aus der Reihe der vergangenen Ausführungen entstanden und beeinflusst die Art und Weise der Fehlerkorrektur der nächsten Ausführung derselben Aktivität. Die damit verbundenen ständigen Lernprozesse können ein Muster verfestigen oder erweitern, aber auch einschränken oder abbauen." <br />
<br />
Quelle: ebd., S.58<br />
<br />
== Fehler in „Kybernetik und Kinästhetik“==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“. Das erste Zitat ist in das dritte Kapitel „Der Kern: Feedback und [[Zirkularität]]“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel „Selbstregulation durch Feedback “ und „Wie funktioniert ein Heizsystem?“ beleuchten die Funktionsweise der Selbstregulation künstlicher und natürlicher Systeme. Hier geht um das grundlegende Verständnis von Selbstregulation mit der Unterscheidung von linearen und [[Zirkuläre Wirkungszusammenhänge|zirkulären Wirkungszusammenhängen]]. Das Zitat ist der Text des Unterkapitels „ 3.3. Ist-Wert, Soll-Wert und Rückkoppelung“. <br />
: ''"Damit ist der Kreislauf geschlossen und man kann relativ leicht nachvollziehen, was zirkuläre Logik im Zusammenhang mit Selbstregulations-Prozessen bedeutet: <br />
: ''Wenn die Heizung läuft, wird die Raumtemperatur steigen. Dadurch wird das Thermometer über 20 °C anzeigen. Der Rechner wird diesen Unterschied zwischen dem Soll-Wert (20 °C) und dem Ist-Wert (aktuelle Raumtemperatur) bei einem bestimmten Wert feststellen und dem Heizkessel den „off“-Befehl geben. Sinkt die Raumtemperatur bzw. das Thermometer in der Folge unter 20 °C, wird der Rechner den „Fehler“ merken und der Heizung die Information „on“ zukommen lassen. So beeinflussen sich im Kreis die drei Elemente durch ihre Rückkoppelung (Feedback). Der Regulationsprozess des Systems besteht in fortgesetzten Fehlerkorrekturen, im Ausgleichen von systemrelevanten Unterschieden. <br />
: ''In unserem Beispiel pendelt die tatsächliche Raumtemperatur, der Ist-Wert, folglich um den Soll-Wert. Das Ideal von 20 °C wird gar nicht gehalten, sondern von den Ist-Werten nur vorübergehend erreicht. Wenn man den Rechner auf sehr feine Unterschiede einstellen würde, käme es nämlich in unserem System zu einem ständigen, unsinnigen An- und Abschalten des Heizkessels." <br />
[[Datei:Der zirkuläre Rückkoppelungsprozess eines Heizsystems.jpeg|500px|thumb|zentriert|]]<br />
<br />
Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020): Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 21-22<br />
<br />
Das zweite Zitat ist in das sechste Kapitel „Kinästhetik ist praktische Kybernetik“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Frage der konkreten Verbindung von Kybernetik und Kinästhetik. Das Zitat ist Teil des Textes des zweiten Unterkapitels „Selbstregulation und persönliches Lernen“ unter der Überschrift "6.2.1. Wie reguliere ich mich?" .<br />
: ''"[...]Die Kybernetik geht davon aus, dass diese Selbstregulation auf ununterbrochenen, sehr unmittelbaren zirkulären Prozessen zwischen Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem beruht. Diese Prozesse werden im Modell als kybernetische Regelkreise oder Feedback-Schleifen dargestellt (vgl. Infobox S. 59). Wie im vierten Kapitel erwähnt, versteht die Kinästhetik Positionen wie Liegen, Sitzen oder Stehen, die von außen betrachtet nach statischen, „bewegungslosen“ Zuständen aussehen, als aktive Bewegungen. Eine entsprechende Anleitung zu einer Bewegungserfahrung im Stehen findet sich in der Infobox auf Seite 35. Vielleicht ist im Stehen leichter als im Sitzen erfahrbar, dass es unmöglich ist, bewegungs- los in einer Position zu verweilen. Aber tatsächlich sind wir nur dazu imstande, fortlaufend mit vielen kleinen Bewegungen zu verhindern, dass wir umfallen (oder im Liegen einen Dekubitus entwickeln). Bei jeder Aktivität findet also durch Selbstregulation ununterbrochen ein Ausgleich von „Fehlern“ statt, die wir selbst produzieren – und ohne diese ständigen Korrekturen und Anpassungen an die Absicht ist keine zielgerichtete Bewegung möglich. Bei kleinen Kindern, die dabei sind, stehen zu lernen, lässt sich gut beobachten, wie sie in eine tiefere Position plumpsen, wenn eine rechtzeitige „Korrektur“ misslingt. <br />
[[Datei:Feedback Kontroll Theorie.png|mini|rechts|Regelkreis der Bewegungs- bzw. Verhaltensregulation]]<br />
: ''Wegen ihrer konstanten Unmittelbarkeit, ihrer „Geschwindigkeit“, sind solche Regelkreise oder Feedback-Schleifen nur als Ganzes erfahrbar. Die beteiligten Systeme (Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem) sind isoliert nicht erfahrbar. Wie wichtig aber dieses ununterbrochene Zusammenspiel bzw. diese Selbstregulation ist, kann einem z. B. unter starkem Alkoholeinfluss auffallen. In diesem Zustand passiert es leicht, dass man „Fehler“ der Bewegung so verzögert wahrnimmt, dass das Nervensystem die Abweichung nicht mehr rechtzeitig berechnen, und damit keine Korrekturen veranlassen kann. Dadurch kommt man zumindest ins Schwanken oder landet gar im Straßengraben ... Für die Effekte solcher zeitlichen Verzögerungen des sensorischen Feedbacks interessierte sich insbesondere der Verhaltenskyber- netiker K. U. Smith (vgl. Kapitel 4.3.4); darauf dass Phänomene wie Ataxie und Intentionstremor als Störungen von Regelkreisen erklärt werden können, hatte bereits Norbert Wiener verwiesen (vgl. Infobox S. 26)."<br />
Quelle: ebd., S. 59<br />
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[[Kategorie: Kybernetische Grundlagen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Fehler&diff=4920Fehler2024-01-10T14:35:09Z<p>Sabine Kaserer: </p>
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<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Dagmar Panzer, Sabine Kaserer}}<br />
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''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema „Fehler“. Es geht vor allem um das Verständnis der Fehlers als notwendiger Bestandteil der Selbstregulation und somit des Lernens. Es geht nicht um die Frage "richtig oder falsch", sondern um das Fehler-Machen als bedeutsamen Unterschied und als Grundlage für Bewegungs- und Verhaltensanpassung. Die ersten Zitate stammen aus dem Buch „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“. Weitere Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“.<br />
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== Fehler in „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“. Das erste Zitat ist in das fünfte Kapitel „Lernen: Allgemeine Blickpunkte“ eingebettet. <br />
Das Zitat ist der Text der Infobox „Eine Definition des Lernens“ des sechsten Unterkapitels „Leben heißt Lernen“.<br />
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: ''„Der Fehler<br>Bei vielen Lernprozessen des gesellschaftlichen Lebens wird durch festgeschriebene Regelwerke vorgegeben, was richtig und falsch ist. Fehler haben eine negative Bedeutung und beim Lernen scheint es darum zu gehen, dass man lernt, alles richtig bzw. keine Fehler zu machen.<br>Aus kybernetischer Sicht hingegen funktioniert die Verhaltenssteuerung eines Lebewesens aufgrund einer fortlaufenden Fehlerkorrektur. Diese „Fehler“ sind ein unabdingbarer Bestandteil der Steuerung. Somit könnte man sagen: Wir können nur dadurch lernen, dass wir fortlaufend Fehler machen.<br>In ähnlicher Weise ist es oft ein wichtiger Anreiz zum Lernen, dass wir einen „Fehler“ wahrnehmen, d. h. den Unterschied zwischen dem beabsichtigten Ziel und dem erreichten Ergebnis.<br>Auf dem Lernweg selbst sind einerseits die Einsicht, wo etwas nicht wie erwünscht klappt, und andererseits die Freude über entsprechende Fortschritte wichtige Triebfedern des Lernens.“''<br />
<br />
Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.), Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz, 2020, ISBN 978-3-903180-01-7, S. 58<br />
<br />
Das zweite Zitat ist in das vierte Kapitel „Theoretische Grundlagen von Kinaesthetics“ eingebettet. <br />
Das Zitat ist der Text der Infobox „Wir können nicht stehen“ des dritten Unterkapitels „Zirkuläre Selbstregulationsprozesse als Grundlage des menschlichen Verhaltens“.<br />
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: ''"Wir können nicht stehen<br>Die Funktionsweise unserer Bewegungssteuerung, und damit der Feedback-Kontroll- Theorie, lässt sich ausgezeichnet in einer Bewegungserfahrung nachvollziehen: Stehen Sie auf einem Bein und schließen Sie die Augen. Achten Sie nun darauf, wie Sie auf der Ebene der Bewegung diese Aktivität zustande bringen. Sie werden feststellen, dass Sie fortlaufend Anpassungsbewegungen machen und die „Fehler“ und Unsicherheiten korrigieren, die Sie selbst produzieren. Man könnte folglich sagen, dass wir gar nicht stehen können, sondern nur fortlaufend verhindern, dass wir umfallen."''<br />
<br />
Quelle: ebd., S.44<br />
<br />
Das dritte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Lernen: Allgemeine Blickpunkte“ eingebettet. <br />
Das Zitat ist Teil des sechsten Unterkapitels „Leben heißt Lernen„ unter der Überschrift „Eine Definition des Lernens“.<br />
: ''"Natürlich baut unser konkretes Verhalten, d. h. jede Ausführung einer Aktivität, auf einem individuellen Muster auf. Dieses ist aus der Reihe der vergangenen Ausführungen entstanden und beeinflusst die Art und Weise der Fehlerkorrektur der nächsten Ausführung derselben Aktivität. Die damit verbundenen ständigen Lernprozesse können ein Muster verfestigen oder erweitern, aber auch einschränken oder abbauen." <br />
<br />
Quelle: ebd., S.58<br />
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== Fehler in „Kybernetik und Kinästhetik“==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“. Das erste Zitat ist in das dritte Kapitel „Der Kern: Feedback und [[Zirkularität]]“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel „Selbstregulation durch Feedback “ und „Wie funktioniert ein Heizsystem?“ beleuchten die Funktionsweise der Selbstregulation künstlicher und natürlicher Systeme. Hier geht um das grundlegende Verständnis von Selbstregulation mit der Unterscheidung von linearen und [[Zirkuläre Wirkungszusammenhänge|zirkulären Wirkungszusammenhängen]]. Das Zitat ist der Text des Unterkapitels „ 3.3. Ist-Wert, Soll-Wert und Rückkoppelung“. <br />
: ''"Damit ist der Kreislauf geschlossen und man kann relativ leicht nachvollziehen, was zirkuläre Logik im Zusammenhang mit Selbstregulations-Prozessen bedeutet: <br />
: ''Wenn die Heizung läuft, wird die Raumtemperatur steigen. Dadurch wird das Thermometer über 20 °C anzeigen. Der Rechner wird diesen Unterschied zwischen dem Soll-Wert (20 °C) und dem Ist-Wert (aktuelle Raumtemperatur) bei einem bestimmten Wert feststellen und dem Heizkessel den „off“-Befehl geben. Sinkt die Raumtemperatur bzw. das Thermometer in der Folge unter 20 °C, wird der Rechner den „Fehler“ merken und der Heizung die Information „on“ zukommen lassen. So beeinflussen sich im Kreis die drei Elemente durch ihre Rückkoppelung (Feedback). Der Regulationsprozess des Systems besteht in fortgesetzten Fehlerkorrekturen, im Ausgleichen von systemrelevanten Unterschieden. <br />
: ''In unserem Beispiel pendelt die tatsächliche Raumtemperatur, der Ist-Wert, folglich um den Soll-Wert. Das Ideal von 20 °C wird gar nicht gehalten, sondern von den Ist-Werten nur vorübergehend erreicht. Wenn man den Rechner auf sehr feine Unterschiede einstellen würde, käme es nämlich in unserem System zu einem ständigen, unsinnigen An- und Abschalten des Heizkessels." <br />
[[Datei:Der zirkuläre Rückkoppelungsprozess eines Heizsystems.jpeg|500px|thumb|zentriert|]]<br />
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Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020): Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 21-22<br />
<br />
Das zweite Zitat ist in das sechste Kapitel „Kinästhetik ist praktische Kybernetik“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Frage der konkreten Verbindung von Kybernetik und Kinästhetik. Das Zitat ist Teil des Textes des zweiten Unterkapitels „Selbstregulation und persönliches Lernen“ unter der Überschrift "6.2.1. Wie reguliere ich mich?" .<br />
: ''"[...]Die Kybernetik geht davon aus, dass diese Selbstregulation auf ununterbrochenen, sehr unmittelbaren zirkulären Prozessen zwischen Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem beruht. Diese Prozesse werden im Modell als kybernetische Regelkreise oder Feedback-Schleifen dargestellt (vgl. Infobox S. 59). Wie im vierten Kapitel erwähnt, versteht die Kinästhetik Positionen wie Liegen, Sitzen oder Stehen, die von außen betrachtet nach statischen, „bewegungslosen“ Zuständen aussehen, als aktive Bewegungen. Eine entsprechende Anleitung zu einer Bewegungserfahrung im Stehen findet sich in der Infobox auf Seite 35. Vielleicht ist im Stehen leichter als im Sitzen erfahrbar, dass es unmöglich ist, bewegungs- los in einer Position zu verweilen. Aber tatsächlich sind wir nur dazu imstande, fortlaufend mit vielen kleinen Bewegungen zu verhindern, dass wir umfallen (oder im Liegen einen Dekubitus entwickeln). Bei jeder Aktivität findet also durch Selbstregulation ununterbrochen ein Ausgleich von „Fehlern“ statt, die wir selbst produzieren – und ohne diese ständigen Korrekturen und Anpassungen an die Absicht ist keine zielgerichtete Bewegung möglich. Bei kleinen Kindern, die dabei sind, stehen zu lernen, lässt sich gut beobachten, wie sie in eine tiefere Position plumpsen, wenn eine rechtzeitige „Korrektur“ misslingt. <br />
[[Datei:Feedback Kontroll Theorie.png|mini|rechts|Regelkreis der Bewegungs- bzw. Verhaltensregulation]]<br />
: ''Wegen ihrer konstanten Unmittelbarkeit, ihrer „Geschwindigkeit“, sind solche Regelkreise oder Feedback-Schleifen nur als Ganzes erfahrbar. Die beteiligten Systeme (Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem) sind isoliert nicht erfahrbar. Wie wichtig aber dieses ununterbrochene Zusammenspiel bzw. diese Selbstregulation ist, kann einem z. B. unter starkem Alkoholeinfluss auffallen. In diesem Zustand passiert es leicht, dass man „Fehler“ der Bewegung so verzögert wahrnimmt, dass das Nervensystem die Abweichung nicht mehr rechtzeitig berechnen, und damit keine Korrekturen veranlassen kann. Dadurch kommt man zumindest ins Schwanken oder landet gar im Straßengraben ... Für die Effekte solcher zeitlichen Verzögerungen des sensorischen Feedbacks interessierte sich insbesondere der Verhaltenskyber- netiker K. U. Smith (vgl. Kapitel 4.3.4); darauf dass Phänomene wie Ataxie und Intentionstremor als Störungen von Regelkreisen erklärt werden können, hatte bereits Norbert Wiener verwiesen (vgl. Infobox S. 26)."<br />
Quelle: ebd., S. 59<br />
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[[Kategorie: Kybernetische Grundlagen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Autopoiese_(Autopoiesis)&diff=4919Autopoiese (Autopoiesis)2024-01-10T14:17:58Z<p>Sabine Kaserer: /* Autopoiese in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ */</p>
<hr />
<div>''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Das erste Kapitel dieses Artikels ist mit Fachliteratur angelegt. Sie thematisiert auf der Grundlage der Autopoiese die Autonomie der Verhaltensregulation und die operative und informationelle Geschlossenheit von Lebewesen.<br />
<br />
Danach wird die Bedeutung des Begriffs Autopoiese (Autopoiesis) bei Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela sowie bei Niklas Luhmann behandelt. Die Darstellung beruht zuerst auf dem von Maturana/Varela gemeinsam verfassten Buch „Der Baum der Erkenntnis“. Sie zeigt die grundsätzliche Bedeutung der Autopoiese, der Selbsterzeugung, als Merkmal des Lebendigen und ihre enge Verbundenheit mit dem Begriff Autonomie auf. Dann werden autopoietische Einheiten erster und zweiter Ordnung thematisiert und schließlich strukturelle Koppelungen dritter Ordnung bzw. soziale Phänomene. Danach wird die Autopoiesis bei Luhmann und die Kritik Maturanas an seiner Übertragung des Begriffs auf gesellschaftliche und ökonomische Phänomene dargestellt. <br />
<br />
Abschließend wird das Thema kommentiert und ausgewertet sowie insbesondere auf die Verwendung des Begriffs [[Interaktion]] bei Maturana/Varela eingegangen. Diese unterscheidet sich von der in der Kinästhetik aktuellen Betrachtungsweise. Nach Hinweisen auf weiterführende Literatur und KOFL-Artikel folgen zum Schluss Angaben zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs.<br />
<br />
== Autopoiese in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Stefan Marty-Teuber}}<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat ist in das vierte Kapitel „Theoretische Grundlagen von Kinaesthetics“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel sind „4.3. Zirkuläre Selbstregulationsprozesse als Grundlage des menschlichen Verhaltens“ und „4.4. Geschlossenheit und Individualität der Wahrnehmung“. Das Zitat ist der Text des fünften Unterkapitels „Autonomie der Verhaltenssteuerung“.<br />
: [[Datei:Stemm person.jpg|mini|links]]<br />
[[Datei:Stemm schrank.jpg|mini|rechts]]<br />
: ''<br clear=all>„Das in Kapitel 4.3. dargestellte Erklärungsmodell der Selbstregulation bedeutet gleichermaßen, dass Lebewesen ihr Verhalten immer selbst und von innen heraus steuern. Wie sich ein anderer Mensch als Individuum an unser Verhalten anpasst und auf es reagiert, können wir grundsätzlich von außen nicht steuern oder bestimmen. Unser Verhalten kann die Körperspannung eines anderen Menschen zwar beeinflussen, aber in jedem Moment reguliert nur er selbst diese von innen heraus. Lebewesen sind in diesem Sinne als autonom (griechisch, ‚eigengesetzlich‘) zu betrachten.''<br />
<br />
: '' Was damit gemeint ist, lässt sich an einem wesentlichen Unterschied zwischen der belebten und der unbelebten Natur zeigen: Wenn Sie mit Ihrem Fuß einen Stein treten, bestimmt – unter anderen bekannten und berechenbaren Faktoren – die Energie dieses Trittes seine Reaktion und er wird mehr oder weniger weit davonkullern. Wenn Sie einen Menschen oder einen Hund treten, beruht seine Reaktion auf diese ‚Störung‘ wesentlich auf ihm selbst und ist nicht vorhersagbar. Der Hund wird vielleicht davonrennen, möglicherweise schnappt er aber auch nach Ihrem Fuß. Oder mit einem anderen Beispiel ausgedrückt: Sie können einen Menschen nicht wie einen Kleiderschrank von A nach B bewegen (vgl. Karikatur oben).''<br />
<br />
: '' In wissenschaftlicher Sprache kann man hier von einer '''Autopoiese''' (griechisch, ‚Selbsterschaffung‘, vgl. Infobox) oder operationalen Geschlossenheit im übertragenen Sinn sprechen. Diese Ausdrücke bezeichnen grundsätzlich die Tatsache, dass Lebewesen die Bestandteile, aus denen sie bestehen, fortlaufend nur aus sich selbst heraus produzieren. Bezüglich dieser Operationen ist das System ‚Lebewesen‘ geschlossen. Im obigen Beispiel gilt das Gleiche im übertragenen Sinn für die Operationen bzw. das Verhalten des Menschen, der einen Fußtritt bekommt: Seine Reaktion wird wesentlich von ihm selbst bestimmt.“'' <br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox '''„Autopoiese: Die Geschlossenheit von Lebewesen in Bezug auf Operation und Information“''':<br />
: '' „Die beiden Neurobiologen H. Maturana (*1928) und F. J. Varela (1946–2001) beschreiben aufgrund ihrer Forschungen die Autopoiese als die zentrale Eigenschaft von Lebewesen (Maturana; Varela 2015). Sie meinen damit, dass jedes Lebewesen sich fortlaufend einzig und allein aus sich selbst heraus erschafft, von der molekularen und zellulären Ebene bis hin zu derjenigen des ganzen Organismus. Lebewesen sind in diesem Sinne operativ geschlossen und autonom. Entsprechend kann die Art und Weise, wie sich Lebewesen Informationen über ihre Umgebung verschaffen, nicht so beschrieben werden, dass sich bestimmte Reize der Umgebung direkt im Gehirn abbilden. Auch hier sind Lebewesen autonom, produzieren und ‚errechnen/konstruieren‘ fortlaufend ihre individuelle Welt. Im Wissenschaftsbetrieb entwickelte sich aufbauend auf diesen Beschreibungen z. B. der Konstruktivismus.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 47.<br />
<br />
== Autopoiese (Autopoiesis) bei Maturana/Varela ==<br />
{{Infobox|vorläufig abgeschlossen|Stefan Marty-Teuber/Joachim Reif}}<br />
=== Autopoiese (Selbsterzeugung) als Kriterium des Lebendigen ===<br />
In ihrem gemeinsam verfassten Buch „Der Baum der Erkenntnis“<ref>'''Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (2009):''' Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Aus dem Spanischen von Kurt Ludewig in Zusammenarbeit mit dem Institut für systemische Studien e. V. in Hamburg. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag (Fischer Taschenbücher 17855). ISBN 978-3-596-17855-1.</ref> führen die beiden chilenischen Neurobiologen Humberto R. Maturana (*1928) und Francisco J. Varela (1946–2001) im zweiten Kapitel mit der Überschrift „Die Organisation des Lebendigen“ den Begriff Autopoiese ein. Autopoiese ist für sie eine neue ''„Antwort auf die Frage nach dem Kriterium des Lebendigen“''<ref>ebd., S. 49.</ref>. Lebewesen sind in ihren Strukturen unterschiedlich, gleichen sich aber in ihrer Organisation , d. h., in charakteristischen Relationen oder Beziehungen ihrer „Teile“, die sie als zur Klasse des Lebendigen zugehörig definieren<ref>ebd., S. 49 f.</ref>. Gemäß den beiden Autoren ist das Eigentümliche dieser Organisation die Autopoiese, nämlich dass ein abgegrenztes System sich selbst und insbesondere seine Abgrenzung gegenüber seinem Milieu durch seine geschlossene rekursive Dynamik erzeugt und erhält. In streng wissenschaftlichem Sinn wird die autopoietische Organisation als charakteristisches Merkmal alles Lebendigen auf der Ebene der Zelle aufgezeigt. <br><br />
<br />
: ''„Unser Vorschlag ist, dass Lebewesen sich dadurch charakterisieren, dass sie sich – buchstäblich – andauernd selbst erzeugen. Darauf beziehen wir uns, wenn wir die sie definierende Organisation autopoietische Organisation nennen (griech. autos = selbst; poiein = machen). Im wesentlichen ist diese Organisation durch gewisse Relationen gegeben, die wir aufzählen werden und die auf der zellulären Ebene noch leicht zu verstehen sein werden.“''<ref>ebd., S. 50 f.</ref><br />
<br />
Eine ausgezeichnete Zusammenfassung dafür, was mit Autopoiese im ursprünglichen Sinn gemeint ist, liefert Maturana an anderer Stelle (vgl. unten „Maturanas Kritik am Autopoiesis-Begriff von Luhmann“).<br />
<br />
=== Autopoiese und Autonomie ===<br />
Die beiden Forscher verbinden den Ansatz der Autopoiese eng mit der traditionellen ''„Frage nach der Autonomie des Lebendigen“''<ref>ebd., S. 55.</ref>. Autonomie meint dabei die Fähigkeit eines Systems, ''„seine eigene Gesetzlichkeit beziehungsweise das ihm Eigene zu spezifizieren“''<ref>ebd., S. 55.</ref>. Verständlich wird diese Autonomie durch das Verständnis der Organisation, die Lebewesen als Einheiten definiert. <br><br />
: '' „Dies ist deshalb notwendig, weil gerade die Berücksichtigung der Lebewesen als autonome Einheiten uns aufzuzeigen erlaubt, wie ihre üblicherweise als geheimnisvoll und unfaßbar angesehene Autonomie verständlich wird, wenn und indem auf ihre sie als Einheit definierende autopoietische Organisation verwiesen wird.“''<ref>ebd., S. 56.</ref><br />
<br />
Bemerkenswert ist, dass Autonomie in diesem Sinn eine grundsätzliche Eigenart des Lebendigen ist, von der ein Lebewesen nicht mehr oder weniger haben kann: Jedes Lebewesen wird grundsätzlich als autonom (eigengesetzlich) betrachtet. Diese Definition der Autonomie gerät in einen Widerspruch mit der Verwendung des Begriffs im Sinn der Selbstbestimmung, die in der Soziologie oder in Lebensqualitätsmodellen gängig ist. Letztere Verwendung hat Fremdbestimmung als Gegenbegriff und erlaubt im Gegensatz zur Begriffsbestimmung bei Maturana/Varela ein Mehr oder Weniger.<br />
<br />
=== Autopoietische Einheiten erster und zweiter Ordnung ===<br />
Mit einer naturwissenschaftlichen Argumentation erläutern Maturana und Varela die Autopoiese von Zellen als Hauptmerkmal des Lebens und bezeichnen diese als autopoietische Einheiten oder Systeme erster Ordnung (vgl. [[Autopoietische Einheiten erster Ordnung]]). Diese Grundidee übertragen sie im vierten Kapitel mit der Überschrift „Das Leben der ‚Metazeller‘“ auf vielzellige Lebensformen, sogenannte Metazeller. Sie werden als Einheiten beschrieben, die aus Zellen, also aus autopoietischen Einheiten erster Ordnung, bestehen und ''„in deren Struktur eng verknüpfte Zellanhäufungen zu erkennen sind“''<ref>ebd., S. 98.</ref>. In Bezug auf ihre Struktur wandeln sich vielzellige Lebewesen in ihrer Lebensgeschichte. Die Geschichte dieses ständigen Wandels, die sogenannte Ontogenese<ref>ebd., S. 84.</ref>, schließt dabei in einem Zyklus immer eine Stufe ein, in der sie aus einer Zelle bestehen. <br><br />
: '' „Es ist offenbar, daß die Ontogenese eines Metazellers durch den Bereich der Interaktionen, der diesen als ganze Einheit kennzeichnet, bestimmt wird und nicht durch die individuellen Interaktionen der den Metazeller bildenden Zellen. In anderen Worten: Das Leben eines vielzelligen Individuums als Einheit vollzieht sich zwar im Operieren seiner Bestandteile, es ist aber nicht durch die Eigenschaften der Bestandteile bestimmt. Alle multizellulären Individuen sind jedoch Ergebnis der Teilung und Aufspaltung einer Gattung von Zellen, welche zum Zeitpunkt der Befruchtung einer einzigen Zelle oder Zygote [kursiv] entstehen, wobei diese wiederum Produkt einiger Organe oder Teile eines multizellulären Organismus ist. Würden keine neuen Individuen erzeugt, so gäbe es kein Fortbestehen der Stämme. Und dafür, daß es neue Individuen gibt, muß ihr Entstehungsbeginn auf eine [kursiv] Zelle zurückgehen.“''<ref>ebd., S. 91.</ref> <br><br />
<br />
Die Metazeller, zu denen u. a. alle Pilze, Pflanzen, Tiere und somit der Mensch zählen, bezeichnen sie als ''„autopoetische Systeme zweiter Ordnung [kursiv im Originaltext]“''<ref>ebd., S. 98.</ref>. Bewusst offen gelassen wird aufgrund der unsicheren Kenntnislage die Frage, ob Metazeller bzw. Organismen in streng wissenschaftlichem Sinn als autopoietische Einheiten verstanden werden können, die mit denjenigen erster Ordnung vergleichbar sind. <br> <br />
: '' „Aber wie können wir die Bestandteile und Relationen in einem Organismus beschreiben, so daß seine Organisation im Sinne einer molekularen Autopoiese sichtbar wird? Im Falle der Metazeller haben wir bis heute eine viel ungenauere Kenntnis der molekularen Prozesse, welche sie als den Zellen vergleichbare autopoietische Einheiten definieren könnten.“''<ref>ebd., S. 99.</ref> <br><br />
Verwiesen wird auf den engen Zusammenhang zwischen der operationalen Geschlossenheit ihrer Organisation und der Autopoiese. <br><br />
: '' „Wir können aber sagen, daß sie [die Metazeller] eine operationale Geschlossenheit [kursiv] ihrer Organisation aufweisen: Ihre Identität ist durch ein Netz von dynamischen Prozessen gekennzeichnet, deren Wirkungen das Netz nicht überschreiten.“''<ref>ebd., S. 100.</ref><br />
<br />
=== Soziale Phänomene: Koppelungen dritter Ordnung ===<br />
Die Voraussetzung für vielzellige Lebensformen bzw. autopoietische Einheiten zweiter Ordnung ist, dass sich einzelne Zellen enger verbinden und Anhäufungen bilden (vgl. oben). Um solche engen Verbindungen von Zellen – sei es mit anderen Zellen oder mit dem umgebenden Milieu – zu bezeichnen, verwenden Maturana und Varela den Begriff der strukturellen Koppelung. <br><br />
: '' „Daß sich zwei (oder mehr) autopoietische Einheiten in ihrer Ontogenese gekoppelt haben, sagen wir, wenn ihre Interaktionen einen rekursiven [kursiv] oder sehr stabilen Charakter erlangt haben.“''<ref>ebd., S. 85.</ref><br />
<br />
Im achten und neunten Kapitel mit den Überschriften „Die sozialen Phänomene“ und „Sprachliche Bereiche und menschliches Bewusstsein“ übertragen Maturana und Varela ihre Grundideen mit Bezugnahme auf die auf Gruppen von Organismen mit einem Nervensystem. Dabei nehmen sie explizit Bezug auf die Mechanismen autopoietischer Systeme zweiter Ordnung<ref>ebd., S. 197.</ref>. Solche Gruppen beschreiben sie als strukturelle Koppelungen dritter Ordnung durch Ko-Ontogenese. <br><br />
: '' „Es ist jedoch möglich [kursiv], daß die Interaktionen zwischen Organismen im Verlauf ihrer Ontogenese einen rekursiven Charakter annehmen. Das führt notwendig zum gemeinsamen strukturellen Driften dieser Organismen: eine Ko-Ontogenese, an der die Organismen durch ihre gegenseitige strukturelle Koppelung beide beteiligt sind, wobei jeder seine Anpassung und Organisation bewahrt. Wenn dies geschieht, dann bringen die gemeinsam driftenden Organismen einen neuen phänomenologischen Bereich hervor, der besonders komplex werden kann, wenn ein Nervensystem vorhanden ist. Um die Phänomene, die aus dieser strukturellen Koppelung dritter Ordnung [kursiv] entstehen, geht es in diesem und im folgenden Kapitel.“''<ref>ebd., S. 85.</ref><br />
<br />
Als Phänomene dieses neuen Bereichs beschreiben Maturana und Varela u. a. die Rollenverteilung von Tieren bei der Zeugung und Aufzucht von Nachkommen<ref>ebd., S. 197 ff.</ref>, das Sozialverhalten von Insekten als ''„klassischen und bemerkenswertesten Fall einer so engen Koppelung dritter Ordnung“''<ref>ebd., S. 200.</ref>, das Fluchtverhalten, die Jagd oder die Gruppenorganisation durch vielfältige Interaktionen bei sozialen Wirbeltieren wie Antilopen, Wölfen oder Primaten<ref>ebd., S. 205 ff.</ref>. Erwähnt werden aber auch soziale Phänomene wie Kommunikation, Kulturelles, Altruismus und Egoismus oder die Nachahmung und die Erhaltung gelernten Verhaltens<ref>ebd., S. 209 ff.</ref>. <br />
<br />
Das ganze neunte Kapitel des Buches widmet sich dem sprachlichen Bereich, der bewusst von vorausgehend beschriebenen sozialen Phänomenen getrennt wird. <br><br />
: '' „Angeborenes Verhalten ist abhängig von den Strukturen, die im Verlauf der Entwicklung des Organismus unabhängig von seiner individuellen Ontogenese entstehen. Erworbenes kommunikatives Verhalten ist abhängig von der individuellen Ontogenese des Organismus und von seiner besonderen Geschichte von sozialen Interaktionen.“''<ref>ebd., S. 223.</ref> <br><br />
<br />
Bemerkenswert ist, dass für die detaillierte Beschreibung von Koppelungen dritter Ordnung bzw. von sozialen Phänomenen die Begriffe „Autopoiese/autopoietisch“ in den entsprechenden Kapiteln nicht verwendet werden.<br />
<br />
== Autopoiesis bei Luhmann ==<br />
Der deutsche Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) übernahm den Begriff Autopoiesis und verwendet ihn als Leitidee seiner Systemtheorie, die er als ''„Theorie autopoietischer, selbstreferentieller, operativ geschlossener Systeme“''<ref>'''Luhmann, Niklas (1997):''' Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft1360). ISBN 3-518-28960-8. S. 79.</ref> bezeichnet. <br />
<br />
Seine Systemtheorie gilt allgemein als epochale Wende in der Geschichte der Gesellschaftstheorie oder Soziologie. Luhmann unterscheidet hauptsächlich zwischen biologischen, psychischen und sozialen Systemen, wobei in seinem Verständnis ein einzelner Mensch oder auch eine Gruppe von Menschen kein System bildet, sondern ein Konglomerat, ein Gemisch von unterschiedlichen Typen von Systemen ist<ref>'''Berghaus, Margot (2011):''' Luhmann leicht gemacht. Eine Einführung in die Systemtheorie. 3., überarbeitete und ergänzte Auflage. Köln: Böhlau. ISBN 978-3-8252-2360-1. S. 32 f.</ref>. <br />
<br />
Systeme werden dabei nicht durch ihre Dinglichkeit, sondern durch ihre dynamischen Operationen definiert. Diese Operationen betreffen einerseits die Differenzierung der systemeigenen Umwelt und die Autopoiesis. In enger Anlehnung an die Beschreibungen von Maturana/Varela ist damit gemeint, dass ein autopoietisches System sich selbst, also das, woraus es besteht, in operativer Geschlossenheit aus dem, woraus es besteht, erzeugt und fortlaufend reproduziert.<ref>ebd., S. 50–52.</ref> Für Luhmann ist die operative Geschlossenheit zusammen mit gleichzeitiger Offenheit gegenüber der Umwelt, die eine Grundvoraussetzung ist, ein wichtiger Aspekt autopoietischer Systeme<ref>ebd., S. 56–60.</ref>.<br />
<br />
Luhmann war es bewusst, dass Maturana mit dieser Verwendung des Begriffs Autopoiese in der Soziologie nicht einverstanden war; eine Einigung konnten die beiden diesbezüglich nicht erreichen. <br><br />
: '' „Ich habe mit Maturana relativ lange Diskussionen darüber geführt und er hat immer gesagt, wenn man von der Autopoiesis der Kommunikation spreche, müsse man das zeigen können. […] Ich glaube, dass das keine großen Schwierigkeiten macht. […] Opposition findet man nur dort, wo Maturana es ablehnt, Kommunikationssysteme als soziale Systeme zu bezeichnen. Es gibt ein starkes emotionales Moment auf seiner Seite. Er möchte die Menschen nicht ausser Acht lassen und hat auch nicht die Beweglichkeit in soziologischen oder linguistischen Fragen, die es ihm ermöglichen würde zu sehen, wie man den Menschen wieder hineinbekommt. Er will nicht darauf verzichten, mit dem Ausdruck ‚soziale Systeme‘ konkrete Menschen zu meinen, die Gruppen bilden und dergleichen. Nur da liegt die Differenz.“''<ref>'''Luhmann, Niklas (2017):''' Einführung in die Systemtheorie. Herausgegeben von Dirk Baecker. 7. Auflage. Systemische Horizonte. Heidelberg: Carl-Auer Verlag. ISBN 978-3-89670-839-7. S. 109.</ref><br />
<br />
== Maturanas Kritik am Autopoiesis-Begriff von Luhmann ==<br />
In seinem Buch „Die Gewissheit der Ungewissheit“<ref>'''Pörksen, Bernhard (2002):''' Die Gewissheit der Ungewissheit. Gespräche zum Konstruktivismus. Mit Heinz von Foerster … [u. a.]. Reihe Konstruktivismus und systemisches Denken. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag. ISBN 978-3-89670-227-0.</ref> veröffentlicht Bernhard Pörksen (*1969) verschiedene Gespräche mit namhaften Forschern zum Konstruktivismus; eines davon hat er mit Maturana geführt. In diesem wundert sich Pörksen, dass Maturana bis zum dritten Tag des Gesprächs nicht auf den Begriff Autopoiese zu sprechen gekommen ist. Darauf liefert Maturana eine Begründung in Form einer sehr schönen Zusammenfassung seines Verständnisses der Bedeutung des Begriffs.<br><br />
: '' „Der Grund besteht schlicht darin, dass ich den Begriff nur dann gebrauche, wenn er nötig und angebracht ist. Autopoiesis [kursiv] bedeutet ‚Selbsterschaffung‘ und setzt sich aus den beiden griechischen Wörtern autós [kursiv] (‚selbst‘) und poieín [kursiv] (‚produzieren‘ bzw. ‚erschaffen‘) zusammen. Das Konzept der Autopoiesis liefert die Antwort auf die Frage, was ein lebendes System ausmacht: Man hat in der Geschichte der Biologie behauptet, dass das Lebendige durch die Fähigkeit zur Fortpflanzung oder Fortbewegung, dass es durch eine bestimmte chemische Zusammensetzung, einen spezifischen Aspekt des Stoffwechsels oder irgendeine Kombination dieser verschiedenen Kriterien charakterisiert sei. Ich schlage dagegen ein anderes Kriterium vor. Wenn man ein lebendes System betrachtet, findet man stets ein Netzwerk von Prozessen oder Molekülen, die auf eine Weise miteinander interagieren, die ihrerseits zur Produktion von Molekülen führt, die durch ihre Interaktion ebendieses Netzwerk der Produktion von Molekülen erzeugen und in seinem Umfang begrenzen. Ein solches Netzwerk nenne ich autopoietisch. Wenn man also auf ein Netzwerk stößt, dessen Operationen es im Ergebnis selbst hervorbringen, hat man es mit einem autopoietischen System zu tun. Es produziert sich selbst. Dieses System ist für die Zufuhr von Materie offen, jedoch – wenn man die Dynamik der Beziehungen, die es hervorbringen, betrachtet – geschlossen. Kurzum, das Konzept der Autopoiesis verwende ich, um das Schlüsselmerkmal des Lebendigen zu beschreiben, das ist alles. Wenn es nicht um dieses Problem, sondern um andere Themen geht, dann gibt es aus meiner Sicht auch keinen Anlass, das Wort zu verwenden und über Autopoiese zu sprechen.“''<ref>ebd., S. 103.</ref><br />
<br />
Nach weiteren Ausführungen und Präzisierungen auf Fragen von Pörksen geht Maturana auf die Verwendung des Begriffs bei Luhmann ein und erläutert die oben erwähnte Kritik genauer. <br><br />
: '' „Niklas Luhmann geht jedoch nicht von Molekülen aus, die Moleküle erzeugen, sondern alles dreht sich um Kommunikationen, die Kommunikationen produzieren. Er glaubt, es handele sich um eine vergleichbare Situation. Das ist nicht korrekt, denn Moleküle erzeugen Moleküle ohne fremde Hilfe, ohne Unterstützung. Aber Kommunikationen setzen Menschen voraus, die kommunizieren. Kommunikationen produzieren nur mithilfe von lebenden Systemen Kommunikationen. Durch die Entscheidung, Moleküle durch Kommunikationen zu ersetzen, werden die Menschen als Kommunizierende ausgeklammert. Sie bleiben außen vor und gelten als unwichtig, sie bilden lediglich den Hintergrund und die Basis, in die das soziale System – verstanden als ein autopoietisches Netzwerk aus Kommunikationen – eingebettet ist.“''<ref>ebd., S. 106.</ref><br />
<br />
== Kommentare, Auswertung und offene Fragen ==<br />
=== Autopoiese (Autopoiesis) bei Maturana/Varela und Luhmann ===<br />
Bemerkenswert ist, dass Maturana/Varela die Autopoiese anhand der lebenden Zelle in wissenschaftlicher Schlüssigkeit aufzeigen. Sie selbst sagen aus, dass diese Schlüssigkeit bei autopoietischen Einheiten oder Systemen zweiter Ordnung aufgrund der mangelnden wissenschaftlichen Kenntnislage (noch) nicht möglich sei. Bei strukturellen Koppelungen dritter Ordnung verwenden sie den Begriff Autopoiese/autopoietisch nicht mehr. <br />
<br />
Dass sie diese drei Ebenen hingegen als durch ähnliche oder vergleichbare Phänomene verbunden betrachten, zeigt sich z. B. darin, dass im Inhaltsüberblick, der jedem Kapitel vorangestellt wird, vom Begriff Einheit über Organisation und Struktur zur Autopoiese (2. Kapitel), dann zu Einheiten 2. Ordnung (4. Kapitel) und schließlich zu Einheiten 3. Ordnung (8. Kapitel) geschritten wird. Zugleich zeigt der Inhaltsüberblick in hervorragender Weise, wie engmaschig die ganze Systematik und die Beziehungen der Begrifflichkeiten des Buches gedacht sind. <br />
<br />
Vor diesem Hintergrund ist für jeden Laien nachvollziehbar, dass die Übernahme des Begriffs durch Luhmann nicht im Sinn von Maturana/Varela sein kann: Luhmann ist als Soziologe ja insbesondere an sozialen Systemen interessiert, die bei Maturana/Varela zwar als Einheiten, aber nirgendwo als autopoietische Einheiten oder Systeme bezeichnet werden. <br />
<br />
Andererseits muss man nicht SoziologIn sein, um zu begreifen, welche neuen Perspektiven es ermöglicht, soziale Gruppen als autopoietische System zu verstehen, die sich durch ihre je eigenen Rituale bzw. Operationen definieren, erhalten und sich gegenüber anderen Gruppen abgrenzen usw. Auf jeden Fall ist klar, dass dank Luhmann sehr viel kybernetisches Gedankengut – er greift mit seiner Systemtheorie z. B. auch auf Gregory Bateson oder Heinz von Foerster zurück, um nur zwei Beispiele zu nennen – eine weitere Verbreitung gefunden hat und ins allgemeine Bewusstsein von SoziologInnen, WirtschaftlerInnen, JuristInnen usw. gelangt ist. <br />
<br />
Gerade die Kybernetik hat aufgezeigt, welche letztinstanzliche Bedeutung das einzelne, verkörperte Individuum mit all seinen Erfahrungen und Entwicklungen in Bezug auf das Weltverständnis und das Verhalten hat, konkreter ausgedrückt, dass es grundsätzlich nicht von außen direkt gesteuert oder determiniert werden kann, sondern immer nur sich selbst reguliert. Vor diesem Hintergrund mag einem mit Maturana der „Ausschluss“ der Bedeutung des einzelnen Menschen in der Systemtheorie von Luhmann als berechtigte Kritik erscheinen.<br />
<br />
=== Die Verwendung des Begriffs Interaktion in der Autopoiese-Beschreibung von Maturana/Varela ===<br />
Aus der Sicht der Kinästhetik ist die Verwendung des Begriffs [[Interaktion]] in den Erläuterungen der Autopoiese bei Maturana/Varela auffällig. Grundsätzlich passt in der Kinästhetik die gängige Definition, dass Interaktion eine Wechselbeziehung zwischen HandlungspartnerInnen bezeichnet. Maturana/Varela halten fest, dass sie Interaktionen zwischen autopoietischen Einheiten nicht von Interaktionen einer autopoietischen Einheit mit seinem – aus der Sicht der BeobachterIn – leblosen Milieu unterscheiden; für eine Zelle stellt beides eine ''„Quelle von Interaktionen“''<ref>'''Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (2009):''' Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Aus dem Spanischen von Kurt Ludewig in Zusammenarbeit mit dem Institut für systemische Studien e. V. in Hamburg. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag (Fischer Taschenbücher 17855). ISBN 978-3-596-17855-1. S. 85.</ref> dar. <br />
<br />
Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht allerdings ein wesentlicher [[Unterschied]] zwischen Interaktionen zwischen Menschen und Aktionen von Menschen mit toter Materie. [[Bewegungserfahrung|Bewegungserfahrungen]] sind eine wichtige Grundlage der Kinästhetik. In einer persönlichen Bewegungserfahrung kann man diesen fundamentalen Unterschied leicht erfahren. Er zeigt sich deutlich, wenn man die eigenen Möglichkeiten und Erfahrungen, wenn man mit lebloser Materie agiert, z. B. einen Sessel irgendwo anders hinstellt, mit denjenigen vergleicht, wenn man mit einem anderen Menschen interagiert – den man z. B. nicht in gleicher Weise irgendwo anders hinstellen kann. In der Kinästhetik ist diese Unterscheidung für die förderliche Unterstützung von anderen Menschen über Berührung und Bewegung entscheidend.<br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* '''Varela, Francisco J.; Maturana, Humberto R.; Uribe, R. (1974): ''' Autopoiesis: The organization of living systems, its characterization and a model. In: Biosystems. Volume 5, Issue 4. S. 187–196. doi:[https://doi.org/10.1016/0303-2647%2874%2990031-8 10.1016/0303-2647(74)90031-8].<br />
* '''Maturana, Humberto R.; Pörksen, Bernhard (2008): ''' Vom Sein zum Tun. Die Ursprünge der Biologie des Erkennens. 2. Auflage. Systemische Horizonte. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag. ISBN 978-3-89670-669-0. S. 97–108: „Die Autopoiesis des Lebendigen“.<br />
* '''Maturana, Humberto R. (2000): ''' Biologie der Realität. Übersetzung: Wolfram Köck. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1502. Frankfurt am Main: Suhrkamp. ISBN 3-518-29102-5. S. 106–112: „Lebende Systeme: Autopoiese“.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[Autopoietische Einheiten erster Ordnung]]<br />
* [[Wahrnehmung]]<br />
* [[1.-Person-Methode]]<br />
<br />
== Zum Begriff ==<br />
=== Bedeutungsüberblick ===<br />
==== Herkunft und Bedeutung ====<br />
Autopoiese ist die deutsche Entsprechung des spanischen Begriffs „autopoiesis“. Es handelt sich um einen Neologismus, d.&nbsp;h., um eine wissenschaftliche Neubildung eines Wortes. Es setzt sich zusammen aus den griechischen Wörtern ''autós'' „selbst“ und ''poíesis'' „das Machen, Tun, Schaffen, Hervorbringen; die Dichtung, Poesie“. Letzteres ist eine Substantivbildung zum griechischen Verb ''poieín'' „machen; dichten“. Autopoiese heißt also sozusagen „die Selbstmachung“ oder besser „Selbsthervorbringung, Selbsterschaffung, Selbsterzeugung“. In diesem Sinn führten die beiden Biologen Humberto R. Maturana (*1928) und Francisco J. Varela (1946–2001) in ihrem Buch „Der Baum der Erkenntnis“ aus dem Jahr 1984 den Begriff in die breite wissenschaftliche Diskussion ein. Mit ihm bezeichneten sie das Hauptcharakteristikum des Lebens auf der Ebene einer Zelle oder eines Organismus. Der Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) übertrug den Begriff in die Gesellschaftstheorie und bezeichnete gesellschaftliche Bereiche wie die Politik oder die Wissenschaft als autopoietische Systeme, die eigengesetzlich ihre jeweilige Wirklichkeit erschaffen, erhalten und sich gegenüber anderen Systemen abgrenzen. <br />
<br />
Die Verwendung des Fachbegriffs in der Kinästhetik orientiert sich sowohl an der ursprünglichen, von Maturana/Varela geprägten Bedeutung als auch an der Übertragung durch Luhmann. <br />
<br />
==== Die Bedeutungen von Autopoiese nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ ====<br />
Nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ hat '''Autopoiese''' folgende Bedeutung: <br><br />
„Fähigkeit, sich selbst erhalten, wandeln, erneuern zu können“. <br><br />
<br />
Diese Bedeutungsangabe orientiert sich mehr an der Verwendung des Begriffs bei Luhmann als bei Maturana/Varela: Es fehlt ihr die ursprüngliche Idee der Selbsterzeugung oder -erschaffung.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Autopoietische_Einheiten_erster_Ordnung&diff=4918Autopoietische Einheiten erster Ordnung2024-01-10T14:13:38Z<p>Sabine Kaserer: /* Die Definition des Lebendigen */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|vorläufig abgeschlossen|Joachim Reif/Stefan Marty Teuber}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel beschreibt entlang der Argumentation von Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela im Buch „Der Baum der Erkenntnis“ die Kriterien und die Organisation autopoietischer Einheiten erster Ordnung. Ihre Bedeutung für die Entwicklung des Lebens auf der Erde wird verdeutlicht. <br />
<br />
== Die Definition des Lebendigen ==<br />
Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela führen den Begriff der Autopoiese in ihrem Buch „Der Baum der Erkenntnis“<ref>'''Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (2012):''' Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Aus dem Spanischen von Kurt Ludewig in Zusammenarbeit mit dem Institut für systemische Studien e. V. in Hamburg. 5. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag (Fischer Taschenbücher 17855). ISBN 978-3-596-17855-1.</ref> als das entscheidende „Kriterium des Lebendigen“ <ref>ebd. S. 49</ref> ein. Das folgende Zitat ist die erste Beschreibung der Idee der Autopoiese in ihrem Buch. Es leitet das Kapitel „Das Erscheinen der Lebewesen“ ein, das auf „Eine kurze Geschichte der Erde“ folgt. Sie schließt mit dem Hinweis, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt die Meere und die Atmosphäre der Urerde eine Nährlösung für Anhäufung und Diversifikation organischer Moleküle bzw. von Kohlenstoffketten boten.<br />
''„Als die molekularen Transformationen in den Meeren der Urerde diesen Punkt erreicht hatten, wurde die Bildung von Systemen mit ganz besonderen molekularen Reaktionen möglich. Das heißt: Wegen der nun möglichen Vielfalt und Plastizität im Bereich der organischen Moleküle wurde die Bildung von Netzwerken von molekularen Reaktionen möglich, die wiederum dieselben Klassen von Molekülen, aus denen sie selbst bestehen, erzeugen und integrieren, wobei sie sich im Prozess ihrer Verwirklichung gleichzeitig gegen den umliegenden Raum abgrenzen. Solche Netze und molekulare Interaktionen, welche sich selbst erzeugen und ihre eigenen Grenzen bestimmen, sind […] Lebewesen.“'' <ref>ebd. S. 47</ref><br />
Im Unterschied zu bisherigen Definitionen des Lebens, die eine oder mehrere Eigenschaften des Lebendigen aufzählen <ref>ebd. S. 49</ref>, schlagen sie vor, <br />
''„dass Lebewesen sich dadurch charakterisieren, dass sie sich – buchstäblich – andauernd selbst erzeugen. Darauf beziehen wir uns, wenn wir die sie definierende Organisation autopoietische Organisation nennen (griech. autos = selbst; poiein = machen).“''<ref>ebd. S. 50 f.</ref><br />
<br />
<br />
== Die innere Dynamik autopoietischer Einheiten ==<br />
Eine Zelle besteht als autopoietische Einheit aus molekularen Bestandteilen, die ''„in einem kontinuierlichen Netzwerk von Wechselwirkungen dynamisch miteinander verbunden sind“ <ref>ebd. S. 51</ref>''. Danach unterscheidet sich der molekulare Prozess einer autopoetischen Einheit von anderen natürlichen molekularen Prozessen dadurch, dass ''„der Zellstoffwechsel Bestandteile erzeugt, welche allesamt in das Netzwerk von Transformationen, das sie erzeugte, integriert werden.“ <ref>ebd. S. 53</ref>'' Dabei bilden gewisse dieser Bestandteile eine Abgrenzung zum umgebenden Milieu. Allerdings kann diese Membran nicht als reines Produkt des Zellstoffwechsels betrachtet werden (wie das Tuch als Produkt der Webmaschine), sondern ist integraler Teil davon und nimmt an den Transformationsprozessen teil. So lässt sich die zelluläre Einheit nur durch die Wechselwirkungen aller Bestandteile aufrechterhalten. Entsteht an einem beliebigen Punkt eine Unterbrechung im zellulären metabolischen Netz, wird die Einheit bald nicht mehr feststellbar sein. Ein autopoietisches System unterscheidet sich also im Wesentlichen durch seine innere Dynamik vom umgebenden Milieu.<ref>ebd. S. 54</ref><br />
<br />
[[Datei:Dynamik_und_Rand.png|500px|thumb|center|'''''''Die gegenseitige Bedingtheit''''' von der '''''Dynamik des Netzwerks der Transformationen''''' (Stoffwechsel) und der '''''Abgrenzung''''' (Rand/Membran).''<ref>ebd. S. 53</ref>]]<br />
<br />
== Unterschiede zwischen Organisation und Struktur==<br />
Eine Organisation kann im Sinne von Varela und Maturana mit unterschiedlichen Strukturen funktionieren.<br><br />
<br />
{| class="wikitable"<br />
|-<br />
| '''''„Organisation und Struktur'''<br />
|-<br />
| ''Unter Organisation sind die Relationen zu verstehen, die zwischen den Bestandteilen von etwas gegeben sein müssen, damit es als Mitglied einer bestimmten Klasse erkannt wird.<br />
''Unter der Struktur von etwas werden die Bestandteile und die Relationen verstanden, die in konkreter Weise eine bestimmte Einheit konstituieren und ihre Organisation verwirklichen.<br />
''So besteht die Organisation zur Steuerung des Wasserspiegels in einem Spülkasten des Wasserklosetts aus den Relationen zwischen einem Gerät, das fähig ist, den Wasserpegel einzuschätzen, und einem Gerät, das fähig ist den Wasserzufluß zu unterbinden. Im häuslichen WC wird diese Geräteklasse heute mit einem System aus verschiedenen Materialien wie Kunststoff und Metall verwirklicht, das aus einem Durchflussventil besteht. Diese besondere Struktur könnte aber dadurch verändert werden, dass der Kunststoff durch Holz ersetzt wird, ohne dass damit die Organisation, die das Ding zu einem Spülkasten macht betroffen wäre.“<ref>ebd. Kasten auf Seite 54</ref>''<br />
|}<br />
<br />
<br />
<br />
Maturana und Varela bezeichnen die autopoietische Organisation als entscheidendes Merkmal des Lebens. Dabei wird der Begriff Organisation spezifisch definiert (vgl. Kasten). Sie verstehen darunter die Relationen (die Beziehungen oder auf der Ebene der Zelle die Wechselwirkungen) zwischen den Bestandteilen, die etwas als Mitglied einer Klasse von Objekten erkennen lassen. Bei einem Beispiel aus der Klasse der Stühle, Wasserklosetts oder auf der zellulären Ebene lassen sich diese Relationen relativ einfach beschreiben bzw. sind wie der zelluläre Metabolismus gut erforscht, bei anderen Klassen wie z. B. bei guten Taten ist eine kulturunabhängige Beschreibung kaum möglich. <br />
Diese Definition von Organisation hängt eng mit derjenigen von Struktur zusammen. Struktur meint die Bestandteile und ihre Beziehungen zueinander, die ein Mitglied einer Klasse bzw. seine Organisation konkret bilden und verwirklichen. Diese Definition ist die Grundlage für das Verständnis der strukturellen Koppelung, die für die Autopoiese zweiter und dritter Ordnung eine wichtige Rolle spielt.<br />
''„Ein Lebewesen ist durch seine autopoietische Organisation charakterisiert. Verschiedene Lebewesen unterscheiden sich durch verschiedene Strukturen, sie sind aber in Bezug auf ihre Organisation gleich.“ <ref>ebd. S. 55</ref>''<br />
Die Organisation beschreibt somit funktionale Aspekte, die auch durch unterschiedliche Strukturen aufrechterhalten werden können. Die Auflösung der Organisation bedeutet den Verlust der Einheit.<br />
<br />
==<span id="Autonomie und Autopoiese"></span>Autonomie und Autopoiese== <br />
Nach Maturana und Varela widerspricht das Konzept der Autopoiese bisherigen empirischen Erkenntnissen nicht, sondern ermöglicht es, Daten über Funktionsweise und Biochemie von Lebewesen miteinander in Beziehung zu bringen und aus einem spezifischen Blickwinkel zu interpretieren, der Lebewesen grundsätzlich als autonom betrachtet.<br />
Der Begriff Autonomie wird in der gängigen Bedeutung eingeführt; bekanntlich setzt er sich zusammen aus den griechischen Wörtern autos „selbst“ und nomos „der Brauch, die Sitte; das Gesetz“. Das Adjektiv autonomos bedeutet „nach eigenen Gesetzen lebend, unabhängig“, Autonomie kann also mit „Eigengesetzlichkeit, Unabhängigkeit“ übersetzt werden. Entsprechend definieren Maturana und Varela in ihrem Theoriegebäude Autonomie als die Fähigkeit eines Systems, ''„seine eigene Gesetzlichkeit beziehungsweise das ihm Eigene zu spezifizieren“ <ref>ebd. S. 55</ref>''. Dass Lebewesen autonom sind, ist unmittelbar einsichtig; was sie zu autonomen Einheiten oder Systemen macht, ist die Autopoiese. Im Vergleich mit anderen Systemen zeigt sich ihre Eigengesetzlichkeit oder Unabhängigkeit darin, dass sie sich durch ihre Organisation kontinuierlich selbst erzeugen: ''„Das Sein und das Tun einer autopoietischen Einheit sind untrennbar, und dies bildet ihre spezifische Art der Organisation.“ ''<ref>ebd. S. 56</ref><br />
== Biologische Phänomenologie ==<br />
Im Rahmen der Geschichte unseres Sonnensystems ist das Auftreten autopoietischer Einheiten eine epochale Wende. Mit ihrem Erscheinen treten Phänomene auf (in ihrer Gesamtheit als „Phänomenologie“ bezeichnet), die von der jeweiligen autonomen autopoietischen Einheit abhängig sind und sich von physikalisch erklärbaren Phänomenen (z. B. der bisherigen Erdgeschichte) unterscheiden. Vor diesem Hintergrund verwenden die Autoren den Begriff der biologischen Phänomenologie, um damit alle Phänomene zu bezeichnen, die in einer Klasse von Einheiten aufgrund ihrer Interaktionen auftreten. Sie betonen, dass damit kein Widerspruch zur physikalischen Erklärung von Phänomenen gemeint ist, sondern im Gegenteil Lebewesen alle physikalischen Gesetze erfüllen müssen, weil sie molekulare Bestandteile haben. Allerdings ''„hängen die Phänomene, die autopoietische Einheiten in ihrem Operieren erzeugen, von der Organisation der Einheit ab und von der Art, wie sie verwirklicht wird, und nicht von den physikalischen Eigenschaften ihrer Bestandteile, welche nur den Raum ihrer Existenz bestimmen“ <ref>ebd. S. 60</ref>''.<br />
<br />
== Kommentare, Auswertung, offene Fragen ==<br />
