https://wiki.kinaesthetics.de/api.php?action=feedcontributions&user=Lutz+Zierbeck&feedformat=atom
Kinaesthetics-Online-Fachlexikon - Benutzerbeiträge [de]
2024-03-19T05:51:36Z
Benutzerbeiträge
MediaWiki 1.35.13
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Spastik&diff=4916
Spastik
2023-12-20T14:49:58Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Gestaltung der Lernumgebung statt Behandlung */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Lutz Zierbeck, Rosmarie Suter/Stefan Marty-Teuber}}<br />
<br />
'''''Zusammenfassung:'''''<br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt, der Text wird in den Trainerbildungen der EKA verwendet. Er stellt der in Medizin und Pflege üblichen pathophysiologische Sichtweise auf das spezifische Verhaltensphänomen „Spastik“ bzw. „Hohe Körperspannung“ eine kybernetische Sichtweise gegenüber. Diese verschiedenen Betrachtungsweisen bieten unterschiedliche Denk- und Handlungsansätze im Umgang mit diesen Phänomenen.<br />
<br />
<br />
==''„Einleitung ''==<br />
: ''Im Bereich von Pflege, Betreuung und Therapie ist das Phänomen Spastik immer wieder zu beobachten. Bezüglich des Verhaltens der betroffenen Menschen fällt auf, dass sie insgesamt bei der Durchführung von alltäglichen Aktivitäten beeinträchtigt sind. Sie benötigen z. B. mehr Zeit dafür, bewegen sich insgesamt mit sehr hoher Körperspannung und haben Mühe mit gezielten, koordinierten und differenzierten Aktivitäten. Desgleichen sind auch plötzliche, unwillkürliche zuckende Bewegungen beobachtbar. Nicht selten berichten betroffene Menschen besonders bei akuten Krämpfen von Schmerzen. <br />
: ''Allerdings können auch ‚gesunde‘ Menschen in eine unkontrollierbar hohe Spannung geraten, die sie im Moment kaum regulieren können. Ihre Bewegungen sehen dann vielleicht ebenso abrupt, verlangsamt oder undifferenziert aus. Hohe Körperspannung ist kein rein pathologisches Phänomen; vielmehr ist es eine grundlegende Kompetenz, die eigene Körperspannung in unterschiedlichen Situationen des Alltags regulieren und gegebenenfalls auch stark erhöhen zu können. So stellt sich die Frage, was dies für den Umgang mit Spastik in Pflege und Betreuung bedeuten kann. <br />
: ''In diesem Bereich sind die Annahmen zum Phänomen Spastik und zum Umgang mit ihm in der Regel durch eine pathophysiologische Sichtweise bzw. durch ein Behandlungsparadigma<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 51 ff.</ref> geprägt. Im Folgenden sollen dieses Verständnis und die kybernetische Sichtweise, die Kinaesthetics zugrunde liegt, einander gegenübergestellt und die Bedeutung für den Umgang mit betroffenen Menschen beleuchtet werden. ''<br />
<br />
==''Pathophysiologische Sichtweise ''==<br />
:''Pathophysiologie wird im Duden als die ‚Lehre von den Krankheitsvorgängen und Funktionsstörungen (in einem Organ)‘ definiert. Aus dieser Sicht wird Spastik bzw. Spastizität als Folge einer Erkrankung oder Verletzung verstanden. Das gängige pathophysiologische Verständnis wird in der folgenden einschlägigen Definition deutlich:<br />
<br />
:'' Symptomat.de (Medizin-Lexikon)<br> ‚Unter einer Spastik bzw. Spastizität versteht man keine eigenständige Krankheit, sondern ein Symptom einer Erkrankung beziehungsweise Verletzung des Zentralen Nervensystems. Dabei spielt immer eine Schädigung des Gehirns oder des Rückenmarks eine Rolle.‘<ref>'''MedLexi (2019):''' Spastik. Was ist Spastik? https://medlexi.de/Spastik (Zugriff: 11.10.2019).</ref> <br />
:'' Das Interesse dieser Sichtweise liegt bei kausalen Zusammenhängen, d. h. bei den Ursachen des Phänomens (Erkrankung oder Verletzung des Zentralnervensystems usw.) und den Folgen, die sich zwangsläufig aus ihnen ergeben (Muskelkontraktion, Symptome einer Spastik). Hinter diesem Verständnis steht ein lineares, mechanisches Denken. Es gilt, mit einer klinischen Diagnose die aktuelle ursächliche neurologische Erkrankung – und durchaus auch frühere mögliche Ursachen – genau zu analysieren. Da sie im Fall der Spastik als nicht ‚reparabel‘ bzw. heilbar gilt, wird man versuchen, die verschiedenen Symptome von außen zu behandeln, um den Zustand des betroffenen Menschen der ‚Normalität‘ anzunähern. Aufgrund der Diagnose werden die möglichen Veränderungschancen bestimmt und das dafür geeignete Behandlungsschema festgelegt und definiert, damit sich bestimmte Wirkungen einstellen können. Dies kann medikamentöse und motorische Therapien, operative Eingriffe, aber auch Maßnahmen der Pflege und Betreuung wie z. B. Lagerungs-Richtlinien umfassen. Die diagnostisch bestimmten Ursachen und mögliche Folgeerscheinungen gelten als zentrale Begründung für den Umgang mit diesem Menschen. <br />
<br />
:'' Grundsätzlich wird hier die lineare Idee verfolgt, mit all diesen Maßnahmen von außen bestimmte Wirkungen beim betroffenen Menschen zu erreichen. Wenig bis keine Bedeutung hat der Grundgedanke, ihn individuell zu befähigen, mit seiner aktuellen Kompetenz selbst entscheidenden Einfluss auf seine Gesundheitsentwicklung zu nehmen.<br />
<br />
== ''Kybernetische Sichtweise ''==<br />
=== ''Die kybernetische Beschreibung der Selbstregulation'' ===<br />
==== ''Menschliches Verhalten'' ====<br />
: ''Eine kybernetische Sichtweise des Phänomens der Spastik lässt andere Schlüsse zu. Die Kybernetik betrachtet den Menschen als ein komplexes System, das beständig sein Verhalten in zirkulären Rückkopplungsschleifen neu erzeugt. Dabei ist das Gehirn nicht ein übergeordnetes Steuerungs-Organ, das unterstützt durch die Wahrnehmung der Motorik Befehle zur Ausführung erteilt und so die Bewegung und das Verhalten steuert. Vielmehr bestimmt der Mensch auf der Grundlage der steten Rückkopplung von Nerven-, Bewegungs- und Wahrnehmungssystem in jedem Augenblick neu, wie er sein Verhalten im jeweiligen Moment gestaltet<ref>ebd., S. 43 ff.</ref>. Dieses Verhalten ist also immer seine aktuelle bestmögliche Anpassung an innere und äußere Gegebenheiten. <br />
: ''Mit den ständigen Anpassungen entwickelt der Mensch einerseits eine Vielfalt von nutzbaren Anpassungsmöglichkeiten, die ihm für die alltäglichen Herausforderungen zur Verfügung stehen. Diese sich stets entwickelnde Anpassungskompetenz ist absolut lebensnotwendig und spielt für seine [[Gesundheitsentwicklung]] eine zentrale Rolle. Andererseits bilden sich individuelle Verhaltensmuster heraus, und der Mensch lernt, gewisse Handlungen immer wieder ähnlich zu gestalten und die große Vielfalt an möglichen Anpassungen in ähnlichen Situationen zu begrenzen. Auch diese Begrenzung ist eine Lebensnotwendigkeit und unterstützt die Handlungsfähigkeit eines Menschen. Beides zusammen, die Vielfalt und die Begrenzung, bildet die Grundlage für [[Viabilität|viables]] Handeln, d. h. dafür, im jeweiligen Moment ein passendes Verhalten zu finden<ref>ebd., S. 33.</ref>. <br />
: ''Das Verständnis der folgenden Theorien kann helfen, neue Perspektiven einzunehmen im Umgang mit Menschen, die ein spezifisches Verhaltensphänomen zeigen.<br />
<br />
==== ''[[Feedback-Control-Theorie|Feedback-Kontroll-Theorie]]: Fortlaufende Fehlerkorrektur'' ====<br />
: ''Alle Bewegungs- und Verhaltensmuster des Menschen sind erlernt und entwickeln sich ein Leben lang bei der Durchführung der alltäglichen Aktivitäten. Wie erwähnt ist das menschliche Verhalten das Resultat eines inneren Steuerungsprozesses, der als ein permanent laufender zirkulärer Rückkopplungsprozess zwischen dem Wahrnehmungs-, Nerven- und Bewegungssystem beschrieben werden kann. Dabei werden beständig ‚Fehler‘ korrigiert, wobei jede Korrektur zur nächsten Korrektur führt<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 20 ff.</ref>. <br />
: ''Hierzu ein konkretes Beispiel: Ein Mensch hat die Absicht, eine Mütze aufzusetzen. Allein schon beim Ausstrecken des Armes, dessen Gewichtsabgabe in der Schwerkraft organisiert werden muss, finden Anpassungen im ganzen Körper statt. Dabei wird eine Flut von Reizen über die verschiedenen Sinnessysteme (und insbesondere über das kinästhetische Sinnessystem) wahrgenommen und im Zentralnervensystem verarbeitet. Dieses vergleicht fortlaufend den aktuellen Moment des Handelns mit der Absicht: Ist die Hand auf dem richtigen Weg zur Mütze, wie weit ist sie im Moment davon entfernt? Jede Abweichung von der Absicht wird fortlaufend korrigiert, indem z. B. die Richtung der Hand, das Tempo der Armbewegung oder die Ausgleichsbewegung im Becken angepasst wird. Diese vielfältigen Anpassungen der Bewegung werden fortlaufend wahrgenommen und ihre Abweichung berechnet. <br />
: ''Die Steuerung der Bewegung bzw. des Verhaltens ist ein größtenteils unbewusstes, hochkomplexes Geschehen in unendlich vielen Rückkopplungsschleifen, bei dem jede Anpassung wieder Anlass für die nächste Anpassung ist. Man könnte auch sagen: Die Steuerung liegt im Steuerungsprozess selbst. Es ist dieses Grundprinzip der Selbstregulation, das es unmöglich macht, die Bewegung eines anderen Menschen von außen direkt zu steuern. Im Bereich der Pflege und Betreuung wird allerdings oft von der gegenteiligen Annahme ausgegangen, und man versucht z. B., Menschen zu bewegen, statt sie in ihrer eigenen Bewegung zu unterstützen.<br />
<br />
==== ''Die Rolle von Feedback-Prozessen bei der Entwicklung einer Spastik'' ====<br />
: ''Liegt beispielsweise nach einem Schlaganfall eine organische Beeinträchtigung des Zentralnervensystems eines Menschen vor, bewirkt dies eine massive Störung im Selbstregulations-Prozess, weil er nicht mehr in gewohnter Weise abläuft. Betroffen ist insbesondere die fortlaufende differenzierte Berechnung der Abweichung bzw. der Fehlerkorrektur. Dies bedeutet für das Nervensystem, dass die fortlaufenden differenzierten Signale der Bewegungswahrnehmung sozusagen wegfallen, die für den Abgleich mit der Absicht der Bewegung von entscheidender Bedeutung sind. Das Bewegungssystem passt sich mit einer größeren Korrektur an, um diese mangelnden Signale zu kompensieren, was vom Nervensystem als eine größere Abweichung von der Absicht berechnet wird, was wiederum mit einer noch größeren Korrektur ausgeglichen werden muss usw. <br />
: ''So entsteht ein Teufelskreis (‚positive Rückkoppelung‘): Je weniger differenziert z. B. ein Arm bewegt wird, desto weniger differenziert ist die Bewegungswahrnehmung durch die entsprechenden Rezeptoren des Armes. Um diesen ‚Fehler‘ zu korrigieren, wird unter Umständen die Spannung im Arm erhöht und die Bewegung verlangsamt. Dies erweist sich vielleicht erst einmal als hilfreich, um überhaupt noch alltägliche Aktivitäten bewältigen zu können, kann sich aber zu einem Verhaltensmuster entwickeln. Ein Beispiel: Um sich von der Rückenlage in die Seitenlage oder ins Sitzen bewegen zu können, muss der Arm zwingend mitgenommen werden. Das funktioniert vielleicht bei einem betroffenen Menschen nur, wenn er die Spannung im Arm übermäßig erhöht. Erlebt er dies als hilfreich und sinnvoll zur Erreichung der Absicht, kann er daraus das Muster einer undifferenzierten, ständig hoch bleibenden Spannung lernen. <br />
: ''Eine Spastik im Arm wird bei dieser Sichtweise als erlernte Regulationsmöglichkeit, als eine erworbene Kompetenz betrachtet, bei der aber ein gewisses Spektrum an Möglichkeiten von Verhalten vorerst nicht mehr nutzbar ist. <br />
: ''Es ist wichtig zu verstehen, dass der veränderte stetige Rückkopplungsprozess zwischen Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem eine zentralere Rolle spielt als die ‚Ursache‘ des Schlaganfalls. Eine Störung oder Veränderung in einem dieser beteiligten Systeme hat immer eine Auswirkung auf die anderen Systeme und den ganzen Prozess. Desgleichen ist der gesamte Organismus davon betroffen und mitbeteiligt, auch wenn von außen vielleicht nur der ‚spastische‘ Arm auffällt. Wie ein Mensch unter solchen veränderten Bedingungen seine Bewegung konkret steuert, ist ganz individuell und nicht vorhersehbar. Menschen sind keine ‚trivialen Maschinen‘, wie [[Heinz von Foerster]] sagt, die auf einen bestimmten Input immer denselben Output liefern<ref>ebd., S. 51 f.</ref>. Eine Schädigung im Zentralnervensystem hat immer spezifische individuelle Auswirkungen, die in der Steuerung des (Bewegungs-)Verhaltens zum Ausdruck kommen und in hohem Maß von der individuellen Lerngeschichte des betroffenen Menschen abhängig sind. <br />
: ''Zusammenfassend sind aus kybernetischer Sicht spastische Bewegungsmuster die bestmögliche Antwort auf ein Ereignis und der derzeitige Stand eines permanenten Steuerungs- und Lernprozesses. Das Hauptinteresse liegt beim individuellen Lernprozess des einzelnen Betroffenen und bei seinem Lernpotenzial, seinen Möglichkeiten, selbst Einfluss auf die veränderten Bedingungen zu nehmen. Die Herausforderung für Pflege, Betreuung und Therapie besteht darin, Menschen mit einer Spastik in der weiteren Entwicklung ihrer Selbststeuerungs-Kompetenz gezielt zu unterstützen. Kinaesthetics spricht in diesem Zusammenhang von einem [[Lernparadigma|Lern]]- oder [[Entwicklungsparadigma]]<ref>ebd., S. 59 ff.</ref>.<br />
<br />
=== ''Spastik und die Forschungen von [[Weber und Fechner]]'' ===<br />
: ''In den Forschungen von [[Weber und Fechner]] finden wir eine weitere Erklärung für das Phänomen Spastik. Ernst Heinrich Weber und Gustav Theodor Fechner waren um 1850 die Begründer der Psychophysik. Sie untersuchten die menschliche [[Wahrnehmung]] und befassten sich u. a. mit der Wahrnehmungsschwelle. Eine zentrale Forschungsfrage war, ab wann und wie differenziert ein Sinnesreiz überhaupt wahrgenommen wird. Sinneszellen können einen Reiz dann erkennen, wenn ein [[Unterschied]] wahrnehmbar ist. Wird in einem dunklen Raum ein Streichholz angezündet, erscheint die Flamme sehr hell, weil der Unterschied zur Dunkelheit gross ist. Weber und Fechner entdeckten einen interessanten Zusammenhang, der bei allen Sinnessystemen zu finden ist: Je intensiver der Reiz ist, umso höher ist die Schwelle, um einen Unterschied wahrnehmen zu können. So ist das Bemerken eines Unterschiedes über das kinästhetische Sinnessystem abhängig von der Muskelspannung. Ein Beispiel: trägt jemand einen Sack mit 5 kg Gewicht auf den Schultern, wird er merken, wenn ein zusätzliches Gewicht von 500 Gramm dazu kommt. Ist der Sack aber 25 kg schwer, werden 500 Gramm nicht auffallen. Je höher also die Spannung im Körper, desto weniger differenziert werden Veränderungen der Muskelspannung in der Bewegung wahrgenommen, was wiederum einen direkten Einfluss auf die Steuerung der Bewegung hat. <br />
: ''Für das Thema Hohe Körperspannung/Spastik ist dieses Verständnis bedeutsam. Die anhaltende hohe Spannung führt zu einer wenig differenzierten Eigenwahrnehmung. Dies wirkt sich somit auf den zirkulären Steuerungsprozess aus. Die Anpassungsbewegungen werden ungenauer, dadurch steigt die Spannung weiter und die Wahrnehmungsfähigkeit nimmt noch mehr ab. Deshalb ist es wichtig, dass Menschen mit hoher Körperspannung unterstützt werden, diese Spannung bei der Durchführung aller alltäglichen Aktivitäten bestmöglich zu regulieren. Sie können dadurch feiner unterscheiden und sich feiner anpassen lernen.<br />
<br />
== ''Bedeutung des Lernparadigmas für das Phänomen Spastik ''==<br />
=== ''Gestaltung der [[Lernumgebung]] statt Behandlung'' ===<br />
: ''Gemäß dem Lern- oder Entwicklungsparadigma betrachtet Kinästhetik Spastik als momentanen Stand eines fortlaufenden Anpassungs- und Lernprozesses. Die individuelle Wahrnehmung und die persönliche Selbststeuerungs-Kompetenz hat eine zentrale Bedeutung für die Lernprozesse, mit denen das alltägliche Leben gemeistert wird. Deshalb fokussiert Kinästhetik nicht das Erscheinungsbild an und für sich (z. B. den ‚spastischen Arm‘), sondern unterstützt Betroffene, aus einer Innenperspektive die Dynamik des gesamten Phänomens zu untersuchen und zu entwickeln. Die Lernprozesse bestehen weniger aus kognitivem Verstehen, sondern entstehen bei einem achtsamen und gezielten Unterstützen bei allen Alltagsaktivitäten. Sie bestehen vor allem aus differenzierten [[Bewegungserfahrung|Bewegungserfahrungen]] und der Erfahrung der daraus resultierenden Anpassungen oder [[Fehler|Fehlerkorrekturen]]. Typisch für diese Sichtweise ist die Frage nach den spezifischen Kompetenzen, die jemand in seinem Verhalten zeigt. Nicht das, was ‚fehlt‘ oder nicht geht, steht im Zentrum, sondern das, was jemand kann, bzw. das gemeinsame Entdecken des Entwicklungspotenzials. Die äußere Hilfestellung besteht in der bewussten Gestaltung einer individuellen [[Lernumgebung]], nicht in der Behandlung oder Therapie des Betroffenen bzw. seiner Spastik. <br />
: ''Mögliche Fragen, die sich daraus ergeben: <br />
: ''* Wie differenziert kann der betroffene Mensch seine eigene Bewegung wahrnehmen und was unterstützt ihn, mehr und feinere Unterschiede wahrzunehmen? <br />
: ''* Auf welchem Stand befinden sich die [[grundlegenden Kompetenzen]] in seiner Bewegung und wie kann er in der Weiterentwicklung dieser Kompetenzen unterstützt werden? <br />
: ''* Wie kann er lernen, z. B. seine Spannung differenzierter an die Herausforderungen der alltäglichen Aktivitäten anzupassen? <br />
: ''* Wie kann er lernen, z. B. eine größere Vielfalt in seinen Bewegungsmustern zu entwickeln und sein Anpassungspotenzial zu erweitern? <br />
: ''* Wie können Absprachen zwischen Pflege- und Betreuungspersonen, TherapeutInnen und Angehörigen getroffen werden, um gemeinsam mit dem betroffenen Menschen eine Lernumgebung für alle Beteiligten zu gestalten?<br />
<br />
== ''Kinästhetik-Instrumente ''==<br />