Maturana und Varela stützen ihre Erkenntnisse auf Forschungen auf der molekular-zellulären Ebene. Auf dieser lässt sich das oben Beschriebene direkt beobachten. Autopoietische Einheiten erster Ordnung sind demnach im Wesentlichen alle einzelligen Lebewesen (Bakterien, Archaeen und Eukaryonten)<ref>ebd. S. 85 ff</ref>. Diese sind aus molekularen Entwicklungen in den Meeren der Urerde hervorgegangen und bilden den Beginn jener Entwicklungslinien, aus denen letztlich auch wir Menschen hervorgegangen sind.<br />
<br />
==Vergleiche auch==<br />
[[1.-Person-Methode]] <br><br />
[[Autopoiese (Autopoiesis)]]<br />
== Einzelnachweise==<br />
<br />
[[Kategorie: Kybernetische Grundlagen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Diskussion:Bewegungsentwicklung&diff=4896Diskussion:Bewegungsentwicklung2023-12-20T10:15:39Z<p>Sabine Kaserer: /* Bewegungsentwicklung in „Kinaesthetics - Lernen und Bewegungskompetenz“ */</p>
<hr />
<div>{{Diskussionsseiten|Bewegungsentwicklung}}<br />
{{Infobox|Diskussion eröffnet|N. N./Joachim Reif}}<br />
<br />
{| class="wikitable"<br />
|-<br />
! Anregung durch TrainerInnen<br />
|-<br />
| Diese Diskussion entsteht auf Anfrage einer Gruppe von Schweizer Kinaesthetics-TrainerInnen. Die sich auf der Suche nach Quellen an das Redaktionsteam gewandt haben und auf das Fehlen entsprechender Einträge hingewiesen haben. Wir bedanken uns für das Interesse und hoffen auf einen regen Austausch. Vorab hat das Redaktionsteam sich auf die Suche nach aktuellen bestehenden Quellen und diese hier zugänglich gemacht. Für weitere Quellen, Hinweise und Gedanken sind wir dankbar.<br />
|}<br />
== Bewegungsentwicklung in „Kinaesthetics Konzeptsystem“ ==<br />
--[[Benutzer:Joachim Reif|Joachim Reif]] ([[Benutzer Diskussion:Joachim Reif|Diskussion]]) 13:08, 6. Mai 2020 (CEST)<br />
<br />
Das einzige Zitat im Buch „Kinaesthetics-Konzeptsystem“ findet sich in „5.2. Komplexe Funktion: Bewegung am Ort und Fortbewegung“. Im Unterkapitel Fortbewegung wird auf die natürliche Bewegunsentwicklung eines Kindes Bezug genommen.<br />
<br />
: ''„Fortbewegung bedeutet, das Gewicht aller Massen an einen neuen Ort zu bringen. Die Voraussetzung dafür, dass man sich fortbewegen kann, ist die Fähigkeit, das Gewicht in den jeweiligen Positionen organisieren zu können. In seiner '''Bewegungsentwicklung''' bewegt sich das Kind in verschiedenster Art und Weise aus jeder Position fort. Sein Leben lang entwickelt der Mensch diese Fähigkeit zu immer differenzierteren Fortbewegungsaktivitäten weiter.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020): ''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 48<br />
<br />
== Bewegungsentwicklung in „Kinaesthetics - Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Lernen und Bewegungskompetenz“. Das erste Zitat ist in das dritte Kapitel „Was ist Bewegungskompetenz?“ eingebettet. Ihm voraus geht das erste Unterkapitel „Annäherung an eine Definition“. Das Zitat ist eingebettet in den Text des zweiten Unterkapitels „Bewegungskomptenz als Lernprozess“.<br />
: ''„Die Entwicklung der Bewegungskompetenz ist ein lebenslanger, ununterbrochener Lernprozess, der uns in der Regel nicht bewusst ist. Wie bewusst und wie weit ein einzelner Mensch seine Bewegungskompetenz entwickelt und zu welchen Fertigkeiten er sie nutzt, hängt also mit seiner individuellen Lerngeschichte und der Geschichte seiner '''Bewegungsentwicklung''' zusammen. ‚Bewusst‘ meint dabei die gezielte Beschäftigung mit der eigenen Bewegung oder eine gelenkte Achtsamkeit, ob sie nun sprachlich reflektiert wird oder nicht (vgl. auch Kapitel 3.4.).“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 32.<br />
<br />
Eine zweite Erwähnung findet man in „3.2. Die Bedeutung der Bewegungskompetenz in den Lebensphasen“<br />
<br />
: ''„Die Entwicklung der Bewegungskompetenz ist ein grundlegendes Lernthema in jedem Menschenleben. Es wird durch natürliche Faktoren wie die individuellen Voraussetzungen, das Wachstum oder Altern beeinflusst sowie durch die Faktoren der Interaktionsgestaltung mit den Bezugspersonen und der Gestaltung der alltäglichen Aktivitäten.<br />
: ''Der Fötus wird in der Zeit der Schwangerschaft einerseits durch das körperliche Wachstum und die Ausdifferenzierung seines Körpers geprägt, andererseits durch seine sehr spezifischen Umgebungsbedingungen. Er entwickelt sich in der Fruchtblase seiner Mutter und ist deswegen z. B. ihren ununterbrochenen willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen ausgesetzt. In diesen Bedingungen entwickeln sich durch das Wachstum die Bewegungsmöglichkeiten des Fötus. Und dadurch, dass er diese Möglichkeiten aktiv erkundet und sich bewegt, beeinflusst er seine eigene Entwicklung und treibt sie voran. So entdeckt und entwickelt er fortlaufend die grundlegenden Bewegungsmöglichkeiten seines Körpers bzw. das Zusammenspiel seines Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystems (vgl. Kapitel 4.3.). Dies führt bis zu gezielten Bewegungen einzelner Körperteile (z. B. den Daumen in den Mund führen).<br />
: ''Mit der Geburt verändern sich die inneren und äußeren Bedingungen und Voraussetzungen erheblich. Die inneren Veränderungen betreffen insbesondere den ganzen ‚Energiehaushalt‘: Das Baby muss lernen, diesen autonom zu regulieren. Bei den zahlreichen äußeren Veränderungen spielt die Schwerkraft, mit der das Baby auf neue Weise konfrontiert ist, für die '''Bewegungsentwicklung''' eine zentrale Rolle. Das Baby lernt, das bereits entdeckte Zusammenspiel von Bewegung, Wahrnehmung und Nervensystem an diese veränderten Bedingungen und an sein weiteres Wachstum anzupassen. Wieder beeinflusst es dabei mit seiner eigenen Bewegung die Entwicklung seines Körperbaus.<br />
: ''Neu vollzieht das Baby diese Lernprozesse einerseits für sich allein und andererseits in den lebenswichtigen Interaktionen durch Berührung und gemeinsame Bewegung mit seinen Bezugspersonen. Gerade weil es für eine geraume Zeit alleine nicht überlebensfähig ist, hat die Art und Weise, wie es aufgenommen, getragen, im Arm gehalten und ernährt wird, d. h. die Qualität dieser gemeinsamen Bewegungen, einen zentralen Einfluss auf seine Bewegungsentwicklung. Wenn das Baby lernt, sich in immer größerem Ausmaß fortzubewegen und schließlich seinen Aufenthaltsort und seine InteraktionspartnerInnen selbst zu bestimmen, entwickelt sich seine Bewegungskompetenz immer noch v. a. durch seine Interaktionen, d. h. dadurch, dass es mit seiner eigenen Bewegung der Bewegung anderer Menschen folgt (vgl. Kapitel 4.6.). Das Phänomen des ‚sozialen Folgens‘ ist eine Grundlage des Spracherwerbs und der Entwicklung der verbalen Kommunikation aus den vorausgehenden Interaktions- und Kommunikationsformen. Auf der Grundlage des ‚sozialen Folgens‘ entwickelt das Kleinkind durch tägliches ‚Training‘ ungefähr bis zu seiner Einschulung seine individuellen Bewegungsmuster so weit, dass es selbstständig alle großen und kleinen Herausforderungen des Alltags bewältigen und die eigene Bewegung mehr oder weniger differenziert und vielfältig an sie anpassen kann.<br />
: ''In der Schule steht das Kind insbesondere vor der Herausforderung, aufbauend auf seiner Bewegungskompetenz Kulturtechniken wie Schreiben oder Lesen zu erlernen, die eine gezielte Kontrolle und Steuerung der eigenen Bewegung erfordern. Am Ende der Kindheit bewegt sich das Kind wie ein kleiner Erwachsener selbstständig und in seiner Art erfolgreich in seiner Welt. Es ist dabei möglich, dass durch intensives Training bestimmter Fertigkeiten motorische oder andere Leistungen eines Kindes denjenigen eines Erwachsenen ebenbürtig oder gar – wie z. B. im Kunstturnen – überlegen sind.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 34 ff.<br />
<br />
== Kommentare, Auswertungen und offene Fragen == <br />
--[[Benutzer:Joachim Reif|Joachim Reif]] ([[Benutzer Diskussion:Joachim Reif|Diskussion]]) 19:27, 23. Jul. 2020 (CEST)<br />
<br />
Der Begriff „Bewegungsentwicklung“ wird in der Geschichte der Kinästhetik, genau wie in der aktuellen Kinaesthetics-Literatur in zwei Zusammenhängen gebraucht.<br><br />
<br />
Zum einen wird damit die allgemeine und laufend stattfindende Bewegungsentwicklung jedes Menschen von der Zeugung bis zum Sterben beschrieben. In dieser Bedeutung ist Bewegungsentwicklung nicht zielgerichtet und geschieht ohne bewusste Aufmerksamkeit oder Ausrichtung. Sie bildet entweder eine sehr basale, gleichwohl unvermeidliche Vorstufe der Bewegungskompetenz. Oder sie bezeichnet die Gesamtheit aller Prozesse, die im Zusammenhang mit Bewegung im individuellen Menschenleben stattfinden.<br><br />
<br />
Zum anderen werden die Quellen spezifischer, wenn es um Parallelen zwischen der frühkindlichen Entwicklung und den Konzeptinhalten der „Menschlichen Funktion“ geht. Hier wird in älteren und neueren Quellen ein Bezug zu den Grundpositionen, sowie die Parallelen zur Fortbewegung durch die Grundpositionen festgestellt.<br><br />
Die besondere Bedeutung für die Kinästhetik ergibt sich hier durch die Annahme einer Wechselwirkung von Bewegungsentwicklung und [[Entwicklungsbewegung|Entwicklungsbewegung]]. <br><br />
<br />
Beachtet man noch die Bedeutung der Bewegungsentwicklung für die Gesellschaft, die sich in Sport- und Bewegungstrends, in verschiedenen Therapieformen, der Ergonomie oder auch der Pädagogik wiederspiegelt, kann man sich fragen, ob dieser Begriff überhaupt in einer konkreten Definition zu fassen ist. Ein Nachschlag im Online-Duden ergibt bis Dato kein Ergebnis.<br><br />
Die Kinästhetik stellt mit der Entwicklung der Bewegungskompetenz vielleicht eine Möglichkeit dar, sich der unbewusst immer ablaufenden Bewegungsentwicklung sehr fokussiert und zielgerichtet zu widmen.</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Diskussion:Bewegungsentwicklung&diff=4895Diskussion:Bewegungsentwicklung2023-12-20T10:13:36Z<p>Sabine Kaserer: /* Bewegungsentwicklung in „Kinaesthetics - Lernen und Bewegungskompetenz“ */</p>
<hr />
<div>{{Diskussionsseiten|Bewegungsentwicklung}}<br />
{{Infobox|Diskussion eröffnet|N. N./Joachim Reif}}<br />
<br />
{| class="wikitable"<br />
|-<br />
! Anregung durch TrainerInnen<br />
|-<br />
| Diese Diskussion entsteht auf Anfrage einer Gruppe von Schweizer Kinaesthetics-TrainerInnen. Die sich auf der Suche nach Quellen an das Redaktionsteam gewandt haben und auf das Fehlen entsprechender Einträge hingewiesen haben. Wir bedanken uns für das Interesse und hoffen auf einen regen Austausch. Vorab hat das Redaktionsteam sich auf die Suche nach aktuellen bestehenden Quellen und diese hier zugänglich gemacht. Für weitere Quellen, Hinweise und Gedanken sind wir dankbar.<br />
|}<br />
== Bewegungsentwicklung in „Kinaesthetics Konzeptsystem“ ==<br />
--[[Benutzer:Joachim Reif|Joachim Reif]] ([[Benutzer Diskussion:Joachim Reif|Diskussion]]) 13:08, 6. Mai 2020 (CEST)<br />
<br />
Das einzige Zitat im Buch „Kinaesthetics-Konzeptsystem“ findet sich in „5.2. Komplexe Funktion: Bewegung am Ort und Fortbewegung“. Im Unterkapitel Fortbewegung wird auf die natürliche Bewegunsentwicklung eines Kindes Bezug genommen.<br />
<br />
: ''„Fortbewegung bedeutet, das Gewicht aller Massen an einen neuen Ort zu bringen. Die Voraussetzung dafür, dass man sich fortbewegen kann, ist die Fähigkeit, das Gewicht in den jeweiligen Positionen organisieren zu können. In seiner '''Bewegungsentwicklung''' bewegt sich das Kind in verschiedenster Art und Weise aus jeder Position fort. Sein Leben lang entwickelt der Mensch diese Fähigkeit zu immer differenzierteren Fortbewegungsaktivitäten weiter.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020): ''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 48<br />
<br />
== Bewegungsentwicklung in „Kinaesthetics - Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Lernen und Bewegungskompetenz“. Das erste Zitat ist in das dritte Kapitel „Was ist Bewegungskompetenz?“ eingebettet. Ihm voraus geht das erste Unterkapitel „Annäherung an eine Definition“. Das Zitat ist eingebettet in den Text des zweiten Unterkapitels „Bewegungskomptenz als Lernprozess“.<br />
: ''„Die Entwicklung der Bewegungskompetenz ist ein lebenslanger, ununterbrochener Lernprozess, der uns in der Regel nicht bewusst ist. Wie bewusst und wie weit ein einzelner Mensch seine Bewegungskompetenz entwickelt und zu welchen Fertigkeiten er sie nutzt, hängt also mit seiner individuellen Lerngeschichte und der Geschichte seiner '''Bewegungsentwicklung''' zusammen. ‚Bewusst‘ meint dabei die gezielte Beschäftigung mit der eigenen Bewegung oder eine gelenkte Achtsamkeit, ob sie nun sprachlich reflektiert wird oder nicht (vgl. auch Kapitel 3.4.).“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 32.<br />
<br />
Eine zweite Erwähnung findet man in „3.2. Die Bedeutung der Bewegungskompetenz in den Lebensphasen“<br />
<br />
: ''„Die Entwicklung der Bewegungskompetenz ist ein grundlegendes Lernthema in jedem Menschenleben. Es wird durch natürliche Faktoren wie die individuellen Voraussetzungen, das Wachstum oder Altern beeinflusst sowie durch die Faktoren der Interaktionsgestaltung mit den Bezugspersonen und der Gestaltung der alltäglichen Aktivitäten.<br />
: ''Der Fötus wird in der Zeit der Schwangerschaft einerseits durch das körperliche Wachstum und die Ausdifferenzierung seines Körpers geprägt, andererseits durch seine sehr spezifischen Umgebungsbedingungen. Er entwickelt sich in der Fruchtblase seiner Mutter und ist deswegen z. B. ihren ununterbrochenen willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen ausgesetzt. In diesen Bedingungen entwickeln sich durch das Wachstum die Bewegungsmöglichkeiten des Fötus. Und dadurch, dass er diese Möglichkeiten aktiv erkundet und sich bewegt, beeinflusst er seine eigene Entwicklung und treibt sie voran. So entdeckt und entwickelt er fortlaufend die grundlegenden Bewegungsmöglichkeiten seines Körpers bzw. das Zusammenspiel seines Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystems (vgl. Kapitel 4.3.). Dies führt bis zu gezielten Bewegungen einzelner Körperteile (z. B. den Daumen in den Mund führen).<br />
: ''Mit der Geburt verändern sich die inneren und äußeren Bedingungen und Voraussetzungen erheblich. Die inneren Veränderungen betreffen insbesondere den ganzen „Energiehaushalt“: Das Baby muss lernen, diesen autonom zu regulieren. Bei den zahlreichen äußeren Veränderungen spielt die Schwerkraft, mit der das Baby auf neue Weise konfrontiert ist, für die '''Bewegungsentwicklung''' eine zentrale Rolle. Das Baby lernt, das bereits entdeckte Zusammenspiel von Bewegung, Wahrnehmung und Nervensystem an diese veränderten Bedingungen und an sein weiteres Wachstum anzupassen. Wieder beeinflusst es dabei mit seiner eigenen Bewegung die Entwicklung seines Körperbaus.<br />
: ''Neu vollzieht das Baby diese Lernprozesse einerseits für sich allein und andererseits in den lebenswichtigen Interaktionen durch Berührung und gemeinsame Bewegung mit seinen Bezugspersonen. Gerade weil es für eine geraume Zeit alleine nicht überlebensfähig ist, hat die Art und Weise, wie es aufgenommen, getragen, im Arm gehalten und ernährt wird, d. h. die Qualität dieser gemeinsamen Bewegungen, einen zentralen Einfluss auf seine Bewegungsentwicklung. Wenn das Baby lernt, sich in immer größerem Ausmaß fortzubewegen und schließlich seinen Aufenthaltsort und seine InteraktionspartnerInnen selbst zu bestimmen, entwickelt sich seine Bewegungskompetenz immer noch v. a. durch seine Interaktionen, d. h. dadurch, dass es mit seiner eigenen Bewegung der Bewegung anderer Menschen folgt (vgl. Kapitel 4.6.). Das Phänomen des „sozialen Folgens“ ist eine Grundlage des Spracherwerbs und der Entwicklung der verbalen Kommunikation aus den vorausgehenden Interaktions- und Kommunikationsformen. Auf der Grundlage des „sozialen Folgens“ entwickelt das Kleinkind durch tägliches „Training“ ungefähr bis zu seiner Einschulung seine individuellen Bewegungsmuster so weit, dass es selbstständig alle großen und kleinen Herausforderungen des Alltags bewältigen und die eigene Bewegung mehr oder weniger differenziert und vielfältig an sie anpassen kann.<br />
: ''In der Schule steht das Kind insbesondere vor der Herausforderung, aufbauend auf seiner Bewegungskompetenz Kulturtechniken wie Schreiben oder Lesen zu erlernen, die eine gezielte Kontrolle und Steuerung der eigenen Bewegung erfordern. Am Ende der Kindheit bewegt sich das Kind wie ein kleiner Erwachsener selbstständig und in seiner Art erfolgreich in seiner Welt. Es ist dabei möglich, dass durch intensives Training bestimmter Fertigkeiten motorische oder andere Leistungen eines Kindes denjenigen eines Erwachsenen ebenbürtig oder gar – wie z. B. im Kunstturnen – überlegen sind.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 34 ff.<br />
<br />
== Kommentare, Auswertungen und offene Fragen == <br />
--[[Benutzer:Joachim Reif|Joachim Reif]] ([[Benutzer Diskussion:Joachim Reif|Diskussion]]) 19:27, 23. Jul. 2020 (CEST)<br />
<br />
Der Begriff „Bewegungsentwicklung“ wird in der Geschichte der Kinästhetik, genau wie in der aktuellen Kinaesthetics-Literatur in zwei Zusammenhängen gebraucht.<br><br />
<br />
Zum einen wird damit die allgemeine und laufend stattfindende Bewegungsentwicklung jedes Menschen von der Zeugung bis zum Sterben beschrieben. In dieser Bedeutung ist Bewegungsentwicklung nicht zielgerichtet und geschieht ohne bewusste Aufmerksamkeit oder Ausrichtung. Sie bildet entweder eine sehr basale, gleichwohl unvermeidliche Vorstufe der Bewegungskompetenz. Oder sie bezeichnet die Gesamtheit aller Prozesse, die im Zusammenhang mit Bewegung im individuellen Menschenleben stattfinden.<br><br />
<br />
Zum anderen werden die Quellen spezifischer, wenn es um Parallelen zwischen der frühkindlichen Entwicklung und den Konzeptinhalten der „Menschlichen Funktion“ geht. Hier wird in älteren und neueren Quellen ein Bezug zu den Grundpositionen, sowie die Parallelen zur Fortbewegung durch die Grundpositionen festgestellt.<br><br />
Die besondere Bedeutung für die Kinästhetik ergibt sich hier durch die Annahme einer Wechselwirkung von Bewegungsentwicklung und [[Entwicklungsbewegung|Entwicklungsbewegung]]. <br><br />
<br />
Beachtet man noch die Bedeutung der Bewegungsentwicklung für die Gesellschaft, die sich in Sport- und Bewegungstrends, in verschiedenen Therapieformen, der Ergonomie oder auch der Pädagogik wiederspiegelt, kann man sich fragen, ob dieser Begriff überhaupt in einer konkreten Definition zu fassen ist. Ein Nachschlag im Online-Duden ergibt bis Dato kein Ergebnis.<br><br />
Die Kinästhetik stellt mit der Entwicklung der Bewegungskompetenz vielleicht eine Möglichkeit dar, sich der unbewusst immer ablaufenden Bewegungsentwicklung sehr fokussiert und zielgerichtet zu widmen.</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Autopoiese_(Autopoiesis)&diff=4886Autopoiese (Autopoiesis)2023-12-20T09:45:14Z<p>Sabine Kaserer: /* Autopoiese (Selbsterzeugung) als Kriterium des Lebendigen */</p>
<hr />
<div>''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Das erste Kapitel dieses Artikels ist mit Fachliteratur angelegt. Sie thematisiert auf der Grundlage der Autopoiese die Autonomie der Verhaltensregulation und die operative und informationelle Geschlossenheit von Lebewesen.<br />
<br />
Danach wird die Bedeutung des Begriffs Autopoiese (Autopoiesis) bei Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela sowie bei Niklas Luhmann behandelt. Die Darstellung beruht zuerst auf dem von Maturana/Varela gemeinsam verfassten Buch „Der Baum der Erkenntnis“. Sie zeigt die grundsätzliche Bedeutung der Autopoiese, der Selbsterzeugung, als Merkmal des Lebendigen und ihre enge Verbundenheit mit dem Begriff Autonomie auf. Dann werden autopoietische Einheiten erster und zweiter Ordnung thematisiert und schließlich strukturelle Koppelungen dritter Ordnung bzw. soziale Phänomene. Danach wird die Autopoiesis bei Luhmann und die Kritik Maturanas an seiner Übertragung des Begriffs auf gesellschaftliche und ökonomische Phänomene dargestellt. <br />
<br />
Abschließend wird das Thema kommentiert und ausgewertet sowie insbesondere auf die Verwendung des Begriffs [[Interaktion]] bei Maturana/Varela eingegangen. Diese unterscheidet sich von der in der Kinästhetik aktuellen Betrachtungsweise. Nach Hinweisen auf weiterführende Literatur und KOFL-Artikel folgen zum Schluss Angaben zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs.<br />
<br />
== Autopoiese in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Stefan Marty-Teuber}}<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat ist in das vierte Kapitel „Theoretische Grundlagen von Kinaesthetics“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel sind „4.3. Zirkuläre Selbstregulationsprozesse als Grundlage des menschlichen Verhaltens“ und „4.4. Geschlossenheit und Individualität der Wahrnehmung“. Das Zitat ist der Text des fünften Unterkapitels „Autonomie der Verhaltenssteuerung“.<br />
: [[Datei:Stemm person.jpg|mini|links]]<br />
[[Datei:Stemm schrank.jpg|mini|rechts]]<br />
: ''<br clear=all>„Das in Kapitel 4.3. dargestellte Erklärungsmodell der Selbstregulation bedeutet gleichermaßen, dass Lebewesen ihr Verhalten immer selbst und von innen heraus steuern. Wie sich ein anderer Mensch als Individuum an unser Verhalten anpasst und auf es reagiert, können wir grundsätzlich von außen nicht steuern oder bestimmen. Unser Verhalten kann die Körperspannung eines anderen Menschen zwar beeinflussen, aber in jedem Moment reguliert nur er selbst diese von innen heraus. Lebewesen sind in diesem Sinne als autonom (griechisch, ‚eigengesetzlich‘) zu betrachten.''<br />
<br />
: '' Was damit gemeint ist, lässt sich an einem wesentlichen Unterschied zwischen der belebten und der unbelebten Natur zeigen: Wenn Sie mit Ihrem Fuß einen Stein treten, bestimmt – unter anderen bekannten und berechenbaren Faktoren – die Energie dieses Trittes seine Reaktion und er wird mehr oder weniger weit davonkullern. Wenn Sie einen Menschen oder einen Hund treten, beruht seine Reaktion auf diese ‚Störung‘ wesentlich auf ihm selbst und ist nicht vorhersagbar. Der Hund wird vielleicht davonrennen, möglicherweise schnappt er aber auch nach Ihrem Fuß. Oder mit einem anderen Beispiel ausgedrückt: Sie können einen Menschen nicht wie einen Kleiderschrank von A nach B bewegen (vgl. Karikatur oben).''<br />
<br />
: '' In wissenschaftlicher Sprache kann man hier von einer '''Autopoiese''' (griechisch, ‚Selbsterschaffung‘, vgl. Infobox) oder operationalen Geschlossenheit im übertragenen Sinn sprechen. Diese Ausdrücke bezeichnen grundsätzlich die Tatsache, dass Lebewesen die Bestandteile, aus denen sie bestehen, fortlaufend nur aus sich selbst heraus produzieren. Bezüglich dieser Operationen ist das System ‚Lebewesen‘ geschlossen. Im obigen Beispiel gilt das Gleiche im übertragenen Sinn für die Operationen bzw. das Verhalten des Menschen, der einen Fußtritt bekommt: Seine Reaktion wird wesentlich von ihm selbst bestimmt.“'' <br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox '''„Autopoiese: Die Geschlossenheit von Lebewesen in Bezug auf Operation und Information“''':<br />
: '' Die beiden Neurobiologen H. Maturana (*1928) und F. J. Varela (1946–2001) beschreiben aufgrund ihrer Forschungen die Autopoiese als die zentrale Eigenschaft von Lebewesen (Maturana; Varela 2015). Sie meinen damit, dass jedes Lebewesen sich fortlaufend einzig und allein aus sich selbst heraus erschafft, von der molekularen und zellulären Ebene bis hin zu derjenigen des ganzen Organismus. Lebewesen sind in diesem Sinne operativ geschlossen und autonom. Entsprechend kann die Art und Weise, wie sich Lebewesen Informationen über ihre Umgebung verschaffen, nicht so beschrieben werden, dass sich bestimmte Reize der Umgebung direkt im Gehirn abbilden. Auch hier sind Lebewesen autonom, produzieren und ‚errechnen/konstruieren‘ fortlaufend ihre individuelle Welt. Im Wissenschaftsbetrieb entwickelte sich aufbauend auf diesen Beschreibungen z. B. der Konstruktivismus.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 47.<br />
<br />
== Autopoiese (Autopoiesis) bei Maturana/Varela ==<br />
{{Infobox|vorläufig abgeschlossen|Stefan Marty-Teuber/Joachim Reif}}<br />
=== Autopoiese (Selbsterzeugung) als Kriterium des Lebendigen ===<br />
In ihrem gemeinsam verfassten Buch „Der Baum der Erkenntnis“<ref>'''Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (2009):''' Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Aus dem Spanischen von Kurt Ludewig in Zusammenarbeit mit dem Institut für systemische Studien e. V. in Hamburg. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag (Fischer Taschenbücher 17855). ISBN 978-3-596-17855-1.</ref> führen die beiden chilenischen Neurobiologen Humberto R. Maturana (*1928) und Francisco J. Varela (1946–2001) im zweiten Kapitel mit der Überschrift „Die Organisation des Lebendigen“ den Begriff Autopoiese ein. Autopoiese ist für sie eine neue ''„Antwort auf die Frage nach dem Kriterium des Lebendigen“''<ref>ebd., S. 49.</ref>. Lebewesen sind in ihren Strukturen unterschiedlich, gleichen sich aber in ihrer Organisation , d. h., in charakteristischen Relationen oder Beziehungen ihrer „Teile“, die sie als zur Klasse des Lebendigen zugehörig definieren<ref>ebd., S. 49 f.</ref>. Gemäß den beiden Autoren ist das Eigentümliche dieser Organisation die Autopoiese, nämlich dass ein abgegrenztes System sich selbst und insbesondere seine Abgrenzung gegenüber seinem Milieu durch seine geschlossene rekursive Dynamik erzeugt und erhält. In streng wissenschaftlichem Sinn wird die autopoietische Organisation als charakteristisches Merkmal alles Lebendigen auf der Ebene der Zelle aufgezeigt. <br><br />
<br />
: ''„Unser Vorschlag ist, dass Lebewesen sich dadurch charakterisieren, dass sie sich – buchstäblich – andauernd selbst erzeugen. Darauf beziehen wir uns, wenn wir die sie definierende Organisation autopoietische Organisation nennen (griech. autos = selbst; poiein = machen). Im wesentlichen ist diese Organisation durch gewisse Relationen gegeben, die wir aufzählen werden und die auf der zellulären Ebene noch leicht zu verstehen sein werden.“''<ref>ebd., S. 50 f.</ref><br />
<br />
Eine ausgezeichnete Zusammenfassung dafür, was mit Autopoiese im ursprünglichen Sinn gemeint ist, liefert Maturana an anderer Stelle (vgl. unten „Maturanas Kritik am Autopoiesis-Begriff von Luhmann“).<br />
<br />
=== Autopoiese und Autonomie ===<br />
Die beiden Forscher verbinden den Ansatz der Autopoiese eng mit der traditionellen ''„Frage nach der Autonomie des Lebendigen“''<ref>ebd., S. 55.</ref>. Autonomie meint dabei die Fähigkeit eines Systems, ''„seine eigene Gesetzlichkeit beziehungsweise das ihm Eigene zu spezifizieren“''<ref>ebd., S. 55.</ref>. Verständlich wird diese Autonomie durch das Verständnis der Organisation, die Lebewesen als Einheiten definiert. <br><br />
: '' „Dies ist deshalb notwendig, weil gerade die Berücksichtigung der Lebewesen als autonome Einheiten uns aufzuzeigen erlaubt, wie ihre üblicherweise als geheimnisvoll und unfaßbar angesehene Autonomie verständlich wird, wenn und indem auf ihre sie als Einheit definierende autopoietische Organisation verwiesen wird.“''<ref>ebd., S. 56.</ref><br />
<br />
Bemerkenswert ist, dass Autonomie in diesem Sinn eine grundsätzliche Eigenart des Lebendigen ist, von der ein Lebewesen nicht mehr oder weniger haben kann: Jedes Lebewesen wird grundsätzlich als autonom (eigengesetzlich) betrachtet. Diese Definition der Autonomie gerät in einen Widerspruch mit der Verwendung des Begriffs im Sinn der Selbstbestimmung, die in der Soziologie oder in Lebensqualitätsmodellen gängig ist. Letztere Verwendung hat Fremdbestimmung als Gegenbegriff und erlaubt im Gegensatz zur Begriffsbestimmung bei Maturana/Varela ein Mehr oder Weniger.<br />
<br />
=== Autopoietische Einheiten erster und zweiter Ordnung ===<br />
Mit einer naturwissenschaftlichen Argumentation erläutern Maturana und Varela die Autopoiese von Zellen als Hauptmerkmal des Lebens und bezeichnen diese als autopoietische Einheiten oder Systeme erster Ordnung (vgl. [[Autopoietische Einheiten erster Ordnung]]). Diese Grundidee übertragen sie im vierten Kapitel mit der Überschrift „Das Leben der ‚Metazeller‘“ auf vielzellige Lebensformen, sogenannte Metazeller. Sie werden als Einheiten beschrieben, die aus Zellen, also aus autopoietischen Einheiten erster Ordnung, bestehen und ''„in deren Struktur eng verknüpfte Zellanhäufungen zu erkennen sind“''<ref>ebd., S. 98.</ref>. In Bezug auf ihre Struktur wandeln sich vielzellige Lebewesen in ihrer Lebensgeschichte. Die Geschichte dieses ständigen Wandels, die sogenannte Ontogenese<ref>ebd., S. 84.</ref>, schließt dabei in einem Zyklus immer eine Stufe ein, in der sie aus einer Zelle bestehen. <br><br />
: '' „Es ist offenbar, daß die Ontogenese eines Metazellers durch den Bereich der Interaktionen, der diesen als ganze Einheit kennzeichnet, bestimmt wird und nicht durch die individuellen Interaktionen der den Metazeller bildenden Zellen. In anderen Worten: Das Leben eines vielzelligen Individuums als Einheit vollzieht sich zwar im Operieren seiner Bestandteile, es ist aber nicht durch die Eigenschaften der Bestandteile bestimmt. Alle multizellulären Individuen sind jedoch Ergebnis der Teilung und Aufspaltung einer Gattung von Zellen, welche zum Zeitpunkt der Befruchtung einer einzigen Zelle oder Zygote [kursiv] entstehen, wobei diese wiederum Produkt einiger Organe oder Teile eines multizellulären Organismus ist. Würden keine neuen Individuen erzeugt, so gäbe es kein Fortbestehen der Stämme. Und dafür, daß es neue Individuen gibt, muß ihr Entstehungsbeginn auf eine [kursiv] Zelle zurückgehen.“''<ref>ebd., S. 91.</ref> <br><br />
<br />
Die Metazeller, zu denen u. a. alle Pilze, Pflanzen, Tiere und somit der Mensch zählen, bezeichnen sie als ''„autopoetische Systeme zweiter Ordnung [kursiv im Originaltext]“''<ref>ebd., S. 98.</ref>. Bewusst offen gelassen wird aufgrund der unsicheren Kenntnislage die Frage, ob Metazeller bzw. Organismen in streng wissenschaftlichem Sinn als autopoietische Einheiten verstanden werden können, die mit denjenigen erster Ordnung vergleichbar sind. <br> <br />
: '' „Aber wie können wir die Bestandteile und Relationen in einem Organismus beschreiben, so daß seine Organisation im Sinne einer molekularen Autopoiese sichtbar wird? Im Falle der Metazeller haben wir bis heute eine viel ungenauere Kenntnis der molekularen Prozesse, welche sie als den Zellen vergleichbare autopoietische Einheiten definieren könnten.“''<ref>ebd., S. 99.</ref> <br><br />
Verwiesen wird auf den engen Zusammenhang zwischen der operationalen Geschlossenheit ihrer Organisation und der Autopoiese. <br><br />
: '' „Wir können aber sagen, daß sie [die Metazeller] eine operationale Geschlossenheit [kursiv] ihrer Organisation aufweisen: Ihre Identität ist durch ein Netz von dynamischen Prozessen gekennzeichnet, deren Wirkungen das Netz nicht überschreiten.“''<ref>ebd., S. 100.</ref><br />
<br />
=== Soziale Phänomene: Koppelungen dritter Ordnung ===<br />
Die Voraussetzung für vielzellige Lebensformen bzw. autopoietische Einheiten zweiter Ordnung ist, dass sich einzelne Zellen enger verbinden und Anhäufungen bilden (vgl. oben). Um solche engen Verbindungen von Zellen – sei es mit anderen Zellen oder mit dem umgebenden Milieu – zu bezeichnen, verwenden Maturana und Varela den Begriff der strukturellen Koppelung. <br><br />
: '' „Daß sich zwei (oder mehr) autopoietische Einheiten in ihrer Ontogenese gekoppelt haben, sagen wir, wenn ihre Interaktionen einen rekursiven [kursiv] oder sehr stabilen Charakter erlangt haben.“''<ref>ebd., S. 85.</ref><br />
<br />
Im achten und neunten Kapitel mit den Überschriften „Die sozialen Phänomene“ und „Sprachliche Bereiche und menschliches Bewusstsein“ übertragen Maturana und Varela ihre Grundideen mit Bezugnahme auf die auf Gruppen von Organismen mit einem Nervensystem. Dabei nehmen sie explizit Bezug auf die Mechanismen autopoietischer Systeme zweiter Ordnung<ref>ebd., S. 197.</ref>. Solche Gruppen beschreiben sie als strukturelle Koppelungen dritter Ordnung durch Ko-Ontogenese. <br><br />
: '' „Es ist jedoch möglich [kursiv], daß die Interaktionen zwischen Organismen im Verlauf ihrer Ontogenese einen rekursiven Charakter annehmen. Das führt notwendig zum gemeinsamen strukturellen Driften dieser Organismen: eine Ko-Ontogenese, an der die Organismen durch ihre gegenseitige strukturelle Koppelung beide beteiligt sind, wobei jeder seine Anpassung und Organisation bewahrt. Wenn dies geschieht, dann bringen die gemeinsam driftenden Organismen einen neuen phänomenologischen Bereich hervor, der besonders komplex werden kann, wenn ein Nervensystem vorhanden ist. Um die Phänomene, die aus dieser strukturellen Koppelung dritter Ordnung [kursiv] entstehen, geht es in diesem und im folgenden Kapitel.“''<ref>ebd., S. 85.</ref><br />
<br />
Als Phänomene dieses neuen Bereichs beschreiben Maturana und Varela u. a. die Rollenverteilung von Tieren bei der Zeugung und Aufzucht von Nachkommen<ref>ebd., S. 197 ff.</ref>, das Sozialverhalten von Insekten als ''„klassischen und bemerkenswertesten Fall einer so engen Koppelung dritter Ordnung“''<ref>ebd., S. 200.</ref>, das Fluchtverhalten, die Jagd oder die Gruppenorganisation durch vielfältige Interaktionen bei sozialen Wirbeltieren wie Antilopen, Wölfen oder Primaten<ref>ebd., S. 205 ff.</ref>. Erwähnt werden aber auch soziale Phänomene wie Kommunikation, Kulturelles, Altruismus und Egoismus oder die Nachahmung und die Erhaltung gelernten Verhaltens<ref>ebd., S. 209 ff.</ref>. <br />
<br />
Das ganze neunte Kapitel des Buches widmet sich dem sprachlichen Bereich, der bewusst von vorausgehend beschriebenen sozialen Phänomenen getrennt wird. <br><br />
: '' „Angeborenes Verhalten ist abhängig von den Strukturen, die im Verlauf der Entwicklung des Organismus unabhängig von seiner individuellen Ontogenese entstehen. Erworbenes kommunikatives Verhalten ist abhängig von der individuellen Ontogenese des Organismus und von seiner besonderen Geschichte von sozialen Interaktionen.“''<ref>ebd., S. 223.</ref> <br><br />
<br />
Bemerkenswert ist, dass für die detaillierte Beschreibung von Koppelungen dritter Ordnung bzw. von sozialen Phänomenen die Begriffe „Autopoiese/autopoietisch“ in den entsprechenden Kapiteln nicht verwendet werden.<br />
<br />
== Autopoiesis bei Luhmann ==<br />
Der deutsche Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) übernahm den Begriff Autopoiesis und verwendet ihn als Leitidee seiner Systemtheorie, die er als ''„Theorie autopoietischer, selbstreferentieller, operativ geschlossener Systeme“''<ref>'''Luhmann, Niklas (1997):''' Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft1360). ISBN 3-518-28960-8. S. 79.</ref> bezeichnet. <br />
<br />
Seine Systemtheorie gilt allgemein als epochale Wende in der Geschichte der Gesellschaftstheorie oder Soziologie. Luhmann unterscheidet hauptsächlich zwischen biologischen, psychischen und sozialen Systemen, wobei in seinem Verständnis ein einzelner Mensch oder auch eine Gruppe von Menschen kein System bildet, sondern ein Konglomerat, ein Gemisch von unterschiedlichen Typen von Systemen ist<ref>'''Berghaus, Margot (2011):''' Luhmann leicht gemacht. Eine Einführung in die Systemtheorie. 3., überarbeitete und ergänzte Auflage. Köln: Böhlau. ISBN 978-3-8252-2360-1. S. 32 f.</ref>. <br />
<br />
Systeme werden dabei nicht durch ihre Dinglichkeit, sondern durch ihre dynamischen Operationen definiert. Diese Operationen betreffen einerseits die Differenzierung der systemeigenen Umwelt und die Autopoiesis. In enger Anlehnung an die Beschreibungen von Maturana/Varela ist damit gemeint, dass ein autopoietisches System sich selbst, also das, woraus es besteht, in operativer Geschlossenheit aus dem, woraus es besteht, erzeugt und fortlaufend reproduziert.<ref>ebd., S. 50–52.</ref> Für Luhmann ist die operative Geschlossenheit zusammen mit gleichzeitiger Offenheit gegenüber der Umwelt, die eine Grundvoraussetzung ist, ein wichtiger Aspekt autopoietischer Systeme<ref>ebd., S. 56–60.</ref>.<br />
<br />
Luhmann war es bewusst, dass Maturana mit dieser Verwendung des Begriffs Autopoiese in der Soziologie nicht einverstanden war; eine Einigung konnten die beiden diesbezüglich nicht erreichen. <br><br />
: '' „Ich habe mit Maturana relativ lange Diskussionen darüber geführt und er hat immer gesagt, wenn man von der Autopoiesis der Kommunikation spreche, müsse man das zeigen können. […] Ich glaube, dass das keine großen Schwierigkeiten macht. […] Opposition findet man nur dort, wo Maturana es ablehnt, Kommunikationssysteme als soziale Systeme zu bezeichnen. Es gibt ein starkes emotionales Moment auf seiner Seite. Er möchte die Menschen nicht ausser Acht lassen und hat auch nicht die Beweglichkeit in soziologischen oder linguistischen Fragen, die es ihm ermöglichen würde zu sehen, wie man den Menschen wieder hineinbekommt. Er will nicht darauf verzichten, mit dem Ausdruck ‚soziale Systeme‘ konkrete Menschen zu meinen, die Gruppen bilden und dergleichen. Nur da liegt die Differenz.“''<ref>'''Luhmann, Niklas (2017):''' Einführung in die Systemtheorie. Herausgegeben von Dirk Baecker. 7. Auflage. Systemische Horizonte. Heidelberg: Carl-Auer Verlag. ISBN 978-3-89670-839-7. S. 109.</ref><br />
<br />
== Maturanas Kritik am Autopoiesis-Begriff von Luhmann ==<br />
In seinem Buch „Die Gewissheit der Ungewissheit“<ref>'''Pörksen, Bernhard (2002):''' Die Gewissheit der Ungewissheit. Gespräche zum Konstruktivismus. Mit Heinz von Foerster … [u. a.]. Reihe Konstruktivismus und systemisches Denken. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag. ISBN 978-3-89670-227-0.</ref> veröffentlicht Bernhard Pörksen (*1969) verschiedene Gespräche mit namhaften Forschern zum Konstruktivismus; eines davon hat er mit Maturana geführt. In diesem wundert sich Pörksen, dass Maturana bis zum dritten Tag des Gesprächs nicht auf den Begriff Autopoiese zu sprechen gekommen ist. Darauf liefert Maturana eine Begründung in Form einer sehr schönen Zusammenfassung seines Verständnisses der Bedeutung des Begriffs.<br><br />
: '' „Der Grund besteht schlicht darin, dass ich den Begriff nur dann gebrauche, wenn er nötig und angebracht ist. Autopoiesis [kursiv] bedeutet ‚Selbsterschaffung‘ und setzt sich aus den beiden griechischen Wörtern autós [kursiv] (‚selbst‘) und poieín [kursiv] (‚produzieren‘ bzw. ‚erschaffen‘) zusammen. Das Konzept der Autopoiesis liefert die Antwort auf die Frage, was ein lebendes System ausmacht: Man hat in der Geschichte der Biologie behauptet, dass das Lebendige durch die Fähigkeit zur Fortpflanzung oder Fortbewegung, dass es durch eine bestimmte chemische Zusammensetzung, einen spezifischen Aspekt des Stoffwechsels oder irgendeine Kombination dieser verschiedenen Kriterien charakterisiert sei. Ich schlage dagegen ein anderes Kriterium vor. Wenn man ein lebendes System betrachtet, findet man stets ein Netzwerk von Prozessen oder Molekülen, die auf eine Weise miteinander interagieren, die ihrerseits zur Produktion von Molekülen führt, die durch ihre Interaktion ebendieses Netzwerk der Produktion von Molekülen erzeugen und in seinem Umfang begrenzen. Ein solches Netzwerk nenne ich autopoietisch. Wenn man also auf ein Netzwerk stößt, dessen Operationen es im Ergebnis selbst hervorbringen, hat man es mit einem autopoietischen System zu tun. Es produziert sich selbst. Dieses System ist für die Zufuhr von Materie offen, jedoch – wenn man die Dynamik der Beziehungen, die es hervorbringen, betrachtet – geschlossen. Kurzum, das Konzept der Autopoiesis verwende ich, um das Schlüsselmerkmal des Lebendigen zu beschreiben, das ist alles. Wenn es nicht um dieses Problem, sondern um andere Themen geht, dann gibt es aus meiner Sicht auch keinen Anlass, das Wort zu verwenden und über Autopoiese zu sprechen.“''<ref>ebd., S. 103.</ref><br />
<br />
Nach weiteren Ausführungen und Präzisierungen auf Fragen von Pörksen geht Maturana auf die Verwendung des Begriffs bei Luhmann ein und erläutert die oben erwähnte Kritik genauer. <br><br />
: '' „Niklas Luhmann geht jedoch nicht von Molekülen aus, die Moleküle erzeugen, sondern alles dreht sich um Kommunikationen, die Kommunikationen produzieren. Er glaubt, es handele sich um eine vergleichbare Situation. Das ist nicht korrekt, denn Moleküle erzeugen Moleküle ohne fremde Hilfe, ohne Unterstützung. Aber Kommunikationen setzen Menschen voraus, die kommunizieren. Kommunikationen produzieren nur mithilfe von lebenden Systemen Kommunikationen. Durch die Entscheidung, Moleküle durch Kommunikationen zu ersetzen, werden die Menschen als Kommunizierende ausgeklammert. Sie bleiben außen vor und gelten als unwichtig, sie bilden lediglich den Hintergrund und die Basis, in die das soziale System – verstanden als ein autopoietisches Netzwerk aus Kommunikationen – eingebettet ist.“''<ref>ebd., S. 106.</ref><br />
<br />
== Kommentare, Auswertung und offene Fragen ==<br />
=== Autopoiese (Autopoiesis) bei Maturana/Varela und Luhmann ===<br />
Bemerkenswert ist, dass Maturana/Varela die Autopoiese anhand der lebenden Zelle in wissenschaftlicher Schlüssigkeit aufzeigen. Sie selbst sagen aus, dass diese Schlüssigkeit bei autopoietischen Einheiten oder Systemen zweiter Ordnung aufgrund der mangelnden wissenschaftlichen Kenntnislage (noch) nicht möglich sei. Bei strukturellen Koppelungen dritter Ordnung verwenden sie den Begriff Autopoiese/autopoietisch nicht mehr. <br />
<br />
Dass sie diese drei Ebenen hingegen als durch ähnliche oder vergleichbare Phänomene verbunden betrachten, zeigt sich z. B. darin, dass im Inhaltsüberblick, der jedem Kapitel vorangestellt wird, vom Begriff Einheit über Organisation und Struktur zur Autopoiese (2. Kapitel), dann zu Einheiten 2. Ordnung (4. Kapitel) und schließlich zu Einheiten 3. Ordnung (8. Kapitel) geschritten wird. Zugleich zeigt der Inhaltsüberblick in hervorragender Weise, wie engmaschig die ganze Systematik und die Beziehungen der Begrifflichkeiten des Buches gedacht sind. <br />
<br />
Vor diesem Hintergrund ist für jeden Laien nachvollziehbar, dass die Übernahme des Begriffs durch Luhmann nicht im Sinn von Maturana/Varela sein kann: Luhmann ist als Soziologe ja insbesondere an sozialen Systemen interessiert, die bei Maturana/Varela zwar als Einheiten, aber nirgendwo als autopoietische Einheiten oder Systeme bezeichnet werden. <br />
<br />
Andererseits muss man nicht SoziologIn sein, um zu begreifen, welche neuen Perspektiven es ermöglicht, soziale Gruppen als autopoietische System zu verstehen, die sich durch ihre je eigenen Rituale bzw. Operationen definieren, erhalten und sich gegenüber anderen Gruppen abgrenzen usw. Auf jeden Fall ist klar, dass dank Luhmann sehr viel kybernetisches Gedankengut – er greift mit seiner Systemtheorie z. B. auch auf Gregory Bateson oder Heinz von Foerster zurück, um nur zwei Beispiele zu nennen – eine weitere Verbreitung gefunden hat und ins allgemeine Bewusstsein von SoziologInnen, WirtschaftlerInnen, JuristInnen usw. gelangt ist. <br />
<br />
Gerade die Kybernetik hat aufgezeigt, welche letztinstanzliche Bedeutung das einzelne, verkörperte Individuum mit all seinen Erfahrungen und Entwicklungen in Bezug auf das Weltverständnis und das Verhalten hat, konkreter ausgedrückt, dass es grundsätzlich nicht von außen direkt gesteuert oder determiniert werden kann, sondern immer nur sich selbst reguliert. Vor diesem Hintergrund mag einem mit Maturana der „Ausschluss“ der Bedeutung des einzelnen Menschen in der Systemtheorie von Luhmann als berechtigte Kritik erscheinen.<br />
<br />
=== Die Verwendung des Begriffs Interaktion in der Autopoiese-Beschreibung von Maturana/Varela ===<br />
Aus der Sicht der Kinästhetik ist die Verwendung des Begriffs [[Interaktion]] in den Erläuterungen der Autopoiese bei Maturana/Varela auffällig. Grundsätzlich passt in der Kinästhetik die gängige Definition, dass Interaktion eine Wechselbeziehung zwischen HandlungspartnerInnen bezeichnet. Maturana/Varela halten fest, dass sie Interaktionen zwischen autopoietischen Einheiten nicht von Interaktionen einer autopoietischen Einheit mit seinem – aus der Sicht der BeobachterIn – leblosen Milieu unterscheiden; für eine Zelle stellt beides eine ''„Quelle von Interaktionen“''<ref>'''Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (2009):''' Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Aus dem Spanischen von Kurt Ludewig in Zusammenarbeit mit dem Institut für systemische Studien e. V. in Hamburg. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag (Fischer Taschenbücher 17855). ISBN 978-3-596-17855-1. S. 85.</ref> dar. <br />
<br />
Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht allerdings ein wesentlicher [[Unterschied]] zwischen Interaktionen zwischen Menschen und Aktionen von Menschen mit toter Materie. [[Bewegungserfahrung|Bewegungserfahrungen]] sind eine wichtige Grundlage der Kinästhetik. In einer persönlichen Bewegungserfahrung kann man diesen fundamentalen Unterschied leicht erfahren. Er zeigt sich deutlich, wenn man die eigenen Möglichkeiten und Erfahrungen, wenn man mit lebloser Materie agiert, z. B. einen Sessel irgendwo anders hinstellt, mit denjenigen vergleicht, wenn man mit einem anderen Menschen interagiert – den man z. B. nicht in gleicher Weise irgendwo anders hinstellen kann. In der Kinästhetik ist diese Unterscheidung für die förderliche Unterstützung von anderen Menschen über Berührung und Bewegung entscheidend.<br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* '''Varela, Francisco J.; Maturana, Humberto R.; Uribe, R. (1974): ''' Autopoiesis: The organization of living systems, its characterization and a model. In: Biosystems. Volume 5, Issue 4. S. 187–196. doi:[https://doi.org/10.1016/0303-2647%2874%2990031-8 10.1016/0303-2647(74)90031-8].<br />
* '''Maturana, Humberto R.; Pörksen, Bernhard (2008): ''' Vom Sein zum Tun. Die Ursprünge der Biologie des Erkennens. 2. Auflage. Systemische Horizonte. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag. ISBN 978-3-89670-669-0. S. 97–108: „Die Autopoiesis des Lebendigen“.<br />
* '''Maturana, Humberto R. (2000): ''' Biologie der Realität. Übersetzung: Wolfram Köck. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1502. Frankfurt am Main: Suhrkamp. ISBN 3-518-29102-5. S. 106–112: „Lebende Systeme: Autopoiese“.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[Autopoietische Einheiten erster Ordnung]]<br />
* [[Wahrnehmung]]<br />
* [[1.-Person-Methode]]<br />
<br />
== Zum Begriff ==<br />
=== Bedeutungsüberblick ===<br />
==== Herkunft und Bedeutung ====<br />
Autopoiese ist die deutsche Entsprechung des spanischen Begriffs „autopoiesis“. Es handelt sich um einen Neologismus, d.&nbsp;h., um eine wissenschaftliche Neubildung eines Wortes. Es setzt sich zusammen aus den griechischen Wörtern ''autós'' „selbst“ und ''poíesis'' „das Machen, Tun, Schaffen, Hervorbringen; die Dichtung, Poesie“. Letzteres ist eine Substantivbildung zum griechischen Verb ''poieín'' „machen; dichten“. Autopoiese heißt also sozusagen „die Selbstmachung“ oder besser „Selbsthervorbringung, Selbsterschaffung, Selbsterzeugung“. In diesem Sinn führten die beiden Biologen Humberto R. Maturana (*1928) und Francisco J. Varela (1946–2001) in ihrem Buch „Der Baum der Erkenntnis“ aus dem Jahr 1984 den Begriff in die breite wissenschaftliche Diskussion ein. Mit ihm bezeichneten sie das Hauptcharakteristikum des Lebens auf der Ebene einer Zelle oder eines Organismus. Der Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) übertrug den Begriff in die Gesellschaftstheorie und bezeichnete gesellschaftliche Bereiche wie die Politik oder die Wissenschaft als autopoietische Systeme, die eigengesetzlich ihre jeweilige Wirklichkeit erschaffen, erhalten und sich gegenüber anderen Systemen abgrenzen. <br />
<br />
Die Verwendung des Fachbegriffs in der Kinästhetik orientiert sich sowohl an der ursprünglichen, von Maturana/Varela geprägten Bedeutung als auch an der Übertragung durch Luhmann. <br />
<br />
==== Die Bedeutungen von Autopoiese nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ ====<br />
Nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ hat '''Autopoiese''' folgende Bedeutung: <br><br />
„Fähigkeit, sich selbst erhalten, wandeln, erneuern zu können“. <br><br />
<br />
Diese Bedeutungsangabe orientiert sich mehr an der Verwendung des Begriffs bei Luhmann als bei Maturana/Varela: Es fehlt ihr die ursprüngliche Idee der Selbsterzeugung oder -erschaffung.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Fehler&diff=4884Fehler2023-12-20T08:38:19Z<p>Sabine Kaserer: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Dagmar Panzer, Sabine Kaserer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema „Fehler“. Es geht vor allem um die Bedeutung des '''Fehlers''' in Lernprozessen und im Zusammenhang mit zirkulären Selbstregulationsprozessen als Grundlage für Bewegungs- und Verhaltensanpassung. Die ersten Zitate stammen aus dem Buch „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“. Weitere Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“.<br />
<br />
== Fehler in „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“. Das erste Zitat ist in das fünfte Kapitel „Lernen: Allgemeine Blickpunkte“ eingebettet. <br />
Das Zitat ist der Text der Infobox „Eine Definition des Lernens“ des sechsten Unterkapitels „Leben heißt Lernen“.<br />
<br />
: ''„Der Fehler<br>Bei vielen Lernprozessen des gesellschaftlichen Lebens wird durch festgeschriebene Regelwerke vorgegeben, was richtig und falsch ist. Fehler haben eine negative Bedeutung und beim Lernen scheint es darum zu gehen, dass man lernt, alles richtig bzw. keine Fehler zu machen.<br>Aus kybernetischer Sicht hingegen funktioniert die Verhaltenssteuerung eines Lebewesens aufgrund einer fortlaufenden Fehlerkorrektur. Diese „Fehler“ sind ein unabdingbarer Bestandteil der Steuerung. Somit könnte man sagen: Wir können nur dadurch lernen, dass wir fortlaufend Fehler machen.<br>In ähnlicher Weise ist es oft ein wichtiger Anreiz zum Lernen, dass wir einen „Fehler“ wahrnehmen, d. h. den Unterschied zwischen dem beabsichtigten Ziel und dem erreichten Ergebnis.<br>Auf dem Lernweg selbst sind einerseits die Einsicht, wo etwas nicht wie erwünscht klappt, und andererseits die Freude über entsprechende Fortschritte wichtige Triebfedern des Lernens.“''<br />
<br />
Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.), Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz, 2020, ISBN 978-3-903180-01-7, S. 58<br />
<br />
Das zweite Zitat ist in das vierte Kapitel „Theoretische Grundlagen von Kinaesthetics“ eingebettet. <br />
Das Zitat ist der Text der Infobox „Wir können nicht stehen“ des dritten Unterkapitels „Zirkuläre Selbstregulationsprozesse als Grundlage des menschlichen Verhaltens“.<br />
<br />
: ''"Wir können nicht stehen<br>Die Funktionsweise unserer Bewegungssteuerung, und damit der Feedback-Kontroll- Theorie, lässt sich ausgezeichnet in einer Bewegungserfahrung nachvollziehen: Stehen Sie auf einem Bein und schließen Sie die Augen. Achten Sie nun darauf, wie Sie auf der Ebene der Bewegung diese Aktivität zustande bringen. Sie werden feststellen, dass Sie fortlaufend Anpassungsbewegungen machen und die „Fehler“ und Unsicherheiten korrigieren, die Sie selbst produzieren. Man könnte folglich sagen, dass wir gar nicht stehen können, sondern nur fortlaufend verhindern, dass wir umfallen."''<br />
<br />
Quelle: ebd., S.44<br />
<br />
Das dritte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Lernen: Allgemeine Blickpunkte“ eingebettet. <br />
Das Zitat ist Teil des sechsten Unterkapitels „Leben heißt Lernen„ unter der Überschrift „Eine Definition des Lernens“.<br />
: ''"Natürlich baut unser konkretes Verhalten, d. h. jede Ausführung einer Aktivität, auf einem individuellen Muster auf. Dieses ist aus der Reihe der vergangenen Ausführungen entstanden und beeinflusst die Art und Weise der Fehlerkorrektur der nächsten Ausführung derselben Aktivität. Die damit verbundenen ständigen Lernprozesse können ein Muster verfestigen oder erweitern, aber auch einschränken oder abbauen." <br />
<br />
Quelle: ebd., S.58<br />
<br />
== Fehler in „Kybernetik und Kinästhetik“==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“. Das erste Zitat ist in das dritte Kapitel „Der Kern: Feedback und [[Zirkularität]]“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel „Selbstregulation durch Feedback “ und „Wie funktioniert ein Heizsystem?“ beleuchten die Funktionsweise der Selbstregulation künstlicher und natürlicher Systeme. Hier geht um das grundlegende Verständnis von Selbstregulation mit der Unterscheidung von linearen und [[Zirkuläre Wirkungszusammenhänge|zirkulären Wirkungszusammenhängen]]. Das Zitat ist der Text des Unterkapitels „ 3.3. Ist-Wert, Soll-Wert und Rückkoppelung“. <br />
: ''"Damit ist der Kreislauf geschlossen und man kann relativ leicht nachvollziehen, was zirkuläre Logik im Zusammenhang mit Selbstregulations-Prozessen bedeutet: <br />
: ''Wenn die Heizung läuft, wird die Raumtemperatur steigen. Dadurch wird das Thermometer über 20 °C anzeigen. Der Rechner wird diesen Unterschied zwischen dem Soll-Wert (20 °C) und dem Ist-Wert (aktuelle Raumtemperatur) bei einem bestimmten Wert feststellen und dem Heizkessel den „off“-Befehl geben. Sinkt die Raumtemperatur bzw. das Thermometer in der Folge unter 20 °C, wird der Rechner den „Fehler“ merken und der Heizung die Information „on“ zukommen lassen. So beeinflussen sich im Kreis die drei Elemente durch ihre Rückkoppelung (Feedback). Der Regulationsprozess des Systems besteht in fortgesetzten Fehlerkorrekturen, im Ausgleichen von systemrelevanten Unterschieden. <br />
: ''In unserem Beispiel pendelt die tatsächliche Raumtemperatur, der Ist-Wert, folglich um den Soll-Wert. Das Ideal von 20 °C wird gar nicht gehalten, sondern von den Ist-Werten nur vorübergehend erreicht. Wenn man den Rechner auf sehr feine Unterschiede einstellen würde, käme es nämlich in unserem System zu einem ständigen, unsinnigen An- und Abschalten des Heizkessels." <br />
[[Datei:Der zirkuläre Rückkoppelungsprozess eines Heizsystems.jpeg|500px|thumb|zentriert|]]<br />
<br />
Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020): Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 21-22<br />
<br />
Das zweite Zitat ist in das sechste Kapitel „Kinästhetik ist praktische Kybernetik“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Frage der konkreten Verbindung von Kybernetik und Kinästhetik. Das Zitat ist Teil des Textes des zweiten Unterkapitels „Selbstregulation und persönliches Lernen“ unter der Überschrift "6.2.1. Wie reguliere ich mich?" .<br />