: ''Kinästhetik bietet konkrete Werkzeuge und Instrumente für die Bearbeitung solcher Fragen. Zentral sind die Kinästhetik-Konzepte, die als Blickwinkel dienen, um die Aufmerksamkeit auf unterschiedliche, erfahrbare Aspekte der eigenen Bewegung zu lenken. Gemeinsam mit dem betroffenen Menschen können die individuellen Verhaltensmuster dementsprechend erkundet und erweitert werden. <br />
: ''* Das Phänomen der Spastik als solches kann aus einer Erfahrungsperspektive untersucht werden. <br />
: ''* Der betroffenen Person können spezifische Fragen gestellt werden, damit sie ihre Aufmerksamkeit auf einzelne erfahrbare Aspekte ihrer Bewegung lenken kann. <br />
: ''* Die unterstützende Person kann sich aus der Perspektive der einzelnen Konzepte fragen, was sie während der Interaktion mit einer betroffenen Person in sich merken und anpassen kann. <br />
: ''*Lernrelevante Blickwinkel können definiert werden. <br />
: ''Als Instrument für diesen Prozess bietet sich die [[Lernspirale]] an. Dabei können alle Beteiligten in einem gemeinsamen Forschungs- und Lernprozess ihre Bewegungskompetenz weiter entwickeln. <br />
: ''Je häufiger eine betroffene Person erfährt, dass sie erfolgreiche Anpassungen in ihrer Bewegung finden kann, desto mehr kann sie aktiv daran arbeiten, das Spektrum ihrer Möglichkeiten zu erweitern. Durch ein dem einzelnen Menschen individuell angepasstes differenziertes Unterstützungsangebot bekommt dieser die Chance, alle seine Alltagsaktivitäten zum Entwickeln seiner Kompetenzen nutzen. Die Qualität der Unterstützung hat einen entscheidenden Einfluss, ob und wie ein Mensch mit hoher Spannung lernt, sein Potential in der Bewegung zu erweitern. Dazu helfen die Sichtweise des Lernparadigmas und eine geschulte [[Bewegungskompetenz]].“''<br />
<br />
== Erfahrungsberichte ==<br />
* '''Schünemann, Robert:''' Muster können verändert werden. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2014, Nr. 2. S.16–21.<br><br />
<br />
Eine junge Frau mit langjähriger hoher Körperspannung auf einer Körperseite lernt durch die Schulung der Bewegungswahrnehmung mehr Möglichkeiten in sich selber zu finden. <br><br />
Zum Artikel: <br />
[[Datei:Lq-2014-2-Schünemann.pdf|mini]]<br />
* '''Hoser, Susanne:''' Alltagsbewältigung im Rollstuhl. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2015, Nr. 3. S. 28–32.<br><br />
Die Autorin interviewt zwei "erfahrene Tetraplegiker", die in Kursen Techniken, Tipps und Tricks für das alltägliche Leben mit Rollstuhl und Spastik weitergeben. Grenzen sind da, um infrage gestellt zu werden; so kann ein hohes Maß an Autonomie erreicht werden.<br><br />
Zum Artikel: <br />
[[Datei:Lq-2015-3-Hoser.pdf|mini]]<br />
<br />
* '''Kohl, Marjolaine (2020):''' Ich pflege als die, die ich bin. Ich habe ihren Willen entdeckt. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2020, Nr. 4. &nbsp;S.27 - 30.<br> Zum Artikel: [[Medium:Lq-2020-4-Ich habe ihren Willen entdeckt.pdf|Ich habe ihren Willen entdeckt]] <br><br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* '''Wikipedia:''' Spastik. https://de.wikipedia.org/wiki/Spastik (Zugriff: 31.3.2022).<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Absicht]]<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Spastik&diff=4915
Spastik
2023-12-20T14:49:30Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Spastik und die Forschungen von Weber und Fechner */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Lutz Zierbeck, Rosmarie Suter/Stefan Marty-Teuber}}<br />
<br />
'''''Zusammenfassung:'''''<br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt, der Text wird in den Trainerbildungen der EKA verwendet. Er stellt der in Medizin und Pflege üblichen pathophysiologische Sichtweise auf das spezifische Verhaltensphänomen „Spastik“ bzw. „Hohe Körperspannung“ eine kybernetische Sichtweise gegenüber. Diese verschiedenen Betrachtungsweisen bieten unterschiedliche Denk- und Handlungsansätze im Umgang mit diesen Phänomenen.<br />
<br />
<br />
==''„Einleitung ''==<br />
: ''Im Bereich von Pflege, Betreuung und Therapie ist das Phänomen Spastik immer wieder zu beobachten. Bezüglich des Verhaltens der betroffenen Menschen fällt auf, dass sie insgesamt bei der Durchführung von alltäglichen Aktivitäten beeinträchtigt sind. Sie benötigen z. B. mehr Zeit dafür, bewegen sich insgesamt mit sehr hoher Körperspannung und haben Mühe mit gezielten, koordinierten und differenzierten Aktivitäten. Desgleichen sind auch plötzliche, unwillkürliche zuckende Bewegungen beobachtbar. Nicht selten berichten betroffene Menschen besonders bei akuten Krämpfen von Schmerzen. <br />
: ''Allerdings können auch ‚gesunde‘ Menschen in eine unkontrollierbar hohe Spannung geraten, die sie im Moment kaum regulieren können. Ihre Bewegungen sehen dann vielleicht ebenso abrupt, verlangsamt oder undifferenziert aus. Hohe Körperspannung ist kein rein pathologisches Phänomen; vielmehr ist es eine grundlegende Kompetenz, die eigene Körperspannung in unterschiedlichen Situationen des Alltags regulieren und gegebenenfalls auch stark erhöhen zu können. So stellt sich die Frage, was dies für den Umgang mit Spastik in Pflege und Betreuung bedeuten kann. <br />
: ''In diesem Bereich sind die Annahmen zum Phänomen Spastik und zum Umgang mit ihm in der Regel durch eine pathophysiologische Sichtweise bzw. durch ein Behandlungsparadigma<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 51 ff.</ref> geprägt. Im Folgenden sollen dieses Verständnis und die kybernetische Sichtweise, die Kinaesthetics zugrunde liegt, einander gegenübergestellt und die Bedeutung für den Umgang mit betroffenen Menschen beleuchtet werden. ''<br />
<br />
==''Pathophysiologische Sichtweise ''==<br />
:''Pathophysiologie wird im Duden als die ‚Lehre von den Krankheitsvorgängen und Funktionsstörungen (in einem Organ)‘ definiert. Aus dieser Sicht wird Spastik bzw. Spastizität als Folge einer Erkrankung oder Verletzung verstanden. Das gängige pathophysiologische Verständnis wird in der folgenden einschlägigen Definition deutlich:<br />
<br />
:'' Symptomat.de (Medizin-Lexikon)<br> ‚Unter einer Spastik bzw. Spastizität versteht man keine eigenständige Krankheit, sondern ein Symptom einer Erkrankung beziehungsweise Verletzung des Zentralen Nervensystems. Dabei spielt immer eine Schädigung des Gehirns oder des Rückenmarks eine Rolle.‘<ref>'''MedLexi (2019):''' Spastik. Was ist Spastik? https://medlexi.de/Spastik (Zugriff: 11.10.2019).</ref> <br />
:'' Das Interesse dieser Sichtweise liegt bei kausalen Zusammenhängen, d. h. bei den Ursachen des Phänomens (Erkrankung oder Verletzung des Zentralnervensystems usw.) und den Folgen, die sich zwangsläufig aus ihnen ergeben (Muskelkontraktion, Symptome einer Spastik). Hinter diesem Verständnis steht ein lineares, mechanisches Denken. Es gilt, mit einer klinischen Diagnose die aktuelle ursächliche neurologische Erkrankung – und durchaus auch frühere mögliche Ursachen – genau zu analysieren. Da sie im Fall der Spastik als nicht ‚reparabel‘ bzw. heilbar gilt, wird man versuchen, die verschiedenen Symptome von außen zu behandeln, um den Zustand des betroffenen Menschen der ‚Normalität‘ anzunähern. Aufgrund der Diagnose werden die möglichen Veränderungschancen bestimmt und das dafür geeignete Behandlungsschema festgelegt und definiert, damit sich bestimmte Wirkungen einstellen können. Dies kann medikamentöse und motorische Therapien, operative Eingriffe, aber auch Maßnahmen der Pflege und Betreuung wie z. B. Lagerungs-Richtlinien umfassen. Die diagnostisch bestimmten Ursachen und mögliche Folgeerscheinungen gelten als zentrale Begründung für den Umgang mit diesem Menschen. <br />
<br />
:'' Grundsätzlich wird hier die lineare Idee verfolgt, mit all diesen Maßnahmen von außen bestimmte Wirkungen beim betroffenen Menschen zu erreichen. Wenig bis keine Bedeutung hat der Grundgedanke, ihn individuell zu befähigen, mit seiner aktuellen Kompetenz selbst entscheidenden Einfluss auf seine Gesundheitsentwicklung zu nehmen.<br />
<br />
== ''Kybernetische Sichtweise ''==<br />
=== ''Die kybernetische Beschreibung der Selbstregulation'' ===<br />
==== ''Menschliches Verhalten'' ====<br />
: ''Eine kybernetische Sichtweise des Phänomens der Spastik lässt andere Schlüsse zu. Die Kybernetik betrachtet den Menschen als ein komplexes System, das beständig sein Verhalten in zirkulären Rückkopplungsschleifen neu erzeugt. Dabei ist das Gehirn nicht ein übergeordnetes Steuerungs-Organ, das unterstützt durch die Wahrnehmung der Motorik Befehle zur Ausführung erteilt und so die Bewegung und das Verhalten steuert. Vielmehr bestimmt der Mensch auf der Grundlage der steten Rückkopplung von Nerven-, Bewegungs- und Wahrnehmungssystem in jedem Augenblick neu, wie er sein Verhalten im jeweiligen Moment gestaltet<ref>ebd., S. 43 ff.</ref>. Dieses Verhalten ist also immer seine aktuelle bestmögliche Anpassung an innere und äußere Gegebenheiten. <br />