: ''"[...]Die Kybernetik geht davon aus, dass diese Selbstregulation auf ununterbrochenen, sehr unmittelbaren zirkulären Prozessen zwischen Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem beruht. Diese Prozesse werden im Modell als kybernetische Regelkreise oder Feedback-Schleifen dargestellt (vgl. Infobox S. 59). Wie im vierten Kapitel erwähnt, versteht die Kinästhetik Positionen wie Liegen, Sitzen oder Stehen, die von außen betrachtet nach statischen, „bewegungslosen“ Zuständen aussehen, als aktive Bewegungen. Eine entsprechende Anleitung zu einer Bewegungserfahrung im Stehen findet sich in der Infobox auf Seite 35. Vielleicht ist im Stehen leichter als im Sitzen erfahrbar, dass es unmöglich ist, bewegungs- los in einer Position zu verweilen. Aber tatsächlich sind wir nur dazu imstande, fortlaufend mit vielen kleinen Bewegungen zu verhindern, dass wir umfallen (oder im Liegen einen Dekubitus entwickeln). Bei jeder Aktivität findet also durch Selbstregulation ununterbrochen ein Ausgleich von „Fehlern“ statt, die wir selbst produzieren – und ohne diese ständigen Korrekturen und Anpassungen an die Absicht ist keine zielgerichtete Bewegung möglich. Bei kleinen Kindern, die dabei sind, stehen zu lernen, lässt sich gut beobachten, wie sie in eine tiefere Position plumpsen, wenn eine rechtzeitige „Korrektur“ misslingt. <br />
[[Datei:Feedback Kontroll Theorie.png|mini|rechts|Regelkreis der Bewegungs- bzw. Verhaltensregulation]]<br />
: ''Wegen ihrer konstanten Unmittelbarkeit, ihrer „Geschwindigkeit“, sind solche Regelkreise oder Feedback-Schleifen nur als Ganzes erfahrbar. Die beteiligten Systeme (Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem) sind isoliert nicht erfahrbar. Wie wichtig aber dieses ununterbrochene Zusammenspiel bzw. diese Selbstregulation ist, kann einem z. B. unter starkem Alkoholeinfluss auffallen. In diesem Zustand passiert es leicht, dass man „Fehler“ der Bewegung so verzögert wahrnimmt, dass das Nervensystem die Abweichung nicht mehr rechtzeitig berechnen, und damit keine Korrekturen veranlassen kann. Dadurch kommt man zumindest ins Schwanken oder landet gar im Straßengraben ... Für die Effekte solcher zeitlichen Verzögerungen des sensorischen Feedbacks interessierte sich insbesondere der Verhaltenskyber- netiker K. U. Smith (vgl. Kapitel 4.3.4); darauf dass Phänomene wie Ataxie und Intentionstremor als Störungen von Regelkreisen erklärt werden können, hatte bereits Norbert Wiener verwiesen (vgl. Infobox S. 26)."<br />
Quelle: ebd., S. 59<br />
<br />
<br />
[[Kategorie: Kybernetische Grundlagen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Sensitivit%C3%A4t_(innere_und_%C3%A4u%C3%9Fere,_von_Foerster)&diff=4883Sensitivität (innere und äußere, von Foerster)2023-12-20T08:27:51Z<p>Sabine Kaserer: /* Der Aufbau des Vortrags */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Stefan Marty-Teuber, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Das erste Kapitel dieses Artikels ist mit Fachliteratur angelegt. Es besteht aus einem einschlägigen Zitat zu einer Berechnung, die Heinz von Foerster angestellt hat. Es geht um das Verhältnis von äußerer und innerer Sensitivität („Empfindungsvermögen“) des Körpers im Kontext der Neurophysiologie. Der Forscher berechnete, dass die nach außen gerichtete Sensitivität in einem Verhältnis von 1 : 100'000 zur inneren Sensitivität steht. Das Zitat stammt aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“.<br />
<br />
Der zweite Teil fasst die gekürzte schriftliche Fassung des Vortrags „Über das Konstruieren von Wirklichkeiten“ von Heinz von Foerster zusammen, um den gesamten Kontext der erwähnten Berechnung aufzuzeigen. Dabei wird auch die Originalstelle der Berechnung zitiert.<br />
<br />
== Innere und äußere Sensitivität in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“, und zwar aus dem abschließenden sechsten Kapitel „Kinästhetik ist praktische Kybernetik“. Es bringt den Text der Infobox „Kinästhetisches Sinnessystem“. <br />
<br />
: ''''' „Kinästhetisches Sinnessystem''''' <br />
[[Datei:11-detail-kin-sinnessystem.jpg|mini|rechts]]<br />
<br />
: ''Das kinästhetische oder auch propriozeptive Sinnessystem ermöglicht durch das Zusammenspiel von unterschiedlichen, im ganzen Körper verteilten sensorischen Rezeptoren eine sehr differenzierte Wahrnehmung unserer eigenen Bewegung. Mit diesem sehr grundlegenden Sinn gewinnen wir Informationen über unsere innere dynamische ‚Befindlichkeit‘. (vgl. European Kinaesthetics Association 2020a<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0.</ref>; S. 13) ''<br />
: '' Diese Wahrnehmung aus einer Innenperspektive spielt in Lernprozessen der Kinästhetik eine entscheidende Rolle. Heinz von Foerster (vgl. Kapitel 5) beschäftigte sich mit der Frage, in welchem mathematischen Verhältnis der Mensch physiologisch betrachtet sensibel für äußere bzw. innere Prozesse ist. Er kam auf ein Verhältnis von 1 : 100‘000 (äußere Sensitivität : innere Sensitivität). Der Mensch ist demnach bei seinem ‚Funktionieren‘ in einem sehr viel höheren Maße mit inneren Prozessen als mit seiner äußeren Umgebung beschäftigt. (Foerster 1985<ref>'''Foerster, Heinz von (1985): ''' Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie. Autorisierte deutsche Fassung von Wolfram K. Köck. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg (Wissenschaftstheorie, Wissenschaft und Philosophie 21). ISBN 978-3-528-08468-4.</ref>, S. 35)“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 56.<br />
<br />
== Innere und äußere Sensitivität bei Heinz von Foerster ==<br />
{{Infobox|vorläufig abgeschlossen|Stefan Marty-Teuber/Dagmar Panzer}}<br />
<br />
=== Der Kontext ===<br />
Die Aussage, dass äußere und innere Sensitivität in einem Verhältnis von 1 : 100'000 stehen, findet sich in der gekürzten Fassung des Vortrags „Über das Konstruieren von Wirklichkeiten“<ref>'''Foerster, Heinz von (1999): ''' Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie. Autorisierte deutsche Fassung von Wolfram K. Köck. Heidelberg: Carl-Auer Systeme Verlag (Reihe Konstruktivismus und systemische Denken). ISBN 978-3-528-08468-4. S. 25–41.</ref>. Heinz von Foerster (im Folgenden HvF genannt, wie ihn Freunde gerne riefen) hielt dieses Eröffnungsreferat an der vierten internationalen „Conference on Environmental Design Research“, die im „Virginia Polytechnic Institute“ in Blacksburg/Virginia am 15. April 1973 stattfand. Organisiert wurde diese Konferenz von der „Environmental Design Research Association (EDRA)“<ref>[https://en.wikipedia.org/wiki/Environmental_Design_Research_Association Environmental Design Research Association]</ref>. Diese internationale, interdisziplinäre Organisation wurde 1968 gegründet und führt bis heute jährliche Konferenzen durch, die sich dem Thema „Environmental Design“ (Planung und Gestaltung der Umwelt, des Lebensraums) widmen. <br />
<br />
Das Publikum bestand somit aus Fachleuten, WissenschaftlerInnen und StudentInnen verschiedener Wissenschaftszweige, die sich mit dem Thema Umweltgestaltung beschäftigten. Wie er im Verlauf des Vortrags sagt, rechnet er damit, dass die Zuhörerschaft eher mit den Geisteswissenschaften als mit Naturwissenschaften vertraut ist.<ref>'''Foerster, Heinz von (1999): ''' Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie. Autorisierte deutsche Fassung von Wolfram K. Köck. Heidelberg: Carl-Auer Systeme Verlag (Reihe Konstruktivismus und systemische Denken). ISBN 978-3-528-08468-4. S. 30.</ref> HvF setzte für seinen Vortrag entsprechend keine Kenntnis der aktuellen kybernetischen, erkenntnistheoretischen oder neurophysiologischen Forschungen voraus. Dies zeigt sich z. B darin, dass er sein grundlegendes Postulat als ''„unerhörte Behauptung“''<ref>ebd. S. 25.</ref> bezeichnet.<br />
<br />
HvF war zum Zeitpunkt der Abfassung des Vortrags seit 16 Jahren Direktor des „Biological Computer Laboratory (BCL)“ in Urbana, wo führende WissenschaftlerInnen aus unterschiedlichen Disziplinen insbesondere ''„die Gesetze des Rechnens in lebenden Organismen“''<ref>ebd. S. X.</ref> erforschten. Vor diesem Hintergrund spiegelt der Vortrag den Kenntnisstand führender NeurophysiologInnen, MathematikerInnen oder BiologInnen der 1970er-Jahre, beruht aber unseres Wissens auf Grundlagen, die aus heutiger Sicht nicht als überholt oder widerlegt bezeichnet werden können. Dies muss allerdings eine Fachperson beurteilen.<br />
<br />
Wie es bei HvF die Regel ist, ist die Aussage über das Verhältnis von innerer und äußerer Sensitivität in ein dichtes Netz von Herleitungen und kohärenten Argumentationen eingebettet. Deshalb wird im Folgenden der ganze Vortrag „Über das Konstruieren von Wirklichkeiten“ skizziert. Aus der Perspektive der Kinästhetik enthält er eine Vielzahl von Postulaten oder Hypothesen, die sich bestens als theoretische Grundlagen eignen, um z. B. Grundsätze der Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) oder der Bewegungsinteraktion abzustützen.<br />
<br />
=== Der Aufbau des Vortrags ===<br />
Die Struktur des Vortrags erläutert HvF für seine ZuhörerInnen zu Beginn (vgl. unten). Er baut seinen Vortrag wie folgt auf (zitierte Überschriften aus der deutschen Übersetzung):<br />
<br />
: '' „Kurzfassung ''<br />
: '''Das Postulat''' <br><br />
: '''Die Experimente'''<br><br />
:: ''1 Der blinde Fleck ''<br><br />
:: ''2 Skotom''<br><br />
:: ''3 Alternanten''<br><br />
:: ''4 Verstehen (urspr. „wahrnehmen, auffassen, begreifen, etwas können“) ''<br><br />
: ''' Interpretation ''' <br><br />
: ''' Neurophysiologie ''' <br><br />
::'' 1 Evolution ''<br><br />
:: '' 2 Das Neuron''<br><br />
:: '' 3 Die Übertragung ''<br><br />
:: '' 4 Die Synapse* '' <br><br />
:: '' 5 Der Cortex '' <br><br />
:: '' 6 Descartes '' <br><br />
:: '' 7 Die Errechnung '' <br><br />
:: '' 8 Geschlossenheit"'' <br><br />
:''' Bedeutung '''<br />
<br />
Nach HvF dient dieser Aufbau der Rechtfertigung des Postulats, das die Ausgangslage des Vortrags bildet. Für die ZuhörerInnen beschreibt er die Struktur des Vortrages folgendermaßen: <br />
: '' „Zunächst möchte ich Sie einladen, an einem Experiment teilzunehmen; darauf werde ich einen klinischen Fall sowie die Ergebnisse zweier Experimente darstellen. Danach möchte ich eine Interpretation und sodann eine stark komprimierte Darstellung der neurophysiologischen Basis dieser Experimente und meines eben formulierten Postulats anbieten. Abschließend möchte ich versuchen, die Bedeutung alles dieses für ästhetische und ethische Überlegungen klarzumachen.“<ref>ebd. S. 25 f.</ref><br />
<br />
HvF vergleicht die Sensitivität des Zentralnervensystems in Bezug darauf, wie sich die innere Umwelt verändert, und in Bezug darauf, wie sich die äußere Umwelt verändert, am Schluss des vierten Unterkapitels [[#„Die Synapse“ und die Berechnung des Verhältnisses von innerer zu äußerer Sensitivität|„Die Synapse“]]<ref>ebd. S. 35.</ref> (oben mit einem Stern gekennzeichnet). Dabei kommt er zum Schluss, dass die Sensitivität für innere Veränderungen hunderttausend Mal stärker als die Sensitivität für äußere Veränderungen ist.<br />
<br />
Im Folgenden werden die Überschriften ohne Belegstellen zitiert; sie sind in der gedruckten Ausgabe des Vortrags leicht zu finden. Aus Gründen des Urheberrechts werden die zahlreichen Abbildungen, die den Text hervorragend veranschaulichen, hier nicht publiziert.<br />
<br />
=== ''„Kurzfassung“'' des Vortrags ===<br />
Der deutschen Übersetzung des Vortrags im Buch „Sicht und Einsicht“ geht eine sehr kurze ''„Kurzfassung“<ref>ebd. S. 25, unter der Titelzeile in Kursivschrift.</ref> '' (von HvF?) voraus. Sie zitiert lediglich die Aussage ''„Triff eine Unterscheidung!“''<ref>ebd. </ref> des Mathematikers und Psychologen George Spencer Brown (1923–2016). In seinem Buch „Laws of Forms“<ref>'''Spencer Brown, George (1969): ''' Laws of Form. London: Allen and Unwin</ref> von 1969 stellt Brown dar,<br />
: '' „dass die gesamte mathematische Welt – aber nicht nur diese – darauf basiert, dass jemand eine Unterscheidung trifft. Die Laws of Form <nowiki>[kursiv]</nowiki> von George Spencer Brown stellen einen mathematischen Kalkül dar, in dem das Treffen von Unterscheidungen formal behandelt und schließlich der Beobachter, der unterscheidet, als ständig implizit entdeckt wird. Insofern sind die Laws of Form <nowiki>[kursiv]</nowiki> nicht nur ein mathematischer, sondern auch ein philosophischer oder genauer: erkenntnistheoretischer Text.“<ref>''' Lau, Felix (2008):''' Die Form der Paradoxie. Eine Einführung in die Mathematik und Philosophie der „Laws of Forms“ von G. Spencer Brown. 3. Auflage. Verlag für Systemische Forschung im Carl-Auer Verlag. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. ISBN 978-3-89670-352-1. S. 9 f.</ref>''<br />
<br />
=== ''„Das Postulat“'' ===<br />
Zu Beginn erwähnt HvF die Figur Jourdain aus dem Stück „Der Bürger als Edelmann“ von Molière. Jourdain lernt als ungebildeter Neureicher die Unterscheidung zwischen Prosa und Poesie kennen und ist außer sich vor Begeisterung über die Entdeckung, dass er schon ein Leben lang Prosa gesprochen hat. Er erinnert HvF an gewisse KollegInnen, die vor einiger Zeit in gleicher Weise voller Begeisterung entdeckt hatten, dass sie in einer Umwelt leben. Wichtiger erscheint HvF in diesem Zusammenhang eine andere Entdeckung.<br />
: '' „Wenn Monsieur Jourdain spricht, sei es Prosa oder Dichtung, dann ist er selbst es, der diese erfindet; und immer dann, wenn wir unsere Umwelt wahrnehmen, sind wir selbst es, die diese Umwelt erfinden.“<ref>'''Foerster, Heinz von (1999): ''' Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie. Autorisierte deutsche Fassung von Wolfram K. Köck. Heidelberg: Carl-Auer Systeme Verlag (Reihe Konstruktivismus und systemische Denken). ISBN 978-3-528-08468-4. S. 25.</ref>''<br />
<br />
Im Anschluss drückt er diese Entdeckung in einem Postulat aus:<br />
<br />
: '' „Die Umwelt, die wir wahrnehmen, ist unsere Erfindung. <nowiki>[kursiv]</nowiki>“''<ref>ebd. S. 25.</ref><br />
<br />
Der Titel „Über das Konstruieren von Wirklichkeiten“ des Vortrags spiegelt dieses Postulat. Im weiteren Verlauf präzisiert HvF die Begriffe „konstruieren/erfinden“ durch „errechnen“.<br />
<br />
=== ''„Die Experimente“'' ===<br />
==== ''„Der blinde Fleck“'' ====<br />
Wenn man allein mit dem linken Auge einen schwarzen Stern neben einem runden schwarzen Fleck fixiert, verschwindet dieser in einem bestimmten Abstand vom Auge. Entscheidend an diesem nachvollziehbaren Experiment ist für HvF, dass der Fleck in diesem Moment nicht da ist und sein Fehlen nur durch eine Veränderung des Abstandes bzw. dadurch, dass man ihn dann wieder sieht, bemerkt werden kann. HvF bringt diese Beobachtung lapidar auf den Punkt:<br />
: '' „Wir sehen nicht, daß wir nicht sehen.“<ref>ebd. S. 26.</ref><br />
<br />
==== ''„Skotom“'' ====<br />
Als Skotome werden Gesichtsfelddefekte bzw. Ausfälle eines Teils des visuellen Feldes bezeichnet. HvF beschreibt den klinischen Fall, bei dem bestimmte gut heilende okzipitale Läsionen (Verletzungen des Hinterkopfs, z. B. durch Geschosse) zu einem Skotom führen können, ohne dass sich die verletzte Person dessen bewusst wird. Allerdings kann die betreffende Person nach ein paar Wochen z. B. die Fähigkeit verlieren, die Bewegung der Arme oder Beine zu kontrollieren. Erfolgreich therapiert wurden in dieser Zeit betroffene PatientInnen dadurch, dass ihnen ein bis zwei Monate lang die Augen verbunden wurden. <br />
<br />
Diese Therapie wurde dadurch begründet, dass der Patient einen Lernprozess durchläuft, in dem ''„er seine ‚Aufmerksamkeit‘ von (nicht-existenten) visuellen Hinweisen auf seine Körperstellung auf jene (normal arbeitenden) Kanäle umstellt, die direkte <nowiki>[kursiv]</nowiki> Hinweise auf seine Körperstellung aus (propriozeptiven) Sensoren in Muskeln und Gelenken liefern.“''<ref>ebd. S. 27.</ref><br />
<br />
HvF betont, dass einerseits einer betroffenen Person wie im vorhergehenden Experiment die fehlende Wahrnehmung nicht bewusst werden kann. Andererseits wird ''„die Fähigkeit wahrzunehmen durch sensumotorische Interaktion wieder aufgebaut“''<ref>ebd.</ref>. Diese Situation führt ihn zur Formulierung der folgenden Metaphern:<br />
<br />
: '' „(a) ‚Wahrnehmen ist Handeln.‘<br />
<br />
: '' (b) ‚Wenn ich nicht sehe, daß ich blind bin, dann bin ich blind; wenn ich aber sehe, daß ich blind bin, dann sehe ich.‘“<ref>ebd.</ref><br />
<br />
Eine enge Anlehnung an die erste Metapher findet sich später im Kernaphorismus „Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun“<ref>'''Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (2015):''' Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Aus dem Spanischen von Kurt Ludewig in Zusammenarbeit mit dem Institut für systemische Studien e. V. in Hamburg. 6. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag (Fischer Taschenbücher 17855). ISBN 978-3-596-17855-1. S. 32.</ref> des Buches „Der Baum der Erkenntnis“ von Maturana/Varela.<br />
<br />
Die zweite Metapher erinnert an den Sinnspruch „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, der dem antiken Philosophen Sokrates (ca. 470–399 v. Chr.) zugeschrieben wird<ref>vgl. dazu die Infobox „Sokrates“ auf S. 55 aus: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6: <br><br />
: ''„Der griechische Philosoph Sokrates verfasste Zeit seines Lebens kein einziges Buch oder Schriftstück. Nur durch sein Leben und seine Gespräche leitete er einen Paradigmenwechsel in der Geschichte der antiken Philosophie ein. Er war vom Orakel von Delphi als der weiseste aller Menschen bezeichnet worden – er, der stets betont hatte, von vielen großen Fragen wenig bis nichts zu verstehen. Deshalb diskutierte er mit vielen herausragenden Persönlichkeiten seiner Zeit, musste aber feststellen, dass viele ein ungeheures Fachwissen besaßen und sich darum einbildeten, auch all die großen Fragen beantworten zu können, es in Wirklichkeit aber nicht konnten. So bestätigte er das Orakel dadurch, dass er insofern weiser war als sie, da er sich nicht einbildete, über diese Fragen etwas zu wissen. Seine Haltung wurde in einer späteren Formulierung unsterblich: <br>‚Ich weiß, dass ich nichts weiß.‘“ </ref>.<br />
<br />
==== ''„Alternanten“'' ====<br />
HvF verweist auf ein Experiment, bei dem den ProbandInnen in einer Endlosschleife ein Wort (z. B. COGITATE) in ziemlicher Lautstärke abgespielt wird. Nach ein bis zwei Minuten nehmen die ProbandInnen plötzlich statt des Wortes, das sie bis dahin deutlich wahrgenommen hatten, ein anderes bedeutsames Wort (eine Alternante wie COGITATE oder CUT THE STEAK) ebenso deutlich wahr. HvF kommentiert oder erklärt dieses Experiment nicht weiter.<br />
<br />
==== ''„Verstehen (urspr. ‚wahrnehmen, auffassen , begreifen, etwas können‘)“'' ====<br />
Als letztes Experiment führt HvF ein Experiment mit einer Katze an. Ihr waren in der Hörbahn Mikroelektroden eingesetzt worden, um mittels Elektroenzephalogrammen Aktivitäten von Nervenzellen aufzuzeichnen. Dabei wurden Nervenzellen an Stellen berücksichtigt, ''„die als erste auditorische Stimuli empfangen (Cochlea Nucleus, CN), als auch von anderen bis hin zum auditorischen Cortex“''.<ref>'''Foerster, Heinz von (1999): ''' Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie. Autorisierte deutsche Fassung von Wolfram K. Köck. Heidelberg: Carl-Auer Systeme Verlag (Reihe Konstruktivismus und systemische Denken). ISBN 978-3-528-08468-4. S. 27.</ref>. Durch das Niederdrücken eines Hebels kann die Katze einen Futterbehälter öffnen. Der Hebel funktioniert aber nur, wenn ein Einzelton auf einer bestimmten Tonhöhe (c6) wiederholt wird. <br />
<br />
Die Aufzeichnungen der in Bildern abgedruckten Elektroenzephalogrammen aus unterschiedlichen Situationen lassen den Schluss zu, dass ''„kein Ton wahrgenommen wird, solange dieser Ton uninterpretierbar ist (Bilder 3 und 4: reines Geräusch), dass das ganze System aber sofort zu arbeiten beginnt, wenn der erst ‚Piepton‘ zu hören ist (Bilder 5 und 6: Geräusch wird zum Signal), wenn also eine Wahrnehmung verständlich wird“''<ref>ebd. S. 29</ref>. Für die Katze bedeuten die wiederholten Pieptöne, dass sie jetzt dank ihrer Aktivität (bzw. des Mechanismus) zu Fressen kommt.<br />
<br />
=== ''„Interpretation“'' === <br />
Die Experimente dienen HvF als Beispiele dafür, dass man etwas sieht oder hört, ''„was gar nicht ‚da‘ ist“''<ref>ebd.</ref>, oder etwas nicht sieht oder hört, was von außen betrachtet existiert, ''„es sei denn, unsere Koordination von Sinneswahrnehmung und Bewegung erlaubt uns, das, was da zu sein scheint, zu ‚erfassen‘“''<ref>ebd.</ref>. Mit dieser Aussage spielt er auf den klinischen Fall des Skotoms an. Zur Bekräftigung dieser Beobachtungen verweist er auf das Prinzip der undifferenzierten Kodierung:<br />
<br />
:: ''„Die Reaktion einer Nervenzelle enkodiert nicht <nowiki>[kursiv]</nowiki> die physikalischen Merkmale des Agens, das ihre Reaktion verursacht. Es wird lediglich das ‚so viel‘ an diesem Punkt meines Körpers enkodiert, nicht aber das ‚was‘.“<br />
<br />
Er führt dieses Prinzip mit dem Beispiel einer Rezeptorzelle der Netzhaut aus (eines Stäbchens der Retina). Als Rezeptorzellen sind Stäbchen lichtempfindlich und können elektromagnetische Strahlung absorbieren. Dadurch wird ihr elektrochemisches Potenzial verändert, was ''„eine periodische elektrische Entladung in Zellen auf einer höheren Ebene des postretinalen Netzwerks verursacht“''<ref>ebd.</ref>. Dabei ist die Periodizität, d. h. die Anzahl der Entladungen pro Zeiteinheit, proportional zur Intensität der Strahlung, die die Rezeptorzelle absorbiert. Festzuhalten ist nach HvF, dass diese Entladungen keinen Hinweis darauf enthalten, was es war (nämlich elektromagnetische Strahlung), das die Stäbchen feuern ließ. Darauf verallgemeinert HvF:<br />
<br />
: '' „Das gleiche gilt für jeden beliebigen anderen sensorischen Rezeptor, die Geschmacksknöspchen, die Druckrezeptoren, und alle die anderen Rezeptoren, die mit den Sinneswahrnehmungen des Geruchs, der Wärme und Kälte, der Klänge und Geräusche usw. verbunden sind: Sie sind alle ‚blind‘, was die Qualität <nowiki>[kursiv]</nowiki> ihrer Stimulierung angeht und reagieren nur auf deren Quantität <nowiki>[kursiv]</nowiki>.“<br />
<br />
Für das vorliegende Thema von Bedeutung ist, dass HvF hier wie in der [[#„Die Synapse“ und die Berechnung des Verhältnisses von innerer zu äußerer Sensitivität|Berechnung des Verhältnisses der inneren und äußeren Sensitivität]] den Begriff der sensorischen Rezeptoren verwendet. Dort werden alle ''„sensorischen Rezeptoren“''<ref>ebd. S. 35.</ref>, die empfindlich für äußere Veränderungen sind, mit allen sensiblen Spitzen der Dendritenäste in synaptischen Spalten verglichen (vgl. unten).<br />
<br />
Für HvF stellt sich aus der Feststellung, dass die Nervenaktivität die Qualität der physikalischen äußeren Reize nicht enkodiert, ''„die fundamentale Frage, wie unser Gehirn denn die überwältigende Vielfalt dieser farbenprächtigen Welt hervorzaubern kann, wie wir sie in jedem Augenblick unseres bewussten Lebens erfahren, – und manchmal sogar, wenn wir schlafen und träumen“''<ref>ebd. S. 29.</ref>. HvF bezeichnet diese Frage als das Problem der Kognition bzw. den Versuch, kognitive Prozesse zu erklären, und umschreibt Kognition in einem ersten Schritt folgendermaßen:<br />
: ''„KOGNITION → Errechnung einer Realität.“''<ref>ebd. S. 30.</ref><br />
<br />
HvF erklärt im Anschluss, was gegen diese Definition eingewendet werden könnten und handelt darauf diese Einwände einzeln ab. Erstens weist er darauf hin, dass er den Begriff Rechnen sehr allgemein für jede (nicht unbedingt zahlenmäßige) Operation verwenden möchte, ''„die beobachtete physikalische Entitäten (‚Objekte‘) transformiert, modifiziert, ordnet, neu anordnet usw.“''<ref>ebd.</ref>.<br />
<br />
Zweitens verteidigt er die Verwendung des unbestimmten Artikels „einer“ (Realität). Der unbestimmte Artikel legt nahe, dass es nicht um die eine und einzige, „objektive“ Realität oder Umwelt geht. Genau das meint HvF:<br />
: '' „Meine Wahrnehmung der Berührung in Korrelation <nowiki>[kursiv]</nowiki> mit meiner visuellen Sinneswahrnehmung erzeugt <nowiki>[kursiv]</nowiki> eine Erfahrung, die ich als ‘Hier ist ein Tisch‘ beschreiben kann.“''<ref>ebd.</ref> <br />
HvF lehnt aus erkenntnistheoretischen Gründen die Auffassung explizit ab, dass die Wahrnehmung eines Tischs über Berührung die visuelle Wahrnehmung bestätigt, dass da tatsächlich in der Realität ein Tisch vorhanden ist. <br />
<br />
Drittens weist HvF darauf hin, dass somit ''„kognitive Prozesse weder Armbanduhren noch Milchstraßensysteme errechnen, sondern im besten Fall Beschreibungen<nowiki>[kursiv]</nowiki> derartiger Entitäten“''<ref>ebd.</ref>. Unter Berufung auf die Neurophysiologie bzw. auf eine Publikation von Humberto Maturana von 1970<ref>''' Maturana, Humberto R. (1970): ''' Neurophysiology of Cognition. In: P. L. Garvin (ed.): Cognition: A Multiple View. New York: Spartan Books. ISBN 978-0-876-71703-5. S. 3–23.</ref> ergänzt er, dass diese Beschreibungen durch die neuronale Aktivität auf höheren Ebenen immer wieder errechnet werden und somit eine unendliche Rekursion vorliegt. Schließlich sagt er nun doch, dass auch beim Errechnen von Beschreibungen eine Errechnung vorliegt. So formuliert er die folgende Definition der Kognition und beschreibt die Absicht seines weiteren Vorgehens:<br />
: ''„KOGNITION → Errechnung von <nowiki>[rekursiv durch einen hier nicht dargestellten Pfeil mit Errechnung verbunden]</nowiki>''<br />
: ''Ich fasse zusammen: Mein Vorschlag besteht darin, kognitive Prozesse als nie endende rekursive Prozesse des (Er-)Rechnens aufzufassen. Ich hoffe, daß ich nun mit der folgenden tour de force <nowiki>[kursiv]</nowiki> durch die Neurophysiologie diese Interpretation verständlich machen kann.“''<ref>'''Foerster, Heinz von (1999): ''' Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie. Autorisierte deutsche Fassung von Wolfram K. Köck. Heidelberg: Carl-Auer Systeme Verlag (Reihe Konstruktivismus und systemische Denken). ISBN 978-3-528-08468-4. S. 31.</ref><br />
<br />
=== ''„Neurophysiologie“'' ===<br />
==== ''„Evolution“'' ====<br />
HvF greift auf die einfachsten Manifestationen des Prinzips der rekursiven Errechnung zurück, die aus der Sicht der Evolutionstheorie sehr früh auftreten. Es geht dabei ''„um die ‚unabhängigen Effektoren‘ bzw. unabhängigen sensumotorischen Einheiten, wie sie sich über die Oberflächen von Einzellern und Vielzellern verteilt finden“''<ref>ebd.</ref>. Sie können hilfreich sein, um zu verstehen, dass kognitive Prozesse oder unter Berufung auf Maturana<ref>''' Maturana, Humberto R. (1970): ''' Biology of Cognition. BCL Report no. 9.0. Urbana/Illinois: Biological Computer Laboratory, University of Illinois. Deutsch: Biologie der Kognition. In: Maturana, Humberto R. (1982): Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie. Autorisierte deutsche Fassung von Wolfram K. Köck. Wissenschaftstheorie, Wissenschaft und Philosophie, Bd. 19. Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg. ISBN 978-3-528-18465-0. S. 3–23.</ref> das ganze Leben auf diesem Prinzip beruht. Sie bestehen in der schematischen Darstellung aus einem dem sensorischen Teil, nämlich aus einem dreieckigen Kopf, und aus einem zwiebelartig dargestellten motorischen Teil, der fähig ist, sich zusammenzuziehen.<br />
<br />
Wenn die sensible Spitze eine Veränderung der chemischen Konzentration in unmittelbarer Nähe wahrnehmen kann, zieht sich die Einheit sofort zusammen. Daraus resultiert eine Bewegung, die einerseits die Gestalt oder die örtliche Lage des Lebewesens verändert und andererseits die chemische Konzentration für benachbarte Einheiten ändern kann, wodurch sich diese sofort zusammenziehen usw. Dadurch ergibt sich eine Rekursion von veränderter Sinneswahrnehmung und veränderter Gestalt.<br />
<br />
Aus der Perspektive der Evolution haben sich in einem nächsten Schritt die sensorischen Teile der Sinneswahrnehmung und die motorischen Teile der Handlung getrennt und blieben durch dünne Fasern, die sogenannten Axone, miteinander verbunden. Diese übermitteln ''„Einwirkungen auf die Sensoren an die zugehörigen Effektoren“''<ref>'''Foerster, Heinz von (1999): ''' Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie. Autorisierte deutsche Fassung von Wolfram K. Köck. Heidelberg: Carl-Auer Systeme Verlag (Reihe Konstruktivismus und systemische Denken). ISBN 978-3-528-08468-4. S. 32.</ref>, wodurch der Begriff des Signals entsteht.<br />
<br />
: '' „Der entscheidende Schritt in der Evolution der komplexen Organisation des Zentralnervensystems (ZNS) der Säugetiere scheint jedoch das Auftreten eines ‚internuntialen Neurons‘ gewesen zu sein, einer Zelle, die zwischen der sensorischen und der motorischen Einheit gelagert ist (Bild 9). Es handelt sich dabei im allgemeinen um eine sensorische Zelle, die jedoch so spezialisiert ist, daß sie nur auf ein universales ‚Agens‘ reagiert, nämlich auf die elektrische Aktivität der afferenten Axone, die in ihrer Nachbarschaft enden. Da ihre gegenwärtige Aktivität ihre spätere Reaktionsfähigkeit beeinflussen kann, führt diese Zelle das Element des Rechnens in das Reich der Lebewesen ein ermöglicht so den entsprechenden Organismen die erstaunliche Vielfalt nicht-trivialer Verhaltensweisen. […] Ich glaube daher, daß nun leicht einzusehen ist, warum sich diese Neurone entlang zusätzlicher vertikaler Schichten mit zunehmenden horizontalen Verbindungen so schnell vermehrt haben, um jene komplexen ineinander verknüpften Strukturen zu bilden, die wir ‚Gehirne‘ nennen.“''<ref>ebd. S. 32 f.</ref><br />
<br />
==== ''„Das Neuron“'' ====<br />
Über zehn Milliarden Neuronen bilden nach HvF das menschliche Gehirn. Es sind Einzelzellen, die hochgradig spezialisiert sind und drei anatomisch unterschiedliche Teile umfassen, nämlich die zweigähnlich verästelten Dendriten, den Zellleib mit dem Zellkern und die Axone. Mit ihren einzelnen Ausläufern enden die Axone bei den Dendriten anderer Neurone oder rekursiv bei denjenigen desselben Neurons. Aufgrund der Membran des Zellleibs weist das Zellinnere ungefähr ein Zehntel Volt elektrische Ladung im Vergleich zu seiner Umgebung auf. '' „Wird diese Ladung in der Region der Dendriten hinreichend gestört, dann ‚feuert‘ das Neuron und schickt diese Störung entlang seiner Axone an dessen Endpunkte, die Synapsen.“''<ref>ebd. S. 33.</ref><br />
<br />
==== ''„Die Übertragung“'' ====<br />
Solche elektrische Störeinwirkungen können mit Mikrosonden gemessen und dargestellt werden. HvF zeigt drei Abbildungen solcher Messungen in einem Druckrezeptor, der konstant, aber in unterschiedlicher Intensität eine Stimulation erfährt. Die periodischen Entladungen des Druckrezeptors sind in allen drei Fällen gleich groß und unterscheiden sich nur durch ihre Frequenz. Dabei entspricht eine niedrige Frequenz einer schwachen Stimulation, eine höhere Frequenz einer stärkeren.<br />
<br />
==== ''„Die Synapse“'' und die Berechnung des Verhältnisses von innerer zu äußerer Sensitivität ====<br />
HvF erklärt nun die Anatomie einer synaptischen Verbindung. Sie besteht aus einem winzigen Spalt. Dieser ist mit Transmittersubstanzen gefüllt und befindet sich zwischen dem knollenartigen Ende eines afferenten Axons und dem Dendritenast eines Neurons. <br />
<br />
HvF weist darauf hin, dass die Transmittersubstanzen des synaptischen Spaltes je nach ihrer chemischen Zusammensetzung eine unterschiedliche Wirkung haben können. Ein Impuls, der sich entlang eines afferenten Axons ausbreitet, kann einen anderen gleichzeitig ankommenden Impuls aufheben (inhibitorischer Effekt) oder einen anderen Impuls verstärken (Bahnungseffekt). <br />
<br />
HvF folgert daraus, dass die synaptischen Spalten als Mikroumwelten der sensiblen Spitzen der Dendritenäste aufgefasst werden können. Auf dieser Grundlage bestimmt er das Verhältnis der inneren zur äußeren Sensitivität:<br />
: '' „… mit dieser Interpretation vor Augen können wir die Sensitivität des Zentralnervensystems gegenüber Veränderungen der inneren <nowiki>[kursiv]</nowiki> Umwelt (der Gesamtsumme aller Mikroumwelten) mit seiner Sensitivität gegenüber Veränderungen der äußeren <nowiki>[kursiv]</nowiki> Umwelt (das heisst aller sensorischen Rezeptoren) vergleichen. Da es lediglich einige 100 Millionen sensorische Rezeptoren und etwa 10 000 Milliarden Synapsen in unserem Nervensystem gibt, sind wir gegenüber Veränderungen in unserer inneren Umwelt 100 000mal stärker empfindlich als gegenüber Veränderungen in unserer äußeren Umwelt.“''<ref>ebd. S. 35.</ref><br />
<br />
Wie aus dem Kapitel [[#„Interpretation“| „Interpretation“]] zu erschließen ist, meint HvF in diesem Kontext mit dem Begriff der sensorischen Rezeptoren alle Rezeptoren, mit denen wir Informationen über unsere Umwelt errechnen können. Die propriozeptiven oder kinästhetischen Rezeptoren werden somit in dieser Berechnung nicht berücksichtigt bzw. außer Acht gelassen. Auf jeden Fall tragen sie nur zur Erhöhung des Verhältnisses zugunsten der inneren Sensitivität bzw. zur Verstärkung der grundsätzlichen Aussage bei.<br />
<br />
==== ''„Der Cortex“'' ====<br />
Um die Rechenkapazität des Gehirns zu veranschaulichen und ''„zumindest eine gewisse Vorstellung von der Organisation der gesamten Maschinerie zu gewinnen, die alle unsere perzeptuellen, intellektuellen und emotionalen Erfahrungen errechnet“''<ref>ebd. S. 35.</ref>, geht HvF auf einen zwei Quadratmillimeter großen Hirnschnitt ein, der von einer Katze stammt. Er ist hundertfach reduziert, zeigt die Axone nicht und lässt nach HvF dennoch erahnen, wie dicht gepackt das Gehirn ist.<br />
<br />
==== ''„Descartes“'' ====<br />
In einem kurzen Exkurs erläutert HvF mit einem Zitat von Descartes, wie man sich im 17. Jahrhundert die Funktionsweise des Körpers bzw. die Wahrnehmung und Verarbeitung vorstellte. Besonders sprechend ist die Erwähnung von Lebensgeistern, die aus eine Hohlraum heraus in die Muskeln fließen und eine Aktivität auslösen, und ebenso die Metapher, dass zuvor ein Zug auf die Nerven diesen Hohlraum öffnet wie der Zug an einer Kordel (eines Herrschaftshauses) die Glocke (in einem bestimmten Zimmer) läuten lässt. HvF kann sich einen abschließenden Seitenhieb auf den Behaviorismus nicht verkneifen, wo einige AnhängerInnen zu seiner Zeit noch immer diese gleiche Auffassung vertreten würden, nur seien die Lebensgeister weggefallen.<br />
<br />
==== ''„Die Errechnung“'' ====<br />
Bei diesem Unterthema präsentiert HvF eine typische neuronale Errechnung in einer schematischen Darstellung. Sie betriff die Netzhaut (Retina) und das postretinale Netzwerk bei einem Säugetier. Mit diesem Schichtenmodell zeigt er auf, dass Rechenprozesse in denjenigen Schichten stattfinden, in denen es Synapsen hat. In diesen Schichten werden nach Untersuchungen von 1968 ''„die Sinneswahrnehmung der Farbe sowie einige Formmerkmale errechnet“''<ref>ebd. S. 37.</ref>.<br />
<br />
Die Formberechnung führt HvF länger aus. Er beschreibt insbesondere, wie die Schichten zusammenarbeiten und bei einheitlichem Lichteinfall inhibitorische Signale (aufhebende, vgl. oben) benachbarter Neurone gegenüber eigenen exzitatorischen Signalen (im Sinn von „Tu etwas!“) zu einer Nullreaktion führen, und zwar unabhängig von der Stärke der Stimulierung und der Veränderung der Belichtung. <br />
<br />
Im Unterschied dazu erklärt HvF dann den Fall, dass ein Hindernis einen Teil der rezeptiven Schicht abdeckt. Nun erhält ein Neuron zwei eigene exzitatorische Signale, aber nur ein inhibitorisches von einem benachbarten Neuron – und nicht wie zuvor von den beiden benachbarten Neuronen. Es wird also feuern. Dies lässt den Schluss zu, dass grundsätzlich die Funktion darin besteht, ''„jede räumliche Veränderung des visuellen Feldes dieses ‚Auges‘“''<ref>ebd. S. 38.</ref> zu errechnen. <br />
<br />
Die Rechenprozesse, die hier stattfinden, sind nach HvF zwar sehr elementare Operationen, aber ihre Organisation lässt das bedeutsame Prinzip verstehen, wie abstrakte Vorstellungen (im Beispiel: die „Kante“) errechnet werden. Zur Generalisierung dieses Prinzips weist HvF auf zwei Ebenen hin, auf denen sich Errechnung zeigt:<br />
: ''„(a) in den tatsächlich ausgeführten Operationen, <br>und (b) in der Organisation dieser Operationen, wie sie hier durch die Struktur des Nervennetzes dargestellt wird. <br>In der Computersprache würde man bei (a) von ‚Operationen‘ sprechen, bei (b) jedoch von einem ‚Programm‘. Wie wir später noch sehen werden, können in ‚biologischen Rechnern‘ die Programme selbst zum Gegenstand von Rechenprozessen werden. Wir erreichen so ‚Metaprogramme‘, ‚Meta-Metaprogramme‘ … usw. Und all das ist natürlich die Folge der rekursiven Organisation dieser Systeme“''<ref>ebd.</ref><br />
<br />
==== ''„Geschlossenheit“'' ====<br />
In diesem Unterkapitel nimmt HvF die Funktionsweise des ganzen Organismus in den Blick. In einer schematischen Darstellung präsentiert er ein Modell, das ''„die Einzelstücke wieder durch ihre funktionalen Beziehungen“''<ref>ebd. S. 39.</ref> verbindet. Die Darstellung zeigt <br />
* die Neuronenbündel, <br />
* die synaptischen Spalten, die Synapsen zu anderen Neuronenbündeln bilden,<br />
*die Hirnanhangdrüse (Hypophyse) als ''„Steuerdrüse für das gesamte endokrine System“''<ref>ebd.</ref>,<br />
*die rekursiv verbundenen sensorischen und motorischen Oberflächen.<br />
<br />
Zur rekursiven Verbindung der sensorischen und motorischen Oberflächen führt er aus:<br />
: ''„Die Nervenimpulse <nowiki>[…]</nowiki> wirken schließlich auf die motorische Oberfläche (MS), deren Veränderungen (Bewegungen) unmittelbar wiederum von der sensorischen Oberfläche (SS) wahrgenommen werden <nowiki>[…]</nowiki>“''<ref>ebd. S. 39.</ref><br />
<br />
Ebenso rekursiv verbunden werden im Modell die Hirnanhangdrüse und die synaptischen Spalten. Allerdings führen die hier verarbeiteten Impulse zur Veränderung (Modifikation) der Arbeitsweise (modus operandi) der synaptischen Spalten bzw. des ganzen Systems. <br />
<br />
Das Modell illustriert somit die ''„die doppelte Schließung des Systems, das nun rekursiv nicht nur das verarbeitet, was es ‚sieht‘, sondern auch die Tätigkeit seiner eigenen Organe“''<ref>ebd. </ref>. HvF transformiert dann das Modell in einen dreidimensionalen Torus, um so im Kern zeigen zu können, wie ein lebender Organismus in funktionaler Hinsicht organisiert ist. <br />
<br />
Zu den Rechenprozessen, die in diesem Torus stattfinden, merkt HvF an, dass sie ''„einer nicht-trivialen Einschränkung“''<ref>ebd. </ref> unterliegen. Sie besteht in einem Postulat, das er „Kognitive Homöostase“ nennt:<br />
<br />
: ''„Das Nervensystem ist so organisiert (bzw. organisiert sich selbst so), daß es eine stabile Realität errechnet.“''<ref>ebd. </ref><br />
<br />
Er weist darauf hin, dass sich aus diesem Postulat die Autonomie bzw. Selbstregelung jedes lebenden Organismus ergibt und dass Autonomie mit Regelung der Regelung gleichbedeutend ist.<br />
: ''„Und genau dies leistet der doppelt geschlossene, rekursiv rechnende Torus: Er regelt seine eigene Regelung.“''<ref>ebd. S. 40.</ref><br />
<br />
=== ''„Bedeutung“'' ===<br />
Mit einem kurzen Kapitel schließt der Vortrag. HvF wechselt hier auf die ethische und ästhetische Ebene:<br />
: ''„Es mag in der Zeit wie der unseren seltsam anmuten, Autonomie zu fordern, denn Autonomie bedeutet Verantwortung. Wenn ich selbst der einzige bin, der entscheidet, wie ich handle, dann bin ich für meine Handlungen verantwortlich.“''<ref>ebd. S. 40.</ref><br />
<br />
Er weist darauf hin, dass es eher üblich ist, andere für das eigene Handeln verantwortlich zu machen, um dann die Paradoxie der Haltung des Solipsismus aufzuzeigen. Er kommt zum Schluss, dass der springende Punkt darin besteht, dass man die Wahl hat, sich selbst als einzig existierende Realität zu betrachten oder nicht. Tut man das nicht, ist niemand die einzig existierende Realität und es muss ''„etwas Drittes geben, das den zentralen Bezugspunkt bildet. Dies ist die Relation zischen Du und Ich, und diese Relation heisst IDENTITÄT: <br>Realität = Gemeinschaft“''<ref>ebd. S. 40.</ref><br />
<br />
Der Vortrag schließt mit einem fulminanten, kurzgehaltenen Höhepunkt durch die Formulierung zweier Imperative:<br />
: ''„Worin liegen nun die Konsequenzen alles dieses für Ethik und Ästhetik? <br>Der ethische Imperativ <nowiki>[kursiv]</nowiki>: Handle stets so, daß die Anzahl der Wahlmöglichkeiten grösser wird. <br>Der ästhetische Imperativ <nowiki>[kursiv]</nowiki>: Willst du sehen, so lerne zu handeln.“''<ref>ebd. S. 41.</ref><br />
<br />
== Kommentare, Auswertung und offene Fragen ==<br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* [https://de.wikipedia.org/wiki/Blinder_Fleck_(Auge) '''Wikipedia (2022):''' Blinder Fleck (Auge)] (Zugriff: 01.04.2022)<br />
<br />
* [https://de.wikipedia.org/wiki/Axon '''Wikipedia (2022):''' Axon] (Zugriff: 01.04.2022)<br />
<br />
* [https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/synapsen/65005 '''Spektrum-Onlinelexikon der Biologie (2022):''' Synapsen] (Zugriff: 01.04.2022)<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[Wahrnehmung]]<br />
* [[Kinästhetik (Begriff)]]<br />
* [[Feedback-Control-Theorie]]<br />
* [[Zirkularität]]<br />
* [[Maschinen (triviale und nichttriviale)]]<br />
* [[Heinz von Foerster]]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<br />
<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Fehler&diff=4882Fehler2023-12-20T08:20:51Z<p>Sabine Kaserer: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Dagmar Panzer, Sabine Kaserer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema „Fehler“. Es geht vor allem um die Bedeutung des „Fehlers" in Lernprozessen und im Zusammenhang mit zirkulären Selbstregulationsprozessen als Grundlage für Bewegungs- und Verhaltensanpassung. Die ersten Zitate stammen aus dem Buch „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“. Weitere Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“.<br />
<br />
== Fehler in „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“. Das erste Zitat ist in das fünfte Kapitel „Lernen: Allgemeine Blickpunkte“ eingebettet. <br />
Das Zitat ist der Text der Infobox „Eine Definition des Lernens“ des sechsten Unterkapitels „Leben heißt Lernen“.<br />
<br />
: ''„Der Fehler<br>Bei vielen Lernprozessen des gesellschaftlichen Lebens wird durch festgeschriebene Regelwerke vorgegeben, was richtig und falsch ist. Fehler haben eine negative Bedeutung und beim Lernen scheint es darum zu gehen, dass man lernt, alles richtig bzw. keine Fehler zu machen.<br>Aus kybernetischer Sicht hingegen funktioniert die Verhaltenssteuerung eines Lebewesens aufgrund einer fortlaufenden Fehlerkorrektur. Diese „Fehler“ sind ein unabdingbarer Bestandteil der Steuerung. Somit könnte man sagen: Wir können nur dadurch lernen, dass wir fortlaufend Fehler machen.<br>In ähnlicher Weise ist es oft ein wichtiger Anreiz zum Lernen, dass wir einen „Fehler“ wahrnehmen, d. h. den Unterschied zwischen dem beabsichtigten Ziel und dem erreichten Ergebnis.<br>Auf dem Lernweg selbst sind einerseits die Einsicht, wo etwas nicht wie erwünscht klappt, und andererseits die Freude über entsprechende Fortschritte wichtige Triebfedern des Lernens.“''<br />
<br />
Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.), Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz, 2020, ISBN 978-3-903180-01-7, S. 58<br />
<br />
Das zweite Zitat ist in das vierte Kapitel „Theoretische Grundlagen von Kinaesthetics“ eingebettet. <br />
Das Zitat ist der Text der Infobox „Wir können nicht stehen“ des dritten Unterkapitels „Zirkuläre Selbstregulationsprozesse als Grundlage des menschlichen Verhaltens“.<br />
<br />
: ''"Wir können nicht stehen<br>Die Funktionsweise unserer Bewegungssteuerung, und damit der Feedback-Kontroll- Theorie, lässt sich ausgezeichnet in einer Bewegungserfahrung nachvollziehen: Stehen Sie auf einem Bein und schließen Sie die Augen. Achten Sie nun darauf, wie Sie auf der Ebene der Bewegung diese Aktivität zustande bringen. Sie werden feststellen, dass Sie fortlaufend Anpassungsbewegungen machen und die „Fehler“ und Unsicherheiten korrigieren, die Sie selbst produzieren. Man könnte folglich sagen, dass wir gar nicht stehen können, sondern nur fortlaufend verhindern, dass wir umfallen."''<br />
<br />
Quelle: ebd., S.44<br />
<br />
Das dritte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Lernen: Allgemeine Blickpunkte“ eingebettet. <br />
Das Zitat ist Teil des sechsten Unterkapitels „Leben heißt Lernen„ unter der Überschrift „Eine Definition des Lernens“.<br />
: ''"Natürlich baut unser konkretes Verhalten, d. h. jede Ausführung einer Aktivität, auf einem individuellen Muster auf. Dieses ist aus der Reihe der vergangenen Ausführungen entstanden und beeinflusst die Art und Weise der Fehlerkorrektur der nächsten Ausführung derselben Aktivität. Die damit verbundenen ständigen Lernprozesse können ein Muster verfestigen oder erweitern, aber auch einschränken oder abbauen." <br />
<br />
Quelle: ebd., S.58<br />
<br />
== Fehler in „Kybernetik und Kinästhetik“==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“. Das erste Zitat ist in das dritte Kapitel „Der Kern: Feedback und [[Zirkularität]]“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel „Selbstregulation durch Feedback “ und „Wie funktioniert ein Heizsystem?“ beleuchten die Funktionsweise der Selbstregulation künstlicher und natürlicher Systeme. Hier geht um das grundlegende Verständnis von Selbstregulation mit der Unterscheidung von linearen und [[Zirkuläre Wirkungszusammenhänge|zirkulären Wirkungszusammenhängen]]. Das Zitat ist der Text des Unterkapitels „ 3.3. Ist-Wert, Soll-Wert und Rückkoppelung“. <br />
: ''"Damit ist der Kreislauf geschlossen und man kann relativ leicht nachvollziehen, was zirkuläre Logik im Zusammenhang mit Selbstregulations-Prozessen bedeutet: <br />
: ''Wenn die Heizung läuft, wird die Raumtemperatur steigen. Dadurch wird das Thermometer über 20 °C anzeigen. Der Rechner wird diesen Unterschied zwischen dem Soll-Wert (20 °C) und dem Ist-Wert (aktuelle Raumtemperatur) bei einem bestimmten Wert feststellen und dem Heizkessel den „off“-Befehl geben. Sinkt die Raumtemperatur bzw. das Thermometer in der Folge unter 20 °C, wird der Rechner den „Fehler“ merken und der Heizung die Information „on“ zukommen lassen. So beeinflussen sich im Kreis die drei Elemente durch ihre Rückkoppelung (Feedback). Der Regulationsprozess des Systems besteht in fortgesetzten Fehlerkorrekturen, im Ausgleichen von systemrelevanten Unterschieden. <br />
: ''In unserem Beispiel pendelt die tatsächliche Raumtemperatur, der Ist-Wert, folglich um den Soll-Wert. Das Ideal von 20 °C wird gar nicht gehalten, sondern von den Ist-Werten nur vorübergehend erreicht. Wenn man den Rechner auf sehr feine Unterschiede einstellen würde, käme es nämlich in unserem System zu einem ständigen, unsinnigen An- und Abschalten des Heizkessels." <br />
[[Datei:Der zirkuläre Rückkoppelungsprozess eines Heizsystems.jpeg|500px|thumb|zentriert|]]<br />
<br />
Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020): Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 21-22<br />
<br />
Das zweite Zitat ist in das sechste Kapitel „Kinästhetik ist praktische Kybernetik“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Frage der konkreten Verbindung von Kybernetik und Kinästhetik. Das Zitat ist Teil des Textes des zweiten Unterkapitels „Selbstregulation und persönliches Lernen“ unter der Überschrift "6.2.1. Wie reguliere ich mich?" .<br />
: ''"[...]Die Kybernetik geht davon aus, dass diese Selbstregulation auf ununterbrochenen, sehr unmittelbaren zirkulären Prozessen zwischen Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem beruht. Diese Prozesse werden im Modell als kybernetische Regelkreise oder Feedback-Schleifen dargestellt (vgl. Infobox S. 59). Wie im vierten Kapitel erwähnt, versteht die Kinästhetik Positionen wie Liegen, Sitzen oder Stehen, die von außen betrachtet nach statischen, „bewegungslosen“ Zuständen aussehen, als aktive Bewegungen. Eine entsprechende Anleitung zu einer Bewegungserfahrung im Stehen findet sich in der Infobox auf Seite 35. Vielleicht ist im Stehen leichter als im Sitzen erfahrbar, dass es unmöglich ist, bewegungs- los in einer Position zu verweilen. Aber tatsächlich sind wir nur dazu imstande, fortlaufend mit vielen kleinen Bewegungen zu verhindern, dass wir umfallen (oder im Liegen einen Dekubitus entwickeln). Bei jeder Aktivität findet also durch Selbstregulation ununterbrochen ein Ausgleich von „Fehlern“ statt, die wir selbst produzieren – und ohne diese ständigen Korrekturen und Anpassungen an die Absicht ist keine zielgerichtete Bewegung möglich. Bei kleinen Kindern, die dabei sind, stehen zu lernen, lässt sich gut beobachten, wie sie in eine tiefere Position plumpsen, wenn eine rechtzeitige „Korrektur“ misslingt. <br />
[[Datei:Feedback Kontroll Theorie.png|mini|rechts|Regelkreis der Bewegungs- bzw. Verhaltensregulation]]<br />
: ''Wegen ihrer konstanten Unmittelbarkeit, ihrer „Geschwindigkeit“, sind solche Regelkreise oder Feedback-Schleifen nur als Ganzes erfahrbar. Die beteiligten Systeme (Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem) sind isoliert nicht erfahrbar. Wie wichtig aber dieses ununterbrochene Zusammenspiel bzw. diese Selbstregulation ist, kann einem z. B. unter starkem Alkoholeinfluss auffallen. In diesem Zustand passiert es leicht, dass man „Fehler“ der Bewegung so verzögert wahrnimmt, dass das Nervensystem die Abweichung nicht mehr rechtzeitig berechnen, und damit keine Korrekturen veranlassen kann. Dadurch kommt man zumindest ins Schwanken oder landet gar im Straßengraben ... Für die Effekte solcher zeitlichen Verzögerungen des sensorischen Feedbacks interessierte sich insbesondere der Verhaltenskyber- netiker K. U. Smith (vgl. Kapitel 4.3.4); darauf dass Phänomene wie Ataxie und Intentionstremor als Störungen von Regelkreisen erklärt werden können, hatte bereits Norbert Wiener verwiesen (vgl. Infobox S. 26)."<br />
Quelle: ebd., S. 59<br />
<br />
<br />
[[Kategorie: Kybernetische Grundlagen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Macy-Konferenzen&diff=4881Macy-Konferenzen2023-12-20T08:09:43Z<p>Sabine Kaserer: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Sabine Kaserer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Macy-Konferenzen. Diese Treffen von Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen waren ausschlaggebend für die Entstehung der Kybernetik und haben somit eine grundlegende Bedeutung für das Fachgebiet Kinästhetik. Die Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“. In diesem Buch ist den Macy-Konferenzen ein eigenes Kapitel gewidmet.<br />
<br />
== Macy-Konferenzen in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“. Das erste Zitat ist die Einleitung zum zweiten Kapitel „Macy-Konferenzen und die Entstehung der Kybernetik“. <br />
: '' <big><big> „2. Macy-Konferenzen und Entstehung der Kybernetik</big></big><br />
: ''Die Kybernetik verdankt ihre Entstehung zu einem großen Teil der amerikanischen ‚Josiah Macy Jr. Foundation‘, die von 1946 bis 1953 zehn interdisziplinäre Konferenzen führender WissenschaftlerInnen finanzierte. In diesem Kapitel wird dargestellt, wie in diesem Rahmen die Kybernetik entstand.[im Original alles kursiv]“''<br />
Das zweite Zitat ist das Unterkapitel „2.1. Die Macy-Konferenzen “.<br />
<br />
:'' <big> „2.1.1. Hintergrund und Bedeutung</big><br> Im Zweiten Weltkrieg beschäftigten militärische Fragestellungen eine ganze Generation von WissenschaftlerInnen. Und die Resultate der Forschungen zeigten eine dramatische Wirkung: Mit der Entwicklung der Atombombe wurde eine Schwelle überschritten, deren Bedeutung sich die Beteiligten erst im Nachhinein bewusst wurden. <br />
:''Schon während des Zweiten Weltkriegs war der politische und öffentliche Druck auf die Wissenschaftselite gewachsen. Man forderte in dieser schrecklichen Lage der Weltgemeinschaft, dass die Wissenschaft sich zentral mit der Frage zu beschäftigen habe, wie sich eine so katastrophale ‚Entgleisung‘ von Menschen in Zukunft verhindern lasse. <br />
:''Vor diesem Hintergrund stellte die amerikanische ‚Josiah Macy Jr. Foundation‘ ab 1946 die finanziellen Mittel für interdisziplinäre Konferenzen verschiedenster WissenschaftlerInnen zur Verfügung. Das Besondere an diesen Konferenzen war, dass WissenschaftlerInnen aus unterschiedlichsten Disziplinen – MathematikerInnen, PhysikerInnen, AnthropologInnen, ElektrotechnikerInnen, BiophysikerInnen, NeurophysiologInnen, SoziologInnen, PsychiaterInnen und PsychologInnen – zusammengeführt wurden (vgl. Infobox S. 15). ‚Thema war die Konstruktion sensorischer Prothesen, die Kommunikation zwischen Tieren, das Wachsen riesiger Panzer bei Süßwasserkrebsen, der Kummer und der Humor und das Gelächter, das Prinzip zirkulärer Kausalität, teleologische Mechanismen.‘(Foerster; Pörksen 2019<ref> ''' Foerster, Heinz von; Pörksen, Bernhard (2019): ''' Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. 12. Auflage. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg (Systemische Horizonte). ISBN 978-3-89670-646-1. </ref>, S. 145).''<br />
:'' Bei dieser interdisziplinären Zusammenarbeit wurden in einer einzigartigen Atmosphäre der Offenheit grundlegende Fragen diskutiert, die weit über die jeweiligen Fachgebiete hinausgingen (ebd., S. 146 f. ).''<br />
: ''Gregory Bateson (1904–1980) schrieb dazu: ‚Ich glaube, die Kybernetik ist der größte Bissen aus der Frucht vom Baum der Erkenntnis, den die Menschheit in den letzten zweitausend Jahren zu sich genommen hat“ (Bateson 2017 , S. 612). Das Denken der Kybernetik kreiste um immer noch aktuelle Begriffe wie Feedback oder Rückkoppelung, Information und Informationstechnologie, Input/Output, Blackbox, Regelkreise, Zirkularität, Selbstorganisation, lineare und nichtlineare Systeme, Komplexität u. a. m.‘''<br />
<br />
: '' <big> „2.1.2. TeilnehmerInnen</big><br> Auf die Initiative des Neurophysiologen Warren Mc Culloch (1899–1969) und des Anthropologen Gregory Bateson verpflichtete sich die Macy-Stiftung, über einen längeren Zeitraum regelmäßige, zweitägige Konferenzen zu finanzieren. Ein konstanter Kern von etwa 15 führenden WissenschaftlerInnen und ungefähr ebenso viele Gäste sollten jeweils daran teilnehmen. Die angestrebte Qualität der Zusammensetzung der Gruppe spiegelt sich in der Tatsache, dass prominente Forscher wie der Physiker und Nobelpreisträger Albert Einstein (1879–1955) oder der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell (1872–1970) angefragt worden waren. Allerdings mussten beide aus verschiedenen Gründen absagen. (Pias 2004 , S. 11) Die TeilnehmerInnen der Macy-Konferenzen hingegen wurden zu den BegründerInnen und VordenkerInnen der Kybernetik. '' <br><br />