: ''Mit den ständigen Anpassungen entwickelt der Mensch einerseits eine Vielfalt von nutzbaren Anpassungsmöglichkeiten, die ihm für die alltäglichen Herausforderungen zur Verfügung stehen. Diese sich stets entwickelnde Anpassungskompetenz ist absolut lebensnotwendig und spielt für seine [[Gesundheitsentwicklung]] eine zentrale Rolle. Andererseits bilden sich individuelle Verhaltensmuster heraus, und der Mensch lernt, gewisse Handlungen immer wieder ähnlich zu gestalten und die große Vielfalt an möglichen Anpassungen in ähnlichen Situationen zu begrenzen. Auch diese Begrenzung ist eine Lebensnotwendigkeit und unterstützt die Handlungsfähigkeit eines Menschen. Beides zusammen, die Vielfalt und die Begrenzung, bildet die Grundlage für [[Viabilität|viables]] Handeln, d. h. dafür, im jeweiligen Moment ein passendes Verhalten zu finden<ref>ebd., S. 33.</ref>. <br />
: ''Das Verständnis der folgenden Theorien kann helfen, neue Perspektiven einzunehmen im Umgang mit Menschen, die ein spezifisches Verhaltensphänomen zeigen.<br />
<br />
==== ''[[Feedback-Control-Theorie|Feedback-Kontroll-Theorie]]: Fortlaufende Fehlerkorrektur'' ====<br />
: ''Alle Bewegungs- und Verhaltensmuster des Menschen sind erlernt und entwickeln sich ein Leben lang bei der Durchführung der alltäglichen Aktivitäten. Wie erwähnt ist das menschliche Verhalten das Resultat eines inneren Steuerungsprozesses, der als ein permanent laufender zirkulärer Rückkopplungsprozess zwischen dem Wahrnehmungs-, Nerven- und Bewegungssystem beschrieben werden kann. Dabei werden beständig ‚Fehler‘ korrigiert, wobei jede Korrektur zur nächsten Korrektur führt<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 20 ff.</ref>. <br />
: ''Hierzu ein konkretes Beispiel: Ein Mensch hat die Absicht, eine Mütze aufzusetzen. Allein schon beim Ausstrecken des Armes, dessen Gewichtsabgabe in der Schwerkraft organisiert werden muss, finden Anpassungen im ganzen Körper statt. Dabei wird eine Flut von Reizen über die verschiedenen Sinnessysteme (und insbesondere über das kinästhetische Sinnessystem) wahrgenommen und im Zentralnervensystem verarbeitet. Dieses vergleicht fortlaufend den aktuellen Moment des Handelns mit der Absicht: Ist die Hand auf dem richtigen Weg zur Mütze, wie weit ist sie im Moment davon entfernt? Jede Abweichung von der Absicht wird fortlaufend korrigiert, indem z. B. die Richtung der Hand, das Tempo der Armbewegung oder die Ausgleichsbewegung im Becken angepasst wird. Diese vielfältigen Anpassungen der Bewegung werden fortlaufend wahrgenommen und ihre Abweichung berechnet. <br />
: ''Die Steuerung der Bewegung bzw. des Verhaltens ist ein größtenteils unbewusstes, hochkomplexes Geschehen in unendlich vielen Rückkopplungsschleifen, bei dem jede Anpassung wieder Anlass für die nächste Anpassung ist. Man könnte auch sagen: Die Steuerung liegt im Steuerungsprozess selbst. Es ist dieses Grundprinzip der Selbstregulation, das es unmöglich macht, die Bewegung eines anderen Menschen von außen direkt zu steuern. Im Bereich der Pflege und Betreuung wird allerdings oft von der gegenteiligen Annahme ausgegangen, und man versucht z. B., Menschen zu bewegen, statt sie in ihrer eigenen Bewegung zu unterstützen.<br />
<br />
==== ''Die Rolle von Feedback-Prozessen bei der Entwicklung einer Spastik'' ====<br />
: ''Liegt beispielsweise nach einem Schlaganfall eine organische Beeinträchtigung des Zentralnervensystems eines Menschen vor, bewirkt dies eine massive Störung im Selbstregulations-Prozess, weil er nicht mehr in gewohnter Weise abläuft. Betroffen ist insbesondere die fortlaufende differenzierte Berechnung der Abweichung bzw. der Fehlerkorrektur. Dies bedeutet für das Nervensystem, dass die fortlaufenden differenzierten Signale der Bewegungswahrnehmung sozusagen wegfallen, die für den Abgleich mit der Absicht der Bewegung von entscheidender Bedeutung sind. Das Bewegungssystem passt sich mit einer größeren Korrektur an, um diese mangelnden Signale zu kompensieren, was vom Nervensystem als eine größere Abweichung von der Absicht berechnet wird, was wiederum mit einer noch größeren Korrektur ausgeglichen werden muss usw. <br />
: ''So entsteht ein Teufelskreis (‚positive Rückkoppelung‘): Je weniger differenziert z. B. ein Arm bewegt wird, desto weniger differenziert ist die Bewegungswahrnehmung durch die entsprechenden Rezeptoren des Armes. Um diesen ‚Fehler‘ zu korrigieren, wird unter Umständen die Spannung im Arm erhöht und die Bewegung verlangsamt. Dies erweist sich vielleicht erst einmal als hilfreich, um überhaupt noch alltägliche Aktivitäten bewältigen zu können, kann sich aber zu einem Verhaltensmuster entwickeln. Ein Beispiel: Um sich von der Rückenlage in die Seitenlage oder ins Sitzen bewegen zu können, muss der Arm zwingend mitgenommen werden. Das funktioniert vielleicht bei einem betroffenen Menschen nur, wenn er die Spannung im Arm übermäßig erhöht. Erlebt er dies als hilfreich und sinnvoll zur Erreichung der Absicht, kann er daraus das Muster einer undifferenzierten, ständig hoch bleibenden Spannung lernen. <br />
: ''Eine Spastik im Arm wird bei dieser Sichtweise als erlernte Regulationsmöglichkeit, als eine erworbene Kompetenz betrachtet, bei der aber ein gewisses Spektrum an Möglichkeiten von Verhalten vorerst nicht mehr nutzbar ist. <br />
: ''Es ist wichtig zu verstehen, dass der veränderte stetige Rückkopplungsprozess zwischen Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem eine zentralere Rolle spielt als die ‚Ursache‘ des Schlaganfalls. Eine Störung oder Veränderung in einem dieser beteiligten Systeme hat immer eine Auswirkung auf die anderen Systeme und den ganzen Prozess. Desgleichen ist der gesamte Organismus davon betroffen und mitbeteiligt, auch wenn von außen vielleicht nur der ‚spastische‘ Arm auffällt. Wie ein Mensch unter solchen veränderten Bedingungen seine Bewegung konkret steuert, ist ganz individuell und nicht vorhersehbar. Menschen sind keine ‚trivialen Maschinen‘, wie [[Heinz von Foerster]] sagt, die auf einen bestimmten Input immer denselben Output liefern<ref>ebd., S. 51 f.</ref>. Eine Schädigung im Zentralnervensystem hat immer spezifische individuelle Auswirkungen, die in der Steuerung des (Bewegungs-)Verhaltens zum Ausdruck kommen und in hohem Maß von der individuellen Lerngeschichte des betroffenen Menschen abhängig sind. <br />
: ''Zusammenfassend sind aus kybernetischer Sicht spastische Bewegungsmuster die bestmögliche Antwort auf ein Ereignis und der derzeitige Stand eines permanenten Steuerungs- und Lernprozesses. Das Hauptinteresse liegt beim individuellen Lernprozess des einzelnen Betroffenen und bei seinem Lernpotenzial, seinen Möglichkeiten, selbst Einfluss auf die veränderten Bedingungen zu nehmen. Die Herausforderung für Pflege, Betreuung und Therapie besteht darin, Menschen mit einer Spastik in der weiteren Entwicklung ihrer Selbststeuerungs-Kompetenz gezielt zu unterstützen. Kinaesthetics spricht in diesem Zusammenhang von einem [[Lernparadigma|Lern]]- oder [[Entwicklungsparadigma]]<ref>ebd., S. 59 ff.</ref>.<br />
<br />
=== ''Spastik und die Forschungen von [[Weber und Fechner]]'' ===<br />
: ''In den Forschungen von [[Weber und Fechner]] finden wir eine weitere Erklärung für das Phänomen Spastik. Ernst Heinrich Weber und Gustav Theodor Fechner waren um 1850 die Begründer der Psychophysik. Sie untersuchten die menschliche [[Wahrnehmung]] und befassten sich u. a. mit der Wahrnehmungsschwelle. Eine zentrale Forschungsfrage war, ab wann und wie differenziert ein Sinnesreiz überhaupt wahrgenommen wird. Sinneszellen können einen Reiz dann erkennen, wenn ein [[Unterschied]] wahrnehmbar ist. Wird in einem dunklen Raum ein Streichholz angezündet, erscheint die Flamme sehr hell, weil der Unterschied zur Dunkelheit gross ist. Weber und Fechner entdeckten einen interessanten Zusammenhang, der bei allen Sinnessystemen zu finden ist: Je intensiver der Reiz ist, umso höher ist die Schwelle, um einen Unterschied wahrnehmen zu können. So ist das Bemerken eines Unterschiedes über das kinästhetische Sinnessystem abhängig von der Muskelspannung. Ein Beispiel: trägt jemand einen Sack mit 5 kg Gewicht auf den Schultern, wird er merken, wenn ein zusätzliches Gewicht von 500 Gramm dazu kommt. Ist der Sack aber 25 kg schwer, werden 500 Gramm nicht auffallen. Je höher also die Spannung im Körper, desto weniger differenziert werden Veränderungen der Muskelspannung in der Bewegung wahrgenommen, was wiederum einen direkten Einfluss auf die Steuerung der Bewegung hat. <br />