: '' <big> 2.1.3. Neuorientierung der Forschung und Zusammenarbeit</big> <br> Die zehn Konferenzen der Jahre 1946 bis 1953 waren von Anfang an als ein interdisziplinäres Experiment gedacht. Nach den erschütternden Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs sollte dem gegenseitigen Verständnis und einer Neuorientierung des wissenschaftlichen Denkens und Forschens Raum gegeben werden. In der Regel fanden an einem Tag nur zwei Vorträge statt. Am Vormittag beleuchtete ein Teilnehmer ein Thema aus der Sicht seiner wissenschaftlichen Disziplin, am Nachmittag wurde das gleiche Thema aus der Sicht einer anderen Forschungsrichtung vorgestellt. Der Rest der Zeit stand für gemeinsame Diskussionen zur Verfügung." ''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 14f.<br />
<br />
Das nächste Zitat ist in das Kapitel 2.2. Die Kybernetik eingebettet. Dort findet man das folgende Zitat im Absatz „2.2.2 Das Ende der Macy-Konferenzen“. <br />
: '' „1953 kam es zu einem Wechsel an der Spitze der Macy-Foundation. Der neue Leiter setzte neue Schwerpunkte, und so lösten sich nach zehn Treffen die Macy-Konferenzen im Jahre 1953 wieder auf. Die Vorträge, Diskussionen und Erkenntnisse der letzten fünf Konferenzen überlebten in den Protokollen, die Heinz von Foerster, der eben erst nach Amerika emigriert war, als Sekretär der Konferenzen verfasst hatte. (Foerster; Bröcker 2014<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2014): ''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 3. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). ISBN 978-3-89670-557-0.</ref>, S. 166 f.) Und es passierte, was zu erwarten war: Jede der TeilnehmerInnen begab sich zurück in ihre Disziplin und arbeitete dort mit den Erkenntnissen der Konferenzen weiter. Der Austausch unter den BegründerInnen der Kybernetik reduzierte sich auf die private Initiative sowie auf einzelne, ‚lose’ Konferenzen und Tagungen." ''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 17.<br />
<br />
== Weiterführende Medien ==<br />
* [https://de.wikipedia.org/wiki/Macy-Konferenzen. Macy-Konferenzen auf Wikipedia](Zugriff: 20.08.2023)<br />
* [http://www.asc-cybernetics.org/foundations/history/MacySummary.htm Überblick über die Macy-Konferenzen auf der Homepage der American Society for Cybernetics] (Zugriff: 08.04.2022)<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[Heinz von Foerster]]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=1.-Person-Methode&diff=48641.-Person-Methode2023-12-18T10:05:30Z<p>Sabine Kaserer: /* 1.-Person-Methode in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Joachim Reif}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema „1.-Person-Methode“ aus dem Buch „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ und „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, sowie einem Essay, der dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“ entnommen ist. Der Begriff bezeichnet den Zugang zu Wissen durch die Erfahrung an der eigenen Person (ich) gegenüber einem rein intellektuellen, „objektiven“ Wissenserwerb.<br />
<br />
== 1.-Person-Methode in „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Einleitung des „Kinaesthetics Konzeptsystems“. Im vorausgehenden Kontext werden als erste Grundlage von Kinaesthetics die wissenschaftlichen Forschungen der Kybernetik, der Verhaltenskybernetik und des von Varela und Maturana geprägten Zweigs der Neurobiologie erwähnt.<br />
: ''„Die zweite Grundlage von Kinaesthetics ist die direkte [[Wahrnehmung]] und [[Bewegungserfahrung|Erfahrung der eigenen Bewegung]]. Dementsprechend beschreibt das vorliegende ‚Konzeptsystem‘ verschiedene Blickwinkel, durch die unterschiedliche Bewegungsaspekte von menschlichen Aktivitäten im eigenen Körper systematisch erfahren, beobachtet und analysiert werden können.<br />
<br />
: ''Man kann diese Art von Wissenserwerb mit F. J. Varela eine '''‚Erste-Person-Methode‘''' (‚First Person Method‘) oder eine ‚Innensicht, Innenperspektive‘ (‚View from Within‘) nennen. Die Begriffe bezeichnen den Zugang zu Wissen durch die Erfahrung an der eigenen Person (ich) gegenüber einem rein intellektuellen, ‚objektiven‘ Wissenserwerb.''<br />
<br />
: ''Kinaesthetics legt großen Wert auf das Forschen und Lernen durch [[Bewegungserfahrung|Bewegungserfahrungen]]. Da das daraus entstehende Verständnis und Wissen auf der Innensicht und der Eigenerfahrung beruht, ist es direkt mit der eigenen Bewegungs- und Handlungskompetenz verknüpft. Die Wirkung zeigt sich im Tun.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 7–8.<br />
<br />
== 1.-Person-Methode in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat ist in das erste Kapitel „Lernen in Kinaesthetics-Kursen“ eingebettet. Im vorausgehenden einleitenden Unterkapitel „Was und wie lernen Sie in Kinaesthetics-Kursen?“ wird das methodisch-didaktische Vorgehen zur Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung und seine Ziele beschrieben. Das Zitat ist das zweite Unterkapitel „Vom Tun und der Innenperspektive zur Theoriebildung“.<br />
: ''„Kinaesthetics verfolgte von Anfang an eine Methode des Lehrens und Lernens, die sich grundsätzlich von traditionellen und althergebrachten Formen von Schulungen unterscheidet. Die Grundlage des Lernens in Kinaesthetics bildet stets das praktische Tun, d. h. Ihre persönliche und subjektive Bewegungswahrnehmung in [[Bewegungserfahrung]]. Das mit diesem Grundsatz verbundene Lernverständnis und die spezifischen Lern- und Schulungsmethoden sind untrennbar mit Kinaesthetics verbunden. Daher handelt es sich um eine ‚Erfahrungswissenschaft‘ im wahrsten Sinne des Wortes: Kinaesthetics schafft Wissen durch Erfahrung.''<br />
<br />
: ''Die [[Bewegungskompetenz]] und das Wissen, das man in Kinaesthetics-Kursen zu entwickeln lernt, beruhen somit nicht auf der Auseinandersetzung mit einer von außen vorgegebenen Theorie und der praktischen Umsetzung von Regeln, sondern auf der Auseinandersetzung mit sich selbst und seinen persönlichen Annahmen. In diesem Sinne ist Kinaesthetics eine '''1.-Person-Methode''', die vom einzelnen ‚Ich‘ ausgeht. Aus diesem Grund stellt das Begleitbuch ‚Kinaesthetics Konzeptsystem‘, das Sie auch in Ihrem Grundkurs erhalten haben, keine Theorie der richtigen Bewegung dar. Es ist eine systematische Beschreibung der subjektiv unter verschiedenen Blickwinkeln erfahrbaren [[Unterschied]] der menschlichen Bewegung.''<br />
<br />
: ''Demnach steht im Zentrum, wie Sie aus Ihrer individuellen Ich- oder Innenperspektive diese Unterschiede wahrnehmen und Ihr Verhalten daran anpassen können. Darauf aufbauend entwickeln Sie durch die Reflexion der Erfahrungen und in der Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundlagen von Kinaesthetics Ihr persönliches Verständnis der menschlichen Bewegung. Dadurch, dass Kinaesthetics didaktisch und methodisch grundsätzlich vom individuellen Tun der einzelnen TeilnehmerIn ausgeht, hat es eine unmittelbare Auswirkung auf Ihr konkretes Verhalten und einen direkten Praxisbezug.“''<br />
<br />
Text der zugehörigen Infobox:<br />
: ''„'''Kinaesthetics als 1.-Person-Methode'''<br>Die Begriffe ‚First-Person-Method‘ (Erste-Person-Methode) und ‚View from Within‘ (Innensicht, Innenperspektive) wurden vom Neurobiologen F. J. Varela (1946–2001) verwendet. Mit ihnen grenzte er die unpersönliche Methode der Wissenschaften – wo es nicht darauf ankommt, wer forscht – von Methoden ab, die wie Kinaesthetics vom einzelnen, verkörperten Individuum und seinen Möglichkeiten der Erfahrung ausgehen. Das Lernen in Kinaesthetics ist in diesem Sinne ein persönlicher, erfahrungsbasierter Forschungsprozess und Kinaesthetics kann im Ganzen als eine 1.-Person-Methode bezeichnet werden.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 9–10.<br />
<br />
== 1.-Person-Methode in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“, und zwar aus dem abschließenden sechsten Kapitel „Kinästhetik ist praktische Kybernetik“. Es ist der Text einer Infobox mit Titel „Kinästhetik aus pädagogischer Sicht: Eine 1.-Person-Methode“. Es handelt sich um ein Essay, das die Grundlagen und Hintergründe dieses Kapitels beleuchtet.<br />
:''„Schon der römische Feldherr Gaius Iulius Caesar (100–44 v. Chr.) hatte von seinen Taten in Gallien in der 3. Person Singular berichtet (z. B. ‚Als Caesar das sah, …‘), um seiner Darstellung mehr Objektivität zu verleihen. Das war eine raffinierte Idee, erschien doch schon vielen seiner Zeitgenossen sein Vorgehen eher egoistisch, d. h. mit dem Ego (lateinisch ‚Ich‘), der 1. Person, verbunden.''<br />
<br />
: ''In der Wissenschaftsgeschichte entwickelte sich die Vorstellung, dass die Wissenschaften sich genau dadurch auszeichnen, dass sie aus der Perspektive einer neutralen Drittperson entstehen. Es kommt nicht darauf an, wer etwas erforscht, erklärt und beweist. Jede(r) käme mit der entsprechenden Vorbildung zu denselben Resultaten, die daher durch ‚wissenschaftliche Objektivität‘ und Allgemeingültigkeit ausgezeichnet sind. Parallel dazu entwickelte sich in der Gesellschaft die immer noch weitverbreitete Vorstellung, dass die Wissenschaften objektiv beschreiben können, wie die Welt ist, insbesondere wenn sie sich auf Zahlen, Experimente und Studien stützen – und bestimmt auch, weil sie so wunderbare technologische Umsetzungen und Fortschritte hervorbringen.''<br />
<br />
: ''Im Rahmen der Kybernetik wies Gregory Bateson (1904–1980) darauf hin, dass die Beschreibungen, Erklärungen und Beweise des gesamten Wissenschaftsbetriebes einen tautologischen (‚das Gleiche sagenden‘) Charakter haben. Seine anspruchsvolle, aber unseres Wissens bis heute nicht widerlegte Argumentation lautet in grober Verkürzung: Dass ein Flugzeug fliegt, beweist, dass ein Flugzeug fliegt, und nicht sehr viel mehr. Die wissenschaftliche Erklärung des Fliegens bildet nur Informationen ab, die bereits in der wissenschaftlichen Beschreibung, wie die Sachlage ‚ist‘, angelegt sind: Sie sagen eigentlich das Gleiche. (Bateson 2014, S. 103 ff.<ref>'''Bateson, Gregory (2014):''' Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Übersetzt von Hans Günter Holl. 10. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 691). ISBN 978-3-518-28291-3. S. 103 ff.</ref>)''<br />
<br />
: ''Auf dieser Grundlage betonten insbesondere Heinz von Foerster, Francisco Varela (1946–2001) und Humberto Maturana immer wieder, dass es einen ‚locus observandi‘, einen Ort des neutralen und unabhängigen Beobachtens, nicht gibt, dass jede Beobachtung untrennbar mit einer BeobachterIn verbunden ist. In einem Beispiel formuliert: Es gibt keine Mathematik als Instrument der Beobachtung, ohne dass ein Heinz von Foerster oder ein Albert Einstein sie betreibt. Sie machen nicht das Gleiche mit der Mathematik, sondern verwenden nur dieselbe wissenschaftliche Sprache. Darum können sie diskutieren, ob sie einander in der Anwendung dieser Sprache folgen können oder nicht.''<br />
<br />
: ''Vor diesem Hintergrund ist darauf hinzuweisen, dass es ja genau eine von Einsteins Leistungen war, die Relativität bisheriger physikalischer ‚Wahrheiten‘ aufzuzeigen. Der Neurobiologe Francisco Varela verwendete in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen 3.-Person-Methoden (ein Beispiel ist der universitäre, ‚objektive‘ Wissenschaftsbetrieb) und '''1.-Person-Methoden''', die vom einzelnen, im Hier und Jetzt verkörperten Ich ausgehen. Bei seiner persönlichen Auseinandersetzung mit dem tibetischen Buddhismus war ihm aufgefallen, dass er sich einer Tradition gegenübersah, die sich ähnlich wie unsere Wissenschaften mit Forschung, Dokumentation und Lehre beschäftigte, sich aber doch ganz grundsätzlich von diesen unterschied. Dieser Unterschied schien ihm beim Thema Lernen und Lehren besonders deutlich hervorzutreten. Der Ausgangspunkt des Lernens war immer das einzelne Individuum und seine individuelle Erfahrung im doppelten Sinn des Wortes. Im Zentrum stand einerseits der persönliche Lebensweg, die Erfahrung, die man ‚mitbringt‘, und andererseits die individuelle, aktuelle Fähigkeit, ein Thema immer differenzierter wahrnehmen, erfahren und reflektieren zu können. (vgl. Varela et al. 1992<ref>'''Varela, Francisco J.; Rosch, Eleanor; Thompson, Evan (1992):''' Der Mittlere Weg der Erkenntnis. Die Beziehung von Ich und Welt in der Kognitionswissenschaft. Der Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Theorie und menschlicher Erfahrung. Übersetzt von Hans Günter Holl. Bern, München, Wien: Scherz Verlag. ISBN 3-502-13750-1.<br />
Originalausgabe (1991): The Embodied Mind. Cambridge: Massachusetts Institute of Technology.</ref>)''<br />
<br />
: ''Bezeichnenderweise findet man Ansätze von 1.-Person-Methoden in der westlichen Welt z. B. beim Erlernen von Sportarten oder Freizeitbeschäftigungen. Meistens muss hier nicht zuerst stundenlang Theorie verarbeitet und gebüffelt werden, bevor man mit dem neuen Wissen überhaupt irgendetwas zu tun wagt. In der Pädagogik findet sich die Idee in konsequenter Umsetzung immer noch unter der Rubrik ‚Alternative Schulformen‘. Allerdings haben in den letzten Jahrzehnten mit ihr verbundene Konzepte wie individualisierender Unterricht oder Lernen durch eigenaktives Tun an Bedeutung gewonnen.''<br />
<br />
: ''Die Kinästhetik ist eine 1.-Person-Methode im besten Sinne. Sie lehrt einen nicht eine allgemeingültige Theorie der richtigen Bewegung oder Bewegungsinteraktion. Vielmehr verhilft sie einem zu einem System von Blickwinkeln, die im eigenverantwortlichen Tun, in der subjektiven [[Einzelerfahrung]] oder [[Partnererfahrung]] eine immer differenziertere Wahrnehmung, Regulation und Anpassung der eigenen Bewegung aus einer Innen- oder Ich-Perspektive ermöglichen. Aufbauend auf diesen Erfahrungen geht es um die persönliche und gemeinsame Reflexion, um den Vergleich und die Verknüpfung der eigenen Erkenntnisse mit theoretischen und wissenschaftlichen Grundlagen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Schulungen wird in der Kinästhetik konsequent der Weg vom individuellen Tun bzw. von der Ich- und Innenperspektive zur Auseinandersetzung mit Theorien von Drittpersonen beschritten. Oder anders ausgedrückt: Kinästhetik ist eine ‚Erfahrungswissenschaft‘ im wahrsten Sinne des Wortes.“<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 62–63.<br />
<br />
== Weiterführende Literatur ==<br />
*'''Varela, Francisco J.; Shear, Jonathan (1999):''' First-Person Methodologies: What, Why, How? In: Journal of Consciousness Studies 6, No 2–3, S. 1–14.<br />
*'''Knobel, Stefan; Hennessey, Richard (2023):''' Kinästhetik und die 1.-Person-Methode. Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun. In: LQ. kinaesthetics – zirkuläres denken – lebensqualität. 2023, Nr. 1. S. 42–46. [[Medium:Lq-2023-1-Kinaesthetik-und-die-1-Person-Methode.pdf|Zum Artikel]]<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Lernumgebung]]<br /><br />
[[Lernparadigma]]<br /><br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<br />
<br />
<br />
[[Kategorie:Lernen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Viabilit%C3%A4t&diff=4863Viabilität2023-12-18T09:52:25Z<p>Sabine Kaserer: /* Viabilität in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ */</p>
<hr />
<div><br />
{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Sabine Kaserer}}<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Die ersten beiden Kapitel dieses Artikels sind mit Fachliteratur angelegt. Sie bestehen aus einschlägigen Zitaten zum Thema Viabilität. Mit Viabilität bezeichnet Ernst von Glasersfeld Lösungswege, die sich an der Gang- und Brauchbarkeit im Kontext von Problemstellung und Absicht orientieren. Er benutzt das Wort „passend“ als Synonym von „viabel“.<br />
<br />
== Viabilität in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das erste Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“. Der Begriff Viabilität kommt in den Büchern von Hatch und Maietta sowie in den weiteren Büchern des EKA-Verlags („Konzeptsystem“, „Kybernetik und Kinästhetik“) nicht vor. Zahlreiche Belege in der Zeitschrift „lebensqualität/LQ“ weisen hingegen darauf hin, dass insbesondere der Begriff „viabel handeln“ im EKA-Netzwerk gängig verwendet wird und eine wichtige Rolle spielt. Dies wird hier mit vier Beispielen aufgezeigt. Abschließend folgt im dritten Kapitel ein Fachartikel mit den einschlägigen Zitaten zu Viabilität/viabel aus den Werken von Ernst von Glasersfeld.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“. Es ist in das 3. Kapitel „Bewegungskompetenz – das zentrale Thema“ eingebettet. Das Kapitel beschreibt zuerst die Bedeutung der Bewegungskompetenz. Im Unterkapitel 3.1.3 werden aus der Perspektive der Erfahrbarkeit die Komponenten und Faktoren beschrieben, die im Zusammenspiel die Bewegungskompetenz ausmachen und helfen, sie bewusst zu entwickeln. <br />
<br />
Der zitierte Text stammt aus der Infobox „Viabel/Viabilität“<br />
: ''„Der Philosoph Ernst von Glasersfeld (1917–2010) führte diese Begriffe im Rahmen des von ihm begründeten ‚radikalen Konstruktivismus' in die wissenschaftliche Diskussion ein. Sie bezeichnen die Lösung eines Problems, die sich nicht an der Idee der (‚wissenschaftlichen') Wahrheit, an der Idee von richtig und falsch orientiert, sondern an der Gang- oder Brauchbarkeit im Kontext der Problemstellung und der verfolgten Absicht – im Wissen, dass es viele gangbare Lösungswege gibt. Glasersfeld braucht das Wort ‚passend‘ (in Bezug auf Kontext und Absicht) als Synonym von '''‚viabel‘'''.“''<br />
Im Fließtext des Unterkapitels 3.1.3 „Komponenten der Bewegungskompetenz“ findet sich im 3. Absatz der Begriff „Viabel Handeln“:<br />
: '' „Im Folgenden werden aus der Perspektive der Erfahrbarkeit die Komponenten und Faktoren beschrieben, die im Zusammenspiel die Bewegungskompetenz ausmachen und helfen, sie bewusst zu entwickeln. Auf der Grundlage der Feedback-Kontroll-Theorie (vgl. Kapitel 4.3.) beleuchten die ersten beiden Komponenten dieses Modells die Faktoren der Sensibilisierung der Wahrnehmung und der Entwicklung einer differenzierten Bewegung, die dritte Komponente die Faktoren der Verhaltenssteuerung. Sie werden aus der Ich-Perspektive dargestellt. [...]''<br />
: <big>'''''Viabel''' handeln: Die Entwicklung produktiver Verhaltensmöglichkeiten</big> <br> Ich kann gleichzeitig eine komplexe Herausforderung des Alltags bewältigen, auf die Qualität meiner eigenen Bewegung achten und dadurch mein Verhalten passend und zum Ziel führend steuern. Ich bin imstande, meine eigene Bewegung bewusst und produktiv an meine individuellen Voraussetzungen, an diejenigen von InteraktionspartnerInnen sowie an die Absicht und den Verlauf der Situation anzupassen. Ich bin in der Lage, die Achtsamkeit auf meine Bewegung im Verlauf einer Situation differenziert zu lenken und so die eigene Bewegung möglichst optimal am Kriterium von Lernen und Entwicklung zu orientieren.“ '' <br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S.33<br />
<br />
== Viabilität/viabel handeln in der Zeitschrift „lebensqualität/LQ“ ==<br />
{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Sabine Kaserer}}<br />
=== lebensqualität 01/2013: „Die Wirkung liegt nicht in der Maßnahme. Umgang mit Methoden“ ===<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Rubrik „thema“ der Zeitschrift „lebensqualität“ 01/2013. Ute Kirov und Stefan Knobel beleuchten in diesem Artikel die Gefährlichkeit von Handlungsanleitungen, die dazu führen, dass die Achtung auf die Maßnahme statt auf das individuelle Verhalten“ im Zentrum steht. Unter der Überschrift „Kompetenz und Selbstverantwortung“ thematisieren sie vor diesem Hintergrund gegen den Schluss die Bedeutung des viablen Handelns.<br />
: ''„'''Viabel handeln ''' <br> Heinz von Foerster drückte es so aus: „Handle stets so, dass sich die Anzahl der Möglichkeiten vergrößert“ (von Foerster 2004, S. 36<ref>'''Foerster, Heinz von; Pörksen, Bernhard (2019):''' Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. 12. Auflage. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg (Systemische Horizonte). ISBN 978-3-89670-646-1. S. 36</ref>). Und genau darum geht es, wenn ich mit einem Menschen in Bewegung komme, der meine Hilfe braucht. Wir können zwar den anderen nicht verändern, aber wir können uns verändern. In unserem eigenen Verhalten haben wir die Wahl. Wir können unser Verhalten an Bewegungs-Antworten des Anderen anpassen. Wir können lernen, viabel zu handeln. Das heißt auf Deutsch: Ich kann lernen, im richtigen Moment das Passende zu tun. Und darin liegt das große Potenzial des pflegerischen Angebotes. Anstatt allzu viel vorauszuplanen, muss die unterstützende Person in der Lage sein, während der Interaktion das eigene Handeln zu variieren und an das Verhalten des anderen anzupassen.“''<br />
Quelle: '''Kirov, Ute; Knobel, Stefan (2013):''' Die Wirkung liegt nicht in der Maßnahme. Umgang mit Methoden. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2013, Nr. 1. S. 8.<br />
<br />
=== lebensqualität 01/2016: „Der Schlüssel zur Qualität. Teil 3: Kinaesthetics als Führungsinstrument“ ===<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Rubrik „thema“ der Zeitschrift „lebensqualität“ 01/2016. Elisabeth Nachreiner beleuchtet in diesem Artikel die Problematik des gängigen Qualitätsmanagements, das mit Standards bzw. der Beschreibung und Überprüfung genau festgelegter Prozesse pflegerische Qualität zu gewährleisten versucht. Ihre Begegnung mit Kinaesthetics führte sie und ihre Institution zu einem Qualitätsverständnis, das den einzelnen Menschen und Viabilität statt Standards in den Mittelpunkt stellt. <br />
: ''„'''Viabel handeln ''' <br> Der Qualitätsgedanke war ein völlig neuer. Wir stellten fest, dass es keine Standards braucht, sondern dass wir '''viabel''' handeln, uns an die jeweilige Situation anpassen müssen. ‚Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen sind dann viabel, wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen.‘ (v. Glasersfeld 1997, S. 43<ref>'''Glasersfeld, Ernst von (2011): ''' Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. Übersetzt von Wolfram Karl Köck. 7. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1326). ISBN 978-3-518-28926-6. S.&nbsp;43.</ref>) Es nützt nichts, Prozesse zu beschreiben, weil es sowieso anders kommt. Wir brauchen die Kompetenz, jeden Tag die Unterstützungen geben zu können, die im Moment erforderlich sind – nicht mehr und nicht weniger.“''<br />
<br />
Quelle: '''Nachreiner, Elisabeth (2016):''' Der Schlüssel zur Qualität. Teil 3: Kinaesthetics als Führungsinstrument. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2016, Nr. 1. S. 15–16.<br />
<br />
=== lebensqualität 03/2016: „Es gibt keinen ‚kinästhetischen Knietransfer‘. Kritische Anmerkungen zu einem gängigen Ausdruck.“ ===<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Rubrik „praxis“ der Zeitschrift „lebensqualität“ 03/2016. Axel Enke beleuchtet in diesem Artikel die Problematik standardisierter „Bewegungstechniken vor dem Hintergrund der Idee der Viabilität. Er zeigt auf, inwiefern der gängige Begriff des kinästhetischen Knietransfers im Widerspruch dazu steht.<br />
: '' '''„<big>Viabel</big><br> Die Definition ''' <br> Der Begriff '''„viabel“''' geht auf den Konstruktivisten Ernst von Glasersfeld zurück. Er bedeutet gangbar, brauchbar oder passend, und zwar in dem Sinn, dass es bei der Verwirklichung einer Absicht nicht einen bestimmten richtigen Weg gibt, sondern unzählige brauchbare und passende Möglichkeiten.<br />
:'''''Die Bedeutung für die Pflege''' <br> Kinaesthetics verknüpft die Bedeutung dieses Begriffes insbesondere mit Interaktionen, da sich hier zwei oder mehr Menschen aneinander anpassen müssen. Gerade von professionellen HelferInnen wird erwartet, dass sie sich individuell und brauchbar an das Verhalten des anderen anpassen können. Diese Kompetenz ist erlernbar und ein zentraler Aspekt in Kinaesthetics. “''<br />
<br />
Quelle: '''Enke, Axel (2016):''' Es gibt keinen „kinästhetischen Knietransfer“. Kritische Anmerkungen zu einem gängigen Ausdruck. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2016, Nr. 3. S. 32.<br />
<br />
=== LQ 03/2017: „Liegen Sie bequem? Positionsunterstützung in der Endoskopie“ ===<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Rubrik „praxis“ der Zeitschrift „LQ“ 03/2017. Heike Brenner beleuchtet in diesem Artikel mit einem Beispiel, welche Bedeutung die Kinästhetik im Funktionsbereich der Endoskopie haben kann. Zu Beginn erläutert sie unter der Überschrift „Viabel handeln auf der Funktionsabteilung“, wie ihr dies bewusst geworden ist. <br />
: '' In der gezielten Auseinandersetzung mit meiner eigenen Bewegungskompetenz entdeckte ich, dass es in Kinaesthetics nicht um ‚schneller, höher, stärker‘ und auch nicht um ‚Griffe‘ oder konkrete Handlungsanleitungen geht. Vielmehr geht es darum, Bewegung mithilfe der verschiedenen Kinaesthetics- Konzeptblickwinkel wahrzunehmen und verstehen zu lernen. Weiterhin verstand ich, dass es bei verschiedenen Bewegungsunterstützungen wichtig ist, Bewegungsunterschiede analysieren zu können, Bewegungsalternativen zu finden und schließlich aus einem Pool gefundener Bewegungsideen das Passende für die jeweilige Situation herauszusuchen – sprich, '''viabel''' handeln zu können.“''<br />
<br />
Quelle: '''Brenner, Heike (2017):''' Liegen Sie bequem? Positionsunterstützung in der Endoskopie. In: LQ. kinaesthetics – zirkuläres denken – lebensqualität. 2017, Nr. 3. S. 40.<br />
<br />
== Viabilität/viabel bei Ernst von Glasersfeld ==<br />
{{Infobox|vorläufig abgeschlossen|Stefan Marty-Teuber/Sabine Kaserer}}<br />
=== „Einführung in den Konstruktivismus“ (erste Ausgabe 1985) ===<br />
Dieser Sammelband mit Beiträgen verschiedener AutorInnen, die in den Rahmen des Konstruktivismus gestellt werden können, enthält den Aufsatz „Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität“<ref>'''Foerster, Heinz von, u. a. (1992):''' Einführung in den Konstruktivismus. Beiträge von Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld, Peter M. Hejl, Siegfried J. Schmidt, Paul Watzlawick. München, Zürich: Piper (Veröffentlichungen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung. Herausgegeben von Heinz Gumin und Heinrich Meier. Band 5. Serie Piper 1165). ISBN 978-3-492-11165-2. S. 9</ref> von Ernst von Glasersfeld. An die Themen der skeptischen Tradition, von Wissen und Wissenschaft, des unbeliebten Instrumentalismus schließt sich das Kapitel „Funktion statt Isomorphie“<ref>ebd. S. 18</ref> an. In diesem weist von Glasersfeld darauf hin, dass er sich seit fünfzehn Jahren mit der Ausarbeitung der konstruktivistischen Denkweise befasst habe. Für ihn liegt der Unterschied zur philosophischen Tradition darin, dass ''„sie das herkömmliche Verhältnis zwischen der Welt der faßbaren Erlebnisse und der ontologischen Wirklichkeit durch ein anderes begriffliches Verhältnis ersetzt“''<ref>ebd.</ref>. Traditionell wurde stets als natürlich und unabdingbar vorausgesetzt, dass die eigenen Erlebnisse und die Wirklichkeit gleichförmig sind, übereinstimmen oder zumindest korrespondieren. Nach dem Postulat des radikalen Konstruktivismus ist diese Beziehung grundsätzlich andersartig und kann mit den Begriffen Kompatibilität oder Viabilität charakterisiert werden. <br />
<br />
Von Glasersfeld verweist darauf, dass er den Begriff Viabilität in Anlehnung an das englische Wort Viability gewählt habe. In einer Fußnote erwähnt er als ursprüngliche Bedeutung „Gangbarkeit“ und die daran anschließende entwicklungsgeschichtliche Verwendung ''„für die Überlebensfähigkeit von Arten, Individuen und Mutationen“''<ref>ebd.</ref>, in welchem Sinn er den Begriff in der Erkenntnistheorie verwendet habe.<br />
<br />
Durch den Begriff Viabilität gründe sich die Beziehung zwischen den eigenen Erlebnissen und der Wirklichkeit ''„auf den Begriff des Passens im Sinne des Funktionierens“''<ref>ebd. S. 19</ref>. Dies stehe im Gegensatz zur traditionellen Auffassung, die ikonisch sei, also der Idee der Abbildung verpflichtet, und davon ausgehe, dass eine gewisse Übereinstimmung bestehe, die begrifflich auf Gleichförmigkeit oder Isomorphie beruhe. Im Anschluss veranschaulicht von Glaserfeld diesen Unterschied mit einem metaphorischen Beispiel.<br />
: ''„Ein metaphorisches Beispiel mag den Unterschied greifbarer machen. Ein blinder Wanderer, der den Fluß jenseits eines nicht allzu dichten Waldes erreichen möchte, kann zwischen den Bäumen viele Wege finden, die ihn an sein Ziel bringen. Selbst wenn er tausendmal liefe und alle die gewählten Wege in seinem Gedächtnis aufzeichnete, hätte er nicht ein Bild des Waldes, sondern ein Netz von Wegen, die zum gewünschten Ziel führen, eben weil sie die Bäume des Waldes erfolgreich vermeiden. Aus der Perspektive des Wanderers betrachtet, dessen einzige Erfahrung im Gehen und zeitweiligen Anstoßen besteht, wäre dieses Netz nicht mehr und nicht weniger als eine Darstellung der bisher verwirklichten Möglichkeiten, an den Fluß zu gelangen. Angenommen der Wald verändert sich nicht zu schnell, so zeigt das Netz dem Waldläufer, wo er laufen kann; doch von den Hindernissen, zwischen denen alle diese erfolgreichen Wege liegen, sagt es ihm nichts, als daß sie eben sein Laufen hier und dort behindert haben. In diesem Sinn ‚paßt‘ das Netz in den ‚wirklichen‘ Wald, doch die Umwelt, die der blinde Wanderer erlebt, enthält weder Wald noch Bäume, wie ein außenstehender Beobachter sie sehen könnte. Sie besteht lediglich aus Schritten, die der Wanderer erfolgreich gemacht hat, und Schritten, die von Hindernissen vereitelt wurden.“<ref>ebd.</ref>''<br />
An die folgenden Kapitel „Die erlebte Umwelt“<ref>ebd. S. 20</ref>, „Auslese und Viabilität“<ref>ebd. S. 23</ref>, „Evolutionäre Epistemologie“<ref>ebd. S. 27</ref> und „Der konstruktive Vorschlag“<ref>ebd. S. 29</ref> schließt sich das Kapitel „Stufen der Wirklichkeit“<ref>ebd. S. 31</ref> an. Von Glaserfeld geht hier auf den Einwand ein, dass der Begriff Objektivität aufgegeben werde, wenn Wissen bzw. die als dieses betrachteten kognitiven Strukturen keine Übereinstimmung mit einer unabhängig existierenden Wirklichkeit aufweisen würden, sondern nur ''„auf Grund ihrer instrumentalen Funktion bewertet werden“''<ref>ebd.</ref>. Zur Idee der Objektivität zitiert er in einer Fußnote den Satz ''„Objektivität ist die Wahnvorstellung eines Subjekts, dass es beobachten könnte ohne sich selbst“''<ref>ebd.</ref> von Heinz von Foerster. Er verweist darauf, dass dies bereits die Vorsokratiker entdeckt hätten und die Philosophie nichtsdestotrotz an der Vorstellung eines einzigen wahren Wissens festhalte, weil derselbe „wirkliche“ Sachverhalt unmöglich von verschiedenen kognitiven Strukturen wahrheitsgetreu widerspiegelt werden könne. Unter klarer Bezugnahme auf Viabilität stellt er darauf die Perspektive des radikalen Konstruktivismus dar.<br />
: ''„Da Wissen für den Konstruktivisten nie Bild oder Widerspiegelung der ontischen Wirklichkeit darstellt, sondern stets nur einen möglichen Weg, um zwischen den ‚Gegenständen‘ durchzukommen, schließt das Finden eines befriedigenden Wegs nie aus, daß da andere befriedigende Wege gefunden werden können. Darum kann, vom konstruktivistischen Gesichtspunkt aus, auch nie ein bestimmter gangbarer Weg, eine bestimmte Lösung eines Problems oder eine bestimmte Vorstellung von einem Sachverhalt als die objektiv richtige oder wahre bezeichnet werden.“<ref>ebd. S. 32</ref>''<br />
Im Schlussteil seines Aufsatzes bespricht von Glasersfeld die Möglichkeit, zum ''„Aufbau der ‚objektiven‘ Wirklichkeit“''<ref>ebd. S. 36</ref> - so die Überschrift des letzten inhaltlichen Kapitels – zu gelangen. Er begründet sie durch die menschliche Fähigkeit zur Selbstreflexion bzw. zur Reflexion wiederholter Erfahrungen, aus der Stufen der Wirklichkeitskonstruktion entstehen<ref>ebd. S. 32 f.</ref>, und durch die Möglichkeit, die Erfahrungen anderer Menschen durch sprachliche Interaktion in die eigene Wirklichkeitskonstruktion einzubeziehen<ref>ebd. S. 33 ff.</ref>. Dass Erlebtes von anderen bestätigt wird, verleihe ihm zwar keine unabhängige Existenz im Sinn der Ontologie, der Lehre vom Seienden.<br />
: ''„Doch – und das ist weitaus wichtiger – solche Bestätigung zeigt, daß die jeweiligen kognitiven Strukturen (die Begriffe, Beziehungen und Regeln), die man im Aufbau des Erlebnisses verwendet hat, in zwei verschiedenen Kontexten '''viabel''' sind: erstens im Kontext des eigenen Ordnens und Organisierens, des Erlebens und zweitens im Kontext des Modells, das man sich von dem anderen aufgebaut hat. Dieser zweite Kontext entsteht eben dadurch, daß wir uns nach und nach Modelle von anderen zurechtlegen, denen wir unsere eigenen Fähigkeiten zuschreiben und schließlich auch unsere eigenen Begriffe und Vorstellungen von der Erlebenswelt. Wenn diese Begriffe und Vorstellungen sich dann auch in den Modellen der anderen als viabel erweisen, dann gewinnen sie eine Gültigkeit, die wir mit gutem Recht ‚objektiv‘ nennen können.“<ref>ebd. S. 37</ref>''<br />
<br />
=== „Radikaler Konstruktivismus“ (deutsche Erstauflage 1997) ===<br />
Im Kapitel „Von mentalen Operationen zur Konstruktion der Wirklichkeit“<ref>'''Glasersfeld, Ernst von (2011): ''' Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. Übersetzt von Wolfram Karl Köck. 7. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1326). ISBN 978-3-518-28926-6. S.&nbsp;41</ref>verweist Ernst von Glasersfeld zu Beginn darauf, dass der Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896–1980) nicht als Erster vertreten hat, dass der Mensch seine Begriffe und das Bild seiner Lebenswelt konstruiert, als Erster aber aus entwicklungspsychologischer Perspektive zu dieser Aussage gelangt ist. Er selbst sei durch die Tatsache, dass er mit mehreren Sprachen aufwuchs, gedrängt worden zu fragen, woher Wissen komme und wie es aufgebaut werde. Deshalb liegt es für ihn wie für Piaget auf der Hand, die kindliche Entwicklung heranzuziehen. Aus der Sicht der traditionellen Philosophie, die auf der Grundlage von zeitloser Logik und nicht von Entwicklung Erkenntnisse sucht, ist dies allerdings eine Todsünde bzw. ein Fehlschluss. Darauf erläutert von Glasersfeld, wie Piaget bereits 1937 im Rahmen seiner genetischen Erkenntnistheorie ein Modell bzw. Bezugssystem einführte (Begriffsstruktur der Gegenstände, Raum, Zeit und Kausalität). In diesem können Kinder eine zusammenhängende Wirklichkeit ihrer Erfahrungen konstruieren und von wenig zufriedenstellendem Wissen zu angemessenerem Wissen gelangen. Für von Glasersfeld erweitert Piaget hier seine oft wiederholte Aussage, ''„dass Erkenntnis kein Bild der realen Welt ist“''<ref>ebd. S. 42</ref>. Er betont, dass sich traditionelle ErkenntnistheoretikerInnen durch diese Aussagen in ihrem Glauben nicht erschüttern lassen, dass besseres Wissen die Realität des Seienden auch besser abbildet. Im Anschluss führt er im Zusammenhang mit diesen Themen den von ihm verwendeten Begriff Viabilität ein: <br />
<br />
: ''„Die Anhänger wie die Kritiker Piagets vernachlässigen folglich oft in ihren Schriften, daß Piaget als Biologe angefangen hat und daß er Erkenntnis als ein Instrument der Anpassung verstand, also als ein Werkzeug, mit dem wir uns in die Welt unserer Erfahrung einfügen.<br>Da die Ausdrücke ‚Anpassung‘ und ‚angepaßt‘ häufig mißverstanden werden (siehe unten, 2. Kapitel) und der Ausdruck ‚angemessen‘ oder ‚adäquat‘ gewöhnlich utilitaristisch aufgefaßt wird, verwende ich den biologischen Ausdruck '''Viabilität'''. Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen sind dann '''viabel''', wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen. Nach konstruktivistischer Denkweise ersetzt der Begriff der Viabilität im Bereich der Erfahrung [Bereich der Erfahrung: im Orig. kursiv] den traditionellen philosophischen Wahrheitsbegriff, der eine ‚korrekte‘ Abbildung der Realität [Abbildung der Realität: im Orig. kursiv] bestimmt. Diese Substitution ändert natürlich nichts am Alltagsbegriff der Wahrheit, der die getreuliche Wiederholung oder Beschreibung einer Erfahrung [ im Orig. kursiv] bedeutet.<br>Für diejenigen, die an Erkenntnis als Abbildung glauben, bewirkt diese radikale Veränderung des Begriffs der Erkenntnis und seines Bezugs zur Realität einen furchtbaren Schock. Sie schließen direkt daraus, daß die Ablehnung der Abbildungsvorstellung gleichbedeutend ist mit dem Leugnen der Realität schlechthin, was freilich töricht wäre. Die Welt unserer Erfahrung ist ja kaum je so, wie wir sie gerne hätten. Dies schließt jedoch nicht aus, daß wir unser Wissen davon selbst konstruiert haben.“<ref>ebd. S. 43</ref>''<br />
<br />
Im Folgenden charakterisiert von Glasersfeld den radikalen Konstruktivismus als ''„eine besondere Art, Wissen zu begreifen, und zwar Wissen nicht nur als Ergebnis, sondern auch als Tätigkeit“''<ref>ebd.</ref> und verweist darauf, dass er unbeliebt war und ist, weil er mit der vorherrschenden Tradition der Philosophie bricht. Dies bringt er in Zusammenhang damit, dass die Psychologie und die Linguistik in Amerika bis weit in die 1970er-Jahre hinein von B. F. Skinner (1904–1990) bzw. vom Behaviorismus dominiert wurde. Nach diesem wird das menschliche Verhalten von der Umwelt determiniert, wozu es nach von Glasersfeld keinen objektiven Zugang gibt:<br />
: ''„Was jedoch ein Naturwissenschaftler oder irgendein denkender Mensch als seine ‚Umwelt‘ kategorisiert und hernach kausal mit dem Verhalten eines beobachteten Organismus verknüpft, das liegt im Erfahrungsbereich des Beobachters und niemals in einer von ihm unabhängigen Außenwelt.“<ref>ebd. S. 44</ref>''<br />
<br />
=== „Die Gewissheit der Ungewissheit – Gespräche zum Konstruktivismus“ (Erstauflage 2002) ===<br />
Diese von Bernhard Pörksen veröffentlichte Sammlung von Gesprächen mit Begründern des Konstruktivismus enthält unter der Überschrift „Was im Kopf eines anderen vorgeht, können wir nie wissen“<ref>'''Pörksen, Bernhard (2019): ''' Die Gewissheit der Ungewissheit. Gespräche zum Konstruktivismus. Mit Heinz von Foerster [u. a.]. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Systemische Horizonte). ISBN 978-3-8497-0285-4. S. 46</ref> ein Gespräch mit Ernst von Glasersfeld. Es geht von der Perspektive Gottes bzw. des völlig richtigen Bildes der Realität aus, das in der Antike bereits von den Vorsokratikern und insbesondere von Skeptikern wie Pyrrhon (um 362 v. Chr. bis um 270–275 v. Chr.) infrage gestellt wurde. <br />
<br />
Im Kapitel „Der Irrtum der evolutionären Erkenntnistheorie“<ref>ebd. S. 50</ref> zieht Pörksen die evolutionäre Erkenntnistheorie des Zoologen und Verhaltensforschers Konrad Lorenz (1903–1989) heran, um einen ''„systematischen Zusammenhang zwischen unseren Wahrnehmungen und der wirklichen Welt“''<ref>ebd.</ref> zu stützen. Nach dieser Theorie hat sich die menschliche Wahrnehmung allmählich durch Versuch und (gegebenenfalls tödlichen) Irrtum evolutionär an die wirkliche Welt angepasst und sich ihr angenähert. Konstruktionen, die die Realität grob verkennen, haben durch natürliche Selektion nicht überlebt. Von Glasersfeld wendet dagegen ein, dass das von Lorenz konstruierte Modell den Fehler enthält, dass die Evolutionstheorie als Beschreibung der wirklichen Welt verstanden wird. Sie sei wohl empirisch begründbar, könne dies aber nicht leisten.<br />
: ''„Man kann wohl sagen, dass wir die Kategorien von Raum und Zeit genau deshalb erfunden haben, weil sie besonders gut funktionieren und zu der Wirklichkeit passen, die wir erleben. Aber gutes Funktionieren ist niemals ein Beweis für die Widerspiegelung der äußeren Welt. Darum spreche ich lieber von '''Viabilität''', denn das betont, dass man immer auch mit anderen Möglichkeiten des Passens rechnen muss.“<ref>ebd. S. 51</ref>''<br />
Im Anschluss veranschaulicht von Glasersfeld die menschliche Erkenntnissituation mit dem Beispiel des Blindflugs eines Flugzeugpiloten, das er Humberto Maturana (*1928) verdankt. Beim Blindflug ist der Pilot von der Außenwelt des Flugzeugs isoliert und passt sein Verhalten fortlaufend an die Angaben der Instrumente an. Wenn draußen ein Sturm tobt, bemerkt er über seine Instrumente, dass das Flugzeug vom Kurs abkommt, greift fortlaufend korrigierend ein, landet schließlich sicher und erreicht sein Ziel. Aber was sich draußen genau abgespielt hat, weiß er nicht: ''„Von der eigentlichen Ursache, dem Sturm, hat er keine Ahnung“''<ref>ebd. S. 52</ref>. <br />
<br />
Im Folgenden wird die Frage nach der Aufgabe und dem Ziel der Wissenschaft thematisiert, und zwar vor dem Hintergrund, dass es nach den bisherigen Ausführungen nicht darum gehen kann, die äußere Welt zu erkennen und Wahrheit zu verbreiten. Pörksen präzisiert dann dieses Thema, indem er von Glasersfeld nach Kriterien fragt, die wissenschaftliche Wirklichkeitskonstruktionen voneinander unterscheiden lassen, ohne dass man beurteilt, welche einer imaginären Wahrheit näher kommt. Darauf schlägt von Glasersfeld das Kriterium der Viabilität vor und erläutert dieses genauer.<br />
: ''„Das Kriterium, das ich vorschlage, ist die Brauchbarkeit bzw. '''Viabilität'''. Den Begriff der Viabilität, der zu jenem der Anpassung in einer engen Beziehung steht, habe ich aus der Evolutionstheorie übernommen; er dient dazu, im Bereich der Erfahrungswelt den klassischen philosophischen Wahrheitsbegriff zu ersetzen, der eine exakte Abbildung der Realität annimmt. Ein Organismus ist dann, so möchte ich definieren, '''viabel''', wenn es ihm gelingt, unter den gegebenen Beschränkungen und den gegenwärtigen Umständen zu überleben. Und brauchbar oder viabel nenne ich Handlungs- und Denkweisen, die an allen Hindernissen vorbei zum gewünschten Ziel führen. Allerdings ist die Feststellung, ob eine Konstruktion viabel ist, von den eigenen Werten abhängig. Sie enthält ein subjektives Moment und verlangt ein persönliches Urteil. Die Wahl der Werte, die Ethik, lässt sich nicht durch den Konstruktivismus begründen: Es handelt sich um Setzungen.“<ref>ebd. S. 53</ref>''<br />
Als Beispiel einer viablen Theorie nennt von Glasersfeld darauf die Weltraumfahrt: Um auf dem Mond zu landen oder Satelliten gezielt ins All zu schicken, arbeitet sie noch immer mit vielen Formeln von Isaac Newton (1643–1727), obwohl aufgrund ihrer Relativierung durch Albert Einstein (1879–1955) niemand sagen würde, dass sie die Wahrheit abbilden. Dennoch sind sie für bestimmte Zwecke ''„nach wie vor brauchbar und nützlich, mehr nicht“''<ref>ebd.</ref>.<br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* [https://youtu.be/B5sW1RaTcx4 Video „Glasersfeld erklärt den RK“ (brgdomath.com)]<br />
''Ein Video (5:09) mit einer kurzen Biografie von Ernst von Glasersfeld und einem Interview, in dem er den erkenntnistheoretischen Ansatz des radikalen Konstruktivismus und den Kernbegriff der Viabilität (3:30) erläutert.''<br />
* [http://www.univie.ac.at/constructivism/EvG/papers/253.pdf Interview mit Ernst von Glasersfeld]<br />
''Interview von R. Voss mit Ernst von Glasersfeld vom 08.12.2000 anläßlich seines Vortrag an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. In: '''Voss, Reinhard (Hg.) (2002):''' Unterricht aus konstruktivistischer Sicht (Instruction from a constructivist perspective). Kriftel: Hermann Luchterhand. ISBN 978-3-472-05052-0. S. 26–32.''<br />
* [http://www.evg-archive.net/ Website des Ernst von Glasersfeld-Archivs]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Viabilit%C3%A4t&diff=4862Viabilität2023-12-18T09:48:47Z<p>Sabine Kaserer: </p>
<hr />
<div><br />
{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Sabine Kaserer}}<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Die ersten beiden Kapitel dieses Artikels sind mit Fachliteratur angelegt. Sie bestehen aus einschlägigen Zitaten zum Thema Viabilität. Mit Viabilität bezeichnet Ernst von Glasersfeld Lösungswege, die sich an der Gang- und Brauchbarkeit im Kontext von Problemstellung und Absicht orientieren. Er benutzt das Wort „passend“ als Synonym von „viabel“.<br />
<br />
== Viabilität in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das erste Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“. Der Begriff Viabilität kommt in den Büchern von Hatch und Maietta sowie in den weiteren Büchern des EKA-Verlags („Konzeptsystem“, „Kybernetik und Kinästhetik“) nicht vor. Zahlreiche Belege in der Zeitschrift „lebensqualität/LQ“ weisen hingegen darauf hin, dass insbesondere der Begriff „viabel handeln“ im EKA-Netzwerk gängig verwendet wird und eine wichtige Rolle spielt. Dies wird hier mit vier Beispielen aufgezeigt. Abschließend folgt im dritten Kapitel ein Fachartikel mit den einschlägigen Zitaten zu Viabilität/viabel aus den Werken von Ernst von Glasersfeld.<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“. Es ist in das 3. Kapitel „Bewegungskompetenz – das zentrale Thema“ eingebettet. Das Kapitel beschreibt zuerst die Bedeutung der Bewegungskompetenz. Im Unterkapitel 3.1.3 werden aus der Perspektive der Erfahrbarkeit die Komponenten und Faktoren beschrieben, die im Zusammenspiel die Bewegungskompetenz ausmachen und helfen, sie bewusst zu entwickeln. <br />
<br />
Der zitierte Text stammt aus der Infobox „Viabel/Viabilität“<br />
: ''„Der Philosoph Ernst von Glasersfeld (1917–2010) führte diese Begriffe im Rahmen des von ihm begründeten „radikalen Konstruktivismus“ in die wissenschaftliche Diskussion ein. Sie bezeichnen die Lösung eines Problems, die sich nicht an der Idee der („wissenschaftlichen“) Wahrheit, an der Idee von richtig und falsch orientiert, sondern an der Gang- oder Brauchbarkeit im Kontext der Problemstellung und der verfolgten Absicht – im Wissen, dass es viele gangbare Lösungswege gibt. Glasersfeld braucht das Wort ‚passend‘ (in Bezug auf Kontext und Absicht) als Synonym von '''‚viabel‘'''.“''<br />
Im Fließtext des Unterkapitels 3.1.3 „Komponenten der Bewegungskompetenz“ findet sich im 3. Absatz der Begriff „Viabel Handeln“:<br />
: '' „Im Folgenden werden aus der Perspektive der Erfahrbarkeit die Komponenten und Faktoren beschrieben, die im Zusammenspiel die Bewegungskompetenz ausmachen und helfen, sie bewusst zu entwickeln. Auf der Grundlage der Feedback-Kontroll-Theorie (vgl. Kapitel 4.3.) beleuchten die ersten beiden Komponenten dieses Modells die Faktoren der Sensibilisierung der Wahrnehmung und der Entwicklung einer differenzierten Bewegung, die dritte Komponente die Faktoren der Verhaltenssteuerung. Sie werden aus der Ich-Perspektive dargestellt. [...]''<br />
: <big>'''''Viabel''' handeln: Die Entwicklung produktiver Verhaltensmöglichkeiten</big> <br> Ich kann gleichzeitig eine komplexe Herausforderung des Alltags bewältigen, auf die Qualität meiner eigenen Bewegung achten und dadurch mein Verhalten passend und zum Ziel führend steuern. Ich bin imstande, meine eigene Bewegung bewusst und produktiv an meine individuellen Voraussetzungen, an diejenigen von InteraktionspartnerInnen sowie an die Absicht und den Verlauf der Situation anzupassen. Ich bin in der Lage, die Achtsamkeit auf meine Bewegung im Verlauf einer Situation differenziert zu lenken und so die eigene Bewegung möglichst optimal am Kriterium von Lernen und Entwicklung zu orientieren.“ '' <br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S.33<br />
<br />
== Viabilität/viabel handeln in der Zeitschrift „lebensqualität/LQ“ ==<br />
{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Sabine Kaserer}}<br />
=== lebensqualität 01/2013: „Die Wirkung liegt nicht in der Maßnahme. Umgang mit Methoden“ ===<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Rubrik „thema“ der Zeitschrift „lebensqualität“ 01/2013. Ute Kirov und Stefan Knobel beleuchten in diesem Artikel die Gefährlichkeit von Handlungsanleitungen, die dazu führen, dass die Achtung auf die Maßnahme statt auf das individuelle Verhalten“ im Zentrum steht. Unter der Überschrift „Kompetenz und Selbstverantwortung“ thematisieren sie vor diesem Hintergrund gegen den Schluss die Bedeutung des viablen Handelns.<br />
: ''„'''Viabel handeln ''' <br> Heinz von Foerster drückte es so aus: „Handle stets so, dass sich die Anzahl der Möglichkeiten vergrößert“ (von Foerster 2004, S. 36<ref>'''Foerster, Heinz von; Pörksen, Bernhard (2019):''' Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. 12. Auflage. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg (Systemische Horizonte). ISBN 978-3-89670-646-1. S. 36</ref>). Und genau darum geht es, wenn ich mit einem Menschen in Bewegung komme, der meine Hilfe braucht. Wir können zwar den anderen nicht verändern, aber wir können uns verändern. In unserem eigenen Verhalten haben wir die Wahl. Wir können unser Verhalten an Bewegungs-Antworten des Anderen anpassen. Wir können lernen, viabel zu handeln. Das heißt auf Deutsch: Ich kann lernen, im richtigen Moment das Passende zu tun. Und darin liegt das große Potenzial des pflegerischen Angebotes. Anstatt allzu viel vorauszuplanen, muss die unterstützende Person in der Lage sein, während der Interaktion das eigene Handeln zu variieren und an das Verhalten des anderen anzupassen.“''<br />
Quelle: '''Kirov, Ute; Knobel, Stefan (2013):''' Die Wirkung liegt nicht in der Maßnahme. Umgang mit Methoden. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2013, Nr. 1. S. 8.<br />
<br />
=== lebensqualität 01/2016: „Der Schlüssel zur Qualität. Teil 3: Kinaesthetics als Führungsinstrument“ ===<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Rubrik „thema“ der Zeitschrift „lebensqualität“ 01/2016. Elisabeth Nachreiner beleuchtet in diesem Artikel die Problematik des gängigen Qualitätsmanagements, das mit Standards bzw. der Beschreibung und Überprüfung genau festgelegter Prozesse pflegerische Qualität zu gewährleisten versucht. Ihre Begegnung mit Kinaesthetics führte sie und ihre Institution zu einem Qualitätsverständnis, das den einzelnen Menschen und Viabilität statt Standards in den Mittelpunkt stellt. <br />
: ''„'''Viabel handeln ''' <br> Der Qualitätsgedanke war ein völlig neuer. Wir stellten fest, dass es keine Standards braucht, sondern dass wir '''viabel''' handeln, uns an die jeweilige Situation anpassen müssen. ‚Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen sind dann viabel, wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen.‘ (v. Glasersfeld 1997, S. 43<ref>'''Glasersfeld, Ernst von (2011): ''' Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. Übersetzt von Wolfram Karl Köck. 7. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1326). ISBN 978-3-518-28926-6. S.&nbsp;43.</ref>) Es nützt nichts, Prozesse zu beschreiben, weil es sowieso anders kommt. Wir brauchen die Kompetenz, jeden Tag die Unterstützungen geben zu können, die im Moment erforderlich sind – nicht mehr und nicht weniger.“''<br />
<br />
Quelle: '''Nachreiner, Elisabeth (2016):''' Der Schlüssel zur Qualität. Teil 3: Kinaesthetics als Führungsinstrument. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2016, Nr. 1. S. 15–16.<br />
<br />
=== lebensqualität 03/2016: „Es gibt keinen ‚kinästhetischen Knietransfer‘. Kritische Anmerkungen zu einem gängigen Ausdruck.“ ===<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Rubrik „praxis“ der Zeitschrift „lebensqualität“ 03/2016. Axel Enke beleuchtet in diesem Artikel die Problematik standardisierter „Bewegungstechniken vor dem Hintergrund der Idee der Viabilität. Er zeigt auf, inwiefern der gängige Begriff des kinästhetischen Knietransfers im Widerspruch dazu steht.<br />
: '' '''„<big>Viabel</big><br> Die Definition ''' <br> Der Begriff '''„viabel“''' geht auf den Konstruktivisten Ernst von Glasersfeld zurück. Er bedeutet gangbar, brauchbar oder passend, und zwar in dem Sinn, dass es bei der Verwirklichung einer Absicht nicht einen bestimmten richtigen Weg gibt, sondern unzählige brauchbare und passende Möglichkeiten.<br />
:'''''Die Bedeutung für die Pflege''' <br> Kinaesthetics verknüpft die Bedeutung dieses Begriffes insbesondere mit Interaktionen, da sich hier zwei oder mehr Menschen aneinander anpassen müssen. Gerade von professionellen HelferInnen wird erwartet, dass sie sich individuell und brauchbar an das Verhalten des anderen anpassen können. Diese Kompetenz ist erlernbar und ein zentraler Aspekt in Kinaesthetics. “''<br />
<br />
Quelle: '''Enke, Axel (2016):''' Es gibt keinen „kinästhetischen Knietransfer“. Kritische Anmerkungen zu einem gängigen Ausdruck. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2016, Nr. 3. S. 32.<br />
<br />
=== LQ 03/2017: „Liegen Sie bequem? Positionsunterstützung in der Endoskopie“ ===<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Rubrik „praxis“ der Zeitschrift „LQ“ 03/2017. Heike Brenner beleuchtet in diesem Artikel mit einem Beispiel, welche Bedeutung die Kinästhetik im Funktionsbereich der Endoskopie haben kann. Zu Beginn erläutert sie unter der Überschrift „Viabel handeln auf der Funktionsabteilung“, wie ihr dies bewusst geworden ist. <br />
: '' In der gezielten Auseinandersetzung mit meiner eigenen Bewegungskompetenz entdeckte ich, dass es in Kinaesthetics nicht um ‚schneller, höher, stärker‘ und auch nicht um ‚Griffe‘ oder konkrete Handlungsanleitungen geht. Vielmehr geht es darum, Bewegung mithilfe der verschiedenen Kinaesthetics- Konzeptblickwinkel wahrzunehmen und verstehen zu lernen. Weiterhin verstand ich, dass es bei verschiedenen Bewegungsunterstützungen wichtig ist, Bewegungsunterschiede analysieren zu können, Bewegungsalternativen zu finden und schließlich aus einem Pool gefundener Bewegungsideen das Passende für die jeweilige Situation herauszusuchen – sprich, '''viabel''' handeln zu können.“''<br />
<br />
Quelle: '''Brenner, Heike (2017):''' Liegen Sie bequem? Positionsunterstützung in der Endoskopie. In: LQ. kinaesthetics – zirkuläres denken – lebensqualität. 2017, Nr. 3. S. 40.<br />
<br />
== Viabilität/viabel bei Ernst von Glasersfeld ==<br />
{{Infobox|vorläufig abgeschlossen|Stefan Marty-Teuber/Sabine Kaserer}}<br />
=== „Einführung in den Konstruktivismus“ (erste Ausgabe 1985) ===<br />