: ''Für das Thema Hohe Körperspannung/Spastik ist dieses Verständnis bedeutsam. Die anhaltende hohe Spannung führt zu einer wenig differenzierten Eigenwahrnehmung. Dies wirkt sich somit auf den zirkulären Steuerungsprozess aus. Die Anpassungsbewegungen werden ungenauer, dadurch steigt die Spannung weiter und die Wahrnehmungsfähigkeit nimmt noch mehr ab. Deshalb ist es wichtig, dass Menschen mit hoher Körperspannung unterstützt werden, diese Spannung bei der Durchführung aller alltäglichen Aktivitäten bestmöglich zu regulieren. Sie können dadurch feiner unterscheiden und sich feiner anpassen lernen.<br />
<br />
== ''Bedeutung des Lernparadigmas für das Phänomen Spastik ''==<br />
=== ''Gestaltung der Lernumgebung statt Behandlung'' ===<br />
: ''Gemäß dem Lern- oder Entwicklungsparadigma betrachtet Kinästhetik Spastik als momentanen Stand eines fortlaufenden Anpassungs- und Lernprozesses. Die individuelle Wahrnehmung und die persönliche Selbststeuerungs-Kompetenz hat eine zentrale Bedeutung für die Lernprozesse, mit denen das alltägliche Leben gemeistert wird. Deshalb fokussiert Kinästhetik nicht das Erscheinungsbild an und für sich (z. B. den ‚spastischen Arm‘), sondern unterstützt Betroffene, aus einer Innenperspektive die Dynamik des gesamten Phänomens zu untersuchen und zu entwickeln. Die Lernprozesse bestehen weniger aus kognitivem Verstehen, sondern entstehen bei einem achtsamen und gezielten Unterstützen bei allen Alltagsaktivitäten. Sie bestehen vor allem aus differenzierten [[Bewegungserfahrung|Bewegungserfahrungen]] und der Erfahrung der daraus resultierenden Anpassungen oder [[Fehler|Fehlerkorrekturen]]. Typisch für diese Sichtweise ist die Frage nach den spezifischen Kompetenzen, die jemand in seinem Verhalten zeigt. Nicht das, was ‚fehlt‘ oder nicht geht, steht im Zentrum, sondern das, was jemand kann, bzw. das gemeinsame Entdecken des Entwicklungspotenzials. Die äußere Hilfestellung besteht in der bewussten Gestaltung einer individuellen [[Lernumgebung]], nicht in der Behandlung oder Therapie des Betroffenen bzw. seiner Spastik. <br />
: ''Mögliche Fragen, die sich daraus ergeben: <br />
: ''* Wie differenziert kann der betroffene Mensch seine eigene Bewegung wahrnehmen und was unterstützt ihn, mehr und feinere Unterschiede wahrzunehmen? <br />
: ''* Auf welchem Stand befinden sich die [[grundlegenden Kompetenzen]] in seiner Bewegung und wie kann er in der Weiterentwicklung dieser Kompetenzen unterstützt werden? <br />
: ''* Wie kann er lernen, z. B. seine Spannung differenzierter an die Herausforderungen der alltäglichen Aktivitäten anzupassen? <br />
: ''* Wie kann er lernen, z. B. eine größere Vielfalt in seinen Bewegungsmustern zu entwickeln und sein Anpassungspotenzial zu erweitern? <br />
: ''* Wie können Absprachen zwischen Pflege- und Betreuungspersonen, TherapeutInnen und Angehörigen getroffen werden, um gemeinsam mit dem betroffenen Menschen eine Lernumgebung für alle Beteiligten zu gestalten?<br />
<br />
== ''Kinästhetik-Instrumente ''==<br />
: ''Kinästhetik bietet konkrete Werkzeuge und Instrumente für die Bearbeitung solcher Fragen. Zentral sind die Kinästhetik-Konzepte, die als Blickwinkel dienen, um die Aufmerksamkeit auf unterschiedliche, erfahrbare Aspekte der eigenen Bewegung zu lenken. Gemeinsam mit dem betroffenen Menschen können die individuellen Verhaltensmuster dementsprechend erkundet und erweitert werden. <br />
: ''* Das Phänomen der Spastik als solches kann aus einer Erfahrungsperspektive untersucht werden. <br />
: ''* Der betroffenen Person können spezifische Fragen gestellt werden, damit sie ihre Aufmerksamkeit auf einzelne erfahrbare Aspekte ihrer Bewegung lenken kann. <br />
: ''* Die unterstützende Person kann sich aus der Perspektive der einzelnen Konzepte fragen, was sie während der Interaktion mit einer betroffenen Person in sich merken und anpassen kann. <br />
: ''*Lernrelevante Blickwinkel können definiert werden. <br />
: ''Als Instrument für diesen Prozess bietet sich die [[Lernspirale]] an. Dabei können alle Beteiligten in einem gemeinsamen Forschungs- und Lernprozess ihre Bewegungskompetenz weiter entwickeln. <br />
: ''Je häufiger eine betroffene Person erfährt, dass sie erfolgreiche Anpassungen in ihrer Bewegung finden kann, desto mehr kann sie aktiv daran arbeiten, das Spektrum ihrer Möglichkeiten zu erweitern. Durch ein dem einzelnen Menschen individuell angepasstes differenziertes Unterstützungsangebot bekommt dieser die Chance, alle seine Alltagsaktivitäten zum Entwickeln seiner Kompetenzen nutzen. Die Qualität der Unterstützung hat einen entscheidenden Einfluss, ob und wie ein Mensch mit hoher Spannung lernt, sein Potential in der Bewegung zu erweitern. Dazu helfen die Sichtweise des Lernparadigmas und eine geschulte [[Bewegungskompetenz]].“''<br />
<br />
== Erfahrungsberichte ==<br />
* '''Schünemann, Robert:''' Muster können verändert werden. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2014, Nr. 2. S.16–21.<br><br />
<br />
Eine junge Frau mit langjähriger hoher Körperspannung auf einer Körperseite lernt durch die Schulung der Bewegungswahrnehmung mehr Möglichkeiten in sich selber zu finden. <br><br />
Zum Artikel: <br />
[[Datei:Lq-2014-2-Schünemann.pdf|mini]]<br />
* '''Hoser, Susanne:''' Alltagsbewältigung im Rollstuhl. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2015, Nr. 3. S. 28–32.<br><br />
Die Autorin interviewt zwei "erfahrene Tetraplegiker", die in Kursen Techniken, Tipps und Tricks für das alltägliche Leben mit Rollstuhl und Spastik weitergeben. Grenzen sind da, um infrage gestellt zu werden; so kann ein hohes Maß an Autonomie erreicht werden.<br><br />
Zum Artikel: <br />
[[Datei:Lq-2015-3-Hoser.pdf|mini]]<br />
<br />
* '''Kohl, Marjolaine (2020):''' Ich pflege als die, die ich bin. Ich habe ihren Willen entdeckt. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2020, Nr. 4. &nbsp;S.27 - 30.<br> Zum Artikel: [[Medium:Lq-2020-4-Ich habe ihren Willen entdeckt.pdf|Ich habe ihren Willen entdeckt]] <br><br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* '''Wikipedia:''' Spastik. https://de.wikipedia.org/wiki/Spastik (Zugriff: 31.3.2022).<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Absicht]]<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Spastik&diff=4914
Spastik
2023-12-20T14:36:22Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Erfahrungsberichte */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Lutz Zierbeck, Rosmarie Suter/Stefan Marty-Teuber}}<br />
<br />
'''''Zusammenfassung:'''''<br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt, der Text wird in den Trainerbildungen der EKA verwendet. Er stellt der in Medizin und Pflege üblichen pathophysiologische Sichtweise auf das spezifische Verhaltensphänomen „Spastik“ bzw. „Hohe Körperspannung“ eine kybernetische Sichtweise gegenüber. Diese verschiedenen Betrachtungsweisen bieten unterschiedliche Denk- und Handlungsansätze im Umgang mit diesen Phänomenen.<br />
<br />
<br />
==''„Einleitung ''==<br />
: ''Im Bereich von Pflege, Betreuung und Therapie ist das Phänomen Spastik immer wieder zu beobachten. Bezüglich des Verhaltens der betroffenen Menschen fällt auf, dass sie insgesamt bei der Durchführung von alltäglichen Aktivitäten beeinträchtigt sind. Sie benötigen z. B. mehr Zeit dafür, bewegen sich insgesamt mit sehr hoher Körperspannung und haben Mühe mit gezielten, koordinierten und differenzierten Aktivitäten. Desgleichen sind auch plötzliche, unwillkürliche zuckende Bewegungen beobachtbar. Nicht selten berichten betroffene Menschen besonders bei akuten Krämpfen von Schmerzen. <br />
: ''Allerdings können auch ‚gesunde‘ Menschen in eine unkontrollierbar hohe Spannung geraten, die sie im Moment kaum regulieren können. Ihre Bewegungen sehen dann vielleicht ebenso abrupt, verlangsamt oder undifferenziert aus. Hohe Körperspannung ist kein rein pathologisches Phänomen; vielmehr ist es eine grundlegende Kompetenz, die eigene Körperspannung in unterschiedlichen Situationen des Alltags regulieren und gegebenenfalls auch stark erhöhen zu können. So stellt sich die Frage, was dies für den Umgang mit Spastik in Pflege und Betreuung bedeuten kann. <br />
: ''In diesem Bereich sind die Annahmen zum Phänomen Spastik und zum Umgang mit ihm in der Regel durch eine pathophysiologische Sichtweise bzw. durch ein Behandlungsparadigma<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 51 ff.</ref> geprägt. Im Folgenden sollen dieses Verständnis und die kybernetische Sichtweise, die Kinaesthetics zugrunde liegt, einander gegenübergestellt und die Bedeutung für den Umgang mit betroffenen Menschen beleuchtet werden. ''<br />
<br />
==''Pathophysiologische Sichtweise ''==<br />
:''Pathophysiologie wird im Duden als die ‚Lehre von den Krankheitsvorgängen und Funktionsstörungen (in einem Organ)‘ definiert. Aus dieser Sicht wird Spastik bzw. Spastizität als Folge einer Erkrankung oder Verletzung verstanden. Das gängige pathophysiologische Verständnis wird in der folgenden einschlägigen Definition deutlich:<br />
<br />
:'' Symptomat.de (Medizin-Lexikon)<br> ‚Unter einer Spastik bzw. Spastizität versteht man keine eigenständige Krankheit, sondern ein Symptom einer Erkrankung beziehungsweise Verletzung des Zentralen Nervensystems. Dabei spielt immer eine Schädigung des Gehirns oder des Rückenmarks eine Rolle.‘<ref>'''MedLexi (2019):''' Spastik. Was ist Spastik? https://medlexi.de/Spastik (Zugriff: 11.10.2019).</ref> <br />
:'' Das Interesse dieser Sichtweise liegt bei kausalen Zusammenhängen, d. h. bei den Ursachen des Phänomens (Erkrankung oder Verletzung des Zentralnervensystems usw.) und den Folgen, die sich zwangsläufig aus ihnen ergeben (Muskelkontraktion, Symptome einer Spastik). Hinter diesem Verständnis steht ein lineares, mechanisches Denken. Es gilt, mit einer klinischen Diagnose die aktuelle ursächliche neurologische Erkrankung – und durchaus auch frühere mögliche Ursachen – genau zu analysieren. Da sie im Fall der Spastik als nicht ‚reparabel‘ bzw. heilbar gilt, wird man versuchen, die verschiedenen Symptome von außen zu behandeln, um den Zustand des betroffenen Menschen der ‚Normalität‘ anzunähern. Aufgrund der Diagnose werden die möglichen Veränderungschancen bestimmt und das dafür geeignete Behandlungsschema festgelegt und definiert, damit sich bestimmte Wirkungen einstellen können. Dies kann medikamentöse und motorische Therapien, operative Eingriffe, aber auch Maßnahmen der Pflege und Betreuung wie z. B. Lagerungs-Richtlinien umfassen. Die diagnostisch bestimmten Ursachen und mögliche Folgeerscheinungen gelten als zentrale Begründung für den Umgang mit diesem Menschen. <br />
<br />
:'' Grundsätzlich wird hier die lineare Idee verfolgt, mit all diesen Maßnahmen von außen bestimmte Wirkungen beim betroffenen Menschen zu erreichen. Wenig bis keine Bedeutung hat der Grundgedanke, ihn individuell zu befähigen, mit seiner aktuellen Kompetenz selbst entscheidenden Einfluss auf seine Gesundheitsentwicklung zu nehmen.<br />
<br />
== ''Kybernetische Sichtweise ''==<br />
=== ''Die kybernetische Beschreibung der Selbstregulation'' ===<br />
==== ''Menschliches Verhalten'' ====<br />
: ''Eine kybernetische Sichtweise des Phänomens der Spastik lässt andere Schlüsse zu. Die Kybernetik betrachtet den Menschen als ein komplexes System, das beständig sein Verhalten in zirkulären Rückkopplungsschleifen neu erzeugt. Dabei ist das Gehirn nicht ein übergeordnetes Steuerungs-Organ, das unterstützt durch die Wahrnehmung der Motorik Befehle zur Ausführung erteilt und so die Bewegung und das Verhalten steuert. Vielmehr bestimmt der Mensch auf der Grundlage der steten Rückkopplung von Nerven-, Bewegungs- und Wahrnehmungssystem in jedem Augenblick neu, wie er sein Verhalten im jeweiligen Moment gestaltet<ref>ebd., S. 43 ff.</ref>. Dieses Verhalten ist also immer seine aktuelle bestmögliche Anpassung an innere und äußere Gegebenheiten. <br />
: ''Mit den ständigen Anpassungen entwickelt der Mensch einerseits eine Vielfalt von nutzbaren Anpassungsmöglichkeiten, die ihm für die alltäglichen Herausforderungen zur Verfügung stehen. Diese sich stets entwickelnde Anpassungskompetenz ist absolut lebensnotwendig und spielt für seine [[Gesundheitsentwicklung]] eine zentrale Rolle. Andererseits bilden sich individuelle Verhaltensmuster heraus, und der Mensch lernt, gewisse Handlungen immer wieder ähnlich zu gestalten und die große Vielfalt an möglichen Anpassungen in ähnlichen Situationen zu begrenzen. Auch diese Begrenzung ist eine Lebensnotwendigkeit und unterstützt die Handlungsfähigkeit eines Menschen. Beides zusammen, die Vielfalt und die Begrenzung, bildet die Grundlage für [[Viabilität|viables]] Handeln, d. h. dafür, im jeweiligen Moment ein passendes Verhalten zu finden<ref>ebd., S. 33.</ref>. <br />
: ''Das Verständnis der folgenden Theorien kann helfen, neue Perspektiven einzunehmen im Umgang mit Menschen, die ein spezifisches Verhaltensphänomen zeigen.<br />
<br />
==== ''[[Feedback-Control-Theorie|Feedback-Kontroll-Theorie]]: Fortlaufende Fehlerkorrektur'' ====<br />
: ''Alle Bewegungs- und Verhaltensmuster des Menschen sind erlernt und entwickeln sich ein Leben lang bei der Durchführung der alltäglichen Aktivitäten. Wie erwähnt ist das menschliche Verhalten das Resultat eines inneren Steuerungsprozesses, der als ein permanent laufender zirkulärer Rückkopplungsprozess zwischen dem Wahrnehmungs-, Nerven- und Bewegungssystem beschrieben werden kann. Dabei werden beständig ‚Fehler‘ korrigiert, wobei jede Korrektur zur nächsten Korrektur führt<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 20 ff.</ref>. <br />
: ''Hierzu ein konkretes Beispiel: Ein Mensch hat die Absicht, eine Mütze aufzusetzen. Allein schon beim Ausstrecken des Armes, dessen Gewichtsabgabe in der Schwerkraft organisiert werden muss, finden Anpassungen im ganzen Körper statt. Dabei wird eine Flut von Reizen über die verschiedenen Sinnessysteme (und insbesondere über das kinästhetische Sinnessystem) wahrgenommen und im Zentralnervensystem verarbeitet. Dieses vergleicht fortlaufend den aktuellen Moment des Handelns mit der Absicht: Ist die Hand auf dem richtigen Weg zur Mütze, wie weit ist sie im Moment davon entfernt? Jede Abweichung von der Absicht wird fortlaufend korrigiert, indem z. B. die Richtung der Hand, das Tempo der Armbewegung oder die Ausgleichsbewegung im Becken angepasst wird. Diese vielfältigen Anpassungen der Bewegung werden fortlaufend wahrgenommen und ihre Abweichung berechnet. <br />
: ''Die Steuerung der Bewegung bzw. des Verhaltens ist ein größtenteils unbewusstes, hochkomplexes Geschehen in unendlich vielen Rückkopplungsschleifen, bei dem jede Anpassung wieder Anlass für die nächste Anpassung ist. Man könnte auch sagen: Die Steuerung liegt im Steuerungsprozess selbst. Es ist dieses Grundprinzip der Selbstregulation, das es unmöglich macht, die Bewegung eines anderen Menschen von außen direkt zu steuern. Im Bereich der Pflege und Betreuung wird allerdings oft von der gegenteiligen Annahme ausgegangen, und man versucht z. B., Menschen zu bewegen, statt sie in ihrer eigenen Bewegung zu unterstützen.<br />
<br />
==== ''Die Rolle von Feedback-Prozessen bei der Entwicklung einer Spastik'' ====<br />
: ''Liegt beispielsweise nach einem Schlaganfall eine organische Beeinträchtigung des Zentralnervensystems eines Menschen vor, bewirkt dies eine massive Störung im Selbstregulations-Prozess, weil er nicht mehr in gewohnter Weise abläuft. Betroffen ist insbesondere die fortlaufende differenzierte Berechnung der Abweichung bzw. der Fehlerkorrektur. Dies bedeutet für das Nervensystem, dass die fortlaufenden differenzierten Signale der Bewegungswahrnehmung sozusagen wegfallen, die für den Abgleich mit der Absicht der Bewegung von entscheidender Bedeutung sind. Das Bewegungssystem passt sich mit einer größeren Korrektur an, um diese mangelnden Signale zu kompensieren, was vom Nervensystem als eine größere Abweichung von der Absicht berechnet wird, was wiederum mit einer noch größeren Korrektur ausgeglichen werden muss usw. <br />
: ''So entsteht ein Teufelskreis (‚positive Rückkoppelung‘): Je weniger differenziert z. B. ein Arm bewegt wird, desto weniger differenziert ist die Bewegungswahrnehmung durch die entsprechenden Rezeptoren des Armes. Um diesen ‚Fehler‘ zu korrigieren, wird unter Umständen die Spannung im Arm erhöht und die Bewegung verlangsamt. Dies erweist sich vielleicht erst einmal als hilfreich, um überhaupt noch alltägliche Aktivitäten bewältigen zu können, kann sich aber zu einem Verhaltensmuster entwickeln. Ein Beispiel: Um sich von der Rückenlage in die Seitenlage oder ins Sitzen bewegen zu können, muss der Arm zwingend mitgenommen werden. Das funktioniert vielleicht bei einem betroffenen Menschen nur, wenn er die Spannung im Arm übermäßig erhöht. Erlebt er dies als hilfreich und sinnvoll zur Erreichung der Absicht, kann er daraus das Muster einer undifferenzierten, ständig hoch bleibenden Spannung lernen. <br />
: ''Eine Spastik im Arm wird bei dieser Sichtweise als erlernte Regulationsmöglichkeit, als eine erworbene Kompetenz betrachtet, bei der aber ein gewisses Spektrum an Möglichkeiten von Verhalten vorerst nicht mehr nutzbar ist. <br />
: ''Es ist wichtig zu verstehen, dass der veränderte stetige Rückkopplungsprozess zwischen Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem eine zentralere Rolle spielt als die ‚Ursache‘ des Schlaganfalls. Eine Störung oder Veränderung in einem dieser beteiligten Systeme hat immer eine Auswirkung auf die anderen Systeme und den ganzen Prozess. Desgleichen ist der gesamte Organismus davon betroffen und mitbeteiligt, auch wenn von außen vielleicht nur der ‚spastische‘ Arm auffällt. Wie ein Mensch unter solchen veränderten Bedingungen seine Bewegung konkret steuert, ist ganz individuell und nicht vorhersehbar. Menschen sind keine ‚trivialen Maschinen‘, wie [[Heinz von Foerster]] sagt, die auf einen bestimmten Input immer denselben Output liefern<ref>ebd., S. 51 f.</ref>. Eine Schädigung im Zentralnervensystem hat immer spezifische individuelle Auswirkungen, die in der Steuerung des (Bewegungs-)Verhaltens zum Ausdruck kommen und in hohem Maß von der individuellen Lerngeschichte des betroffenen Menschen abhängig sind. <br />