Dieser Sammelband mit Beiträgen verschiedener AutorInnen, die in den Rahmen des Konstruktivismus gestellt werden können, enthält den Aufsatz „Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität“<ref>'''Foerster, Heinz von, u. a. (1992):''' Einführung in den Konstruktivismus. Beiträge von Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld, Peter M. Hejl, Siegfried J. Schmidt, Paul Watzlawick. München, Zürich: Piper (Veröffentlichungen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung. Herausgegeben von Heinz Gumin und Heinrich Meier. Band 5. Serie Piper 1165). ISBN 978-3-492-11165-2. S. 9</ref> von Ernst von Glasersfeld. An die Themen der skeptischen Tradition, von Wissen und Wissenschaft, des unbeliebten Instrumentalismus schließt sich das Kapitel „Funktion statt Isomorphie“<ref>ebd. S. 18</ref> an. In diesem weist von Glasersfeld darauf hin, dass er sich seit fünfzehn Jahren mit der Ausarbeitung der konstruktivistischen Denkweise befasst habe. Für ihn liegt der Unterschied zur philosophischen Tradition darin, dass ''„sie das herkömmliche Verhältnis zwischen der Welt der faßbaren Erlebnisse und der ontologischen Wirklichkeit durch ein anderes begriffliches Verhältnis ersetzt“''<ref>ebd.</ref>. Traditionell wurde stets als natürlich und unabdingbar vorausgesetzt, dass die eigenen Erlebnisse und die Wirklichkeit gleichförmig sind, übereinstimmen oder zumindest korrespondieren. Nach dem Postulat des radikalen Konstruktivismus ist diese Beziehung grundsätzlich andersartig und kann mit den Begriffen Kompatibilität oder Viabilität charakterisiert werden. <br />
<br />
Von Glasersfeld verweist darauf, dass er den Begriff Viabilität in Anlehnung an das englische Wort Viability gewählt habe. In einer Fußnote erwähnt er als ursprüngliche Bedeutung „Gangbarkeit“ und die daran anschließende entwicklungsgeschichtliche Verwendung ''„für die Überlebensfähigkeit von Arten, Individuen und Mutationen“''<ref>ebd.</ref>, in welchem Sinn er den Begriff in der Erkenntnistheorie verwendet habe.<br />
<br />
Durch den Begriff Viabilität gründe sich die Beziehung zwischen den eigenen Erlebnissen und der Wirklichkeit ''„auf den Begriff des Passens im Sinne des Funktionierens“''<ref>ebd. S. 19</ref>. Dies stehe im Gegensatz zur traditionellen Auffassung, die ikonisch sei, also der Idee der Abbildung verpflichtet, und davon ausgehe, dass eine gewisse Übereinstimmung bestehe, die begrifflich auf Gleichförmigkeit oder Isomorphie beruhe. Im Anschluss veranschaulicht von Glaserfeld diesen Unterschied mit einem metaphorischen Beispiel.<br />
: ''„Ein metaphorisches Beispiel mag den Unterschied greifbarer machen. Ein blinder Wanderer, der den Fluß jenseits eines nicht allzu dichten Waldes erreichen möchte, kann zwischen den Bäumen viele Wege finden, die ihn an sein Ziel bringen. Selbst wenn er tausendmal liefe und alle die gewählten Wege in seinem Gedächtnis aufzeichnete, hätte er nicht ein Bild des Waldes, sondern ein Netz von Wegen, die zum gewünschten Ziel führen, eben weil sie die Bäume des Waldes erfolgreich vermeiden. Aus der Perspektive des Wanderers betrachtet, dessen einzige Erfahrung im Gehen und zeitweiligen Anstoßen besteht, wäre dieses Netz nicht mehr und nicht weniger als eine Darstellung der bisher verwirklichten Möglichkeiten, an den Fluß zu gelangen. Angenommen der Wald verändert sich nicht zu schnell, so zeigt das Netz dem Waldläufer, wo er laufen kann; doch von den Hindernissen, zwischen denen alle diese erfolgreichen Wege liegen, sagt es ihm nichts, als daß sie eben sein Laufen hier und dort behindert haben. In diesem Sinn ‚paßt‘ das Netz in den ‚wirklichen‘ Wald, doch die Umwelt, die der blinde Wanderer erlebt, enthält weder Wald noch Bäume, wie ein außenstehender Beobachter sie sehen könnte. Sie besteht lediglich aus Schritten, die der Wanderer erfolgreich gemacht hat, und Schritten, die von Hindernissen vereitelt wurden.“<ref>ebd.</ref>''<br />
An die folgenden Kapitel „Die erlebte Umwelt“<ref>ebd. S. 20</ref>, „Auslese und Viabilität“<ref>ebd. S. 23</ref>, „Evolutionäre Epistemologie“<ref>ebd. S. 27</ref> und „Der konstruktive Vorschlag“<ref>ebd. S. 29</ref> schließt sich das Kapitel „Stufen der Wirklichkeit“<ref>ebd. S. 31</ref> an. Von Glaserfeld geht hier auf den Einwand ein, dass der Begriff Objektivität aufgegeben werde, wenn Wissen bzw. die als dieses betrachteten kognitiven Strukturen keine Übereinstimmung mit einer unabhängig existierenden Wirklichkeit aufweisen würden, sondern nur ''„auf Grund ihrer instrumentalen Funktion bewertet werden“''<ref>ebd.</ref>. Zur Idee der Objektivität zitiert er in einer Fußnote den Satz ''„Objektivität ist die Wahnvorstellung eines Subjekts, dass es beobachten könnte ohne sich selbst“''<ref>ebd.</ref> von Heinz von Foerster. Er verweist darauf, dass dies bereits die Vorsokratiker entdeckt hätten und die Philosophie nichtsdestotrotz an der Vorstellung eines einzigen wahren Wissens festhalte, weil derselbe „wirkliche“ Sachverhalt unmöglich von verschiedenen kognitiven Strukturen wahrheitsgetreu widerspiegelt werden könne. Unter klarer Bezugnahme auf Viabilität stellt er darauf die Perspektive des radikalen Konstruktivismus dar.<br />
: ''„Da Wissen für den Konstruktivisten nie Bild oder Widerspiegelung der ontischen Wirklichkeit darstellt, sondern stets nur einen möglichen Weg, um zwischen den ‚Gegenständen‘ durchzukommen, schließt das Finden eines befriedigenden Wegs nie aus, daß da andere befriedigende Wege gefunden werden können. Darum kann, vom konstruktivistischen Gesichtspunkt aus, auch nie ein bestimmter gangbarer Weg, eine bestimmte Lösung eines Problems oder eine bestimmte Vorstellung von einem Sachverhalt als die objektiv richtige oder wahre bezeichnet werden.“<ref>ebd. S. 32</ref>''<br />
Im Schlussteil seines Aufsatzes bespricht von Glasersfeld die Möglichkeit, zum ''„Aufbau der ‚objektiven‘ Wirklichkeit“''<ref>ebd. S. 36</ref> - so die Überschrift des letzten inhaltlichen Kapitels – zu gelangen. Er begründet sie durch die menschliche Fähigkeit zur Selbstreflexion bzw. zur Reflexion wiederholter Erfahrungen, aus der Stufen der Wirklichkeitskonstruktion entstehen<ref>ebd. S. 32 f.</ref>, und durch die Möglichkeit, die Erfahrungen anderer Menschen durch sprachliche Interaktion in die eigene Wirklichkeitskonstruktion einzubeziehen<ref>ebd. S. 33 ff.</ref>. Dass Erlebtes von anderen bestätigt wird, verleihe ihm zwar keine unabhängige Existenz im Sinn der Ontologie, der Lehre vom Seienden.<br />
: ''„Doch – und das ist weitaus wichtiger – solche Bestätigung zeigt, daß die jeweiligen kognitiven Strukturen (die Begriffe, Beziehungen und Regeln), die man im Aufbau des Erlebnisses verwendet hat, in zwei verschiedenen Kontexten '''viabel''' sind: erstens im Kontext des eigenen Ordnens und Organisierens, des Erlebens und zweitens im Kontext des Modells, das man sich von dem anderen aufgebaut hat. Dieser zweite Kontext entsteht eben dadurch, daß wir uns nach und nach Modelle von anderen zurechtlegen, denen wir unsere eigenen Fähigkeiten zuschreiben und schließlich auch unsere eigenen Begriffe und Vorstellungen von der Erlebenswelt. Wenn diese Begriffe und Vorstellungen sich dann auch in den Modellen der anderen als viabel erweisen, dann gewinnen sie eine Gültigkeit, die wir mit gutem Recht ‚objektiv‘ nennen können.“<ref>ebd. S. 37</ref>''<br />
<br />
=== „Radikaler Konstruktivismus“ (deutsche Erstauflage 1997) ===<br />
Im Kapitel „Von mentalen Operationen zur Konstruktion der Wirklichkeit“<ref>'''Glasersfeld, Ernst von (2011): ''' Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. Übersetzt von Wolfram Karl Köck. 7. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1326). ISBN 978-3-518-28926-6. S.&nbsp;41</ref>verweist Ernst von Glasersfeld zu Beginn darauf, dass der Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896–1980) nicht als Erster vertreten hat, dass der Mensch seine Begriffe und das Bild seiner Lebenswelt konstruiert, als Erster aber aus entwicklungspsychologischer Perspektive zu dieser Aussage gelangt ist. Er selbst sei durch die Tatsache, dass er mit mehreren Sprachen aufwuchs, gedrängt worden zu fragen, woher Wissen komme und wie es aufgebaut werde. Deshalb liegt es für ihn wie für Piaget auf der Hand, die kindliche Entwicklung heranzuziehen. Aus der Sicht der traditionellen Philosophie, die auf der Grundlage von zeitloser Logik und nicht von Entwicklung Erkenntnisse sucht, ist dies allerdings eine Todsünde bzw. ein Fehlschluss. Darauf erläutert von Glasersfeld, wie Piaget bereits 1937 im Rahmen seiner genetischen Erkenntnistheorie ein Modell bzw. Bezugssystem einführte (Begriffsstruktur der Gegenstände, Raum, Zeit und Kausalität). In diesem können Kinder eine zusammenhängende Wirklichkeit ihrer Erfahrungen konstruieren und von wenig zufriedenstellendem Wissen zu angemessenerem Wissen gelangen. Für von Glasersfeld erweitert Piaget hier seine oft wiederholte Aussage, ''„dass Erkenntnis kein Bild der realen Welt ist“''<ref>ebd. S. 42</ref>. Er betont, dass sich traditionelle ErkenntnistheoretikerInnen durch diese Aussagen in ihrem Glauben nicht erschüttern lassen, dass besseres Wissen die Realität des Seienden auch besser abbildet. Im Anschluss führt er im Zusammenhang mit diesen Themen den von ihm verwendeten Begriff Viabilität ein: <br />
<br />
: ''„Die Anhänger wie die Kritiker Piagets vernachlässigen folglich oft in ihren Schriften, daß Piaget als Biologe angefangen hat und daß er Erkenntnis als ein Instrument der Anpassung verstand, also als ein Werkzeug, mit dem wir uns in die Welt unserer Erfahrung einfügen.<br>Da die Ausdrücke ‚Anpassung‘ und ‚angepaßt‘ häufig mißverstanden werden (siehe unten, 2. Kapitel) und der Ausdruck ‚angemessen‘ oder ‚adäquat‘ gewöhnlich utilitaristisch aufgefaßt wird, verwende ich den biologischen Ausdruck '''Viabilität'''. Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen sind dann '''viabel''', wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen. Nach konstruktivistischer Denkweise ersetzt der Begriff der Viabilität im Bereich der Erfahrung [Bereich der Erfahrung: im Orig. kursiv] den traditionellen philosophischen Wahrheitsbegriff, der eine ‚korrekte‘ Abbildung der Realität [Abbildung der Realität: im Orig. kursiv] bestimmt. Diese Substitution ändert natürlich nichts am Alltagsbegriff der Wahrheit, der die getreuliche Wiederholung oder Beschreibung einer Erfahrung [ im Orig. kursiv] bedeutet.<br>Für diejenigen, die an Erkenntnis als Abbildung glauben, bewirkt diese radikale Veränderung des Begriffs der Erkenntnis und seines Bezugs zur Realität einen furchtbaren Schock. Sie schließen direkt daraus, daß die Ablehnung der Abbildungsvorstellung gleichbedeutend ist mit dem Leugnen der Realität schlechthin, was freilich töricht wäre. Die Welt unserer Erfahrung ist ja kaum je so, wie wir sie gerne hätten. Dies schließt jedoch nicht aus, daß wir unser Wissen davon selbst konstruiert haben.“<ref>ebd. S. 43</ref>''<br />
<br />
Im Folgenden charakterisiert von Glasersfeld den radikalen Konstruktivismus als ''„eine besondere Art, Wissen zu begreifen, und zwar Wissen nicht nur als Ergebnis, sondern auch als Tätigkeit“''<ref>ebd.</ref> und verweist darauf, dass er unbeliebt war und ist, weil er mit der vorherrschenden Tradition der Philosophie bricht. Dies bringt er in Zusammenhang damit, dass die Psychologie und die Linguistik in Amerika bis weit in die 1970er-Jahre hinein von B. F. Skinner (1904–1990) bzw. vom Behaviorismus dominiert wurde. Nach diesem wird das menschliche Verhalten von der Umwelt determiniert, wozu es nach von Glasersfeld keinen objektiven Zugang gibt:<br />
: ''„Was jedoch ein Naturwissenschaftler oder irgendein denkender Mensch als seine ‚Umwelt‘ kategorisiert und hernach kausal mit dem Verhalten eines beobachteten Organismus verknüpft, das liegt im Erfahrungsbereich des Beobachters und niemals in einer von ihm unabhängigen Außenwelt.“<ref>ebd. S. 44</ref>''<br />
<br />
=== „Die Gewissheit der Ungewissheit – Gespräche zum Konstruktivismus“ (Erstauflage 2002) ===<br />
Diese von Bernhard Pörksen veröffentlichte Sammlung von Gesprächen mit Begründern des Konstruktivismus enthält unter der Überschrift „Was im Kopf eines anderen vorgeht, können wir nie wissen“<ref>'''Pörksen, Bernhard (2019): ''' Die Gewissheit der Ungewissheit. Gespräche zum Konstruktivismus. Mit Heinz von Foerster [u. a.]. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Systemische Horizonte). ISBN 978-3-8497-0285-4. S. 46</ref> ein Gespräch mit Ernst von Glasersfeld. Es geht von der Perspektive Gottes bzw. des völlig richtigen Bildes der Realität aus, das in der Antike bereits von den Vorsokratikern und insbesondere von Skeptikern wie Pyrrhon (um 362 v. Chr. bis um 270–275 v. Chr.) infrage gestellt wurde. <br />
<br />
Im Kapitel „Der Irrtum der evolutionären Erkenntnistheorie“<ref>ebd. S. 50</ref> zieht Pörksen die evolutionäre Erkenntnistheorie des Zoologen und Verhaltensforschers Konrad Lorenz (1903–1989) heran, um einen ''„systematischen Zusammenhang zwischen unseren Wahrnehmungen und der wirklichen Welt“''<ref>ebd.</ref> zu stützen. Nach dieser Theorie hat sich die menschliche Wahrnehmung allmählich durch Versuch und (gegebenenfalls tödlichen) Irrtum evolutionär an die wirkliche Welt angepasst und sich ihr angenähert. Konstruktionen, die die Realität grob verkennen, haben durch natürliche Selektion nicht überlebt. Von Glasersfeld wendet dagegen ein, dass das von Lorenz konstruierte Modell den Fehler enthält, dass die Evolutionstheorie als Beschreibung der wirklichen Welt verstanden wird. Sie sei wohl empirisch begründbar, könne dies aber nicht leisten.<br />
: ''„Man kann wohl sagen, dass wir die Kategorien von Raum und Zeit genau deshalb erfunden haben, weil sie besonders gut funktionieren und zu der Wirklichkeit passen, die wir erleben. Aber gutes Funktionieren ist niemals ein Beweis für die Widerspiegelung der äußeren Welt. Darum spreche ich lieber von '''Viabilität''', denn das betont, dass man immer auch mit anderen Möglichkeiten des Passens rechnen muss.“<ref>ebd. S. 51</ref>''<br />
Im Anschluss veranschaulicht von Glasersfeld die menschliche Erkenntnissituation mit dem Beispiel des Blindflugs eines Flugzeugpiloten, das er Humberto Maturana (*1928) verdankt. Beim Blindflug ist der Pilot von der Außenwelt des Flugzeugs isoliert und passt sein Verhalten fortlaufend an die Angaben der Instrumente an. Wenn draußen ein Sturm tobt, bemerkt er über seine Instrumente, dass das Flugzeug vom Kurs abkommt, greift fortlaufend korrigierend ein, landet schließlich sicher und erreicht sein Ziel. Aber was sich draußen genau abgespielt hat, weiß er nicht: ''„Von der eigentlichen Ursache, dem Sturm, hat er keine Ahnung“''<ref>ebd. S. 52</ref>. <br />
<br />
Im Folgenden wird die Frage nach der Aufgabe und dem Ziel der Wissenschaft thematisiert, und zwar vor dem Hintergrund, dass es nach den bisherigen Ausführungen nicht darum gehen kann, die äußere Welt zu erkennen und Wahrheit zu verbreiten. Pörksen präzisiert dann dieses Thema, indem er von Glasersfeld nach Kriterien fragt, die wissenschaftliche Wirklichkeitskonstruktionen voneinander unterscheiden lassen, ohne dass man beurteilt, welche einer imaginären Wahrheit näher kommt. Darauf schlägt von Glasersfeld das Kriterium der Viabilität vor und erläutert dieses genauer.<br />
: ''„Das Kriterium, das ich vorschlage, ist die Brauchbarkeit bzw. '''Viabilität'''. Den Begriff der Viabilität, der zu jenem der Anpassung in einer engen Beziehung steht, habe ich aus der Evolutionstheorie übernommen; er dient dazu, im Bereich der Erfahrungswelt den klassischen philosophischen Wahrheitsbegriff zu ersetzen, der eine exakte Abbildung der Realität annimmt. Ein Organismus ist dann, so möchte ich definieren, '''viabel''', wenn es ihm gelingt, unter den gegebenen Beschränkungen und den gegenwärtigen Umständen zu überleben. Und brauchbar oder viabel nenne ich Handlungs- und Denkweisen, die an allen Hindernissen vorbei zum gewünschten Ziel führen. Allerdings ist die Feststellung, ob eine Konstruktion viabel ist, von den eigenen Werten abhängig. Sie enthält ein subjektives Moment und verlangt ein persönliches Urteil. Die Wahl der Werte, die Ethik, lässt sich nicht durch den Konstruktivismus begründen: Es handelt sich um Setzungen.“<ref>ebd. S. 53</ref>''<br />
Als Beispiel einer viablen Theorie nennt von Glasersfeld darauf die Weltraumfahrt: Um auf dem Mond zu landen oder Satelliten gezielt ins All zu schicken, arbeitet sie noch immer mit vielen Formeln von Isaac Newton (1643–1727), obwohl aufgrund ihrer Relativierung durch Albert Einstein (1879–1955) niemand sagen würde, dass sie die Wahrheit abbilden. Dennoch sind sie für bestimmte Zwecke ''„nach wie vor brauchbar und nützlich, mehr nicht“''<ref>ebd.</ref>.<br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* [https://youtu.be/B5sW1RaTcx4 Video „Glasersfeld erklärt den RK“ (brgdomath.com)]<br />
''Ein Video (5:09) mit einer kurzen Biografie von Ernst von Glasersfeld und einem Interview, in dem er den erkenntnistheoretischen Ansatz des radikalen Konstruktivismus und den Kernbegriff der Viabilität (3:30) erläutert.''<br />
* [http://www.univie.ac.at/constructivism/EvG/papers/253.pdf Interview mit Ernst von Glasersfeld]<br />
''Interview von R. Voss mit Ernst von Glasersfeld vom 08.12.2000 anläßlich seines Vortrag an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. In: '''Voss, Reinhard (Hg.) (2002):''' Unterricht aus konstruktivistischer Sicht (Instruction from a constructivist perspective). Kriftel: Hermann Luchterhand. ISBN 978-3-472-05052-0. S. 26–32.<br />
* [http://www.evg-archive.net/ Website des Ernst von Glasersfeld-Archivs]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4856Orientierung2023-12-18T08:10:41Z<p>Sabine Kaserer: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. [[Orientierung#Orientierung%20im%20.E2.80.9EKinaesthetics%20.E2.80.93%20Konzeptsystem.E2.80.9C|Die ersten Zitate ]] stammen aus aus dem Buch „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ und stellen einen aktuellen Referenztext dar. Es folgen Zitate aus den [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EAufbaumodul%20Demenz%203:%20Die%20eigene%20Orientierung%20suchen.2C%20Arbeitsunterlagen.E2.80.9C|Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen"]], wo es um die konkrete Verknüpfung mit dem Thema Demenz geht. In den Zitaten aus dem [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EKin.C3.A4sthetik-Bulletin-Nr-16.E2.80.9C|„16. Kinästhetik-Bulletin von 1990]] werden Entwicklung, Bedeutung und Anwendung des Begriffs Orientierung dargestellt.<br />
== Aktuelle Verwendung des Fachbegriffs ==<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
=== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Konzept Funktionale Anatomie“ eingebettet. Bei diesem Konzept ist grundsätzlich Folgendes von Bedeutung: <br />
<br />
: '' „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.“''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 19.</ref><br />
<br />
Nach den Unterkapiteln „[[Knochen und Muskeln]]“, „[[Massen und Zwischenräume]]“ und „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“ wird dem Fachbegriff Orientierung das vierte und letzte Kapitel gewidmet.<br />
:''<big>“2.4. Orientierung</big><br />
:''Die Entstehung des Begriffes '''Orientierung''' hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.''<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: ‚Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?‘<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: ‚In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer [[Massen und Zwischenräume|Massen]] organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?‘''<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die ‚richtige<br>Richtung‘ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich ‚oben‘ und ‚unten‘ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: ‚Oben‘ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, ‚unten‘ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. ‚Unten‘<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, ‚oben‘ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
=== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ ===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„'''<big>Die eigene Orientierung suchen</big><br> […] Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. <br />
:''Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
:''<big>Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung</big><br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Es geht darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. ''<br />
<br />
:''Eine wichtige Annahme ist, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie grundlegend für das gesamte Orientierungsvermögen ist. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz individuell und konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen.“''<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-48-2. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus den Begleittexten des Kapitels „Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
: ''<big>Orientierung – ein vielschichtiger Prozess <br></big> Beispiel: <br>Wir wollen erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen. Dabei müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an den unterschiedlichsten Dingen orientieren. Unsere Bewegung orientieren wir z. B. ununterbrochen an der Beschaffenheit und der Richtung des Weges. Wir orientieren uns an Wegweisern und Karten, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, an der Entwicklung des Wetters usw. [im Original alles kursiv]''<br />
<br />
:'' Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten oder Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. <br />
:''Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen oder wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich bei der inneren körperlichen Orientierung, wenn wir unsere Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer eigenen Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den ‚Spielregeln‘ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). <br />
:''Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:AMD3-Orientierung-Wandern.jpeg|300px|rahmenlos|zentriert]]||<br />
:''Abb. 1: Eine Wanderung erfordert fortlaufend innere körperliche Anpassungsfähigkeit im Zusammenspiel mit der ständigen Orientierung in der Umgebung. Die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) läuft sozusagen auf Hochtouren und damit einhergehend die innere körperliche Orientierung. Sie gilt in der Kinästhetik als Grundlage des Orientierungsvermögens.''<br><br><br />
|}<br />
<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können […]. Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen. ''<br />
:<br />
:''<big><big>Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens</big></big> '''<br>'''<big>Die innere körperliche Orientierung</big> ''<br> Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung und unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir – als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper und in uns selbst zurechtfinden. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. <br />
:''Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische ‚Mechanik‘, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. <br />
:''Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. <br />
:''Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden.“ ''<br />
: ''<big>Herkömmliche Unterteilungen des menschlichen Orientierungsvermögens</big>''<br> Es ist gängig, das Orientierungsvermögen des Menschen zu unterteilen, um es differenzierter zu beschreiben oder auch in Pflegedokumentationen festzuhalten. Dabei sind die folgenden Begrifflichkeiten allgemein gebräuchlich:''<br />
:*''Räumliche oder örtliche Orientierung''<br />
:*''Zeitliche Orientierung ''<br />
:*''Orientierung zur eigenen Person und zum persönlichen Beziehungsnetz (auch als soziale Orientierung bezeichnet)''<br />
:*''Situative Orientierung: Das angemessene Ausrichten des eigenen Verhaltens an einer bestimmten Situation''<br><br />
<br />
:'' Diese Unterteilung macht deutlich, dass Orientierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, aber auch ein sehr komplexes Phänomen ist. Mit ein Grund ist, dass die Aspekte, die durch diese Unterteilung unterschiedenen werden, sich im alltäglichen Leben überschneiden und kombinieren. <br />
:'' Die herkömmlichen Unterteilungen des Orientierungsvermögens vernachlässigen oft die innere körperliche Orientierung als grundlegenden Aspekt. In der Kinästhetik wird von der Annahme ausgegangen, dass die Qualität der körperlichen Orientierung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich ein Mensch am Raum, an der Zeit usw. orientieren kann.“ ''<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 12-13.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel „Teil 3: Bewegungskompetenz und lebenslange Orientierungssuche". Die vorhergehenden Absätze beleuchten das Thema Bewegungsmuster, hier wird die Bedeutung der Bewegungsmuster für Orientierung beschrieben.<br />
<br />
: ''<big>„Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz:</big> <br>[…] Für das fortlaufende Suchen ihrer Orientierung ist es von hoher Bedeutung, in welcher Qualität sie [eine Person mit Demenz, Anm. d. Red.] ihre Bewegung wahrnehmen, gestalten und sich so in sich selbst orientieren kann. ''<br />
:'' Nach dieser Grundhaltung steht im Zentrum, dass jede Unterstützung einer Person mit Demenz als ein Lernangebot verstanden und gestaltet wird. Wenn Menschen mit Demenz in ihren alltäglichen Aktivitäten eine für sie im Moment passende Unterstützung erhalten, können sie lernen, ihre Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen und an ihre aktuelle Situation anzupassen. Hier liegt ein großes Potenzial dafür vor, dass sie bis zuletzt erfolgreich ihre innere körperliche Orientierung suchen. <br />
:''Ein individuell angepasstes Unterstützungsangebot in diesem Sinn gestalten zu können, stellt hohe Anforderungen an die Bewegungskompetenz und das Bewegungsverständnis der Bezugspersonen. Sie sind insbesondere gefordert, ihre Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auf ihre eigene Bewegung zu lenken, um diese fortlaufend differenziert an die Orientierungssuche der betreffenden Person anzupassen. "<br />
<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 36 f.<br />
<br />
==Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“==<br />
===Einleitung===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
===Relevante Zitate===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
:''„4. Grundprinzipien ''<br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
:''„4.1. Wahrnehmung''<br />
:''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.''<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br>''<br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. ''<br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen? Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4855Orientierung2023-12-18T08:09:22Z<p>Sabine Kaserer: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. [[Orientierung#Orientierung%20im%20.E2.80.9EKinaesthetics%20.E2.80.93%20Konzeptsystem.E2.80.9C|Die ersten Zitate ]] stammen aus aus dem Buch „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ und stellen einen aktuellen Referenztext dar. Es folgen Zitate aus den [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EAufbaumodul%20Demenz%203:%20Die%20eigene%20Orientierung%20suchen.2C%20Arbeitsunterlagen.E2.80.9C|Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen]], wo es um die konkrete Verknüpfung mit dem Thema Demenz geht. In den Zitaten aus dem [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EKin.C3.A4sthetik-Bulletin-Nr-16.E2.80.9C|„16. Kinästhetik-Bulletin von 1990]] werden Entwicklung, Bedeutung und Anwendung des Begriffs Orientierung dargestellt.<br />
== Aktuelle Verwendung des Fachbegriffs ==<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
=== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Konzept Funktionale Anatomie“ eingebettet. Bei diesem Konzept ist grundsätzlich Folgendes von Bedeutung: <br />
<br />
: '' „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.“''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 19.</ref><br />
<br />
Nach den Unterkapiteln „[[Knochen und Muskeln]]“, „[[Massen und Zwischenräume]]“ und „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“ wird dem Fachbegriff Orientierung das vierte und letzte Kapitel gewidmet.<br />
:''<big>“2.4. Orientierung</big><br />
:''Die Entstehung des Begriffes '''Orientierung''' hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.''<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: ‚Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?‘<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: ‚In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer [[Massen und Zwischenräume|Massen]] organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?‘''<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die ‚richtige<br>Richtung‘ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich ‚oben‘ und ‚unten‘ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: ‚Oben‘ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, ‚unten‘ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. ‚Unten‘<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, ‚oben‘ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
=== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ ===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„'''<big>Die eigene Orientierung suchen</big><br> […] Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. <br />
:''Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
:''<big>Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung</big><br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Es geht darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. ''<br />
<br />
:''Eine wichtige Annahme ist, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie grundlegend für das gesamte Orientierungsvermögen ist. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz individuell und konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen.“''<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-48-2. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus den Begleittexten des Kapitels „Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
: ''<big>Orientierung – ein vielschichtiger Prozess <br></big> Beispiel: <br>Wir wollen erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen. Dabei müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an den unterschiedlichsten Dingen orientieren. Unsere Bewegung orientieren wir z. B. ununterbrochen an der Beschaffenheit und der Richtung des Weges. Wir orientieren uns an Wegweisern und Karten, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, an der Entwicklung des Wetters usw. [im Original alles kursiv]''<br />
<br />
:'' Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten oder Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. <br />
:''Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen oder wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich bei der inneren körperlichen Orientierung, wenn wir unsere Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer eigenen Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den ‚Spielregeln‘ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). <br />
:''Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:AMD3-Orientierung-Wandern.jpeg|300px|rahmenlos|zentriert]]||<br />
:''Abb. 1: Eine Wanderung erfordert fortlaufend innere körperliche Anpassungsfähigkeit im Zusammenspiel mit der ständigen Orientierung in der Umgebung. Die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) läuft sozusagen auf Hochtouren und damit einhergehend die innere körperliche Orientierung. Sie gilt in der Kinästhetik als Grundlage des Orientierungsvermögens.''<br><br><br />
|}<br />
<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können […]. Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen. ''<br />
:<br />
:''<big><big>Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens</big></big> '''<br>'''<big>Die innere körperliche Orientierung</big> ''<br> Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung und unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir – als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper und in uns selbst zurechtfinden. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. <br />
:''Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische ‚Mechanik‘, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. <br />
:''Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. <br />
:''Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden.“ ''<br />
: ''<big>Herkömmliche Unterteilungen des menschlichen Orientierungsvermögens</big>''<br> Es ist gängig, das Orientierungsvermögen des Menschen zu unterteilen, um es differenzierter zu beschreiben oder auch in Pflegedokumentationen festzuhalten. Dabei sind die folgenden Begrifflichkeiten allgemein gebräuchlich:''<br />
:*''Räumliche oder örtliche Orientierung''<br />
:*''Zeitliche Orientierung ''<br />
:*''Orientierung zur eigenen Person und zum persönlichen Beziehungsnetz (auch als soziale Orientierung bezeichnet)''<br />
:*''Situative Orientierung: Das angemessene Ausrichten des eigenen Verhaltens an einer bestimmten Situation''<br><br />
<br />
:'' Diese Unterteilung macht deutlich, dass Orientierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, aber auch ein sehr komplexes Phänomen ist. Mit ein Grund ist, dass die Aspekte, die durch diese Unterteilung unterschiedenen werden, sich im alltäglichen Leben überschneiden und kombinieren. <br />
:'' Die herkömmlichen Unterteilungen des Orientierungsvermögens vernachlässigen oft die innere körperliche Orientierung als grundlegenden Aspekt. In der Kinästhetik wird von der Annahme ausgegangen, dass die Qualität der körperlichen Orientierung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich ein Mensch am Raum, an der Zeit usw. orientieren kann.“ ''<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 12-13.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel „Teil 3: Bewegungskompetenz und lebenslange Orientierungssuche". Die vorhergehenden Absätze beleuchten das Thema Bewegungsmuster, hier wird die Bedeutung der Bewegungsmuster für Orientierung beschrieben.<br />
<br />
: ''<big>„Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz:</big> <br>[…] Für das fortlaufende Suchen ihrer Orientierung ist es von hoher Bedeutung, in welcher Qualität sie [eine Person mit Demenz, Anm. d. Red.] ihre Bewegung wahrnehmen, gestalten und sich so in sich selbst orientieren kann. ''<br />
:'' Nach dieser Grundhaltung steht im Zentrum, dass jede Unterstützung einer Person mit Demenz als ein Lernangebot verstanden und gestaltet wird. Wenn Menschen mit Demenz in ihren alltäglichen Aktivitäten eine für sie im Moment passende Unterstützung erhalten, können sie lernen, ihre Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen und an ihre aktuelle Situation anzupassen. Hier liegt ein großes Potenzial dafür vor, dass sie bis zuletzt erfolgreich ihre innere körperliche Orientierung suchen. <br />
:''Ein individuell angepasstes Unterstützungsangebot in diesem Sinn gestalten zu können, stellt hohe Anforderungen an die Bewegungskompetenz und das Bewegungsverständnis der Bezugspersonen. Sie sind insbesondere gefordert, ihre Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auf ihre eigene Bewegung zu lenken, um diese fortlaufend differenziert an die Orientierungssuche der betreffenden Person anzupassen. "<br />
<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 36 f.<br />
<br />
==Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“==<br />
===Einleitung===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
===Relevante Zitate===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
:''„4. Grundprinzipien ''<br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
:''„4.1. Wahrnehmung''<br />
:''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.''<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br>''<br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. ''<br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen? Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Macy-Konferenzen&diff=4648Macy-Konferenzen2023-08-20T10:09:45Z<p>Sabine Kaserer: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Sabine Kaserer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Macy-Konferenzen. Die Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“. In diesem Buch ist den Macy-Konferenzen und der Entstehung der Kybernetik ein eigenes Kapitel gewidmet.<br />
<br />
== Macy-Konferenzen in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“. Das erste Zitat ist die Einleitung zum zweiten Kapitel „Macy-Konferenzen und die Entstehung der Kybernetik“. <br />
: '' <big><big> „2. Macy-Konferenzen und Entstehung der Kybernetik</big></big><br />
: ''Die Kybernetik verdankt ihre Entstehung zu einem großen Teil der amerikanischen ‚Josiah Macy Jr. Foundation‘, die von 1946 bis 1953 zehn interdisziplinäre Konferenzen führender WissenschaftlerInnen finanzierte. In diesem Kapitel wird dargestellt, wie in diesem Rahmen die Kybernetik entstand.[im Original alles kursiv]“''<br />
Das zweite Zitat ist das Unterkapitel „2.1. Die Macy-Konferenzen “.<br />
<br />
:'' <big> „2.1.1. Hintergrund und Bedeutung</big><br> Im Zweiten Weltkrieg beschäftigten militärische Fragestellungen eine ganze Generation von WissenschaftlerInnen. Und die Resultate der Forschungen zeigten eine dramatische Wirkung: Mit der Entwicklung der Atombombe wurde eine Schwelle überschritten, deren Bedeutung sich die Beteiligten erst im Nachhinein bewusst wurden. <br />
:''Schon während des Zweiten Weltkriegs war der politische und öffentliche Druck auf die Wissenschaftselite gewachsen. Man forderte in dieser schrecklichen Lage der Weltgemeinschaft, dass die Wissenschaft sich zentral mit der Frage zu beschäftigen habe, wie sich eine so katastrophale ‚Entgleisung‘ von Menschen in Zukunft verhindern lasse. <br />
:''Vor diesem Hintergrund stellte die amerikanische ‚Josiah Macy Jr. Foundation‘ ab 1946 die finanziellen Mittel für interdisziplinäre Konferenzen verschiedenster WissenschaftlerInnen zur Verfügung. Das Besondere an diesen Konferenzen war, dass WissenschaftlerInnen aus unterschiedlichsten Disziplinen – MathematikerInnen, PhysikerInnen, AnthropologInnen, ElektrotechnikerInnen, BiophysikerInnen, NeurophysiologInnen, SoziologInnen, PsychiaterInnen und PsychologInnen – zusammengeführt wurden (vgl. Infobox S. 15). ‚Thema war die Konstruktion sensorischer Prothesen, die Kommunikation zwischen Tieren, das Wachsen riesiger Panzer bei Süßwasserkrebsen, der Kummer und der Humor und das Gelächter, das Prinzip zirkulärer Kausalität, teleologische Mechanismen.‘(Foerster; Pörksen 2019<ref> ''' Foerster, Heinz von; Pörksen, Bernhard (2019): ''' Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. 12. Auflage. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg (Systemische Horizonte). ISBN 978-3-89670-646-1. </ref>, S. 145).''<br />
:'' Bei dieser interdisziplinären Zusammenarbeit wurden in einer einzigartigen Atmosphäre der Offenheit grundlegende Fragen diskutiert, die weit über die jeweiligen Fachgebiete hinausgingen (ebd., S. 146 f. ).''<br />
: ''Gregory Bateson (1904–1980) schrieb dazu: ‚Ich glaube, die Kybernetik ist der größte Bissen aus der Frucht vom Baum der Erkenntnis, den die Menschheit in den letzten zweitausend Jahren zu sich genommen hat“ (Bateson 2017 , S. 612). Das Denken der Kybernetik kreiste um immer noch aktuelle Begriffe wie Feedback oder Rückkoppelung, Information und Informationstechnologie, Input/Output, Blackbox, Regelkreise, Zirkularität, Selbstorganisation, lineare und nichtlineare Systeme, Komplexität u. a. m.‘''<br />
<br />
: '' <big> „2.1.2. TeilnehmerInnen</big><br> Auf die Initiative des Neurophysiologen Warren Mc Culloch (1899–1969) und des Anthropologen Gregory Bateson verpflichtete sich die Macy-Stiftung, über einen längeren Zeitraum regelmäßige, zweitägige Konferenzen zu finanzieren. Ein konstanter Kern von etwa 15 führenden WissenschaftlerInnen und ungefähr ebenso viele Gäste sollten jeweils daran teilnehmen. Die angestrebte Qualität der Zusammensetzung der Gruppe spiegelt sich in der Tatsache, dass prominente Forscher wie der Physiker und Nobelpreisträger Albert Einstein (1879–1955) oder der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell (1872–1970) angefragt worden waren. Allerdings mussten beide aus verschiedenen Gründen absagen. (Pias 2004 , S. 11) Die TeilnehmerInnen der Macy-Konferenzen hingegen wurden zu den BegründerInnen und VordenkerInnen der Kybernetik. '' <br><br />
: '' <big> 2.1.3. Neuorientierung der Forschung und Zusammenarbeit</big> <br> Die zehn Konferenzen der Jahre 1946 bis 1953 waren von Anfang an als ein interdisziplinäres Experiment gedacht. Nach den erschütternden Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs sollte dem gegenseitigen Verständnis und einer Neuorientierung des wissenschaftlichen Denkens und Forschens Raum gegeben werden. In der Regel fanden an einem Tag nur zwei Vorträge statt. Am Vormittag beleuchtete ein Teilnehmer ein Thema aus der Sicht seiner wissenschaftlichen Disziplin, am Nachmittag wurde das gleiche Thema aus der Sicht einer anderen Forschungsrichtung vorgestellt. Der Rest der Zeit stand für gemeinsame Diskussionen zur Verfügung." ''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 14f.<br />
<br />
Das nächste Zitat ist in das Kapitel 2.2. Die Kybernetik eingebettet. Dort findet man das folgende Zitat im Absatz „2.2.2 Das Ende der Macy-Konferenzen“. <br />
: '' „1953 kam es zu einem Wechsel an der Spitze der Macy-Foundation. Der neue Leiter setzte neue Schwerpunkte, und so lösten sich nach zehn Treffen die Macy-Konferenzen im Jahre 1953 wieder auf. Die Vorträge, Diskussionen und Erkenntnisse der letzten fünf Konferenzen überlebten in den Protokollen, die Heinz von Foerster, der eben erst nach Amerika emigriert war, als Sekretär der Konferenzen verfasst hatte. (Foerster; Bröcker 2014<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2014): ''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 3. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). ISBN 978-3-89670-557-0.</ref>, S. 166 f.) Und es passierte, was zu erwarten war: Jede der TeilnehmerInnen begab sich zurück in ihre Disziplin und arbeitete dort mit den Erkenntnissen der Konferenzen weiter. Der Austausch unter den BegründerInnen der Kybernetik reduzierte sich auf die private Initiative sowie auf einzelne, ‚lose’ Konferenzen und Tagungen." ''<br />
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Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 17.<br />
<br />
== Weiterführende Medien ==<br />
* [https://de.wikipedia.org/wiki/Macy-Konferenzen. Macy-Konferenzen auf Wikipedia](Zugriff: 20.08.2023)<br />
* [http://www.asc-cybernetics.org/foundations/history/MacySummary.htm Überblick über die Macy-Konferenzen auf der Homepage der American Society for Cybernetics] (Zugriff: 08.04.2022)<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[Heinz von Foerster]]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Macy-Konferenzen&diff=4645Macy-Konferenzen2023-08-20T09:55:52Z<p>Sabine Kaserer: </p>
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<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Sabine Kaserer}}<br />
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''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Macy-Konferenzen. Die Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“. In diesem Buch ist den Macy-Konferenzen und der Entstehung der Kybernetik ein eigenes Kapitel gewidmet.<br />
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== Macy-Konferenzen in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“. Das erste Zitat ist die Einleitung zum zweiten Kapitel „Macy-Konferenzen und die Entstehung der Kybernetik“. <br />
: '' <big><big> „2. Macy-Konferenzen und Entstehung der Kybernetik</big></big><br />
: ''Die Kybernetik verdankt ihre Entstehung zu einem großen Teil der amerikanischen ‚Josiah Macy Jr. Foundation‘, die von 1946 bis 1953 zehn interdisziplinäre Konferenzen führender WissenschaftlerInnen finanzierte. In diesem Kapitel wird dargestellt, wie in diesem Rahmen die Kybernetik entstand.[im Original alles kursiv]“''<br />
Das zweite Zitat ist das Unterkapitel „2.1. Die Macy-Konferenzen “.<br />
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:'' <big> „2.1.1. Hintergrund und Bedeutung</big><br> Im Zweiten Weltkrieg beschäftigten militärische Fragestellungen eine ganze Generation von WissenschaftlerInnen. Und die Resultate der Forschungen zeigten eine dramatische Wirkung: Mit der Entwicklung der Atombombe wurde eine Schwelle überschritten, deren Bedeutung sich die Beteiligten erst im Nachhinein bewusst wurden. <br />
:''Schon während des Zweiten Weltkriegs war der politische und öffentliche Druck auf die Wissenschaftselite gewachsen. Man forderte in dieser schrecklichen Lage der Weltgemeinschaft, dass die Wissenschaft sich zentral mit der Frage zu beschäftigen habe, wie sich eine so katastrophale ‚Entgleisung‘ von Menschen in Zukunft verhindern lasse. <br />
:''Vor diesem Hintergrund stellte die amerikanische ‚Josiah Macy Jr. Foundation‘ ab 1946 die finanziellen Mittel für interdisziplinäre Konferenzen verschiedenster WissenschaftlerInnen zur Verfügung. Das Besondere an diesen Konferenzen war, dass WissenschaftlerInnen aus unterschiedlichsten Disziplinen – MathematikerInnen, PhysikerInnen, AnthropologInnen, ElektrotechnikerInnen, BiophysikerInnen, NeurophysiologInnen, SoziologInnen, PsychiaterInnen und PsychologInnen – zusammengeführt wurden (vgl. Infobox S. 15). ‚Thema war die Konstruktion sensorischer Prothesen, die Kommunikation zwischen Tieren, das Wachsen riesiger Panzer bei Süßwasserkrebsen, der Kummer und der Humor und das Gelächter, das Prinzip zirkulärer Kausalität, teleologische Mechanismen.‘(Foerster; Pörksen 2019<ref> ''' Foerster, Heinz von; Pörksen, Bernhard (2019): ''' Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. 12. Auflage. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg (Systemische Horizonte). ISBN 978-3-89670-646-1. </ref>, S. 145).''<br />
:'' Bei dieser interdisziplinären Zusammenarbeit wurden in einer einzigartigen Atmosphäre der Offenheit grundlegende Fragen diskutiert, die weit über die jeweiligen Fachgebiete hinausgingen (ebd., S. 146 f. ).''<br />
: ''Gregory Bateson (1904–1980) schrieb dazu: ‚Ich glaube, die Kybernetik ist der größte Bissen aus der Frucht vom Baum der Erkenntnis, den die Menschheit in den letzten zweitausend Jahren zu sich genommen hat“ (Bateson 2017 , S. 612). Das Denken der Kybernetik kreiste um immer noch aktuelle Begriffe wie Feedback oder Rückkoppelung, Information und Informationstechnologie, Input/Output, Blackbox, Regelkreise, Zirkularität, Selbstorganisation, lineare und nichtlineare Systeme, Komplexität u. a. m.‘''<br />
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: '' <big> „2.1.2. TeilnehmerInnen</big><br> Auf die Initiative des Neurophysiologen Warren Mc Culloch (1899–1969) und des Anthropologen Gregory Bateson verpflichtete sich die Macy-Stiftung, über einen längeren Zeitraum regelmäßige, zweitägige Konferenzen zu finanzieren. Ein konstanter Kern von etwa 15 führenden WissenschaftlerInnen und ungefähr ebenso viele Gäste sollten jeweils daran teilnehmen. Die angestrebte Qualität der Zusammensetzung der Gruppe spiegelt sich in der Tatsache, dass prominente Forscher wie der Physiker und Nobelpreisträger Albert Einstein (1879–1955) oder der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell (1872–1970) angefragt worden waren. Allerdings mussten beide aus verschiedenen Gründen absagen. (Pias 2004 , S. 11) Die TeilnehmerInnen der Macy-Konferenzen hingegen wurden zu den BegründerInnen und VordenkerInnen der Kybernetik. '' <br><br />
: '' <big> 2.1.3. Neuorientierung der Forschung und Zusammenarbeit</big> <br> Die zehn Konferenzen der Jahre 1946 bis 1953 waren von Anfang an als ein interdisziplinäres Experiment gedacht. Nach den erschütternden Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs sollte dem gegenseitigen Verständnis und einer Neuorientierung des wissenschaftlichen Denkens und Forschens Raum gegeben werden. In der Regel fanden an einem Tag nur zwei Vorträge statt. Am Vormittag beleuchtete ein Teilnehmer ein Thema aus der Sicht seiner wissenschaftlichen Disziplin, am Nachmittag wurde das gleiche Thema aus der Sicht einer anderen Forschungsrichtung vorgestellt. Der Rest der Zeit stand für gemeinsame Diskussionen zur Verfügung." ''<br />
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Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 14f.<br />
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Das nächste Zitat ist in das Kapitel 2.2. Die Kybernetik eingebettet. Dort findet man das folgende Zitat im Absatz „2.2.2 Das Ende der Macy-Konferenzen“. <br />
: '' „1953 kam es zu einem Wechsel an der Spitze der Macy-Foundation. Der neue Leiter setzte neue Schwerpunkte, und so lösten sich nach zehn Treffen die Macy-Konferenzen im Jahre 1953 wieder auf. Die Vorträge, Diskussionen und Erkenntnisse der letzten fünf Konferenzen überlebten in den Protokollen, die Heinz von Foerster, der eben erst nach Amerika emigriert war, als Sekretär der Konferenzen verfasst hatte. (Foerster; Bröcker 2014<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2014): ''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 3. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). ISBN 978-3-89670-557-0.</ref>, S. 166 f.) Und es passierte, was zu erwarten war: Jede der TeilnehmerInnen begab sich zurück in ihre Disziplin und arbeitete dort mit den Erkenntnissen der Konferenzen weiter. Der Austausch unter den BegründerInnen der Kybernetik reduzierte sich auf die private Initiative sowie auf einzelne, ‚lose’ Konferenzen und Tagungen." ''<br />
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Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 17.<br />
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== Weiterführende Medien ==<br />
* [https://de.wikipedia.org/wiki/Macy-Konferenzen. Macy-Konferenzen auf Wikipedia](Zugriff: 20.08.2023)<br />
* [http://www.asc-cybernetics.org/foundations/history/MacySummary.htm Überblick über die Macy-Konferenzen auf der Homepage der American Society for Cybernetics] (Zugriff: 08.04.2022)<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[Heinz von Foerster]]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Grundlagen ]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Macy-Konferenzen&diff=4640Macy-Konferenzen2023-08-20T09:45:57Z<p>Sabine Kaserer: </p>
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<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Sabine Kaserer}}<br />
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''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Macy-Konferenzen. Die Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“. In diesem Buch ist den Macy-Konferenzen und der Entstehung der Kybernetik ein eigenes Kapitel gewidmet.<br />
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== Macy-Konferenzen in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“. Das erste Zitat ist die Einleitung zum zweiten Kapitel „Macy-Konferenzen und die Entstehung der Kybernetik“. <br />
: '' <big><big> „2. Macy-Konferenzen und Entstehung der Kybernetik</big></big><br />
: ''Die Kybernetik verdankt ihre Entstehung zu einem großen Teil der amerikanischen ‚Josiah Macy Jr. Foundation‘, die von 1946 bis 1953 zehn interdisziplinäre Konferenzen führender WissenschaftlerInnen finanzierte. In diesem Kapitel wird dargestellt, wie in diesem Rahmen die Kybernetik entstand.[im Original alles kursiv]“''<br />
Das zweite Zitat ist das Unterkapitel „2.1. Die Macy-Konferenzen “..<br />
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:'' <big> „2.1.1. Hintergrund und Bedeutung</big><br> Im Zweiten Weltkrieg beschäftigten militärische Fragestellungen eine ganze Generation von WissenschaftlerInnen. Und die Resultate der Forschungen zeigten eine dramatische Wirkung: Mit der Entwicklung der Atombombe wurde eine Schwelle überschritten, deren Bedeutung sich die Beteiligten erst im Nachhinein bewusst wurden. <br />
:''Schon während des Zweiten Weltkriegs war der politische und öffentliche Druck auf die Wissenschaftselite gewachsen. Man forderte in dieser schrecklichen Lage der Weltgemeinschaft, dass die Wissenschaft sich zentral mit der Frage zu beschäftigen habe, wie sich eine so katastrophale ‚Entgleisung‘ von Menschen in Zukunft verhindern lasse. <br />
:''Vor diesem Hintergrund stellte die amerikanische ‚Josiah Macy Jr. Foundation‘ ab 1946 die finanziellen Mittel für interdisziplinäre Konferenzen verschiedenster WissenschaftlerInnen zur Verfügung. Das Besondere an diesen Konferenzen war, dass WissenschaftlerInnen aus unterschiedlichsten Disziplinen – MathematikerInnen, PhysikerInnen, AnthropologInnen, ElektrotechnikerInnen, BiophysikerInnen, NeurophysiologInnen, SoziologInnen, PsychiaterInnen und PsychologInnen – zusammengeführt wurden (vgl. Infobox S. 15). ‚Thema war die Konstruktion sensorischer Prothesen, die Kommunikation zwischen Tieren, das Wachsen riesiger Panzer bei Süßwasserkrebsen, der Kummer und der Humor und das Gelächter, das Prinzip zirkulärer Kausalität, teleologische Mechanismen.‘(Foerster; Pörksen 2019<ref> ''' Foerster, Heinz von; Pörksen, Bernhard (2019): ''' Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. 12. Auflage. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg (Systemische Horizonte). ISBN 978-3-89670-646-1. </ref>, S. 145).''<br />
:'' Bei dieser interdisziplinären Zusammenarbeit wurden in einer einzigartigen Atmosphäre der Offenheit grundlegende Fragen diskutiert, die weit über die jeweiligen Fachgebiete hinausgingen (ebd., S. 146 f. ).''<br />
: ''Gregory Bateson (1904–1980) schrieb dazu: ‚Ich glaube, die Kybernetik ist der größte Bissen aus der Frucht vom Baum der Erkenntnis, den die Menschheit in den letzten zweitausend Jahren zu sich genommen hat“ (Bateson 2017 , S. 612). Das Denken der Kybernetik kreiste um immer noch aktuelle Begriffe wie Feedback oder Rückkoppelung, Information und Informationstechnologie, Input/Output, Blackbox, Regelkreise, Zirkularität, Selbstorganisation, lineare und nichtlineare Systeme, Komplexität u. a. m.‘''<br />
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: '' <big> „2.1.2. TeilnehmerInnen</big><br> Auf die Initiative des Neurophysiologen Warren Mc Culloch (1899–1969) und des Anthropologen Gregory Bateson verpflichtete sich die Macy-Stiftung, über einen längeren Zeitraum regelmäßige, zweitägige Konferenzen zu finanzieren. Ein konstanter Kern von etwa 15 führenden WissenschaftlerInnen und ungefähr ebenso viele Gäste sollten jeweils daran teilnehmen. Die angestrebte Qualität der Zusammensetzung der Gruppe spiegelt sich in der Tatsache, dass prominente Forscher wie der Physiker und Nobelpreisträger Albert Einstein (1879–1955) oder der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell (1872–1970) angefragt worden waren. Allerdings mussten beide aus verschiedenen Gründen absagen. (Pias 2004 , S. 11) Die TeilnehmerInnen der Macy-Konferenzen hingegen wurden zu den BegründerInnen und VordenkerInnen der Kybernetik. '' <br><br />
: '' <big> 2.1.3. Neuorientierung der Forschung und Zusammenarbeit</big> <br> Die zehn Konferenzen der Jahre 1946 bis 1953 waren von Anfang an als ein interdisziplinäres Experiment gedacht. Nach den erschütternden Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs sollte dem gegenseitigen Verständnis und einer Neuorientierung des wissenschaftlichen Denkens und Forschens Raum gegeben werden. In der Regel fanden an einem Tag nur zwei Vorträge statt. Am Vormittag beleuchtete ein Teilnehmer ein Thema aus der Sicht seiner wissenschaftlichen Disziplin, am Nachmittag wurde das gleiche Thema aus der Sicht einer anderen Forschungsrichtung vorgestellt. Der Rest der Zeit stand für gemeinsame Diskussionen zur Verfügung." ''<br />
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Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 14f.<br />
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Das nächste Zitat ist in das Kapitel 2.2. Die Kybernetik eingebettet. Dort findet man das folgende Zitat im Absatz „2.2.2 Das Ende der Macy-Konferenzen“. <br />
: '' „1953 kam es zu einem Wechsel an der Spitze der Macy-Foundation. Der neue Leiter setzte neue Schwerpunkte, und so lösten sich nach zehn Treffen die Macy-Konferenzen im Jahre 1953 wieder auf. Die Vorträge, Diskussionen und Erkenntnisse der letzten fünf Konferenzen überlebten in den Protokollen, die Heinz von Foerster, der eben erst nach Amerika emigriert war, als Sekretär der Konferenzen verfasst hatte. (Foerster; Bröcker 2014<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2014): ''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 3. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). ISBN 978-3-89670-557-0.</ref>, S. 166 f.) Und es passierte, was zu erwarten war: Jede der TeilnehmerInnen begab sich zurück in ihre Disziplin und arbeitete dort mit den Erkenntnissen der Konferenzen weiter. Der Austausch unter den BegründerInnen der Kybernetik reduzierte sich auf die private Initiative sowie auf einzelne, ‚lose’ Konferenzen und Tagungen." ''<br />
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Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 17.<br />
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== Weiterführende Medien ==<br />
* [https://de.wikipedia.org/wiki/Macy-Konferenzen. Macy-Konferenzen auf Wikipedia](Zugriff: 20.08.2023)<br />
* [http://www.asc-cybernetics.org/foundations/history/MacySummary.htm Überblick über die Macy-Konferenzen auf der Homepage der American Society for Cybernetics] (Zugriff: 08.04.2022)<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[Heinz von Foerster]]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Grundlagen ]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Macy-Konferenzen&diff=4627Macy-Konferenzen2023-08-20T08:10:21Z<p>Sabine Kaserer: /* Weiterführende Literatur und Medien */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Sabine Kaserer}}<br />
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''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Macy-Konferenzen. Die Zitate stammen aus dem Buch Kybernetik und Kinästhetik. In diesem Buch ist den Macy-Konferenzen und der Entstehung der Kybernetik ein eigenes Kapitel gewidmet.<br />
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== Macy-Konferenzen in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“. Das erste Zitat ist die Einleitung zum zweiten Kapitel „Macy-Konferenzen und die Entstehung der Kybernetik“. <br />
: „''Macy-Konferenzen und Entstehung der Kybernetik <br> Die Kybernetik verdankt ihre Entstehung zu einem großen Teil der amerikanischen „Josiah Macy Jr. Foundation“, die von 1946 bis 1953 zehn interdisziplinäre Konferenzen führender WissenschaftlerInnen finanzierte. In diesem Kapitel wird dargestellt, wie in diesem Rahmen die Kybernetik entstand."''<br />
Das zweite Zitat ist im Unterkapitel „2.1. Die Macy-Konferenzen“ zu finden.<br />
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''<br> „Hintergrund und Bedeutung<br> Im Zweiten Weltkrieg beschäftigten militärische Fragestellungen eine ganze Generation von WissenschaftlerInnen. Und die Resultate der Forschungen zeigten eine dramatische Wirkung: Mit der Entwicklung der Atombombe wurde eine Schwelle überschritten, deren Bedeutung sich die Beteiligten erst im Nachhinein bewusst wurden. Schon während des Zweiten Weltkriegs war der politische und öffentliche Druck auf die Wissenschaftselite gewachsen. Man forderte in dieser schrecklichen Lage der Weltgemeinschaft, dass die Wissenschaft sich zentral mit der Frage zu beschäftigen habe, wie sich eine so katastrophale „Entgleisung“ von Menschen in Zukunft verhindern lasse. Vor diesem Hintergrund stellte die amerikanische „Josiah Macy Jr. Foundation“ ab 1946 die finanziellen Mittel für interdisziplinäre Konferenzen verschiedenster WissenschaftlerInnen zur Verfügung. Das Besondere an diesen Konferenzen war, dass WissenschaftlerInnen aus unterschiedlichsten Disziplinen – MathematikerInnen, PhysikerInnen, AnthropologInnen, ElektrotechnikerInnen, BiophysikerInnen, NeurophysiologInnen, SoziologInnen, PsychiaterInnen und PsychologInnen – zusammengeführt wurden (vgl. Infobox S. 15). „Thema war die Konstruktion sensorischer Prothesen, die Kommunikation zwischen Tieren, das Wachsen riesiger Panzer bei Süßwasserkrebsen , der Kummer und der Humor und das Gelächter, das Prinzip zirkulärer Kausalität, teleologische Mechanismen.“ <ref>''' Foerster, Heinz von; Pörksen, Bernhard (2019): ''' Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. 12. Auflage. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg (Systemische Horizonte). ISBN 978-3-89670-646-1, S. 145.</ref>.''<br />
:''1. Auflage: 1998 Bei dieser interdisziplinären Zusammenarbeit wurden in einer einzigartigen Atmosphäre der Offenheit grundlegende Fragen diskutiert, die weit über die jeweiligen Fachgebiete hinausgingen (<ref>''' ebd, S. 146 f.'''</ref>). <br>''<br />
: ''Gregory Bateson (1904–1980) schrieb dazu: „Ich glaube, die Kybernetik ist der größte Bissen aus der Frucht vom Baum der Erkenntnis, den die Menschheit in den letzten zweitausend Jahren zu sich genommen hat“ (Bateson 2017, S. 612). Das Denken der Kybernetik kreiste um immer noch aktuelle Begriffe wie Feedback oder Rückkoppelung, Information und Informationstechnologie, Input/Output, Blackbox, Regelkreise, Zirkularität, Selbstorganisation, lineare und nichtlineare Systeme, Komplexität u. a. m."''<br />
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Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 14–15.<br />
<br />
Die nächsten zwei Zitate stammen aus den Unterkapiteln 2.1.2 und 2.1.3, es geht um die Teilnehmenden und um Neuorientierung der Forschung und Zusammenarbeit.<br />
: '' „TeilnehmerInnen<br> Auf die Initiative des Neurophysiologen Warren Mc Culloch (1899–1969) und des Anthropologen Gregory Bateson verpflichtete sich die Macy-Stiftung, über einen längeren Zeitraum regelmäßige, zweitägige Konferenzen zu finanzieren. Ein konstanter Kern von etwa 15 führenden WissenschaftlerInnen und ungefähr ebenso viele Gäste sollten jeweils daran teilnehmen. Die angestrebte Qualität der Zusammensetzung der Gruppe spiegelt sich in der Tatsache, dass prominente Forscher wie der Physiker und Nobelpreisträger Albert Einstein (1879–1955) oder der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell (1872–1970) angefragt worden waren. Allerdings mussten beide aus verschiedenen Gründen absagen. (Pias 2004, S. 11) Die TeilnehmerInnen der Macy-Konferenzen hingegen wurden zu den BegründerInnen und VordenkerInnen der Kybernetik. '' <br><br />
: '' Neuorientierung der Forschung und Zusammenarbeit <br> Die zehn Konferenzen der Jahre 1946 bis 1953 waren von Anfang an als ein interdisziplinäres Experiment gedacht. Nach den erschütternden Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs sollte dem gegenseitigen Verständnis und einer Neuorientierung des wissenschaftlichen Denkens und Forschens Raum gegeben werden. In der Regel fanden an einem Tag nur zwei Vorträge statt. Am Vormittag beleuchtete ein Teilnehmer ein Thema aus der Sicht seiner wissenschaftlichen Disziplin, am Nachmittag wurde das gleiche Thema aus der Sicht einer anderen Forschungsrichtung vorgestellt. Der Rest der Zeit stand für gemeinsame Diskussionen zur Verfügung." ''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 16.<br />
<br />
Das nächste Zitat ist in das Kapitel 2.2. Die Kybernetik eingebettet. Dort findet man das folgende Zitat im Absatz „2.2.2 Das Ende der Macy-Konferenzen“. <br />
: '' „1953 kam es zu einem Wechsel an der Spitze der Macy-Foundation. Der neue Leiter setzte neue Schwerpunkte, und so lösten sich nach zehn Treffen die Macy-Konferenzen im Jahre 1953 wieder auf. Die Vorträge, Diskussionen und Erkenntnisse der letzten fünf Konferenzen überlebten in den Protokollen, die Heinz von Foerster, der eben erst nach Amerika emigriert war, als Sekretär der Konferenzen verfasst hatte. (Foerster; Bröcker 2014, S. 166 f. <ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2014): ''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 3. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). ISBN 978-3-89670-557-0. S. 166 ff.</ref>) Und es passierte, was zu erwarten war: Jede der TeilnehmerInnen begab sich zurück in ihre Disziplin und arbeitete dort mit den Erkenntnissen der Konferenzen weiter. Der Austausch unter den BegründerInnen der Kybernetik reduzierte sich auf die private Initiative sowie auf einzelne, „lose“ Konferenzen und Tagungen." ''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 17.<br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* [https://de.wikipedia.org/wiki/Macy-Konferenzen. Macy-Konferenzen auf Wikipedia](Zugriff: 20.08.2023) <br />
* [http://www.asc-cybernetics.org/foundations/history/MacySummary.htm Überblick über die Macy-Konferenzen auf der Homepage der American Society for Cybernetics] (Zugriff: 08.04.2022)<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[Heinz von Foerster]]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Grundlagen]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Diskussion:Macy-Konferenzen&diff=4623Diskussion:Macy-Konferenzen2023-08-20T08:00:08Z<p>Sabine Kaserer: Die Seite wurde neu angelegt: „Willkommen auf der Diskussionsseite des Artikels „Macy-Konferenzen“! Diese Diskussionsseite dient dem fachlichen Austausch und der gemeinsamen Entwicklung.…“</p>
<hr />
<div>Willkommen auf der Diskussionsseite des Artikels „Macy-Konferenzen“!<br />
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<br />
Befolge dann die Fortsetzung der Anleitung im gelben Kasten.</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4604Orientierung2023-06-28T16:28:58Z<p>Sabine Kaserer: /* Kommentare, Auswertung und offene Fragen */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch [[Orientierung#Orientierung%20im%20.E2.80.9EKinaesthetics%20.E2.80.93%20Konzeptsystem.E2.80.9C|„Kinaesthetics – Konzeptsystem“]] und stellen einen aktuellen Referenztext dar. Es folgen Zitate aus den [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EAufbaumodul%20Demenz%203:%20Die%20eigene%20Orientierung%20suchen.2C%20Arbeitsunterlagen.E2.80.9C|Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“]], wo es um die konkrete Verknüpfung mit dem Thema Demenz geht. In den Zitaten aus dem [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EKin.C3.A4sthetik-Bulletin-Nr-16.E2.80.9C|„Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“]] werden Entwicklung, Bedeutung und Anwendung des Begriffs Orientierung dargestellt. [[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ==<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Funktionale Anatomie“ eingebettet. „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.<br />
<br />
<br />
:''Die Entstehung des Begriffes '''Orientierung''' hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.''<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: „Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?“<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: „In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer [[Massen und Zwischenräume|Massen]] organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?“''<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die „richtige<br>Richtung“ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich „oben“ und „unten“ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: „Oben“ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, „unten“ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von „oben“ und „unten“ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von „oben“ und „unten“ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. „Unten“<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, „oben“ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen „oben“ und „unten“ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“ ''<br />
<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„Die eigene Orientierung suchen''' <br> Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
:'''''Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung''' <br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Ausgegangen wird von der Annahme, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie für das gesamte Orientierungsvermögen grundlegend ist. Es geht dabei darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können dadurch lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen."''<br />
:Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel ''„''Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
:'' '''„Teil 1: Was ist Orientierung?''' <br> Begleittexte <br>''<br />
: '''''Orientierung – ein vielschichtiger Prozess''' <br>Das folgende Beispiel veranschaulicht die Vielschichtigkeit und breite Bedeutung des menschlichen Orientierungsvermögens. Beispiel: Wenn wir erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen wollen, müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an unterschiedlichsten Dingen orientieren, so z. B. an der Beschaffenheit des Weges, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, oder an der Entwicklung des Wetters usw. Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten und Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen, wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich, wenn wir unsere eigene Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser eigenes Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den „Spielregeln“ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können (…). Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen.''<br />
:'' '''Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens <br><br>Die innere körperliche Orientierung''' ''<br />
:''“Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung bzw. unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir– als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper bzw. in uns selbst zurechtfinden. Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische „Mechanik“, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden."''<br />
<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 12-13.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel ''„''Teil 3: Bewegungskompetenz und lebenslange Orientierungssuche". Die vorhergehenden Absätze beleuchten das Thema Bewegungsmuster, hier wird die Bedeutung der Bewegungsmuster für Orientierung beschrieben.<br />
:''“Bedeutung für Menschen mit Demenz: Die Bewegungskompetenz von Menschen mit Demenz entwickelt sich sehr unterschiedlich und individuell. Häufig ist beobachtbar, dass ihre Bewegungsmuster gleichförmiger werden. Ihre Bewegungen werden steifer, anstrengender oder unkontrollierter. Diese Entwicklung führt zunehmend zu weniger Möglichkeiten und Fähigkeiten wie auch zu einer weniger differenzierten Wahrnehmung des eigenen Körpers. Sich ständig wiederholende Abläufe mit wenig Variation tragen dazu bei, dass die Vielfalt der Bewegungsmöglichkeiten verloren geht. Damit einher geht die Abnahme der inneren körperlichen Orientierung. Grundsätzlich ist von entscheidender Bedeutung, dass Menschen mit Demenz bis zuletzt ihre Bewegungskompetenz in Richtung von mehr oder weniger Differenziertheit und Möglichkeiten weiterentwickeln. Diesbezüglich bleibt ihre Lernfähigkeit erhalten. Allerdings sind sie auf passende Unterstützungs- oder Lernangebote angewiesen, um ihre Bewegungskompetenz bis zum Lebensende in die Richtung von mehr Möglichkeiten und Differenziertheit in ihrer aktuellen Situation zu entwickeln.<br> Für das fortlaufende Suchen ihrer Orientierung ist es von hoher Bedeutung, in welcher Qualität sie (Menschen mit Demenz AdR) ihre Bewegung wahrnehmen, gestalten und sich so in sich selbst orientieren kann. Nach dieser Grundhaltung geht es darum, dass jede Unterstützung einer Person mit Demenz als ein Lernangebot verstanden und gestaltet wird. Wenn Menschen mit Demenz in ihren alltäglichen Aktivitäten eine für sie im Moment passende Unterstützung erhalten, können sie lernen, ihre Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen und an ihre aktuelle Situation anzupassen. Hier liegt ein großes Potenzial dafür vor, dass sie bis zuletzt erfolgreich ihre innere körperliche Orientierung suchen."<br />
<br />
Aus demselben Kapitel ist der folgende Text zitiert: <br />
<br />
: ''„'''Herkömmliche Unterteilungen des menschlichen Orientierungsvermögens'''''<br />
: ''Es ist gängig, das Orientierungsvermögen des Menschen zu unterteilen, um es differenzierter zu beschreiben oder auch in Pflegedokumentationen festzuhalten. Dabei sind die folgenden Begrifflichkeiten allgemein gebräuchlich:<br />
:*''Räumliche oder örtliche Orientierung''<br />
:*''Zeitliche Orientierung ''<br />
:*''Orientierung zur eigenen Person und zum persönlichen Beziehungsnetz (auch als soziale Orientierung bezeichnet)''<br />
:*''Situative Orientierung: Das angemessene Ausrichten des eigenen Verhaltens an einer bestimmten Situation''<br><br />
<br />
:<br />
:''Diese Unterteilung macht deutlich, dass Orientierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, aber auch ein sehr komplexes Phänomen ist. Mit ein Grund ist, dass die Aspekte, die durch diese Unterteilung unterschiedenen werden, sich im alltäglichen Leben überschneiden und kombinieren. Die herkömmlichen Unterteilungen des Orientierungsvermögens vernachlässigen oft die innere körperliche Orientierung als grundlegenden Aspekt. In der Kinästhetik wird von der Annahme ausgegangen, dass die Qualität der körperlichen Orientierung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich ein Mensch am Raum, an der Zeit usw. orientieren kann." ''<br />
<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 12-14.<br />
<br />
==Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“==<br />
===Einleitung===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
===Relevante Zitate===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
:''„4. Grundprinzipien ''<br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
:''„4.1. Wahrnehmung''<br />
:''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.''<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br>''<br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. ''<br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen? Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4547Orientierung2022-12-22T14:30:17Z<p>Sabine Kaserer: /* Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch „Kinaesthetics Konzeptsystem“ und stellen einen aktuellen Referenztext dar.<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ==<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Funktionale Anatomie“ eingebettet. „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.<br />
<br />
<br />
:''Die Entstehung des Begriffes Orientierung hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: „Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?“<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: „In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer Massen organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?“<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die „richtige<br>Richtung“ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich „oben“ und „unten“ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: „Oben“ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, „unten“ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von „oben“ und „unten“ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von „oben“ und „unten“ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. „Unten“<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, „oben“ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen „oben“ und „unten“ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“ ''<br />
<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„Die eigene Orientierung suchen''' <br> Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
:'''''Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung''' <br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Ausgegangen wird von der Annahme, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie für das gesamte Orientierungsvermögen grundlegend ist. Es geht dabei darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können dadurch lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen."''<br />
:Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel ''„''Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
:'' '''„Teil 1: Was ist Orientierung?''' <br> Begleittexte <br>''<br />
: '''''Orientierung – ein vielschichtiger Prozess''' <br>Das folgende Beispiel veranschaulicht die Vielschichtigkeit und breite Bedeutung des menschlichen Orientierungsvermögens. Beispiel: Wenn wir erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen wollen, müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an unterschiedlichsten Dingen orientieren, so z. B. an der Beschaffenheit des Weges, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, oder an der Entwicklung des Wetters usw. Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten und Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen, wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich, wenn wir unsere eigene Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser eigenes Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den „Spielregeln“ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können (…). Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen.''<br />
:'' '''Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens <br><br>Die innere körperliche Orientierung''' ''<br />
:''“Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung bzw. unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir– als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper bzw. in uns selbst zurechtfinden. Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische „Mechanik“, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden."''<br />
<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 12-13.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel ''„''Teil 3: Bewegungskompetenz und lebenslange Orientierungssuche". Die vorhergehenden Absätze beleuchten das Thema Bewegungsmuster, hier wird die Bedeutung der Bewegungsmuster für Orientierung beschrieben.<br />
:''“Bedeutung für Menschen mit Demenz: Die Bewegungskompetenz von Menschen mit Demenz entwickelt sich sehr unterschiedlich und individuell. Häufig ist beobachtbar, dass ihre Bewegungsmuster gleichförmiger werden. Ihre Bewegungen werden steifer, anstrengender oder unkontrollierter. Diese Entwicklung führt zunehmend zu weniger Möglichkeiten und Fähigkeiten wie auch zu einer weniger differenzierten Wahrnehmung des eigenen Körpers. Sich ständig wiederholende Abläufe mit wenig Variation tragen dazu bei, dass die Vielfalt der Bewegungsmöglichkeiten verloren geht. Damit einher geht die Abnahme der inneren körperlichen Orientierung. Grundsätzlich ist von entscheidender Bedeutung, dass Menschen mit Demenz bis zuletzt ihre Bewegungskompetenz in Richtung von mehr oder weniger Differenziertheit und Möglichkeiten weiterentwickeln. Diesbezüglich bleibt ihre Lernfähigkeit erhalten. Allerdings sind sie auf passende Unterstützungs- oder Lernangebote angewiesen, um ihre Bewegungskompetenz bis zum Lebensende in die Richtung von mehr Möglichkeiten und Differenziertheit in ihrer aktuellen Situation zu entwickeln.<br> Für das fortlaufende Suchen ihrer Orientierung ist es von hoher Bedeutung, in welcher Qualität sie (Menschen mit Demenz AdR) ihre Bewegung wahrnehmen, gestalten und sich so in sich selbst orientieren kann. Nach dieser Grundhaltung geht es darum, dass jede Unterstützung einer Person mit Demenz als ein Lernangebot verstanden und gestaltet wird. Wenn Menschen mit Demenz in ihren alltäglichen Aktivitäten eine für sie im Moment passende Unterstützung erhalten, können sie lernen, ihre Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen und an ihre aktuelle Situation anzupassen. Hier liegt ein großes Potenzial dafür vor, dass sie bis zuletzt erfolgreich ihre innere körperliche Orientierung suchen."<br />
<br />
Aus demselben Kapitel ist der folgende Text zitiert: <br />
<br />
: ''„'''Herkömmliche Unterteilungen des menschlichen Orientierungsvermögens'''''<br />
: ''Es ist gängig, das Orientierungsvermögen des Menschen zu unterteilen, um es differenzierter zu beschreiben oder auch in Pflegedokumentationen festzuhalten. Dabei sind die folgenden Begrifflichkeiten allgemein gebräuchlich:<br />
:*''Räumliche oder örtliche Orientierung''<br />
:*''Zeitliche Orientierung ''<br />
:*''Orientierung zur eigenen Person und zum persönlichen Beziehungsnetz (auch als soziale Orientierung bezeichnet)''<br />
:*''Situative Orientierung: Das angemessene Ausrichten des eigenen Verhaltens an einer bestimmten Situation''<br><br />
<br />
:<br />
:''Diese Unterteilung macht deutlich, dass Orientierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, aber auch ein sehr komplexes Phänomen ist. Mit ein Grund ist, dass die Aspekte, die durch diese Unterteilung unterschiedenen werden, sich im alltäglichen Leben überschneiden und kombinieren. Die herkömmlichen Unterteilungen des Orientierungsvermögens vernachlässigen oft die innere körperliche Orientierung als grundlegenden Aspekt. In der Kinästhetik wird von der Annahme ausgegangen, dass die Qualität der körperlichen Orientierung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich ein Mensch am Raum, an der Zeit usw. orientieren kann." ''<br />
<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 12-14.<br />
<br />
==Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“==<br />
===Einleitung===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
===Relevante Zitate===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
:''„4. Grundprinzipien ''<br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
:''„4.1. Wahrnehmung''<br />
:''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.''<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br>''<br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. ''<br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen?Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4546Orientierung2022-12-21T10:11:57Z<p>Sabine Kaserer: /* Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch „Kinaesthetics Konzeptsystem“ und stellen einen aktuellen Referenztext dar.<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ==<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Funktionale Anatomie“ eingebettet. „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.<br />
<br />
<br />
:''Die Entstehung des Begriffes Orientierung hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: „Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?“<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: „In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer Massen organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?“<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die „richtige<br>Richtung“ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich „oben“ und „unten“ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: „Oben“ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, „unten“ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von „oben“ und „unten“ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von „oben“ und „unten“ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. „Unten“<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, „oben“ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen „oben“ und „unten“ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“ ''<br />
<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„Die eigene Orientierung suchen''' <br> Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
:'''''Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung''' <br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Ausgegangen wird von der Annahme, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie für das gesamte Orientierungsvermögen grundlegend ist. Es geht dabei darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können dadurch lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen."''<br />
:Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel ''„''Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
:'' '''„Teil 1: Was ist Orientierung?''' <br> Begleittexte <br>''<br />
: '''''Orientierung – ein vielschichtiger Prozess''' <br>Das folgende Beispiel veranschaulicht die Vielschichtigkeit und breite Bedeutung des menschlichen Orientierungsvermögens. Beispiel: Wenn wir erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen wollen, müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an unterschiedlichsten Dingen orientieren, so z. B. an der Beschaffenheit des Weges, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, oder an der Entwicklung des Wetters usw. Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten und Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen, wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich, wenn wir unsere eigene Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser eigenes Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den „Spielregeln“ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können (…). Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen.''<br />
:'' '''Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens <br><br>Die innere körperliche Orientierung''' ''<br />
:''“Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung bzw. unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir– als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper bzw. in uns selbst zurechtfinden. Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische „Mechanik“, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden."''<br />
<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 12-13.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel ''„''Teil 3: Bewegungskompetenz und lebenslange Orientierungssuche". Die vorhergehenden Absätze beleuchten das Thema Bewegungsmuster, hier wird die Bedeutung der Bewegungsmuster für Orientierung beschrieben.<br />
:''“Bedeutung für Menschen mit Demenz: Die Bewegungskompetenz von Menschen mit Demenz entwickelt sich sehr unterschiedlich und individuell. Häufig ist beobachtbar, dass ihre Bewegungsmuster gleichförmiger werden. Ihre Bewegungen werden steifer, anstrengender oder unkontrollierter. Diese Entwicklung führt zunehmend zu weniger Möglichkeiten und Fähigkeiten wie auch zu einer weniger differenzierten Wahrnehmung des eigenen Körpers. Sich ständig wiederholende Abläufe mit wenig Variation tragen dazu bei, dass die Vielfalt der Bewegungsmöglichkeiten verloren geht. Damit einher geht die Abnahme der inneren körperlichen Orientierung. Grundsätzlich ist von entscheidender Bedeutung, dass Menschen mit Demenz bis zuletzt ihre Bewegungskompetenz in Richtung von mehr oder weniger Differenziertheit und Möglichkeiten weiterentwickeln. Diesbezüglich bleibt ihre Lernfähigkeit erhalten. Allerdings sind sie auf passende Unterstützungs- oder Lernangebote angewiesen, um ihre Bewegungskompetenz bis zum Lebensende in die Richtung von mehr Möglichkeiten und Differenziertheit in ihrer aktuellen Situation zu entwickeln.<br> Für das fortlaufende Suchen ihrer Orientierung ist es von hoher Bedeutung, in welcher Qualität sie (Menschen mit Demenz AdR) ihre Bewegung wahrnehmen, gestalten und sich so in sich selbst orientieren kann. Nach dieser Grundhaltung geht es darum, dass jede Unterstützung einer Person mit Demenz als ein Lernangebot verstanden und gestaltet wird. Wenn Menschen mit Demenz in ihren alltäglichen Aktivitäten eine für sie im Moment passende Unterstützung erhalten, können sie lernen, ihre Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen und an ihre aktuelle Situation anzupassen. Hier liegt ein großes Potenzial dafür vor, dass sie bis zuletzt erfolgreich ihre innere körperliche Orientierung suchen."<br />
<br />
Aus demselben Kapitel ist der folgende Text zitiert: <br />
<br />
: ''„'''Herkömmliche Unterteilungen des menschlichen Orientierungsvermögens'''''<br />
: ''Es ist gängig, das Orientierungsvermögen des Menschen zu unterteilen, um es differenzierter zu beschreiben oder auch in Pflegedokumentationen festzuhalten. Dabei sind die folgenden Begrifflichkeiten allgemein gebräuchlich:<br />
*''Räumliche oder örtliche Orientierung''<br />
*''Zeitliche Orientierung ''<br />
*''Orientierung zur eigenen Person und zum persönlichen Beziehungsnetz (auch als soziale Orientierung bezeichnet)''<br />
*''Situative Orientierung: Das angemessene Ausrichten des eigenen Verhaltens an einer bestimmten Situation''<br><br />
<br />
:<br />
:''Diese Unterteilung macht deutlich, dass Orientierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, aber auch ein sehr komplexes Phänomen ist. Mit ein Grund ist, dass die Aspekte, die durch diese Unterteilung unterschiedenen werden, sich im alltäglichen Leben überschneiden und kombinieren. Die herkömmlichen Unterteilungen des Orientierungsvermögens vernachlässigen oft die innere körperliche Orientierung als grundlegenden Aspekt. In der Kinästhetik wird von der Annahme ausgegangen, dass die Qualität der körperlichen Orientierung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich ein Mensch am Raum, an der Zeit usw. orientieren kann." ''<br />
<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 12-14.<br />
<br />
==Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“==<br />
===Einleitung===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
===Relevante Zitate===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
:''„4. Grundprinzipien ''<br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
:''„4.1. Wahrnehmung''<br />
:''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.''<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br>''<br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. ''<br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen?Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4545Orientierung2022-12-21T10:10:42Z<p>Sabine Kaserer: /* Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch „Kinaesthetics Konzeptsystem“ und stellen einen aktuellen Referenztext dar.<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ==<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Funktionale Anatomie“ eingebettet. „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.<br />
<br />
<br />
:''Die Entstehung des Begriffes Orientierung hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: „Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?“<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: „In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer Massen organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?“<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die „richtige<br>Richtung“ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich „oben“ und „unten“ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: „Oben“ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, „unten“ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von „oben“ und „unten“ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von „oben“ und „unten“ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. „Unten“<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, „oben“ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen „oben“ und „unten“ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“ ''<br />
<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„Die eigene Orientierung suchen''' <br> Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
:'''''Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung''' <br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Ausgegangen wird von der Annahme, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie für das gesamte Orientierungsvermögen grundlegend ist. Es geht dabei darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können dadurch lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen."''<br />
:Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel ''„''Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
:'' '''„Teil 1: Was ist Orientierung?''' <br> Begleittexte <br>''<br />
: '''''Orientierung – ein vielschichtiger Prozess''' <br>Das folgende Beispiel veranschaulicht die Vielschichtigkeit und breite Bedeutung des menschlichen Orientierungsvermögens. Beispiel: Wenn wir erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen wollen, müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an unterschiedlichsten Dingen orientieren, so z. B. an der Beschaffenheit des Weges, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, oder an der Entwicklung des Wetters usw. Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten und Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen, wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich, wenn wir unsere eigene Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser eigenes Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den „Spielregeln“ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können (…). Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen.''<br />
:'' '''Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens <br><br>Die innere körperliche Orientierung''' ''<br />
:''“Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung bzw. unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir– als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper bzw. in uns selbst zurechtfinden. Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische „Mechanik“, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden."''<br />
<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 12-13.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel ''„''Teil 3: Bewegungskompetenz und lebenslange Orientierungssuche". Die vorhergehenden Absätze beleuchten das Thema Bewegungsmuster, hier wird die Bedeutung der Bewegungsmuster für Orientierung beschrieben.<br />
:''“Bedeutung für Menschen mit Demenz: Die Bewegungskompetenz von Menschen mit Demenz entwickelt sich sehr unterschiedlich und individuell. Häufig ist beobachtbar, dass ihre Bewegungsmuster gleichförmiger werden. Ihre Bewegungen werden steifer, anstrengender oder unkontrollierter. Diese Entwicklung führt zunehmend zu weniger Möglichkeiten und Fähigkeiten wie auch zu einer weniger differenzierten Wahrnehmung des eigenen Körpers. Sich ständig wiederholende Abläufe mit wenig Variation tragen dazu bei, dass die Vielfalt der Bewegungsmöglichkeiten verloren geht. Damit einher geht die Abnahme der inneren körperlichen Orientierung. Grundsätzlich ist von entscheidender Bedeutung, dass Menschen mit Demenz bis zuletzt ihre Bewegungskompetenz in Richtung von mehr oder weniger Differenziertheit und Möglichkeiten weiterentwickeln. Diesbezüglich bleibt ihre Lernfähigkeit erhalten. Allerdings sind sie auf passende Unterstützungs- oder Lernangebote angewiesen, um ihre Bewegungskompetenz bis zum Lebensende in die Richtung von mehr Möglichkeiten und Differenziertheit in ihrer aktuellen Situation zu entwickeln.<br> Für das fortlaufende Suchen ihrer Orientierung ist es von hoher Bedeutung, in welcher Qualität sie (Menschen mit Demenz AdR) ihre Bewegung wahrnehmen, gestalten und sich so in sich selbst orientieren kann. Nach dieser Grundhaltung geht es darum, dass jede Unterstützung einer Person mit Demenz als ein Lernangebot verstanden und gestaltet wird. Wenn Menschen mit Demenz in ihren alltäglichen Aktivitäten eine für sie im Moment passende Unterstützung erhalten, können sie lernen, ihre Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen und an ihre aktuelle Situation anzupassen. Hier liegt ein großes Potenzial dafür vor, dass sie bis zuletzt erfolgreich ihre innere körperliche Orientierung suchen."<br />
<br />
Aus demselben Kapitel ist der folgende Text zitiert: <br />
<br />
: ''„Herkömmliche Unterteilungen des menschlichen Orientierungsvermögens''<br />
: ''Es ist gängig, das Orientierungsvermögen des Menschen zu unterteilen, um es differenzierter zu beschreiben oder auch in Pflegedokumentationen festzuhalten. Dabei sind die folgenden Begrifflichkeiten allgemein gebräuchlich:<br />
*''Räumliche oder örtliche Orientierung''<br />
*''Zeitliche Orientierung ''<br />
*''Orientierung zur eigenen Person und zum persönlichen Beziehungsnetz (auch als soziale Orientierung bezeichnet)''<br />
*''Situative Orientierung: Das angemessene Ausrichten des eigenen Verhaltens an einer bestimmten Situation''<br><br />
<br />
:<br />
:''Diese Unterteilung macht deutlich, dass Orientierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, aber auch ein sehr komplexes Phänomen ist. Mit ein Grund ist, dass die Aspekte, die durch diese Unterteilung unterschiedenen werden, sich im alltäglichen Leben überschneiden und kombinieren. Die herkömmlichen Unterteilungen des Orientierungsvermögens vernachlässigen oft die innere körperliche Orientierung als grundlegenden Aspekt. In der Kinästhetik wird von der Annahme ausgegangen, dass die Qualität der körperlichen Orientierung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich ein Mensch am Raum, an der Zeit usw. orientieren kann." ''<br />
<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 12-14.<br />
<br />
==Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“==<br />
===Einleitung===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
===Relevante Zitate===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
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:''„4. Grundprinzipien ''<br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
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Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
:''„4.1. Wahrnehmung''<br />
:''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.''<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br>''<br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
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:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. ''<br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
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[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen?Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4544Orientierung2022-12-21T10:09:07Z<p>Sabine Kaserer: /* Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch „Kinaesthetics Konzeptsystem“ und stellen einen aktuellen Referenztext dar.<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ==<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Funktionale Anatomie“ eingebettet. „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.<br />
<br />
<br />
:''Die Entstehung des Begriffes Orientierung hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: „Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?“<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: „In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer Massen organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?“<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die „richtige<br>Richtung“ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich „oben“ und „unten“ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: „Oben“ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, „unten“ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von „oben“ und „unten“ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von „oben“ und „unten“ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. „Unten“<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, „oben“ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen „oben“ und „unten“ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“ ''<br />
<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„Die eigene Orientierung suchen''' <br> Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
:'''''Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung''' <br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Ausgegangen wird von der Annahme, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie für das gesamte Orientierungsvermögen grundlegend ist. Es geht dabei darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können dadurch lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen."''<br />
:Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel ''„''Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
:'' '''„Teil 1: Was ist Orientierung?''' <br> Begleittexte <br>''<br />
: '''''Orientierung – ein vielschichtiger Prozess''' <br>Das folgende Beispiel veranschaulicht die Vielschichtigkeit und breite Bedeutung des menschlichen Orientierungsvermögens. Beispiel: Wenn wir erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen wollen, müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an unterschiedlichsten Dingen orientieren, so z. B. an der Beschaffenheit des Weges, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, oder an der Entwicklung des Wetters usw. Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten und Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen, wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich, wenn wir unsere eigene Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser eigenes Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den „Spielregeln“ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können (…). Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen.''<br />
:'' '''Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens <br><br>Die innere körperliche Orientierung''' ''<br />
:''“Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung bzw. unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir– als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper bzw. in uns selbst zurechtfinden. Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische „Mechanik“, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden."''<br />
<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 12-13.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel ''„''Teil 3: Bewegungskompetenz und lebenslange Orientierungssuche". Die vorhergehenden Absätze beleuchten das Thema Bewegungsmuster, hier wird die Bedeutung der Bewegungsmuster für Orientierung beschrieben.<br />
:''“Bedeutung für Menschen mit Demenz: Die Bewegungskompetenz von Menschen mit Demenz entwickelt sich sehr unterschiedlich und individuell. Häufig ist beobachtbar, dass ihre Bewegungsmuster gleichförmiger werden. Ihre Bewegungen werden steifer, anstrengender oder unkontrollierter. Diese Entwicklung führt zunehmend zu weniger Möglichkeiten und Fähigkeiten wie auch zu einer weniger differenzierten Wahrnehmung des eigenen Körpers. Sich ständig wiederholende Abläufe mit wenig Variation tragen dazu bei, dass die Vielfalt der Bewegungsmöglichkeiten verloren geht. Damit einher geht die Abnahme der inneren körperlichen Orientierung. Grundsätzlich ist von entscheidender Bedeutung, dass Menschen mit Demenz bis zuletzt ihre Bewegungskompetenz in Richtung von mehr oder weniger Differenziertheit und Möglichkeiten weiterentwickeln. Diesbezüglich bleibt ihre Lernfähigkeit erhalten. Allerdings sind sie auf passende Unterstützungs- oder Lernangebote angewiesen, um ihre Bewegungskompetenz bis zum Lebensende in die Richtung von mehr Möglichkeiten und Differenziertheit in ihrer aktuellen Situation zu entwickeln.<br> Für das fortlaufende Suchen ihrer Orientierung ist es von hoher Bedeutung, in welcher Qualität sie (Menschen mit Demenz AdR) ihre Bewegung wahrnehmen, gestalten und sich so in sich selbst orientieren kann. Nach dieser Grundhaltung geht es darum, dass jede Unterstützung einer Person mit Demenz als ein Lernangebot verstanden und gestaltet wird. Wenn Menschen mit Demenz in ihren alltäglichen Aktivitäten eine für sie im Moment passende Unterstützung erhalten, können sie lernen, ihre Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen und an ihre aktuelle Situation anzupassen. Hier liegt ein großes Potenzial dafür vor, dass sie bis zuletzt erfolgreich ihre innere körperliche Orientierung suchen."<br />
<br />
Aus demselben Kapitel ist der folgende Text zitiert: <br />
<br />
: ''„Herkömmliche Unterteilungen des menschlichen Orientierungsvermögens''<br />
: ''Es ist gängig, das Orientierungsvermögen des Menschen zu unterteilen, um es differenzierter zu beschreiben oder auch in Pflegedokumentationen festzuhalten. Dabei sind die folgenden Begrifflichkeiten allgemein gebräuchlich:<br />
*''Räumliche oder örtliche Orientierung''<br />
*''Zeitliche Orientierung ''<br />
*''Orientierung zur eigenen Person und zum persönlichen Beziehungsnetz (auch als soziale Orientierung bezeichnet)''<br />
*''Situative Orientierung: Das angemessene Ausrichten des eigenen Verhaltens an einer bestimmten Situation''<br><br />
<br />
:''Diese Unterteilung macht deutlich, dass Orientierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, aber auch ein sehr komplexes Phänomen ist. Mit ein Grund ist, dass die Aspekte, die durch diese Unterteilung unterschiedenen werden, sich im alltäglichen Leben überschneiden und kombinieren. Die herkömmlichen Unterteilungen des Orientierungsvermögens vernachlässigen oft die innere körperliche Orientierung als grundlegenden Aspekt. In der Kinästhetik wird von der Annahme ausgegangen, dass die Qualität der körperlichen Orientierung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich ein Mensch am Raum, an der Zeit usw. orientieren kann." ''<br />
<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 12-14.<br />
<br />
==Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“==<br />
===Einleitung===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
===Relevante Zitate===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
:''„4. Grundprinzipien ''<br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
:''„4.1. Wahrnehmung''<br />
:''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.''<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br>''<br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. ''<br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen?Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4543Orientierung2022-12-21T10:00:59Z<p>Sabine Kaserer: /* Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch „Kinaesthetics Konzeptsystem“ und stellen einen aktuellen Referenztext dar.<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ==<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Funktionale Anatomie“ eingebettet. „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.<br />
<br />
<br />
:''Die Entstehung des Begriffes Orientierung hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: „Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?“<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: „In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer Massen organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?“<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die „richtige<br>Richtung“ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich „oben“ und „unten“ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: „Oben“ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, „unten“ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von „oben“ und „unten“ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von „oben“ und „unten“ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. „Unten“<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, „oben“ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen „oben“ und „unten“ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“ ''<br />
<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„Die eigene Orientierung suchen''' <br> Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
:'''''Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung''' <br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Ausgegangen wird von der Annahme, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie für das gesamte Orientierungsvermögen grundlegend ist. Es geht dabei darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können dadurch lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen."''<br />
:Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel ''„''Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
:'' '''„Teil 1: Was ist Orientierung?''' <br> Begleittexte <br>''<br />