: ''Zusammenfassend sind aus kybernetischer Sicht spastische Bewegungsmuster die bestmögliche Antwort auf ein Ereignis und der derzeitige Stand eines permanenten Steuerungs- und Lernprozesses. Das Hauptinteresse liegt beim individuellen Lernprozess des einzelnen Betroffenen und bei seinem Lernpotenzial, seinen Möglichkeiten, selbst Einfluss auf die veränderten Bedingungen zu nehmen. Die Herausforderung für Pflege, Betreuung und Therapie besteht darin, Menschen mit einer Spastik in der weiteren Entwicklung ihrer Selbststeuerungs-Kompetenz gezielt zu unterstützen. Kinaesthetics spricht in diesem Zusammenhang von einem [[Lernparadigma|Lern]]- oder [[Entwicklungsparadigma]]<ref>ebd., S. 59 ff.</ref>.<br />
<br />
=== ''Spastik und die Forschungen von Weber und Fechner'' ===<br />
: ''In den Forschungen von [[Weber und Fechner]] finden wir eine weitere Erklärung für das Phänomen Spastik. Ernst Heinrich Weber und Gustav Theodor Fechner waren um 1850 die Begründer der Psychophysik. Sie untersuchten die menschliche [[Wahrnehmung]] und befassten sich u. a. mit der Wahrnehmungsschwelle. Eine zentrale Forschungsfrage war, ab wann und wie differenziert ein Sinnesreiz überhaupt wahrgenommen wird. Sinneszellen können einen Reiz dann erkennen, wenn ein [[Unterschied]] wahrnehmbar ist. Wird in einem dunklen Raum ein Streichholz angezündet, erscheint die Flamme sehr hell, weil der Unterschied zur Dunkelheit gross ist. Weber und Fechner entdeckten einen interessanten Zusammenhang, der bei allen Sinnessystemen zu finden ist: Je intensiver der Reiz ist, umso höher ist die Schwelle, um einen Unterschied wahrnehmen zu können. So ist das Bemerken eines Unterschiedes über das kinästhetische Sinnessystem abhängig von der Muskelspannung. Ein Beispiel: trägt jemand einen Sack mit 5 kg Gewicht auf den Schultern, wird er merken, wenn ein zusätzliches Gewicht von 500 Gramm dazu kommt. Ist der Sack aber 25 kg schwer, werden 500 Gramm nicht auffallen. Je höher also die Spannung im Körper, desto weniger differenziert werden Veränderungen der Muskelspannung in der Bewegung wahrgenommen, was wiederum einen direkten Einfluss auf die Steuerung der Bewegung hat. <br />
: ''Für das Thema Hohe Körperspannung/Spastik ist dieses Verständnis bedeutsam. Die anhaltende hohe Spannung führt zu einer wenig differenzierten Eigenwahrnehmung. Dies wirkt sich somit auf den zirkulären Steuerungsprozess aus. Die Anpassungsbewegungen werden ungenauer, dadurch steigt die Spannung weiter und die Wahrnehmungsfähigkeit nimmt noch mehr ab. Deshalb ist es wichtig, dass Menschen mit hoher Körperspannung unterstützt werden, diese Spannung bei der Durchführung aller alltäglichen Aktivitäten bestmöglich zu regulieren. Sie können dadurch feiner unterscheiden und sich feiner anpassen lernen.<br />
<br />
== ''Bedeutung des Lernparadigmas für das Phänomen Spastik ''==<br />
=== ''Gestaltung der Lernumgebung statt Behandlung'' ===<br />
: ''Gemäß dem Lern- oder Entwicklungsparadigma betrachtet Kinästhetik Spastik als momentanen Stand eines fortlaufenden Anpassungs- und Lernprozesses. Die individuelle Wahrnehmung und die persönliche Selbststeuerungs-Kompetenz hat eine zentrale Bedeutung für die Lernprozesse, mit denen das alltägliche Leben gemeistert wird. Deshalb fokussiert Kinästhetik nicht das Erscheinungsbild an und für sich (z. B. den ‚spastischen Arm‘), sondern unterstützt Betroffene, aus einer Innenperspektive die Dynamik des gesamten Phänomens zu untersuchen und zu entwickeln. Die Lernprozesse bestehen weniger aus kognitivem Verstehen, sondern entstehen bei einem achtsamen und gezielten Unterstützen bei allen Alltagsaktivitäten. Sie bestehen vor allem aus differenzierten [[Bewegungserfahrung|Bewegungserfahrungen]] und der Erfahrung der daraus resultierenden Anpassungen oder [[Fehler|Fehlerkorrekturen]]. Typisch für diese Sichtweise ist die Frage nach den spezifischen Kompetenzen, die jemand in seinem Verhalten zeigt. Nicht das, was ‚fehlt‘ oder nicht geht, steht im Zentrum, sondern das, was jemand kann, bzw. das gemeinsame Entdecken des Entwicklungspotenzials. Die äußere Hilfestellung besteht in der bewussten Gestaltung einer individuellen [[Lernumgebung]], nicht in der Behandlung oder Therapie des Betroffenen bzw. seiner Spastik. <br />
: ''Mögliche Fragen, die sich daraus ergeben: <br />
: ''* Wie differenziert kann der betroffene Mensch seine eigene Bewegung wahrnehmen und was unterstützt ihn, mehr und feinere Unterschiede wahrzunehmen? <br />
: ''* Auf welchem Stand befinden sich die [[grundlegenden Kompetenzen]] in seiner Bewegung und wie kann er in der Weiterentwicklung dieser Kompetenzen unterstützt werden? <br />
: ''* Wie kann er lernen, z. B. seine Spannung differenzierter an die Herausforderungen der alltäglichen Aktivitäten anzupassen? <br />
: ''* Wie kann er lernen, z. B. eine größere Vielfalt in seinen Bewegungsmustern zu entwickeln und sein Anpassungspotenzial zu erweitern? <br />
: ''* Wie können Absprachen zwischen Pflege- und Betreuungspersonen, TherapeutInnen und Angehörigen getroffen werden, um gemeinsam mit dem betroffenen Menschen eine Lernumgebung für alle Beteiligten zu gestalten?<br />
<br />
== ''Kinästhetik-Instrumente ''==<br />
: ''Kinästhetik bietet konkrete Werkzeuge und Instrumente für die Bearbeitung solcher Fragen. Zentral sind die Kinästhetik-Konzepte, die als Blickwinkel dienen, um die Aufmerksamkeit auf unterschiedliche, erfahrbare Aspekte der eigenen Bewegung zu lenken. Gemeinsam mit dem betroffenen Menschen können die individuellen Verhaltensmuster dementsprechend erkundet und erweitert werden. <br />
: ''* Das Phänomen der Spastik als solches kann aus einer Erfahrungsperspektive untersucht werden. <br />
: ''* Der betroffenen Person können spezifische Fragen gestellt werden, damit sie ihre Aufmerksamkeit auf einzelne erfahrbare Aspekte ihrer Bewegung lenken kann. <br />
: ''* Die unterstützende Person kann sich aus der Perspektive der einzelnen Konzepte fragen, was sie während der Interaktion mit einer betroffenen Person in sich merken und anpassen kann. <br />
: ''*Lernrelevante Blickwinkel können definiert werden. <br />
: ''Als Instrument für diesen Prozess bietet sich die [[Lernspirale]] an. Dabei können alle Beteiligten in einem gemeinsamen Forschungs- und Lernprozess ihre Bewegungskompetenz weiter entwickeln. <br />
: ''Je häufiger eine betroffene Person erfährt, dass sie erfolgreiche Anpassungen in ihrer Bewegung finden kann, desto mehr kann sie aktiv daran arbeiten, das Spektrum ihrer Möglichkeiten zu erweitern. Durch ein dem einzelnen Menschen individuell angepasstes differenziertes Unterstützungsangebot bekommt dieser die Chance, alle seine Alltagsaktivitäten zum Entwickeln seiner Kompetenzen nutzen. Die Qualität der Unterstützung hat einen entscheidenden Einfluss, ob und wie ein Mensch mit hoher Spannung lernt, sein Potential in der Bewegung zu erweitern. Dazu helfen die Sichtweise des Lernparadigmas und eine geschulte [[Bewegungskompetenz]].“''<br />
<br />
== Erfahrungsberichte ==<br />
* '''Schünemann, Robert:''' Muster können verändert werden. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2014, Nr. 2. S.16–21.<br><br />
<br />
Eine junge Frau mit langjähriger hoher Körperspannung auf einer Körperseite lernt durch die Schulung der Bewegungswahrnehmung mehr Möglichkeiten in sich selber zu finden. <br><br />
Zum Artikel: <br />
[[Datei:Lq-2014-2-Schünemann.pdf|mini]]<br />
* '''Hoser, Susanne:''' Alltagsbewältigung im Rollstuhl. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2015, Nr. 3. S. 28–32.<br><br />
Die Autorin interviewt zwei "erfahrene Tetraplegiker", die in Kursen Techniken, Tipps und Tricks für das alltägliche Leben mit Rollstuhl und Spastik weitergeben. Grenzen sind da, um infrage gestellt zu werden; so kann ein hohes Maß an Autonomie erreicht werden.<br><br />
Zum Artikel: <br />
[[Datei:Lq-2015-3-Hoser.pdf|mini]]<br />
<br />
* '''Kohl, Marjolaine (2020):''' Ich pflege als die, die ich bin. Ich habe ihren Willen entdeckt. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2020, Nr. 4. &nbsp;S.27 - 30.<br> Zum Artikel: [[Medium:Lq-2020-4-Ich habe ihren Willen entdeckt.pdf|Ich habe ihren Willen entdeckt]] <br><br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* '''Wikipedia:''' Spastik. https://de.wikipedia.org/wiki/Spastik (Zugriff: 31.3.2022).<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Absicht]]<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Datei:Lq-2020-4-Ich_habe_ihren_Willen_entdeckt.pdf&diff=4913