: '''''Orientierung – ein vielschichtiger Prozess''' <br>Das folgende Beispiel veranschaulicht die Vielschichtigkeit und breite Bedeutung des menschlichen Orientierungsvermögens. Beispiel: Wenn wir erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen wollen, müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an unterschiedlichsten Dingen orientieren, so z. B. an der Beschaffenheit des Weges, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, oder an der Entwicklung des Wetters usw. Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten und Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen, wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich, wenn wir unsere eigene Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser eigenes Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den „Spielregeln“ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können (…). Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen.''<br />
:'' '''Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens <br><br>Die innere körperliche Orientierung''' ''<br />
:''“Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung bzw. unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir– als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper bzw. in uns selbst zurechtfinden. Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische „Mechanik“, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden."''<br />
<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 12-13.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel ''„''Teil 3: Bewegungskompetenz und lebenslange Orientierungssuche". Die vorhergehenden Absätze beleuchten das Thema Bewegungsmuster, hier wird die Bedeutung der Bewegungsmuster für Orientierung beschrieben.<br />
:''“Bedeutung für Menschen mit Demenz: Die Bewegungskompetenz von Menschen mit Demenz entwickelt sich sehr unterschiedlich und individuell. Häufig ist beobachtbar, dass ihre Bewegungsmuster gleichförmiger werden. Ihre Bewegungen werden steifer, anstrengender oder unkontrollierter. Diese Entwicklung führt zunehmend zu weniger Möglichkeiten und Fähigkeiten wie auch zu einer weniger differenzierten Wahrnehmung des eigenen Körpers. Sich ständig wiederholende Abläufe mit wenig Variation tragen dazu bei, dass die Vielfalt der Bewegungsmöglichkeiten verloren geht. Damit einher geht die Abnahme der inneren körperlichen Orientierung. Grundsätzlich ist von entscheidender Bedeutung, dass Menschen mit Demenz bis zuletzt ihre Bewegungskompetenz in Richtung von mehr oder weniger Differenziertheit und Möglichkeiten weiterentwickeln. Diesbezüglich bleibt ihre Lernfähigkeit erhalten. Allerdings sind sie auf passende Unterstützungs- oder Lernangebote angewiesen, um ihre Bewegungskompetenz bis zum Lebensende in die Richtung von mehr Möglichkeiten und Differenziertheit in ihrer aktuellen Situation zu entwickeln.<br> Für das fortlaufende Suchen ihrer Orientierung ist es von hoher Bedeutung, in welcher Qualität sie (Menschen mit Demenz AdR) ihre Bewegung wahrnehmen, gestalten und sich so in sich selbst orientieren kann. Nach dieser Grundhaltung geht es darum, dass jede Unterstützung einer Person mit Demenz als ein Lernangebot verstanden und gestaltet wird. Wenn Menschen mit Demenz in ihren alltäglichen Aktivitäten eine für sie im Moment passende Unterstützung erhalten, können sie lernen, ihre Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen und an ihre aktuelle Situation anzupassen. Hier liegt ein großes Potenzial dafür vor, dass sie bis zuletzt erfolgreich ihre innere körperliche Orientierung suchen."<br />
<br />
Aus demselben Kapitel ist der folgende Text zitiert: <br />
<br />
: ''„Herkömmliche Unterteilungen des menschlichen Orientierungsvermögens''<br />
: ''Es ist gängig, das Orientierungsvermögen des Menschen zu unterteilen, um es differenzierter zu beschreiben oder auch in Pflegedokumentationen festzuhalten. Dabei sind die folgenden Begrifflichkeiten allgemein gebräuchlich:''<br />
*''Räumliche oder örtliche Orientierung''<br />
*''Zeitliche Orientierung ''<br />
*''Orientierung zur eigenen Person und zum persönlichen Beziehungsnetz (auch als soziale Orientierung bezeichnet)''<br />
*''Situative Orientierung: Das angemessene Ausrichten des eigenen Verhaltens an einer bestimmten Situation''<br />
<br />
:''Diese Unterteilung macht deutlich, dass Orientierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, aber auch ein sehr komplexes Phänomen ist. Mit ein Grund ist, dass die Aspekte, die durch diese Unterteilung unterschiedenen werden, sich im alltäglichen Leben überschneiden und kombinieren. Die herkömmlichen Unterteilungen des Orientierungsvermögens vernachlässigen oft die innere körperliche Orientierung als grundlegenden Aspekt. In der Kinästhetik wird von der Annahme ausgegangen, dass die Qualität der körperlichen Orientierung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich ein Mensch am Raum, an der Zeit usw. orientieren kann." ''<br />
<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 12-14.<br />
<br />
==Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“==<br />
===Einleitung===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
===Relevante Zitate===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
:''„4. Grundprinzipien ''<br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
:''„4.1. Wahrnehmung''<br />
:''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.''<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br>''<br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. ''<br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen?Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4542Orientierung2022-12-21T09:51:41Z<p>Sabine Kaserer: /* Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch „Kinaesthetics Konzeptsystem“ und stellen einen aktuellen Referenztext dar.<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ==<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Funktionale Anatomie“ eingebettet. „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.<br />
<br />
<br />
:''Die Entstehung des Begriffes Orientierung hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: „Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?“<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: „In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer Massen organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?“<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die „richtige<br>Richtung“ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich „oben“ und „unten“ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: „Oben“ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, „unten“ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von „oben“ und „unten“ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von „oben“ und „unten“ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. „Unten“<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, „oben“ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen „oben“ und „unten“ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“ ''<br />
<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„Die eigene Orientierung suchen''' <br> Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
: '''''Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung''' <br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Ausgegangen wird von der Annahme, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie für das gesamte Orientierungsvermögen grundlegend ist. Es geht dabei darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können dadurch lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen."''<br />
: Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel ''„''Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
:'' '''„Teil 1: Was ist Orientierung?''' <br> Begleittexte <br>''<br />
: '''''Orientierung – ein vielschichtiger Prozess''' <br>Das folgende Beispiel veranschaulicht die Vielschichtigkeit und breite Bedeutung des menschlichen Orientierungsvermögens. Beispiel: Wenn wir erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen wollen, müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an unterschiedlichsten Dingen orientieren, so z. B. an der Beschaffenheit des Weges, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, oder an der Entwicklung des Wetters usw. Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten und Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen, wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich, wenn wir unsere eigene Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser eigenes Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den „Spielregeln“ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können (…). Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen.''<br />
:'' '''Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens <br><br>Die innere körperliche Orientierung''' ''<br />
:''“Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung bzw. unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir– als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper bzw. in uns selbst zurechtfinden. Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische „Mechanik“, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden."''<br />
<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 12-13.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel ''„''Teil 3: Bewegungskompetenz und lebenslange Orientierungssuche". Die vorhergehenden Absätze beleuchten das Thema Bewegungsmuster, hier wird die Bedeutung der Bewegungsmuster für Orientierung beschrieben.<br />
:''“Bedeutung für Menschen mit Demenz: Die Bewegungskompetenz von Menschen mit Demenz entwickelt sich sehr unterschiedlich und individuell. Häufig ist beobachtbar, dass ihre Bewegungsmuster gleichförmiger werden. Ihre Bewegungen werden steifer, anstrengender oder unkontrollierter. Diese Entwicklung führt zunehmend zu weniger Möglichkeiten und Fähigkeiten wie auch zu einer weniger differenzierten Wahrnehmung des eigenen Körpers. Sich ständig wiederholende Abläufe mit wenig Variation tragen dazu bei, dass die Vielfalt der Bewegungsmöglichkeiten verloren geht. Damit einher geht die Abnahme der inneren körperlichen Orientierung. Grundsätzlich ist von entscheidender Bedeutung, dass Menschen mit Demenz bis zuletzt ihre Bewegungskompetenz in Richtung von mehr oder weniger Differenziertheit und Möglichkeiten weiterentwickeln. Diesbezüglich bleibt ihre Lernfähigkeit erhalten. Allerdings sind sie auf passende Unterstützungs- oder Lernangebote angewiesen, um ihre Bewegungskompetenz bis zum Lebensende in die Richtung von mehr Möglichkeiten und Differenziertheit in ihrer aktuellen Situation zu entwickeln.<br> Für das fortlaufende Suchen ihrer Orientierung ist es von hoher Bedeutung, in welcher Qualität sie (Menschen mit Demenz AdR) ihre Bewegung wahrnehmen, gestalten und sich so in sich selbst orientieren kann. Nach dieser Grundhaltung geht es darum, dass jede Unterstützung einer Person mit Demenz als ein Lernangebot verstanden und gestaltet wird. Wenn Menschen mit Demenz in ihren alltäglichen Aktivitäten eine für sie im Moment passende Unterstützung erhalten, können sie lernen, ihre Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen und an ihre aktuelle Situation anzupassen. Hier liegt ein großes Potenzial dafür vor, dass sie bis zuletzt erfolgreich ihre innere körperliche Orientierung suchen."<br />
<br />
Aus demselben Kapitel ist der folgende Text zitiert: <br />
<br />
: ''„Herkömmliche Unterteilungen des menschlichen Orientierungsvermögens''<br />
: ''Es ist gängig, das Orientierungsvermögen des Menschen zu unterteilen, um es differenzierter zu beschreiben oder auch in Pflegedokumentationen festzuhalten. Dabei sind die folgenden Begrifflichkeiten allgemein gebräuchlich: <br />
:<br><br />
*''Räumliche oder örtliche Orientierung<br />
:<br><br />
*''Zeitliche Orientierung <br />
:<br><br />
*''Orientierung zur eigenen Person und zum persönlichen Beziehungsnetz (auch als soziale Orientierung bezeichnet)<br />
:<br><br />
*''Situative Orientierung: Das angemessene Ausrichten des eigenen Verhaltens an einer bestimmten Situation<br />
<br />
: ''Diese Unterteilung macht deutlich, dass Orientierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, aber auch ein sehr komplexes Phänomen ist. Mit ein Grund ist, dass die Aspekte, die durch diese Unterteilung unterschiedenen werden, sich im alltäglichen Leben überschneiden und kombinieren. Die herkömmlichen Unterteilungen des Orientierungsvermögens vernachlässigen oft die innere körperliche Orientierung als grundlegenden Aspekt. In der Kinästhetik wird von der Annahme ausgegangen, dass die Qualität der körperlichen Orientierung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich ein Mensch am Raum, an der Zeit usw. orientieren kann." ''<br />
<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 12-14.<br />
<br />
== Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“ ==<br />
=== Einleitung ===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
=== Relevante Zitate ===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
: ''„4. Grundprinzipien <br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
: ''„4.1. Wahrnehmung<br />
: ''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br><br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. <br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
==Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen?Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4541Orientierung2022-12-21T09:00:09Z<p>Sabine Kaserer: /* Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch „Kinaesthetics Konzeptsystem“ und stellen einen aktuellen Referenztext dar.<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ==<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Funktionale Anatomie“ eingebettet. „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.<br />
<br />
<br />
:''Die Entstehung des Begriffes Orientierung hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: „Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?“<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: „In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer Massen organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?“<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die „richtige<br>Richtung“ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich „oben“ und „unten“ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: „Oben“ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, „unten“ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von „oben“ und „unten“ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von „oben“ und „unten“ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. „Unten“<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, „oben“ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen „oben“ und „unten“ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“ ''<br />
<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„Die eigene Orientierung suchen''' <br> Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
: '''''Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung''' <br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Ausgegangen wird von der Annahme, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie für das gesamte Orientierungsvermögen grundlegend ist. Es geht dabei darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können dadurch lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen."''<br />
: Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel ''„''Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
:'' '''„Teil 1: Was ist Orientierung?''' <br> Begleittexte <br>''<br />
: '''''Orientierung – ein vielschichtiger Prozess''' <br>Das folgende Beispiel veranschaulicht die Vielschichtigkeit und breite Bedeutung des menschlichen Orientierungsvermögens. Beispiel: Wenn wir erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen wollen, müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an unterschiedlichsten Dingen orientieren, so z. B. an der Beschaffenheit des Weges, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, oder an der Entwicklung des Wetters usw. Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten und Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen, wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich, wenn wir unsere eigene Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser eigenes Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den „Spielregeln“ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können (…). Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen.''<br />
:'' '''Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens <br><br>Die innere körperliche Orientierung''' ''<br />
:''“Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung bzw. unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir– als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper bzw. in uns selbst zurechtfinden. Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische „Mechanik“, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden."''<br />
<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 12-13.<br />
<br />
== Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“ ==<br />
=== Einleitung ===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
=== Relevante Zitate ===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
: ''„4. Grundprinzipien <br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
: ''„4.1. Wahrnehmung<br />
: ''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br><br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. <br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
==Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen?Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Massen_und_Zwischenr%C3%A4ume&diff=4489Massen und Zwischenräume2022-10-26T09:04:21Z<p>Sabine Kaserer: /* Die Verwendung als kinästhetischer Fachbegriff */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|vorläufig abgeschlossen| Stefan Marty-Teuber/RedakteurIn}}<br />
<br />
'''''Zusammenfassung:'''''<br><br />
Dieser Artikel behandelt die aktuelle Verwendung des kinästhetischen Fachbegriffes „Massen und Zwischenräume“ in ausgewählter Fachliteratur. Ebenso wird die Geschichte des Fachbegriffes anhand des 16. Kinästhetik-Bulletins von 1990 dargestellt. Ein Kommentar beleuchtet das sehr einheitliche Verständnis neben kleinen begrifflichen Unterschieden in der Bezeichnung der Zwischenräume. Abschließend werden die begrifflichen Aspekte des Themas bzw. des Fachbegriffs dargestellt.<br />
<br />
== Aktuelle Verwendung des Begriffs == <br />
=== „Massen und Zwischenräume“ in „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
==== Die Einbettung von „Massen und Zwischenräume“ im Konzept „Funktionale Anatomie“ ====<br />
Im Buch „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ bezeichnet die Unterscheidung von Massen und Zwischenräumen nach dem ersten Unterthema „Knochen und Muskeln“ das zweite Unterthema des zweiten Konzepts „Funktionale Anatomie“. Einerseits ist sie also eine weitere Ausprägung des subjektiv erfahrbaren Grundmusters, das in einem funktionalen Zusammenspiel von stabilen und instabilen Eigenschaften des Körpers besteht. Andererseits gilt auch hier, dass die Form die Funktion und umgekehrt die Funktion die Form beeinflusst. Die Struktur der Massen und Zwischenräume beeinflusst die menschlichen Bewegungsmöglichkeiten in alltäglichen Aktivitäten und umgekehrt beeinflussen die lebenslangen Bewegungsgewohnheiten und die Art und Weise, wie wir die Massen und Zwischenräume im Alltag nutzen, ihre Struktur<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 19.</ref>. <br />
<br />
Die Unterscheidung zwischen Massen und Zwischenräumen dient in [[Bewegungserfahrung|Bewegungserfahrungen]] als Blickwinkel zur Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung.<br />
<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 211.png|100px|rahmenlos|rechts]]<br />
==== Die Massen und ihre Eigenschaften und Funktionen ====<br />
Als Massen werden das Becken, der Brustkorb, der Kopf, die Arme und die Beine bezeichnet. Sie besitzen die gemeinsame Eigenschaft, dass sie knöcherne, harte und recht stabile Strukturen des Körpers bilden und das eigene Körpergewicht erfahren lassen. <br />
<br />
Becken, Brustkorb und Kopf werden als zentrale Massen benannt. Sie werden durch die gemeinsamen Eigenschaften verbunden, dass ihre Knochenstrukturen kompakt, sehr stabil, eher rund sind und dadurch Hohlräume bilden, die lebenswichtige Organe schützen.<br />
<br />
Arme und Beine (die Extremitäten) sind durch die gemeinsamen Eigenschaften verbunden, dass sie in sich beweglich und länglich sind und dadurch über eine große Reichweite verfügen<ref>ebd., S. 21</ref>. Im Unterthema „Orientierung“ wird die Eigenschaft nachgetragen, dass sie symmetrisch angeordnet und je seitlich mit den zentralen Massen des Brustkorbs bzw. des Beckens verbunden sind<ref>ebd., S. 27</ref>.<br />
<br />
Die Funktion der Massen besteht darin, das eigene Gewicht und dasjenige anderer Massen zu tragen oder es auf Unterstützungsflächen weiterzuleiten<ref>ebd., S. 21</ref>. <br />
[[Datei:21-detail-massen-zwischenraume.jpg|130px|rahmenlos|links]]<br />
<br />
==== Die Zwischenräume und ihre Eigenschaften und Funktionen ====<br />
Grundsätzlich sind die Zwischenräume die Körperstellen zwischen den Massen. Als Zwischenräume werden Hals, Taille, Achselhöhlen und Leisten bezeichnet. Sie werden durch die gemeinsamen Eigenschaften verbunden, dass sie instabile Körperbereiche bilden und in ihnen (im entspannten Zustand) mehr weiche Muskeln spürbar sind. Sie lassen sich als gegensätzlich zu den Massen erfahren.<br />
<br />
Die Funktion der Zwischenräume besteht darin, dass sie die Beziehung zwischen den Massen herstellen und verändern können. Sie ermöglichen die Interaktion zwischen den Massen. Dank ihnen kann das Gewicht der Massen in verschiedenste Richtungen bewegt werden<ref>ebd.</ref>. Im Unterthema „Haltungsbewegungsebenen und Transportbewegungsebenen“ wird dies so wieder aufgenommen, dass sie als Transportbewegungsebenen kugelgelenkartige oder dreidimensionale Bewegungen in viele Richtungen und eine große Vielfalt von Beziehungen zwischen benachbarten Massen ermöglichen<ref>ebd., S. 22</ref>.<br />
<br />
==== Die Funktion der Extremitäten bei der Gewichtsorganisation der zentralen Massen ====<br />
Eine wichtige Funktion übernehmen die Extremitäten bei der Organisation des Körpergewichts in der Schwerkraft. Sie wird im Unterthema „Orientierung“ unter dem Kapitel „Oben und unten“ genauer beschrieben<ref>ebd., S. 27</ref>. <br />
<br />
Als Charakteristik der menschlichen Anatomie im Ganzen, genauer der Anordnung der der Extremitäten bezüglich der zentralen Massen, wird darauf verwiesen, dass sie symmetrisch angeordnet und seitlich je mit einer zentralen Masse verbunden sind. Aus dieser Perspektive können die Ohren nach den Beinen und Armen sozusagen als drittes Extremitätenpaar bezüglich des Kopfes betrachtet werden. <br />
<br />
Aus dem Blickwinkel der funktionalen Anatomie zeigt sich die Funktion dieser Anordnung darin, dass Extremitäten je die Bewegung der zugehörigen Massen bei der Gewichtsorganisation unterstützen, d. h. bei der Abgabe und Verlagerung des Körpergewichts. <br />
<br />
Einzeln unterstützen die Beine die Bewegung des Beckens. Sie dient dazu, z. B. im Stehen oder Gehen das Gewicht des Beckens und der Massen Brustkorb, Kopf und Arme über den Zwischenraum der Leisten auf die Beine weiterzuleiten. Im Sitzen und in anderen Positionen oder bei der Fortbewegung in diesen Positionen unterstützen die Beine das Becken darin, das eigene Gewicht und das der anderen Massen passend auf eine Unterstützungsfläche abzugeben bzw. es zu verlagern. <br />
<br />
In einem entsprechenden Muster unterstützen die Arme über den Zwischenraum der Achselhöhlen die Bewegung des Brustkorbs, um z. B. im Stehen oder Gehen dessen Gewicht und das Gewicht des Kopfes und der Arme über den Zwischenraum der Taille auf das Becken weiterzuleiten. Ebenso können die Arme genutzt werden, um das Gewicht des Brustkorbes, des Kopfes und der Arme passend auf eine Unterstützungsfläche abzugeben bzw. es zu verlagern.<br />
<br />
Textlich wird angemerkt, dass die Ohren eine entsprechende Funktion bezüglich des Kopfes erfüllen, die sich allerdings innerhalb dieser Masse abspielt. Die Bewegungen, die im Gleichgewichtsorgan des Innenohres stattfinden, unterstützen die Gewichtsorganisation des Kopfes, d. h. die Art und Weise, wie er sein Gewicht über den Zwischenraum des Halses auf den Brustkorb weiterleitet oder auf eine Unterstützungsfläche abgibt.<br />
<br />
==== Eigenschaften und Funktionen der Vorder- und Rückseiten der Massen ====<br />
Wie erwähnt übernehmen die Massen bei der Gewichtsabgabe und -verlagerung eine wichtige Funktion. Sie wird im Unterthema „Orientierung“ unter dem Kapitel „Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten“ genauer beschrieben<ref>ebd., S. 28</ref>. Dabei wird die Grundeigenschaft der Massen (kompakt, stabil usw.; vgl. oben) dadurch genauer spezifiziert, dass zwischen Vorder- und Rückseiten unterschieden wird. <br />
<br />
Diese Unterscheidung ist gängig und in Bewegungserfahrungen subjektiv erfahrbar. Sie ist eine weitere Ausprägung des subjektiv erfahrbaren Grundmusters, das in einem funktionalen Zusammenspiel von stabilen und instabilen Eigenschaften des Körpers besteht.<br />
<br />
Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken stimmen die gängigen Bezeichnungen der Vorder- und Rückseiten mit ihren erfahrbaren Aspekten überein. So wird der Hinterkopf gemeinhin als Rückseite des Kopfes bezeichnet. Bei ihm sind besonders gut größere harte, knochige und stabile Flächen erfahrbar, auf denen man das Gewicht des Kopfes verlagern kann, indem man ihn rollt. Die Vorderseite des Gesichts ist im Vergleich als weicher, instabiler und anpassungsfähiger erfahrbar. Grundsätzlich weisen Rückseiten weniger Muskeln und insbesondere Streckmuskeln auf, Vorderseiten mehr Muskeln und insbesondere Beugemuskeln. <br />
<br />
Bei den Extremitäten weicht das gängige Verständnis von vorne und hinten z. T. von der subjektiv wahrnehmbaren Erfahrung ab. Besonders gut nachvollziehbar ist dies bei den Ober- und Unterschenkeln, bei denen vorne (nach der Gesichtsrichtung) größere harte Flächen erfahrbar sind. Gegen die gängige Vorstellung bilden sie aus der funktionalen Perspektive Rückseiten; entsprechend sind die gegenüberliegenden Seiten als weicher, instabiler und anpassungsfähiger erfahrbar. Im Ganzen ist bei den Extremitäten eine spiralige Anordnung der Vorder- und Rückseiten erfahrbar.<br />
<br />
Aus dem Blickwinkel der funktionalen Anatomie zeigt sich die Funktion der Vorder- und Rückseiten darin, dass Rückseiten sich dazu eignen, Gewicht auf eine Unterstützungsfläche abzugeben und es zu verlagern, Vorderseiten hingegen dazu, Anpassungen der Gewichtsabgabe leisten und Gewicht auf die Rückseiten zu bringen.<br />
<br />
==== Die Bedeutung der Massen und Zwischenräume in weiteren Konzepten ====<br />
Die Unterscheidung zwischen Massen und Zwischenräumen bleibt ein wichtiger Referenzpunkt im dritten, vierten und fünften Konzept des Konzeptsystems. So bezieht sich das erste Unterthema „Haltungs- und Transportbewegung“ <ref>ebd., S. 32</ref> des dritten Konzepts „Menschliche Bewegung“ insbesondere darauf, dass die über die Zwischenräume und über kleine Bewegungen in den Massen die Beziehung zwischen den Massen verändert (Transportbewegung) bzw. stabilisiert (Haltungsbewegung) werden kann. Desgleichen wird festgehalten, dass die Massen und Zwischenräume eine anatomische Grundlage dieser Bewegungskomponenten bilden.<br />
<br />
Das zweite Unterthema „Parallele und spiralige Bewegungsmuster“ <ref>ebd., S. 34</ref> des dritten Konzepts baut auf dem vorausgehenden Unterthema und somit in gleicher Weise auf der Unterscheidung zwischen Massen und Zwischenräumen auf. Ein spiraliges Bewegungsmuster zeigt sich darin, dass bei der Bewegung des Gewichts jeder einzelnen Masse die zugehörigen Spielräume der Zwischenräume so genutzt werden, dass ein spiraliges Gesamtmuster entsteht. <br />
<br />
Im vierten Konzept „Anstrengung“ wird das Unterthema „Ziehen und Drücken“ auch dadurch illustriert, dass man die Qualität der Anstrengung so gestalten kann, dass benachbarte Massen sich auseinanderbewegen oder annähern<ref>ebd., S. 38</ref>. <br />
<br />
Auch im fünften Konzept „Menschliche Funktion“ sind z. B. die Gewichtsabgabe der Massen und die Nutzung der Zwischenräume ein Kriterium, um die Grundpositionen zu beschreiben und voneinander zu unterscheiden<ref>ebd., S. 43</ref>.<br />
<br />
=== „Massen und Zwischenräume “ in „Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten“ ===<br />
==== Einbettung und Eigenschaften der Massen und Zwischenräume ====<br />
Im Buch „Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten“ von Hatch und Maietta wird das Konzeptsystem der Kinästhetik im dritten Kapitel „Kinästhetik in der professionellen Pflege“ <ref>'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 34–75.</ref> dargestellt. Die Unterscheidung von „Massen und Zwischenräumen“<ref>ebd., S. 44.</ref> bezeichnet nach dem ersten Unterthema „Knochen und Muskeln“ das zweite Unterthema des zweiten „Konzepts der Funktionalen Anatomie“. Unterschieden werden sieben Massen, wo sich die Knochen in mehreren stabilen Gruppen konzentrieren, und sechs Zwischenräume als weiche Bereiche, wo mehr Muskeln angeordnet sind. <br />
==== Die Massen und ihre Funktionen ====<br />
Als Massen werden das Becken, der Brustkorb, der Kopf, die zwei Arme und die zwei Beine bezeichnet, sie bilden den Hauptanteil des Körpergewichts.<br />
Die Funktion der Massen besteht in der Kontaktaufnahme mit der Umgebung und darin, dass sie genutzt werden können, um sie einzeln, im Gleichgewicht miteinander und sozusagen schwerelos innerhalb der Grenzen der dazwischen liegenden Zwischenräume zu bewegen oder miteinander zu verstreben, wodurch sie unbeweglich werden.<br />
==== Die Zwischenräume und Funktionen ====<br />
Als Zwischenräume werden Hals, Taille, die zwei Hüftgelenke und der Bereich der beiden Schultergelenke bezeichnet. <br />
<br />
Die Funktion der Zwischenräume besteht darin, die „Massen einzeln und nacheinander zu bewegen“<ref>ebd.</ref>. Wenn sie durch Muskelanspannung oder helfende Hände blockiert werden, ist die Bewegungsfähigkeit eingeschränkt und eine erhöhte Anstrengung verlangt. Dabei fällt im Pflegekontext das Gewicht von PatientInnen auf die Pflegenden statt auf eine Unterstützungsfläche. Empfohlen wird deshalb der Körperkontakt über die Massen, der es ermöglicht, dass jede Masse sich einzeln bewegt, ihr Gewicht in einem dynamischen Gleichgewicht bleibt und ungehindert auf Unterstützungsflächen abgegeben werden kann.<br />
==== Die Bedeutung der Massen und Zwischenräume in weiteren Konzepten ====<br />
Die Unterscheidung zwischen Massen und Zwischenräumen bleibt ein wichtiger Referenzpunkt in den folgenden Konzepten. Im Unterthema „Haltungsbewegungsebenen und Transportbewegungsebenen“ <ref>ebd., S. 49.</ref> des dritten „Konzepts der Menschlichen Bewegung“ wird z. B. darauf verwiesen, dass im Kontext der Massen und Zwischenräume die entsprechenden Bewegungen am einfachsten erfahrbar sind und die stabilen Massen mit Haltungsbewegungen verbunden sind, die instabilen Zwischenräume hingegen mit Transportbewegungen.<br />
<br />
== Begriffsgeschichte ==<br />
=== „Massen und Zwischenräume“ im 16. Kinästhetik-Bulletin von 1990 ===<br />
==== Einleitung ====<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 werden im Kapitel 4 „Grundprinzipien“<ref>'''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 12–34.</ref> die Themen aufgeführt, die später als Konzepte benannt wurden – allerdings z. T. in einer anderen Reihenfolge und mit anderen Bezeichnungen. <br />
==== Einbettung und allgemeine Beschreibung ====<br />
Im vierten Kapitel „Anatomische Grundlagen“ kommen nach dem ersten Unterthema „Bewegungsapparat“ die „Massen und Zwischenräume“ <ref>ebd., S. 19 f.</ref> als zweites Unterthema. Es steht vor dem Unterthema „Haltungs- und Transportbewegung“, das dieses Kapitel abschließt. Unterschieden werden sieben Massen, die durch die Zwischenräume locker verbunden werden: Kopf und Brustkorb durch die Halswirbelsäule, Brustkorb und Becken durch Lendenwirbelsäule, Arme und Becken durch die Schultergürtel sowie Beine und Becken durch die Hüftgelenke.<br />
<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Massen-Zwischenräume.png|mini|Abbildung zur Illustration der Massen und Zwischenräume aus dem 16. Kinästhetik-Bulletin (1990)]]<br />
==== Die Eigenschaften der Massen und ihre Funktionen ====<br />
Die Massen werden als relativ stabil „im Vergleich zu den verbindenden Zonen dazwischen“<ref>ebd., S. 20.</ref> bezeichnet. Unterschieden wird zwischen den zentralen Massen mit ihren soliden und ziemlich runden Eigenschaften und den Extremitäten mit ihren um die Längsachse runden Eigenschaften. Letztere werden als „ziemlich solide in ihrer Mitte (Ellbogen und Knie)“<ref>ebd.</ref> beschrieben.<br />
Die Funktion der Massen besteht darin, Gewicht zu tragen und als Kontaktstellen eine Beziehung mit der Umgebung aufzunehmen. Sie gelten in der Bewegungsinteraktion als „Referenz und Anfasspunkt für aktive und passive Bewegung“<ref>ebd.</ref>.<br />
<br />
==== Die Eigenschaften der Zwischenräume und ihre Funktionen ====<br />
Die Zwischenräume werden als beweglich, weich und deshalb schwierig anzufassen bezeichnet. <br />
<br />
Die Funktion der Zwischenräume wird dadurch illustriert, dass in der Bewegungsinteraktion das Fassen in einen Zwischenraum ihn selbst und die durch ihn verbundenen Massen „zu einem Block“<ref>ebd.</ref> werden lassen und die Bewegung im Zwischenraum unmöglich wird. Deshalb gilt es für die Führung und Unterstützung der Bewegung eines anderen Menschen meistens, nicht die Zwischenräume, sondern die Massen anzufassen gemäß dem der Fettdruck hervorgehobenen Motto „Massen fassen – Zwischenräume spielen lassen“<ref>ebd.</ref>.<br />
<br />
=== Kommentare, Auswertung und offene Fragen ===<br />
Die Unterscheidung von Massen und Zwischenräumen zur Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung scheint nicht nur seit den Anfängen der Kinästhetik eine grundlegende Rolle gespielt zu haben, sondern ist auch inhaltlich sehr stabil: Das Verständnis dieser Unterscheidung hat keinen grundsätzlichen Wandel erlebt.<br />
<br />
Einzig die Bezeichnungen der Zwischenräume zwischen den zentralen Massen und den Extremitäten sind schwankend. Die folgende Tabelle verdeutlicht dies anhand der vorausgehend besprochenen Fachbücher.<br />
{| class="wikitable"<br />
|+ Bezeichnungen der Zwischenräume im Vergleich<br />
|-<br />
! 16. Bulletin (1990)!! Kinästhetik – Gesundheitsentwicklung ...!! Kinaesthetics – Konzeptsystem<br />
|-<br />
| Halswirbelsäule („verbindet Kopf und Brustkorb“<ref>ebd., S. 19.</ref> ) || Hals|| Hals<br />
|-<br />
| Lendenwirbelsäule („verbindet Brustkorb uns Becken“<ref>ebd.</ref> ) || Taille || Taille<br />
|-<br />
| Schultergürtel|| Schultergelenke || Achselhöhlen<br />
|-<br />
| Hüftgelenke („bilden die Verbindung zwischen ...“<ref>ebd.</ref> )|| Hüftgelenke || Leisten<br />
|}<br />
Übereinstimmend ist die allgemeine Definition der Zwischenräume in ihrem Wortsinn als die Körperbereiche, die zwischen den Massen liegen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie sinnvoll es in theoretischer Hinsicht ist bzw. wie relevant für die subjektive Erfahrbarkeit, die Zwischenräume mit spezifischen Körperstellen zu bezeichnen.<br />
<br />
Der in Bewegungserfahrungen gerne verwendet Hinweis, dass Massen in gewissen Grenzen einzeln beweglich sind, scheint in „Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten“ auf und wird im „Kinaesthetics Konzeptsystem“ nicht gemacht. Da in diesem Buch die Ebene der praktischen Anwendung durchgängig nicht berücksichtigt wird, fehlt auch der Hinweis darauf, dass in der Bewegungsinteraktion der Körperkontakt über die Massen nicht die blockierende Wirkung eines Kontaktes über die Zwischenräume hat. <br />
<br />
== Erfahrungsberichte ==<br />
* <br />
<br />
* <br />
<br />
== Weiterführende Literatur ==<br />
* '''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 89–93: „Massen und Zwischenräume“ mit den Unterkapiteln „Gewicht der Massen“ (S. 90) und „Volumen versus Oberfläche“ (S. 93).<br />
* '''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 35–38: „Massen und Zwischenräume“.<br />
* '''Hatch, Frank; Maietta, Lenny; Schmidt, Suzanne (1996):''' Kinästhetik. Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Pflege. Übersetzung: Ina Citron. 4. Auflage. Eschborn: Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe. ISBN 3-927944-02-5. S. 42–49: „Massen und Zwischenräume“.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Knochen und Muskeln]]<br /><br />
[[Stabil und instabil]]<br /><br />
<br />
== Zum Begriff ==<br />
=== Bedeutungsüberblick ===<br />
==== Die Bedeutungen der Begriffe nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ ====<br />
Nach dem Duden Online-Wörterbuch hat '''Massen''' folgende Bedeutungen: <br><br />
Die Erstbedeutung lautet „ungeformter, meist breiiger Stoff; unstrukturierte, meist weiche Materie“, die Zweitbedeutung „große Anzahl, Menge“. Neben zwei weiteren Bedeutungen wird als fünfte Bedeutung im Kontext der Physik „Eigenschaft der Materie (1b), die Ursache und Maß der Trägheit eines Körpers und dessen Fähigkeit ist, durch Gravitation einen anderen Körper anzuziehen oder von ihm angezogen zu werden“ angegeben.<br />
<br />
Als Synonyme angeführt werden „Material, Materie, Stoff, Substanz“.<br />
<br />
Nach dem Duden Online-Wörterbuch hat '''Zwischenraum''' folgende Bedeutungen:<br><br />
Die Erstbedeutung lautet „freier Raum besonders zwischen zwei Dingen (der Spielraum zwischen etwas bzw. Lücke in einem eigentlich zusammenhängenden Ganzen sein kann)“, die Zweitbedeutung „zeitlicher Abstand, der zwischen Vorgängen, Tätigkeiten o. Ä. liegt“.<br />
<br />
Als Synonyme angeführt werden „Entfernung, Lücke, Raum, [räumlicher] Abstand“.<br />
<br />
<br />
==== Die Verwendung als kinästhetischer Fachbegriff ==== <br />
In den uns zugänglichen Quellen taucht die Fügung „Massen und Zwischenräume“ als Fachbegriff zum ersten Mal im 16. Kinästhetik-Bulletin von 1990 auf (vgl. oben). <br />
Das 10. Kinästhetik-Bulletin von 1986 enthält den Beitrag „Kinästhetik“ von Lenny Maietta und Frank Hatch<ref>'''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1986):''' Kinästhetik. 10. Bulletin. April 1986. Orientierung. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. S. 16–19.</ref>. In diesem findet man den Begriff „Masse“ im physikalischen Sinn der Materie, textlich der körperlichen Form oder der Körperteile, die einen der drei grundlegenden Bestandteile eines selbstkontrollierten Systems bilden:<br />
: ''„BESTANDTEILE DES SYSTEMS: Die System-Theorie lehrt uns, dass alle selbstkontrollierten Systeme drei unterscheidbare Teile haben müssen: eine Masse, einen Motor und ein Führungssystem. Im Menschen ist die Masse die körperliche Form, der Motor ist das Muskelsystem, welches die Positionsveränderung der einzelnen Teile ermöglicht. Die Führung findet durch das Zentrale Nervensystem statt. Diese drei Teile sind vollkommen abhängig voneinander. Liefern die Muskeln z.B. mehr Kraft als die Körperteile (Masse) brauchen, um dorthin zu gelangen, wo sie benötigt werden, und das Zentrale Nervensystem die falsche Information über die Beziehung der Teile untereinander, wird eine geschmälerte Ausführung oder sogar ein frühzeitiger Systemzusammenbruch die Folge sein.“''<ref>ebd., S. 17.</ref><br />
<br />
Im 15. Kinästhetik-Bulletin von 1988 findet man den Begriff „Masse“ im Sinn des heute gängigen Fachbegriffs. Die im Folgenden zitierte Stelle stammt aus dem Beitrag „Diagonalen“ von Rosmarie Suter<ref>'''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1988):''' Kinästhetik. 15. Bulletin. Oktober 1988. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. S. 20 f.</ref>:<br />
: ''„Halte ich hingegen das Knie auf gleicher Seite, so entsteht eine asymmetrische Verbindung zwischen Brustkorb und Beckengürtel, welche ein Verlängern bzw. Verkürzen der diagonalen Verbindung zwischen Brustkorb und Becken zulässt. Dies erlaubt eine Drehbewegung zwischen den Massen. So können sie einander in fortlaufender Art und Weise folgen, und es entsteht eine natürliche, leichte Bewegung. Diese Erfahrung hat mir auch sehr deutlich zu spüren gegeben, dass ohne Drehung keine Fortbewegung möglich ist oder nur unter erschwerten Bedingungen.“''<ref>ebd., S. 21.</ref><br />
Da hier Brustkorb und Becken als Massen bezeichnet werden, kann davon ausgegangen werden, dass sich zumindest dieser Begriff und vielleicht auch schon die Fügung „Massen und Zwischenräume vor 1990 etabliert hat. Gemäß der mündlichen Aussage von Suzanne Schmidt, der Mitautorin des Buches „Kinästhetik – Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Pflege“ (4. Auflage 1996)<ref>'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny; Schmidt, Suzanne (1996):''' Kinästhetik. Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Pflege. Übersetzung: Ina Citron. 4. Auflage. Eschborn: Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe. ISBN 3-927944-02-5.</ref>, ist die Fügung seit den allerersten Anfängen Ende der 1970er-Jahre gängig.<br />
<br />
Die Verwendung des Begriffs Masse in der Kinästhetik rührt offensichtlich von seiner Bedeutung im Kontext der Physik her. „Zwischenraum“ wird als kinästhetischer Fachbegriff in seiner gemeinsprachlichen Erstbedeutung verwendet.<br />
<br />
=== Herkunft ===<br />
Nach dem Duden Herkunftswörterbuch entspricht das Wort '''Masse''' dem spätalthochdeutschen ''massa'' „ungestalteter Stoff, [Metall]klumpen, Haufen“ und geht auf das griechische Wort ''maza'' „Teig aus Gerstenmehl; Fladen; [Metall]klumpen“ zurück. <br />
<br />
Ableitungen sind „Massenmedien“, „massig“ oder „M/massiv“.<br />
<br />
Nach dem Duden Herkunftswörterbuch ist das Wort '''zwischen''' eine Verkürzung des althochdeutschen ''in zuisken'' „in der Mitte von beiden, innerhalb von Zweifachem“. Das Wort '''Raum''' ist eine Substantivierung eines veralteten gemeingermanischen Adjektivs ''raum'' „weit, geräumig“ (vgl. z. B. englisch ''room''). Es ist z. B. verwandt mit lateinisch ''rus'' „Land, Feld; Landgut“. „Zwischenraum“ ist eine Zusammensetzung dieser beiden Wörter.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Konzeptsystem]]</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4464Orientierung2022-10-22T09:12:01Z<p>Sabine Kaserer: /* Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch „Kinaesthetics Konzeptsystem“ und stellen einen aktuellen Referenztext dar.<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ==<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Funktionale Anatomie“ eingebettet. „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.<br />
<br />
<br />
:''Die Entstehung des Begriffes Orientierung hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: „Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?“<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: „In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer Massen organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?“<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die „richtige<br>Richtung“ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich „oben“ und „unten“ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: „Oben“ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, „unten“ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von „oben“ und „unten“ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von „oben“ und „unten“ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. „Unten“<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, „oben“ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen „oben“ und „unten“ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“ ''<br />
<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„Die eigene Orientierung suchen''' <br> Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
: '''''Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung''' <br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Ausgegangen wird von der Annahme, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie für das gesamte Orientierungsvermögen grundlegend ist. Es geht dabei darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können dadurch lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen."''<br />
: Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 7.<br />
<br />
<br />
Zitat folgende Zitat stammt aus dem Kapitel ''„''Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
:'' '''„Teil 1: Was ist Orientierung?''' <br> Begleittexte <br>''<br />
: '''''Orientierung – ein vielschichtiger Prozess''' <br>Das folgende Beispiel veranschaulicht die Vielschichtigkeit und breite Bedeutung des menschlichen Orientierungsvermögens. Beispiel: Wenn wir erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen wollen, müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an unterschiedlichsten Dingen orientieren, so z. B. an der Beschaffenheit des Weges, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, oder an der Entwicklung des Wetters usw. Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten und Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen, wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich, wenn wir unsere eigene Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser eigenes Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den „Spielregeln“ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können (…). Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen.''<br />
:'' '''Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens <br><br>Die innere körperliche Orientierung''' ''<br />
:''“Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung bzw. unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir– als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper bzw.in uns selbst zurechtfinden. Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische „Mechanik“, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden."''<br />
<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 12-13.<br />
<br />
== Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das erste Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
: ''„4. Grundprinzipien <br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
: ''„4.1. Wahrnehmung<br />
: ''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. ORIENTIERUNG IM KÖRPER ''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
Abbildung<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
Abbildung<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.<br />
:''???Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend. ???<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Legende zur grafischen Darstellung der/des TITEL:<br />
[[Datei:Name.format|mini|rechts|verweis=Special:FilePath/Name.format]]<br />
:''„Zitat“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br><br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.''<br />
Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. <br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''??? Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden. ???“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. xy–xz.<br />
<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Im vierten Zitat wir einer der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
==Vergleiche auch==<br />
*[[Artikel]]<br />
*[[Artikel]]<br />
*[[usw.]]<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
<br />
==Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen?</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4455Orientierung2022-10-22T09:04:32Z<p>Sabine Kaserer: /* Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch „Kinaesthetics Konzeptsystem“ und stellen einen aktuellen Referenztext dar.<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ==<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Funktionale Anatomie“ eingebettet. „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.<br />
<br />
<br />
:''Die Entstehung des Begriffes Orientierung hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: „Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?“<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: „In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer Massen organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?“<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die „richtige<br>Richtung“ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich „oben“ und „unten“ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: „Oben“ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, „unten“ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von „oben“ und „unten“ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von „oben“ und „unten“ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. „Unten“<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, „oben“ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen „oben“ und „unten“ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“ ''<br />
<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
: ''„''' Die eigene Orientierung suchen''' <br> Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption). ''<br />
: ''„'''Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung''' <br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Ausgegangen wird von der Annahme, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie für das gesamte Orientierungsvermögen grundlegend ist. Es geht dabei darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können dadurch lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen.''<br />
: Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 7.<br />
<br />
Zitat folgende Zitat stammt aus dem Kapitel «Teil 1: Was ist Orientierung?»<br />
: '' „'''Teil 1: Was ist Orientierung? '''<br> Begleittexte <br>'''Orientierung – ein vielschichtiger Prozess''' <br>Das folgende Beispiel veranschaulicht die Vielschichtigkeit und breite Bedeutung des menschlichen Orientierungsvermögens. Beispiel: Wenn wir erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen wollen, müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an unterschiedlichsten Dingen orientieren, so z. B. an der Beschaffenheit des Weges, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, oder an der Entwicklung des Wetters usw. Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten und Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen, wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich, wenn wir unsere eigene Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser eigenes Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den „Spielregeln“ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
: '' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können (…). Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen.<br />
: '' „'''Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens <br><br>Die innere körperliche Orientierung''' <br />
: ''“Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung bzw. unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir– als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper bzw.in uns selbst zurechtfinden. Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische „Mechanik“, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden.»<br />
<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 12-13.<br />
<br />
== Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das erste Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
: ''„4. Grundprinzipien <br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
: ''„4.1. Wahrnehmung<br />
: ''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. ORIENTIERUNG IM KÖRPER ''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
Abbildung<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
Abbildung<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.<br />
:''???Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend. ???<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Legende zur grafischen Darstellung der/des TITEL:<br />
[[Datei:Name.format|mini|rechts|verweis=Special:FilePath/Name.format]]<br />
:''„Zitat“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br><br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern. <br />
So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird. <br />
"Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm. <br />
Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können. <br />
Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br />
Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. <br />
:''Information statt Anstrengung <br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen. <br />
Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br />
Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. <br />
:''??? Kommunikation durch Berührung <br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel. <br />
Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen <br />
Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br />
Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen. <br />
Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden. ???“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. xy–xz.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Im vierten Zitat wir einer der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
==Vergleiche auch==<br />
*[[Artikel]]<br />
*[[Artikel]]<br />
*[[usw.]]<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
<br />
==Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen?</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4442Orientierung2022-10-22T08:10:39Z<p>Sabine Kaserer: /* Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch „Kinaesthetics Konzeptsystem“ und stellen einen aktuellen Referenztext dar.<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ==<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Funktionale Anatomie“ eingebettet. „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.<br />
<br />
<br />
:''Die Entstehung des Begriffes Orientierung hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: „Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?“<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: „In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer Massen organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?“<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die „richtige<br>Richtung“ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich „oben“ und „unten“ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: „Oben“ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, „unten“ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von „oben“ und „unten“ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von „oben“ und „unten“ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. „Unten“<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, „oben“ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen „oben“ und „unten“ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“ ''<br />
<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
: ''„''' Die eigene Orientierung suchen''' <br> Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption). ''<br />
: ''„'''Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung''' <br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Ausgegangen wird von der Annahme, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie für das gesamte Orientierungsvermögen grundlegend ist. Es geht dabei darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können dadurch lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen.''<br />
: Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 7.<br />
<br />
Zitat folgende Zitat stammt aus dem Kapitel «Teil 1: Was ist Orientierung?»<br />
: '' „'''Teil 1: Was ist Orientierung? '''<br> Begleittexte <br>'''Orientierung – ein vielschichtiger Prozess''' <br>Das folgende Beispiel veranschaulicht die Vielschichtigkeit und breite Bedeutung des menschlichen Orientierungsvermögens. Beispiel: Wenn wir erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen wollen, müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an unterschiedlichsten Dingen orientieren, so z. B. an der Beschaffenheit des Weges, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, oder an der Entwicklung des Wetters usw. Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten und Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen, wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich, wenn wir unsere eigene Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser eigenes Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den „Spielregeln“ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 12-13.<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur ==<br />
* '''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
* '''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
* '''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
== Kommentare, Auswertung und offene Fragen ==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen?</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4441Orientierung2022-10-22T08:01:00Z<p>Sabine Kaserer: /* Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch „Kinaesthetics Konzeptsystem“ und stellen einen aktuellen Referenztext dar.<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ==<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Funktionale Anatomie“ eingebettet. „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.<br />
<br />
<br />
:''Die Entstehung des Begriffes Orientierung hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: „Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?“<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: „In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer Massen organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?“<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die „richtige<br>Richtung“ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich „oben“ und „unten“ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: „Oben“ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, „unten“ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von „oben“ und „unten“ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von „oben“ und „unten“ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. „Unten“<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, „oben“ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen „oben“ und „unten“ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
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:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
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:{| <br />
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|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“ ''<br />
<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
: ''„''' Die eigene Orientierung suchen''' <br> Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption). ''<br />
: ''„'''Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung''' <br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Ausgegangen wird von der Annahme, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie für das gesamte Orientierungsvermögen grundlegend ist. Es geht dabei darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können dadurch lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen.''<br />
<br />
Zitat 3. Stammt aus dem Kapitel «Teil 1: Was ist Orientierung?»<br />
: '' „'''Teil 1: Was ist Orientierung? '''<br> Begleittexte <br>'''Orientierung – ein vielschichtiger Prozess''' <br>Das folgende Beispiel veranschaulicht die Vielschichtigkeit und breite Bedeutung des menschlichen Orientierungsvermögens. Beispiel: Wenn wir erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen wollen, müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an unterschiedlichsten Dingen orientieren, so z. B. an der Beschaffenheit des Weges, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, oder an der Entwicklung des Wetters usw. Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten und Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen, wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich, wenn wir unsere eigene Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser eigenes Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den „Spielregeln“ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 12-13.<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur ==<br />
* '''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
* '''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
* '''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff. <br />
<br />
== Kommentare, Auswertung und offene Fragen ==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen?</div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Heinz_von_Foerster&diff=4409Heinz von Foerster2022-08-24T06:43:37Z<p>Sabine Kaserer: /* Die Macy-Konferenzen */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|in Bearbeitung|Lutz Zierbeck/Sabine Kaserer}}{| class="wikitable" <br />
<br><br />
<br />
'''''Zusammenfassung'':'''''<br>„Heinz von Foerster (1911-2002) spielte für die Entwicklung der Kybernetik eine entscheidende Rolle. Sein Labor, das "Biological Computer Lab" entwickelte sich zu einem kybernetischen Kompetenzzentrum, zu dem viele herausragende WissenschaftlerInnen einen engen Kontakt hatten, wo sie sich trafen und forschten. Bis ins hohe Alter blieb von Foerster ein Vordenker der Kybernetik<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 44.</ref>"'' <br><br />
<br />
HvF, wie er sich selber nannte, hat in seinem langen Leben in vielen Gebieten geforscht und gearbeitet. Sein Werk ist vielfältig und umfangreich, grosse Teile davon haben eine Bedeutung für Kinästhetik, vor allem seine kybernetischen Studien und seine Arbeiten zur Ethik und zum Lernen. <br><br />
<br />
Nach einer kurzen tabellarischen Aufzählung wichtiger Eckdaten und Ereignisse folgt die Vertiefung einiger der aufgeführten Themen, z. T. mit Literaturzitaten untermauert. Die Bedeutung seines Werkes für Kinästhetik wird im 3. Kapitel erläutert.<br> <br />
<br>Die Arbeit am Artikel ist noch nicht abgeschlossen! Wir laden zum Mitdenken, Mitdiskutieren und Mitschreiben ein! Siehe Diskussionsseite.<br />
<br />
== Tabellarischer Lebenslauf ==<br />
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! Jahr !! Leben und Werk<br />
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| 1911 || Geboren am 13. November in Wien. <br />
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| ab 1930 || Studium der Physik an der Technischen Hochschule Wien. <br />
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| 1938 || Erste Arbeitsstelle als Physiker im Forschungslabor und kurzzeitig auch als Vertreter bei der Firma E. Leybold´s Nachfolger, Vakuumpumpenfabrik in Köln.<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019): ''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). ISBN 978-3-89670-557-0. S. 116 ff.</ref> <br />
|-<br />
|-<br />
| 1939 || Lernt am Neujahrsabend die Schauspielerin Mai Stürmer kennen, sie heiraten wenige Monate später.<ref>ebd., S. 119 ff</ref><br />
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|-<br />
| 1939 || Umzug nach Berlin, Direktor des Forschungslabors der GEMA (Gesellschaft für elektroakustische und mechanische Apparate mbH, dem Pionierunternehmen auf dem Gebiet der Radar- und Funkmesstechnik).<ref>ebd., S. 121 ff</ref> <br />
<br />
|-<br />
|-<br />
| 1944 || Er reicht seine Dissertation zum Thema Plasmaoszillationen an der Universität Breslau ein, wird aber nicht promoviert, da er keinen Ariernachweis vorlegen kann.<ref>ebd., S. 127 ff.</ref><br />
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|-<br />
| 1945 || Neuanfang in Wien als Kulturchef des amerikanischen Radiosenders „Rot-Weiss-Rot“.<ref>ebd., S. 146 ff.</ref><br />
|-<br />
|-<br />
| 1948 || Veröffentlichung des Buches „Das Gedächtnis – eine quantenphysikalische Untersuchung“.<ref>ebd., S. 151 f</ref> <br />
|-<br />
|-<br />
| 1949 || Übersiedlung in die USA, Teilnahme an der 6. [[Macy-Konferenz]], Direktor des Mikrowellenlabors der Universität Illinois.<ref>ebd., S. 153 ff.</ref> <br />
<br />
|-<br />
|1956 / 57||2 Freisemester (Sabbatical) Studium biologischer Themen.<ref>ebd., S. 206 ff.</ref> <br />
<br />
|-<br />
| 1958||Gründung seines eigenen Labors „Biological Computer Lab, BCL“.<ref>ebd., S. 211 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1959||„Selforganization Systems Conference“.<ref>ebd., S. 222 ff</ref> <br />
|-<br />
| 1960||„Principles of Selforganization Conference“.<ref>ebd., S. 227 ff</ref> <br />
|-<br />
| 1962||„Information Processing in the Nervous System“ Konferenz in Leiden, NL. Macht dort Bekanntschaft mit dem Biologen Humberto Maturana.<ref>ebd., S. 232 ff.</ref><br />
|-<br />
| 1968||Heuristics I und II.<ref>ebd., S. 241 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1969||Heuristics III, Zeit der Studentenrevolutionen. Verfasst einen Katalog mit StudentInnen zusammen.<ref>ebd., S. 244 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1970||Unterricht der „honours class ingeneering group“. Schreibt mit StudentInnen zusammen das „Ecological Source book“.<ref>ebd., S. 250 f.</ref> <br />
|-<br />
| 1973||„Om-Conference“.<ref>ebd., S. 271 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1974||Kurs für Studenten und gemeinsames Buch darüber: „Cybernetcs of Cybernetics“.<ref>ebd., S. 251 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1975||Baut sein Haus (grösstenteils eigenhändig) auf dem Rattlesnake Hill in Pescadero, Kalifornien.<ref>ebd., S. 281 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1976||Schliessung des BCL, Emeritierung.<ref>ebd., S. 266 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1990||Familientherapie-Konferenz in Paris: „Ethik und Kybernetik 2. Ordnung“.<ref>ebd., S. 286 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1994||Weltkongress f. Soziale Psychiatrie in Hamburg: „Abschied von Babylon“.<ref>ebd., S. 288 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1996||Konferenz in Heidelberg: „Die Schule neu erfinden“ mit Ernst von Glasersfeld.<ref>ebd., S. 292 f.</ref> <br />
|-<br />
| 2002||Tod am 2. Oktober in Pescadero, Kalifornien.<br />
|}<br />
<br />
== Vertiefung ausgewählter Themen ==<br />
Das Werk von Heinz von Foerster ist umfangreich und vielfältig. Einige Themen, die für das Verständnis des Menschen HvF und für die Entwicklung seiner Ideen interessant sind, sowie verschiedene Forschungs- und Entwicklungsprojekte sollen im Folgenden etwas vertieft dargestellt werden. <br />
<br />
=== Kindheit und Jugend - Herkunft und Einflüsse === <br />
Sein Vater, der Ingenieur Emil von Foerster, muss 3 Jahre nach der Geburt von Heinz in den ersten Weltkrieg ziehen und ist lange Jahre in Kriegsgefangenschaft.<ref>ebd., S. 72 ff.</ref> Somit wird er hauptsächlich von seine Mutter Lilith von Foerster erzogen, die in künstlerisch-intellektuellen Kreisen verkehrt (z. B. mit dem Maler Oskar Kokoschka oder dem Philosophen Rudolf Kassner). Ihre Mutter war Marie Lang, eine der ersten Frauenrechtlerinnen Europas, deren Gedankengut einen deutlichen Einfluss auf ihn hat.<br />
<br />
Ebenso hat in seiner Kindheit die Tante Grete Wiesenthal Einfluss auf seine Entwicklung, eine weltberühmte Tänzerin, deren Kostüme grösstenteils seine Mutter entwirft. Er berichtet schwärmerisch über viele Stunden in den Garderoben und hinter der Bühne, wo er die „''unglaublich schönen Frauen''“<ref>ebd., S. 79.</ref> beobachtet. <br />
<br />
Über seinen Onkel Erwin Lang kommt er in Berührung mit der chinesischen Philosophie des Tao, die ihn fasziniert.<ref>ebd., S. 84 und 296 ff.</ref> <br />
<br />
Zusammen mit seinem Cousin Martin Lang beginnt er sich im Alter von 14 Jahren mit der Zauberei zu befassen. Sie bringen es bis zur Aufnahme in die IAO (internationale Artistenorganisation) mit einem Zauber-Diplom<ref>ebd., S. 92 ff.</ref> In dieser Zeit entwickelt er seine Kompetenzen, vor einem grossen Publikum wirkungsvoll aufzutreten, aber auch wichtige Grundätze des Konstruktivismus. Als Zauberer sind beide so erfolgreich, weil sie imstande sind, „''ein Ambiente, einen Kontext zu erzeugen; eine'' ''Welt, in der die Zuschauer mitspielen, diese Welt zu erzeugen.''“<ref>ebd., S. 95.</ref><br />
: '' „Wir haben es so gemacht, dass der Zuschauer sich eine Welt aufbaut, in dem das geschieht, was er gehofft hat, dass es geschehen würde. Das hat mich zu dem Satz gebracht: Der Hörer, nicht der Sprecher bestimmt die Bedeutung einer Aussage.“''<ref>ebd., S. 98.</ref> <br />
<br />
: '' „Das Wesentliche des Zauberns liegt darin, den Zuschauer zu überreden, eine Welt für sich zu konstruieren, in der Wunderbares passiert. So ist sozusagen meine frühe Assoziation mit der Zauberei direkt mit Konstruktivismus verknüpft.“ ''<ref>ebd., S. 99.</ref><br />
<br />
=== Studienzeit - Grundlagen und Arbeitsweise === <br />
Er studiert Physik an der Technischen Hochschule Wien. In dieser Zeit knüpft er Kontakt zum „Wiener Kreis“, in dem Philosophen, Logiker, Mathematiker, Historiker und andere eine eigene philosophische Haltung begründen. Hier erlebt er eine Zusammenarbeit von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fachrichtungen, die sich gegenseitig in ihrem Denken befruchten. Dieser anregende und kreative Austausch beeindruckt ihn so, dass er ihn in seiner weiteren Laufbahn als Forscher stets sucht und verwirklicht (siehe Macy-Konferenzen und Biological Computer Lab).<br />
<br />
=== Erste Forschungstätigkeit - Elektroakustik === <br />
Er wird Direktor des Forschungslabors der GEMA (Gesellschaft für elektroakustische und mechanische Apparate mbH, dem Pionierunternehmen auf dem Gebiet der Radar- und Funkmesstechnik). Hier forscht er bereits zum Thema Interaktion, mit dem er sich Zeit seines Lebens immer wieder in höchst unterschiedlichen Aspekten beschäftigt.<br />
Spätestens als 1939 der zweite Weltkrieg beginnt, wird alle Energie auf sogenannte kriegswichtige Themen ausgerichtet. Dazu sagt Heinz von Foerster: <br />
: '' „Die Firma GEMA war ja ein Rüstungsbetrieb; Kriegsindustrie. Die haben die Radare für die Deutschen gebaut. Und ich habe dort im Forschungslabor an Sachen geforscht, die einfach unerforschbar waren. Das habe ich zusammen mit den Leuten gemacht, die gesagt haben: ‚Wir müssen das boykottieren‘. Also haben wir das boykottiert, indem wir immer Forschungsprogramme gewählt haben, die eigentlich undurchführbar waren. Und da konnte ich eben weiterarbeiten, denn die Projekte haben sehr vielversprechend ausgeschaut. Wir haben sie auch so formuliert, dass sie vielversprechend ausgeschaut haben.<ref>ebd., S. 132.</ref>“<br />
Die Firma wird nach dem Beginn des Bombenkrieges von Berlin nach Schlesien (heute Polen) verlegt.<br />
<br />
=== Kriegsende, Neuanfang in Wien === <br />
Kurz vor Kriegsende flieht seine Frau Mai von Foerster mit den drei Söhnen mit einem der letzten Züge aus Schlesien zu ihrer Mutter in die Nähe von Heidelberg. HvF bleibt zunächst, später schlägt er sich auf höchst abenteuerlichen Wegen durch bis zu seiner Familie. Von dort geht es mit seiner Frau und 2 von 3 Söhnen weiter in die Gegend von Kufstein / Österreich, der 3. Sohn Johannes bleibt vorübergehend bei seiner Grossmutter<ref>ebd., S. 129 ff.</ref>. <br />
<br />
Um seine Mutter und die Geschwister wieder zu sehen, geht er nach Wien, was zu dieser Zeit eine sehr mühselige Reise in eine besetzte und gefährliche Stadt ist. Dort bekommt er beim neu gegründeten Amerikanischen Radiosender „Rot-Weiss-Rot“ als Mitglied Nummer 7 eine Anstellung als Techniker und Rundfunkjournalist und wird zum Kulturchef des Senders<ref>ebd., S. 146 ff.</ref> Gleichzeitig hat er (verbotenerweise) eine 2 Arbeit, er baut die Telefonfirma Schrack-Ericcson wieder auf, die von den Besatzern geplündert wurde.<br />
<br />
Nachdem seine Frau mit den beiden Söhnen in Wien angekommen sind, versuchten sie ihr drittes Kind aus Deutschland einreisen zu lassen. Da es auf legalem Wege nicht möglich ist, holen sie es schliesslich nach 4 Jahren Trennung illegal über die geschlossene Grenze<ref>ebd., S. 150 f.</ref> <br />
: '' „Zu fünft haben wir bei Tante Haserl, einer älteren Schwester meines Vaters, in einer winzigen Wohnung, in einem winzigen Kabinett gewohnt.“''<ref>ebd., S. 151.</ref><br />
<br />
=== Buchveröffentlichung: „Das Gedächtnis – eine quantenphysikalische Untersuchung“=== <br />
Neben seiner Arbeit verfasst er in Nachtschichten sein erstes Buch, darin vertritt er die später verworfene Theorie, dass Elementarbewusstseinsinhalte auf Molekülen gespeichert werden, deren Zerfall das Phänomen des Vergessens erklären könne<ref>ebd., S. 160.</ref>. Er verknüpft dabei Quantenphysik mit Physiologie. <br />
: '' „In'' ''meinem Vorwort habe ich geschrieben: ‚Die Zeit scheint gekommen, wo die Wege geistigen Forschens heterogenster Gebiete zu ihrem gemeinsamen Ursprung zusammenfinden.‘ Da bin ich sehr stolz, dass ich in einem kleinen Paragraphen, der meinem'' Gedächtnis ''vorangeht, sozusagen über die Vorteile der Interdisziplinarität geschrieben habe; schon im Jahre 1948."<ref>ebd., S. 152.</ref>“''<br />
<br />
=== Übersiedlung in die USA - Vorträge und Anstellung im Mikrowellenlabor === <br />
Sein Buch „Das Gedächtnis“ erregt Aufmerksamkeit beim Neurophysiologen Warren McCulloch, Direktor der Neuropsychiatrie der Universität Illinois in Chicago, der ihn 1949 zur Vorstellung seiner Theorie über Gedächtnis und Vergessen an seine Universität einlädt.<br />
<br />
Er bekommt daraufhin eine Einladung zur 6. [[Macy-Konferenz]], auf der er über seine Thesen zum Gedächtnis spricht und eine grossen Anzahl Forscher aus verschiedensten Fachgebieten kennenlernt. Siehe Kapitel 2.7.<br />
<br />
''„McCulloch schickte ihn als Physiker an das physikalische Departement der Universität von Illinois in Champaign-Urbana, wo im ‚Department of Electrical Engineering‘ der Direktorposten des Mikrowellenlabors verwaist war. HvF bekam die Stelle und mit vielen Schwierigkeiten die Immigrationsbewilligung für sich sowie wenig später auch für seine Frau Mai und die drei Söhne.“ ''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 45.</ref><br />
<br />
In diesem Labor mit Namen Electron Tube Research Lab (Elektroröhrenlaboratorium) befasst man sich mit der drahtlosen Telegraphie mittels Mikrowellen und anderen Themen. HvF spezialisiert sich auf die Modulation von Licht mittels Mikrowellen zur Nachrichtenübermittlung<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019): ''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). ISBN 978-3-89670-557-0. S. 201 ff.</ref>. <br />
Zu den erfolgreichsten Projekten dieses Labors gehört auch eine Stoppuhr, mit der man ein Millionstel einer Millionstel Sekunde messen kann, zu dem Zeitpunkt die schnellste der Welt.<br />
<br />
=== Die [[Macy-Konferenzen]] === <br />
Ein Meilenstein im Werdegang von HvF ist die Einladung zur 6. Macy-Konferenz vom 24. bis 25. März 1949 in New York. Thema der Konferenz ist "Circular Causal and Feedback Mechanisms in Biological and Social Systems". Dieses jährlich stattfindende Treffen hochkarätiger Wissenschaftler zeichnet sich durch eine sehr lebendige und inspirierende Diskussionskultur und einer Vernetzung über Wissensgebiete hinweg aus. Vertreten sind Fachgebiete wie Mathematik, Informatik (John von Neumann, ein Vater der Computertechnologie), Anthropologie (Margaret Mead und [[Gregory Bateson]]), Kybernetik ([[Norbert Wiener]]), Physiologie, Psychologie, Psychoanalyse, Psychiatrie, Elektrotechnik, Medizin, Zoologie, Soziologie, Ethnologie, Anatomie, Neurologie, Verhaltensforschung, Mathematik, Radiobiologie, Biophysik, Philosophie, Ökonomie u. a.. Er hält dort seinen Vortrag über Gedächtnis und Vergessen. Er wird zum Herausgeber der Publikation der Konferenzakten bestimmt (angeblich, um seine schlechten Englischkenntnisse zu verbessern)<ref>American Society for Cybernetics, Washington USA, 2021. https://asc-cybernetics.org/foundations/history/MacySummary.htm Zugriff 3.12.2021</ref>. Diese Rolle behält er bis zur letzten Macy-Konferenz. <br />
<br />
: ''„In sehr kurzer Zeit war er von der äußersten Peripherie (dem Nachkriegs-Wien) ins Zentrum einer der bedeutendsten Wissenschafts-Bewegungen des 20. Jahrhunderts geraten.<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11 (1): 9-30. https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref>''“ <br />
<br />
Von 1949 bis 1953 nimmt er jedes Jahr an den Macy-Konferenzen teil. Dazu schreibt er: „''Mein Geist, mein Spirit, meine Erfahrungen, meine Fähigkeiten und meine Technologie waren da, um diese Röhren zu bauen, aber mein Herz und'' ''meine Seele waren bei den Kybernetikern, den Macy-Leuten.“''<ref>ebd., S. 206.</ref><br />
<br />
=== Freisemester, Biologiestudium === <br />
1956 / 57 nutzt er zwei ihn zustehende Freisemester (sabaticals), um Teilgebiete der Biologie zu studieren. Das erste Semester verbringt er bei bei Warren McCulloch am berühmten Massachusetts Institute of Technologies (MIT) im Research Laboratory of Electronics. Thema dort ist zu dem Zeitpunkt künstliche Intelligenz. Das zweite Semester studiert er auf Empfehlung von [[Norbert Wiener]] bei Arturo Rosenblueth, einem Neurophysiologen, der sich zu der Zeit in Mexico City mit Kardiologie befasst. Foerster setzt sich dort mit kybernetischer Biologie auseinander, speziell mit der Arbeitsweise von Muskelfasern. <br />
: „''Während dieses Aufenthalts verfaßte er unter anderem ein - dann unveröffentlicht gebliebenes - Manuskript, dessen Inhalt die Kybernetik der Muskelaktivität betraf.“''<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. ''Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften'' 11 (1): 9-30. <br />
<br />
https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref><br />
|-<br />
<br />
=== Biological Computer Lab, BCL === <br />
1958 gründet er sein eigenes Labor, das Biological Computer Lab, BCL. <br />
: „''In einer interdisziplinären Atmosphäre des Vertrauens wurden so technische Projekte verwirklicht, konnten aber auch grundsätzliche Fragen und Erklärungsmodelle diskutiert werden. Schwerpunkte dieser Diskussionen waren das Modell der Zirkularität, die Selbstorganisations- und Chaostheorie, die Funktionsweise der Wahrnehmung und neuronaler Netzwerke und selbstverständlich ganz grundsätzliche erkenntnistheoretische Fragen. HvF und sein BCL entwickelten sich so zu einem Zentrum, das mit den Argumentationen der führenden KybernetikerInnen vertraut war und zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Formulierung und Entwicklung der Kybernetik leistete.<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 49.</ref>“ '' <br />
<br />
Als Professor und Direktor der BCL ist er nun mit Forschung und Lehre betraut. Typisch für ihn ist sein Verständnis von „''Unterrichten nicht als einseitiges Dozieren von oben herab, sondern als ein gemeinsames Forschen, zu dem alle Beteiligten mit ihren Kompetenzen ihren Beitrag leisten. In den 68er-Jahren hatten seine Veranstaltungen großen Zulauf, weil er die StudentInnen und ihre Anliegen ernst nahm.<ref>ebd., S. 48.</ref>“ ''<br />
<br />
Die Bedeutung dieses Labors und die Reichweite seiner Wirkung wird vom Wissenschaftshistoriker Albert Müller so eingeschätzt: <br />
:„''Und ebenso motiviert mich der Umstand, daß das BCL in der Literatur zur Geschichte der Kybernetik, der Systemtheorie, der nun wieder neu debattierten Bionik, des parallelen Rechnens, der Neurophysiologie, der Bio-Logik, der künstlichen Intelligenz, des symbolischen Rechnens oder des Konstruktivismus als Denktradition - man könnte noch weitere Wissensgebiete von gegenwärtig großem Renommee aufzählen - nur sehr selten erwähnt wird, obwohl Mitarbeiter dieser Einrichtung, des BCL, als maßgeblich für die jeweilige Domäne in der Literatur zu diesen Wissensgebieten erscheinen. Ist das eine spezielle Vergeßlichkeit der history of science (die Vergeßlichkeit der science selbst ist ja weithin bekannt)?<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11 (1): 9-30. https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref>“ '' <br />
<br />
Die Wechselwirkung dieser gegenseitigen Beeinflussung der Forscher beschreibt Albert Müller in einem Beispiel: <br />
: „''[[Humberto Maturana]] kam also an das BCL und erarbeitete dort unter anderem einen wichtigen Artikel auf dem Weg zu seiner - heute weltweit bekannten - Theorie der [[Autopoiese (Autopoiesis)]]. Aber auch die erste Ausformulierung der nun auf den Begriff gebrachten Theorie der Autopoiesis erschien zuerst als interne Publikation des BCL. Schüler und Mitarbeiter Maturanas entwickelten ebenfalls Beziehungen zum BCL, und zentrale erste Publikationen - zum Beispiel jene von Francisco Varela wurden als BCL-Reports herausgegeben... Wahrscheinlich war es die Herausforderung durch den Impuls der chilenischen Gruppe, die es Heinz von Foerster ermöglichte, die Entwicklung seiner radikalen Version einer Kybernetik zweiter Ordnung (second order cybernetics) voranzutreiben. Dies soll nicht heißen, daß sich Foersters Konzepte aus denen Maturanas ableiten ließen, oder umgekehrt. Die Parallelen und die wechselseitige Stimulierung wurde auf einer Konferenz zu Cognitive Studies and Artificial Intelligence Research 1969 sichtbar. Foersters Beitrag kann als direkte Antwort auf jenen von Maturana gelesen werden - und vice versa<ref>ebd.</ref>.“ '' <br />
<br />
: „''Mehrere wichtige Konferenzen kamen im unmittelbaren Umfeld des BCL zustande. Thematisch kreisten sie um Probleme der Systemtheorie und speziell um den Bereich selbstorganisierender Systeme. Noch heute sind die Konferenzbände wie Self-Organizing Systems oder Principles of Self-Organization grundlegend für diesen Forschungsbereich.<ref>ebd.</ref>“ '' <br />
<br />
Dazu gehörte das Erforschen vom Parallelrechnen der Nervennetze von Lebewesen im Gegensatz zu den seriellen Rechenoperationen in Computern (wie sie John von Neumann damals baute). Ein "biologischer Computer" namens Numarete wurde entwickelt, der die Funktionsweise des Auges von Lebewesen als Vorbild hatte (bei dem gleichzeitig eine grosse Menge an Informationen berechnet werden im Zusammenspiel von Muskel-, Sinnes- und neuronalen Zellen). Ein weiterer Schritt auf diesem Gebiet war der Bau eines Computers zur Analyse akustischer Signale.<br />
Bionik wurde als Alternative zur 1956 formulierten Artificial Intelligence verstanden, die sich aber letztendlich ihr gegenüber durchsetzte.<br />
<br />
Das Biological Computer Lab wird 1976 geschlossen, weil die Finanzierung nicht mehr gewährleistet war. Mit seiner unkonventionellen Art des Denkens hat sich HvF im Universitätsbereich nicht nur Freunde gemacht. Er selbst sagt dazu: <br />
:''„Ich glaube, das ist meine Schuld gewesen. Ich glaube, ich habe die die Politik der Wissenschaft zu wenig verstanden. (...) Ich habe nicht daran gedacht: ‚Wie verkauft man das? Was muss man machen, dass es an die Öffentlichkeit kommt, dass es in die Zeitungen kommt, dass es die Institute wissen, die die Gelder hergeben?‘ Also in Public Relations habe ich völlig versagt.“''<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019):''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). <nowiki>ISBN 978-3-89670-557-0</nowiki>. 1. Auflage: 2002. S. 271.</ref>"<br />
Da sich das abgezeichnet hatte, lässt sich HvF zum 65. Geburtstag emeritieren.<br />
<br />
==Bedeutung für Kinästhetik==<br />
Zu diesem Thema hat eine Diskussion begonnen, bei der weiterhin Mitwirken erwünscht ist. Siehe Diskussionsseite [[Diskussion: Heinz von Foerster]] dieses Artikels.<br />
<br />
==Weiterführende Literatur und Medien==<br />
'''Maria Pruckner:''' 90 Jahre Heinz von Foerster | Relaunch 2021. <br />
https://www.youtube.com/watch?v=-OPdH8Pk6x4 (Zugriff: 07.02.2022).<br />
<br />
'''Nikola Bock und Jutta Schubert:''' Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners - Tanz mit der Welt. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=RNdTrdi5nG4 (Zugriff: 27.10.2021).<br />
<br />
'''Lucas Pawlik:''' Einführung in die Kybern-ethik Heinz von Foersters Teil I. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=PeE9eAoT6x8 (Zugriff: 09.12.2021).<br />
<br />
'''Lucas Pawlik:''' Einführung in die Kyber-ethik Heinz von Foersters Teil II. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=y9oRamZyq28<br />
(Zugriff: 09.12.2021).<br />
<br />
''' Universität Wien, Artikel aus der Zeitschrift für Geschichtswissenschaften: ''' Im Goldenen Hecht. Über Konstruktivismus und Geschichte. Ein Gespräch zwischen Heinz von Foerster, Albert Müller und Karl H. Müller <br><br />
https://www.univie.ac.at/heinz-von-foerster-archive/etexte/int.pdf (Zugriff: 11.08.2021).<br />
<br />
==Einzelnachweise==<br />
<br />
<references /></div>Sabine Kasererhttps://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Heinz_von_Foerster&diff=4408Heinz von Foerster2022-08-24T06:42:38Z<p>Sabine Kaserer: /* Die Macy-Konferenzen */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|in Bearbeitung|Lutz Zierbeck/Sabine Kaserer}}{| class="wikitable" <br />
<br><br />
<br />
'''''Zusammenfassung'':'''''<br>„Heinz von Foerster (1911-2002) spielte für die Entwicklung der Kybernetik eine entscheidende Rolle. Sein Labor, das "Biological Computer Lab" entwickelte sich zu einem kybernetischen Kompetenzzentrum, zu dem viele herausragende WissenschaftlerInnen einen engen Kontakt hatten, wo sie sich trafen und forschten. Bis ins hohe Alter blieb von Foerster ein Vordenker der Kybernetik<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 44.</ref>"'' <br><br />
<br />
HvF, wie er sich selber nannte, hat in seinem langen Leben in vielen Gebieten geforscht und gearbeitet. Sein Werk ist vielfältig und umfangreich, grosse Teile davon haben eine Bedeutung für Kinästhetik, vor allem seine kybernetischen Studien und seine Arbeiten zur Ethik und zum Lernen. <br><br />
<br />
Nach einer kurzen tabellarischen Aufzählung wichtiger Eckdaten und Ereignisse folgt die Vertiefung einiger der aufgeführten Themen, z. T. mit Literaturzitaten untermauert. Die Bedeutung seines Werkes für Kinästhetik wird im 3. Kapitel erläutert.<br> <br />
<br>Die Arbeit am Artikel ist noch nicht abgeschlossen! Wir laden zum Mitdenken, Mitdiskutieren und Mitschreiben ein! Siehe Diskussionsseite.<br />
<br />
== Tabellarischer Lebenslauf ==<br />
|-<br />
! Jahr !! Leben und Werk<br />
|-<br />
| 1911 || Geboren am 13. November in Wien. <br />
|-<br />
| ab 1930 || Studium der Physik an der Technischen Hochschule Wien. <br />
|-<br />
|-<br />
| 1938 || Erste Arbeitsstelle als Physiker im Forschungslabor und kurzzeitig auch als Vertreter bei der Firma E. Leybold´s Nachfolger, Vakuumpumpenfabrik in Köln.<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019): ''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). ISBN 978-3-89670-557-0. S. 116 ff.</ref> <br />
|-<br />
|-<br />
| 1939 || Lernt am Neujahrsabend die Schauspielerin Mai Stürmer kennen, sie heiraten wenige Monate später.<ref>ebd., S. 119 ff</ref><br />
<br />
|-<br />
|-<br />
| 1939 || Umzug nach Berlin, Direktor des Forschungslabors der GEMA (Gesellschaft für elektroakustische und mechanische Apparate mbH, dem Pionierunternehmen auf dem Gebiet der Radar- und Funkmesstechnik).<ref>ebd., S. 121 ff</ref> <br />
<br />
|-<br />
|-<br />
| 1944 || Er reicht seine Dissertation zum Thema Plasmaoszillationen an der Universität Breslau ein, wird aber nicht promoviert, da er keinen Ariernachweis vorlegen kann.<ref>ebd., S. 127 ff.</ref><br />
|-<br />
|-<br />
| 1945 || Neuanfang in Wien als Kulturchef des amerikanischen Radiosenders „Rot-Weiss-Rot“.<ref>ebd., S. 146 ff.</ref><br />
|-<br />
|-<br />
| 1948 || Veröffentlichung des Buches „Das Gedächtnis – eine quantenphysikalische Untersuchung“.<ref>ebd., S. 151 f</ref> <br />
|-<br />
|-<br />
| 1949 || Übersiedlung in die USA, Teilnahme an der 6. [[Macy-Konferenz]], Direktor des Mikrowellenlabors der Universität Illinois.<ref>ebd., S. 153 ff.</ref> <br />
<br />
|-<br />
|1956 / 57||2 Freisemester (Sabbatical) Studium biologischer Themen.<ref>ebd., S. 206 ff.</ref> <br />
<br />
|-<br />
| 1958||Gründung seines eigenen Labors „Biological Computer Lab, BCL“.<ref>ebd., S. 211 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1959||„Selforganization Systems Conference“.<ref>ebd., S. 222 ff</ref> <br />
|-<br />
| 1960||„Principles of Selforganization Conference“.<ref>ebd., S. 227 ff</ref> <br />
|-<br />
| 1962||„Information Processing in the Nervous System“ Konferenz in Leiden, NL. Macht dort Bekanntschaft mit dem Biologen Humberto Maturana.<ref>ebd., S. 232 ff.</ref><br />
|-<br />
| 1968||Heuristics I und II.<ref>ebd., S. 241 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1969||Heuristics III, Zeit der Studentenrevolutionen. Verfasst einen Katalog mit StudentInnen zusammen.<ref>ebd., S. 244 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1970||Unterricht der „honours class ingeneering group“. Schreibt mit StudentInnen zusammen das „Ecological Source book“.<ref>ebd., S. 250 f.</ref> <br />
|-<br />
| 1973||„Om-Conference“.<ref>ebd., S. 271 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1974||Kurs für Studenten und gemeinsames Buch darüber: „Cybernetcs of Cybernetics“.<ref>ebd., S. 251 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1975||Baut sein Haus (grösstenteils eigenhändig) auf dem Rattlesnake Hill in Pescadero, Kalifornien.<ref>ebd., S. 281 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1976||Schliessung des BCL, Emeritierung.<ref>ebd., S. 266 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1990||Familientherapie-Konferenz in Paris: „Ethik und Kybernetik 2. Ordnung“.<ref>ebd., S. 286 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1994||Weltkongress f. Soziale Psychiatrie in Hamburg: „Abschied von Babylon“.<ref>ebd., S. 288 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1996||Konferenz in Heidelberg: „Die Schule neu erfinden“ mit Ernst von Glasersfeld.<ref>ebd., S. 292 f.</ref> <br />
|-<br />
| 2002||Tod am 2. Oktober in Pescadero, Kalifornien.<br />
|}<br />
<br />
== Vertiefung ausgewählter Themen ==<br />
Das Werk von Heinz von Foerster ist umfangreich und vielfältig. Einige Themen, die für das Verständnis des Menschen HvF und für die Entwicklung seiner Ideen interessant sind, sowie verschiedene Forschungs- und Entwicklungsprojekte sollen im Folgenden etwas vertieft dargestellt werden. <br />
<br />
=== Kindheit und Jugend - Herkunft und Einflüsse === <br />
Sein Vater, der Ingenieur Emil von Foerster, muss 3 Jahre nach der Geburt von Heinz in den ersten Weltkrieg ziehen und ist lange Jahre in Kriegsgefangenschaft.<ref>ebd., S. 72 ff.</ref> Somit wird er hauptsächlich von seine Mutter Lilith von Foerster erzogen, die in künstlerisch-intellektuellen Kreisen verkehrt (z. B. mit dem Maler Oskar Kokoschka oder dem Philosophen Rudolf Kassner). Ihre Mutter war Marie Lang, eine der ersten Frauenrechtlerinnen Europas, deren Gedankengut einen deutlichen Einfluss auf ihn hat.<br />
<br />
Ebenso hat in seiner Kindheit die Tante Grete Wiesenthal Einfluss auf seine Entwicklung, eine weltberühmte Tänzerin, deren Kostüme grösstenteils seine Mutter entwirft. Er berichtet schwärmerisch über viele Stunden in den Garderoben und hinter der Bühne, wo er die „''unglaublich schönen Frauen''“<ref>ebd., S. 79.</ref> beobachtet. <br />
<br />
Über seinen Onkel Erwin Lang kommt er in Berührung mit der chinesischen Philosophie des Tao, die ihn fasziniert.<ref>ebd., S. 84 und 296 ff.</ref> <br />
<br />
Zusammen mit seinem Cousin Martin Lang beginnt er sich im Alter von 14 Jahren mit der Zauberei zu befassen. Sie bringen es bis zur Aufnahme in die IAO (internationale Artistenorganisation) mit einem Zauber-Diplom<ref>ebd., S. 92 ff.</ref> In dieser Zeit entwickelt er seine Kompetenzen, vor einem grossen Publikum wirkungsvoll aufzutreten, aber auch wichtige Grundätze des Konstruktivismus. Als Zauberer sind beide so erfolgreich, weil sie imstande sind, „''ein Ambiente, einen Kontext zu erzeugen; eine'' ''Welt, in der die Zuschauer mitspielen, diese Welt zu erzeugen.''“<ref>ebd., S. 95.</ref><br />
: '' „Wir haben es so gemacht, dass der Zuschauer sich eine Welt aufbaut, in dem das geschieht, was er gehofft hat, dass es geschehen würde. Das hat mich zu dem Satz gebracht: Der Hörer, nicht der Sprecher bestimmt die Bedeutung einer Aussage.“''<ref>ebd., S. 98.</ref> <br />
<br />
: '' „Das Wesentliche des Zauberns liegt darin, den Zuschauer zu überreden, eine Welt für sich zu konstruieren, in der Wunderbares passiert. So ist sozusagen meine frühe Assoziation mit der Zauberei direkt mit Konstruktivismus verknüpft.“ ''<ref>ebd., S. 99.</ref><br />
<br />
=== Studienzeit - Grundlagen und Arbeitsweise === <br />
Er studiert Physik an der Technischen Hochschule Wien. In dieser Zeit knüpft er Kontakt zum „Wiener Kreis“, in dem Philosophen, Logiker, Mathematiker, Historiker und andere eine eigene philosophische Haltung begründen. Hier erlebt er eine Zusammenarbeit von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fachrichtungen, die sich gegenseitig in ihrem Denken befruchten. Dieser anregende und kreative Austausch beeindruckt ihn so, dass er ihn in seiner weiteren Laufbahn als Forscher stets sucht und verwirklicht (siehe Macy-Konferenzen und Biological Computer Lab).<br />
<br />
=== Erste Forschungstätigkeit - Elektroakustik === <br />
Er wird Direktor des Forschungslabors der GEMA (Gesellschaft für elektroakustische und mechanische Apparate mbH, dem Pionierunternehmen auf dem Gebiet der Radar- und Funkmesstechnik). Hier forscht er bereits zum Thema Interaktion, mit dem er sich Zeit seines Lebens immer wieder in höchst unterschiedlichen Aspekten beschäftigt.<br />
Spätestens als 1939 der zweite Weltkrieg beginnt, wird alle Energie auf sogenannte kriegswichtige Themen ausgerichtet. Dazu sagt Heinz von Foerster: <br />
: '' „Die Firma GEMA war ja ein Rüstungsbetrieb; Kriegsindustrie. Die haben die Radare für die Deutschen gebaut. Und ich habe dort im Forschungslabor an Sachen geforscht, die einfach unerforschbar waren. Das habe ich zusammen mit den Leuten gemacht, die gesagt haben: ‚Wir müssen das boykottieren‘. Also haben wir das boykottiert, indem wir immer Forschungsprogramme gewählt haben, die eigentlich undurchführbar waren. Und da konnte ich eben weiterarbeiten, denn die Projekte haben sehr vielversprechend ausgeschaut. Wir haben sie auch so formuliert, dass sie vielversprechend ausgeschaut haben.<ref>ebd., S. 132.</ref>“<br />
Die Firma wird nach dem Beginn des Bombenkrieges von Berlin nach Schlesien (heute Polen) verlegt.<br />
<br />
=== Kriegsende, Neuanfang in Wien === <br />
Kurz vor Kriegsende flieht seine Frau Mai von Foerster mit den drei Söhnen mit einem der letzten Züge aus Schlesien zu ihrer Mutter in die Nähe von Heidelberg. HvF bleibt zunächst, später schlägt er sich auf höchst abenteuerlichen Wegen durch bis zu seiner Familie. Von dort geht es mit seiner Frau und 2 von 3 Söhnen weiter in die Gegend von Kufstein / Österreich, der 3. Sohn Johannes bleibt vorübergehend bei seiner Grossmutter<ref>ebd., S. 129 ff.</ref>. <br />
<br />
Um seine Mutter und die Geschwister wieder zu sehen, geht er nach Wien, was zu dieser Zeit eine sehr mühselige Reise in eine besetzte und gefährliche Stadt ist. Dort bekommt er beim neu gegründeten Amerikanischen Radiosender „Rot-Weiss-Rot“ als Mitglied Nummer 7 eine Anstellung als Techniker und Rundfunkjournalist und wird zum Kulturchef des Senders<ref>ebd., S. 146 ff.</ref> Gleichzeitig hat er (verbotenerweise) eine 2 Arbeit, er baut die Telefonfirma Schrack-Ericcson wieder auf, die von den Besatzern geplündert wurde.<br />
<br />
Nachdem seine Frau mit den beiden Söhnen in Wien angekommen sind, versuchten sie ihr drittes Kind aus Deutschland einreisen zu lassen. Da es auf legalem Wege nicht möglich ist, holen sie es schliesslich nach 4 Jahren Trennung illegal über die geschlossene Grenze<ref>ebd., S. 150 f.</ref> <br />
: '' „Zu fünft haben wir bei Tante Haserl, einer älteren Schwester meines Vaters, in einer winzigen Wohnung, in einem winzigen Kabinett gewohnt.“''<ref>ebd., S. 151.</ref><br />
<br />
=== Buchveröffentlichung: „Das Gedächtnis – eine quantenphysikalische Untersuchung“=== <br />
Neben seiner Arbeit verfasst er in Nachtschichten sein erstes Buch, darin vertritt er die später verworfene Theorie, dass Elementarbewusstseinsinhalte auf Molekülen gespeichert werden, deren Zerfall das Phänomen des Vergessens erklären könne<ref>ebd., S. 160.</ref>. Er verknüpft dabei Quantenphysik mit Physiologie. <br />
: '' „In'' ''meinem Vorwort habe ich geschrieben: ‚Die Zeit scheint gekommen, wo die Wege geistigen Forschens heterogenster Gebiete zu ihrem gemeinsamen Ursprung zusammenfinden.‘ Da bin ich sehr stolz, dass ich in einem kleinen Paragraphen, der meinem'' Gedächtnis ''vorangeht, sozusagen über die Vorteile der Interdisziplinarität geschrieben habe; schon im Jahre 1948."<ref>ebd., S. 152.</ref>“''<br />
<br />
=== Übersiedlung in die USA - Vorträge und Anstellung im Mikrowellenlabor === <br />
Sein Buch „Das Gedächtnis“ erregt Aufmerksamkeit beim Neurophysiologen Warren McCulloch, Direktor der Neuropsychiatrie der Universität Illinois in Chicago, der ihn 1949 zur Vorstellung seiner Theorie über Gedächtnis und Vergessen an seine Universität einlädt.<br />
<br />
Er bekommt daraufhin eine Einladung zur 6. [[Macy-Konferenz]], auf der er über seine Thesen zum Gedächtnis spricht und eine grossen Anzahl Forscher aus verschiedensten Fachgebieten kennenlernt. Siehe Kapitel 2.7.<br />
<br />
''„McCulloch schickte ihn als Physiker an das physikalische Departement der Universität von Illinois in Champaign-Urbana, wo im ‚Department of Electrical Engineering‘ der Direktorposten des Mikrowellenlabors verwaist war. HvF bekam die Stelle und mit vielen Schwierigkeiten die Immigrationsbewilligung für sich sowie wenig später auch für seine Frau Mai und die drei Söhne.“ ''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 45.</ref><br />
<br />
In diesem Labor mit Namen Electron Tube Research Lab (Elektroröhrenlaboratorium) befasst man sich mit der drahtlosen Telegraphie mittels Mikrowellen und anderen Themen. HvF spezialisiert sich auf die Modulation von Licht mittels Mikrowellen zur Nachrichtenübermittlung<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019): ''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). ISBN 978-3-89670-557-0. S. 201 ff.</ref>. <br />
Zu den erfolgreichsten Projekten dieses Labors gehört auch eine Stoppuhr, mit der man ein Millionstel einer Millionstel Sekunde messen kann, zu dem Zeitpunkt die schnellste der Welt.<br />
<br />
=== Die [[Macy-Konferenzen]] === <br />
Ein Meilenstein im Werdegang von HvF ist die Einladung zur 6. Macy-Konferenz vom 24. bis 25. März 1949 in New York. Thema der Konferenz ist "Circular Causal and Feedback Mechanisms in Biological and Social Systems". Dieses jährlich stattfindende Treffen hochkarätiger Wissenschaftler zeichnet sich durch eine sehr lebendige und inspirierende Diskussionskultur und einer Vernetzung über Wissensgebiete hinweg aus. Vertreten sind Fachgebiete wie Mathematik, Informatik (John von Neumann, ein Vater der Computertechnologie), Anthropologie (Margaret Mead und [[Gregory Bateson]]), Kybernetik ([[Norbert Wiener]]), Physiologie, Psychologie, Psychoanalyse, Psychiatrie, Elektrotechnik, Medizin, Zoologie, Soziologie, Ethnologie, Anatomie, Neurologie, Verhaltensforschung, Mathematik, Radiobiologie, Biophysik, Philosophie, Ökonomie u. a.. Er hält dort seinen Vortrag über Gedächtnis und Vergessen. Er wird zum Herausgeber der Publikation der Konferenzakten bestimmt (angeblich, um seine schlechten Englischkenntnisse zu verbessern)<ref>American Society for Cybernetics, Washington USA, 2021. https://asc-cybernetics.org/foundations/history/MacySummary.htm Zugriff 3.12.2021</ref>. Diese Rolle behält er bis zur letzten Macy-Konferenz. <br />
<br />
: ''„In sehr kurzer Zeit war er von der äußersten Peripherie (dem Nachkriegs-Wien) ins Zentrum einer der bedeutendsten Wissenschafts-Bewegungen des 20. Jahrhunderts geraten.<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11 (1): 9-30. https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref>''“ <br />
<br />
Von 1949 bis 1953 nimmt er jedes Jahr an den [[Macy-Konferenzen]] teil. Dazu schreibt er: „''Mein Geist, mein Spirit, meine Erfahrungen, meine Fähigkeiten und meine Technologie waren da, um diese Röhren zu bauen, aber mein Herz und'' ''meine Seele waren bei den Kybernetikern, den Macy-Leuten.“''<ref>ebd., S. 206.</ref><br />
<br />
=== Freisemester, Biologiestudium === <br />
1956 / 57 nutzt er zwei ihn zustehende Freisemester (sabaticals), um Teilgebiete der Biologie zu studieren. Das erste Semester verbringt er bei bei Warren McCulloch am berühmten Massachusetts Institute of Technologies (MIT) im Research Laboratory of Electronics. Thema dort ist zu dem Zeitpunkt künstliche Intelligenz. Das zweite Semester studiert er auf Empfehlung von [[Norbert Wiener]] bei Arturo Rosenblueth, einem Neurophysiologen, der sich zu der Zeit in Mexico City mit Kardiologie befasst. Foerster setzt sich dort mit kybernetischer Biologie auseinander, speziell mit der Arbeitsweise von Muskelfasern. <br />
: „''Während dieses Aufenthalts verfaßte er unter anderem ein - dann unveröffentlicht gebliebenes - Manuskript, dessen Inhalt die Kybernetik der Muskelaktivität betraf.“''<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. ''Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften'' 11 (1): 9-30. <br />
<br />
https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref><br />
|-<br />
<br />
=== Biological Computer Lab, BCL === <br />
1958 gründet er sein eigenes Labor, das Biological Computer Lab, BCL. <br />
: „''In einer interdisziplinären Atmosphäre des Vertrauens wurden so technische Projekte verwirklicht, konnten aber auch grundsätzliche Fragen und Erklärungsmodelle diskutiert werden. Schwerpunkte dieser Diskussionen waren das Modell der Zirkularität, die Selbstorganisations- und Chaostheorie, die Funktionsweise der Wahrnehmung und neuronaler Netzwerke und selbstverständlich ganz grundsätzliche erkenntnistheoretische Fragen. HvF und sein BCL entwickelten sich so zu einem Zentrum, das mit den Argumentationen der führenden KybernetikerInnen vertraut war und zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Formulierung und Entwicklung der Kybernetik leistete.<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 49.</ref>“ '' <br />
<br />
Als Professor und Direktor der BCL ist er nun mit Forschung und Lehre betraut. Typisch für ihn ist sein Verständnis von „''Unterrichten nicht als einseitiges Dozieren von oben herab, sondern als ein gemeinsames Forschen, zu dem alle Beteiligten mit ihren Kompetenzen ihren Beitrag leisten. In den 68er-Jahren hatten seine Veranstaltungen großen Zulauf, weil er die StudentInnen und ihre Anliegen ernst nahm.<ref>ebd., S. 48.</ref>“ ''<br />
<br />
Die Bedeutung dieses Labors und die Reichweite seiner Wirkung wird vom Wissenschaftshistoriker Albert Müller so eingeschätzt: <br />
:„''Und ebenso motiviert mich der Umstand, daß das BCL in der Literatur zur Geschichte der Kybernetik, der Systemtheorie, der nun wieder neu debattierten Bionik, des parallelen Rechnens, der Neurophysiologie, der Bio-Logik, der künstlichen Intelligenz, des symbolischen Rechnens oder des Konstruktivismus als Denktradition - man könnte noch weitere Wissensgebiete von gegenwärtig großem Renommee aufzählen - nur sehr selten erwähnt wird, obwohl Mitarbeiter dieser Einrichtung, des BCL, als maßgeblich für die jeweilige Domäne in der Literatur zu diesen Wissensgebieten erscheinen. Ist das eine spezielle Vergeßlichkeit der history of science (die Vergeßlichkeit der science selbst ist ja weithin bekannt)?<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11 (1): 9-30. https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref>“ '' <br />
<br />
Die Wechselwirkung dieser gegenseitigen Beeinflussung der Forscher beschreibt Albert Müller in einem Beispiel: <br />
: „''[[Humberto Maturana]] kam also an das BCL und erarbeitete dort unter anderem einen wichtigen Artikel auf dem Weg zu seiner - heute weltweit bekannten - Theorie der [[Autopoiese (Autopoiesis)]]. Aber auch die erste Ausformulierung der nun auf den Begriff gebrachten Theorie der Autopoiesis erschien zuerst als interne Publikation des BCL. Schüler und Mitarbeiter Maturanas entwickelten ebenfalls Beziehungen zum BCL, und zentrale erste Publikationen - zum Beispiel jene von Francisco Varela wurden als BCL-Reports herausgegeben... Wahrscheinlich war es die Herausforderung durch den Impuls der chilenischen Gruppe, die es Heinz von Foerster ermöglichte, die Entwicklung seiner radikalen Version einer Kybernetik zweiter Ordnung (second order cybernetics) voranzutreiben. Dies soll nicht heißen, daß sich Foersters Konzepte aus denen Maturanas ableiten ließen, oder umgekehrt. Die Parallelen und die wechselseitige Stimulierung wurde auf einer Konferenz zu Cognitive Studies and Artificial Intelligence Research 1969 sichtbar. Foersters Beitrag kann als direkte Antwort auf jenen von Maturana gelesen werden - und vice versa<ref>ebd.</ref>.“ '' <br />
<br />
: „''Mehrere wichtige Konferenzen kamen im unmittelbaren Umfeld des BCL zustande. Thematisch kreisten sie um Probleme der Systemtheorie und speziell um den Bereich selbstorganisierender Systeme. Noch heute sind die Konferenzbände wie Self-Organizing Systems oder Principles of Self-Organization grundlegend für diesen Forschungsbereich.<ref>ebd.</ref>“ '' <br />
<br />
Dazu gehörte das Erforschen vom Parallelrechnen der Nervennetze von Lebewesen im Gegensatz zu den seriellen Rechenoperationen in Computern (wie sie John von Neumann damals baute). Ein "biologischer Computer" namens Numarete wurde entwickelt, der die Funktionsweise des Auges von Lebewesen als Vorbild hatte (bei dem gleichzeitig eine grosse Menge an Informationen berechnet werden im Zusammenspiel von Muskel-, Sinnes- und neuronalen Zellen). Ein weiterer Schritt auf diesem Gebiet war der Bau eines Computers zur Analyse akustischer Signale.<br />
Bionik wurde als Alternative zur 1956 formulierten Artificial Intelligence verstanden, die sich aber letztendlich ihr gegenüber durchsetzte.<br />
<br />
Das Biological Computer Lab wird 1976 geschlossen, weil die Finanzierung nicht mehr gewährleistet war. Mit seiner unkonventionellen Art des Denkens hat sich HvF im Universitätsbereich nicht nur Freunde gemacht. Er selbst sagt dazu: <br />
:''„Ich glaube, das ist meine Schuld gewesen. Ich glaube, ich habe die die Politik der Wissenschaft zu wenig verstanden. (...) Ich habe nicht daran gedacht: ‚Wie verkauft man das? Was muss man machen, dass es an die Öffentlichkeit kommt, dass es in die Zeitungen kommt, dass es die Institute wissen, die die Gelder hergeben?‘ Also in Public Relations habe ich völlig versagt.“''<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019):''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). <nowiki>ISBN 978-3-89670-557-0</nowiki>. 1. Auflage: 2002. S. 271.</ref>"<br />
Da sich das abgezeichnet hatte, lässt sich HvF zum 65. Geburtstag emeritieren.<br />
<br />
==Bedeutung für Kinästhetik==<br />
Zu diesem Thema hat eine Diskussion begonnen, bei der weiterhin Mitwirken erwünscht ist. Siehe Diskussionsseite [[Diskussion: Heinz von Foerster]] dieses Artikels.<br />
<br />
==Weiterführende Literatur und Medien==<br />
'''Maria Pruckner:''' 90 Jahre Heinz von Foerster | Relaunch 2021. <br />
https://www.youtube.com/watch?v=-OPdH8Pk6x4 (Zugriff: 07.02.2022).<br />
<br />
'''Nikola Bock und Jutta Schubert:''' Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners - Tanz mit der Welt. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=RNdTrdi5nG4 (Zugriff: 27.10.2021).<br />
<br />
'''Lucas Pawlik:''' Einführung in die Kybern-ethik Heinz von Foersters Teil I. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=PeE9eAoT6x8 (Zugriff: 09.12.2021).<br />
<br />
'''Lucas Pawlik:''' Einführung in die Kyber-ethik Heinz von Foersters Teil II. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=y9oRamZyq28<br />
(Zugriff: 09.12.2021).<br />
<br />
''' Universität Wien, Artikel aus der Zeitschrift für Geschichtswissenschaften: ''' Im Goldenen Hecht. Über Konstruktivismus und Geschichte. Ein Gespräch zwischen Heinz von Foerster, Albert Müller und Karl H. Müller <br><br />
https://www.univie.ac.at/heinz-von-foerster-archive/etexte/int.pdf (Zugriff: 11.08.2021).<br />
<br />
==Einzelnachweise==<br />
<br />
<references /></div>Sabine Kaserer