Datei:Lq-2020-4-Ich habe ihren Willen entdeckt.pdf
2023-12-20T14:30:13Z
<p>Lutz Zierbeck: </p>
<hr />
<div></div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Datei:Lq-2012-2-Stabilit%C3%A4t_-_Instabilit%C3%A4t.pdf&diff=4912
Datei:Lq-2012-2-Stabilität - Instabilität.pdf
2023-12-20T11:57:46Z
<p>Lutz Zierbeck: </p>
<hr />
<div></div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Stabil_und_instabil&diff=4911
Stabil und instabil
2023-12-20T11:55:50Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Weiterführende Literatur und Medien */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|vorläufig abgeschlossen|Joachim Reif/Lutz Zierbeck}}<br />
<br />
<br />
'''''Zusammenfassung:'''''<br>Dieser Artikel beleuchtet die aktuelle Verwendung des Begriffspaars „Stabil und instabil“ als kinaesthetischer Fachbegriff in ausgewählter Fachliteratur. Es wird versucht die Entwicklung des Grundmusters „Stabil und instabil“ in der Kinästhetik anhand literarischer Verweise nachzuvollziehen. Vor einem größeren kulturgeschichtlichen Hintergrund wird dessen grundlegende Bedeutung in Betracht gezogen. Zum Schluss werden begriffliche Aspekte behandelt.<br />
<br />
<br />
== Aktuelle Verwendung des Begriffs ==<br />
[[Datei:Steinturm mit Vogel.jpg|mini]]<br />
=== „Stabil und instabil“ im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
Das gesamte zweite Konzept „Funktionale Anatomie“ etabliert „stabil und instabil“ als grundlegendes erfahrbares Muster der Anatomie in allen vier Unterthemen. <br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Knochen und Muskeln“ ====<br />
Im ersten Unterthema „[[Knochen und Muskeln]]“ wird die Erfahrbarkeit der Knochen mit den Begriffen „hart, stabil und robust“<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2018):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 20</ref> charakterisiert. Die zugehörige anatomische Funktion ist die eines stabilen Gerüsts bzw. des Tragens oder Weiterleitens des Körpergewichts. Die Erfahrbarkeit der Muskeln wird mit „weicher, instabiler und durch Anspannung und Entspannung veränderlich“ charakterisiert. Die zugehörige anatomische Funktion ist die Veränderung oder Erhaltung der Beziehung der Knochen. Sie können durch Anspannung Körpergewicht tragen und sich in ihrer erfahrbaren Eigenschaft sowie in der Funktion den Knochen annähern.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Massen und Zwischenräume“ ====<br />
In „2.2. [[Massen und Zwischenräume]]“ wird explizit auf das „erfahrbare Muster ‚stabil – instabil‘“<ref>ebd., S. 21</ref> verwiesen. Aufbauend auf dem vorausgehenden Unterthema „[[Knochen und Muskeln]]“ sind Massen als kompakte und stabile Strukturen erfahrbar, Zwischenräume hingegen als weicher und instabiler. Ihre zugehörige anatomische Funktion besteht im Tragen oder Weiterleiten des Körpergewichts bzw. in der Veränderung der Beziehung der Massen.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“<ref>ebd., S. 22–25</ref> ====<br />
In „2.3. Haltungsbewegungsebenen und Transportbewegungsebenen“ wird das erfahrbare Muster des regelmäßigen Wechsels der stabileren und instabileren Bewegungsebenen im Zusammenhang mit der Form und Funktionalität der jeweiligen Gelenke thematisiert. In einem kompletten Durchgang durch das menschliche Skelett werden die einzelnen Bewegungsebenen aufgezeigt. Stabilität bzw. Instabilität wird hier durch die Unterscheidung zwischen zwei- bzw. dreidimensionalen (kugelgelenkartigen) Bewegungsmöglichkeiten der einzelnen Ebenen erfahrbar.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Vorder- und Rückseiten“ ====<br />
Auch in „2.4. [[Orientierung]]“ wird auf das Gegensatzpaar „stabil – instabil“ zurückgegriffen, um die Erfahrbarkeit der Vorder- und Rückseiten der Massen zu charakterisieren und auf ihre entsprechenden Funktionen zu verweisen.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Haltungs- und Transportbewegung“==== <br />
Im dritten Konzept „Menschliche Bewegung“ dient das Gegensatzpaar „stabil – instabil“ zur Unterscheidung zwischen Haltungs- und Transportbewegungen<ref>ebd., S. 32</ref>. Sie sind als eher stabile oder veränderliche Beziehung der Massen zueinander erfahrbar. Aus dem notwendigen Zusammenspiel beider Bewegungskomponenten entwickelt jeder Mensch individuelle Bewegungsmuster.<br />
<br />
=== „Stabil und instabil“ in „Kinaesthetics Infant Handling“ ===<br />
Dieses Buch von Lenny Maietta (1950–2018) und Frank Hatch (*1940) stellt das Kind ins Zentrum, hat sich aber als allgemeines Standardwerk der Kinästhetik etabliert. Im Folgenden wird das Auftreten des Musters der Stabilität und Instabilität an einigen einschlägigen Stellen aufgezeigt.<br />
<br />
Geleitwort 1<br />
<br />
Im Geleitwort wird das Muster implizit anhand der Diskussion über genetische Determination versus Beeinflussbarkeit der „angeblich stabilen Persönlichkeitsmerkmale“<ref>'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Übersetzt von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Original-Manuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. Bern: Hogrefe, vorm. Hans Huber Verlag. IBSN 978-3-456-84987-4. S. 9</ref> angedeutet.<br />
<br />
4.4 Konzept: Funktionelle Anatomie<br />
<br />
In „4.4.1 Muskeln und Knochen“ werden Knochen als stabil und das Muskelgewebe als instabil beschrieben; die Darstellung ihrer Eigenschaften und Funktionen stimmt weitgehend mit dem „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ überein. In der vom Buch empfohlenen Aktivität soll das Bewegen der Knochen helfen, „ein Gefühl für die Stabilität“<ref>ebd., S. 86</ref> zu entwickeln. Insofern wird hier eine Brücke zu einer erfahrbaren Eigenschaft gebaut.<br />
<br />
In „4.4.1.2 Entwicklung des Bewegungsapparates“<ref>ebd., S. 88 </ref> wird auf die Bedeutung stabiler und instabiler Umgebungseigenschaften für die Entwicklung des Bewegungsapparates hingewiesen und ebenso darauf, dass die Stabilität der Knochen in engem Zusammenhang mit ihrer Beanspruchung steht.<br />
<br />
In „4.4.2 Massen und Zwischenräume“ wird im Gegensatz zum „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ keine explizite Unterscheidung anhand des Musters der Stabilität und Instabilität vorgenommen. Hier wird verstärkt auf die Abgabe des Gewichts und das Drücken auf eine „stabile Unterlage“<ref>ebd., S. 89</ref> eingegangen.<br />
<br />
In „4.4.3.2 Körperorientierte Bewegung“<ref>ebd., S. 95 ff.</ref> werden erstmals Rückseiten u. a. als stabil und Vorderseiten u. a. als instabil beschrieben.<br />
<br />
4.5 Menschliche Bewegung<br />
<br />
Stabilität und Instabilität werden als wahrnehmbare Eigenschaften der „Haltungs- und der Transportbewegung“<ref>ebd., S. 100</ref> (Kapitel 4.5.1) erwähnt. Diese werden in Kombination als notwendige Voraussetzung für die menschliche Bewegung genannt.<br />
<br />
Die Unterscheidung zwischen stabil und instabil wird an einschlägigen Stellen verwendet, erscheint aber nicht als erfahrbares und die Unterthemen der funktionalen Anatomie verbindendes Grundmuster.<br />
<br />
=== Kommentare, Auswertungen und offene Fragen ===<br />
Als kinästhetischer Fachbegriff benennt „stabil und instabil“ ein Muster, das in den beiden Konzepten der „Funktionalen/Funktionellen Anatomie“ und der „Menschlichen Bewegung“ eine wichtige Grundlage bildet. Dieses Grundmuster ist eine Vorbedingung für gelingende Bewegung ebenso wie für gelingende Anpassungen. Ohne das Zusammenwirken von stabilen und instabilen Eigenschaften der Anatomie (vgl. zweites Konzept) wäre unser Körper entweder zu stabil, also zu starr, oder zu instabil, also zu locker, um die für uns nötigen Bewegungsabläufe zu koordinieren. Dieses Muster entwickelt sich entsprechend der Funktion der einzelnen Teile schon in der Embryonalentwicklung und bestimmt danach wiederum ihre weitere Funktion.<br />
<br />
Das Muster setzt sich im Konzept „Menschliche Bewegung“ fort. Wir haben die Möglichkeit, Bewegung so zu gestalten, dass eine stabile oder instabile Beziehung der Körperteile entsteht. Mehr oder weniger Stabilität wird dabei von „innen“ erzeugt. <br />
Eine andere Form der Stabilität wird erreicht, wenn wir unser Gewicht weitestgehend über unsere Knochen auf die Unterstützungsfläche abgeben, was die muskuläre „Stabilität“ im Körper, die Spannung, reduziert.<br />
<br />
Es wird vor allem deutlich, dass die Kompetenz zur differenzierten Bewegungsregulation zwischen beiden Extremen der Stabilität und Instabilität entscheidend für unsere alltäglichen Möglichkeiten der Bewegung ist. Dabei hilft dieses Grundmuster als übergeordneter und verbindender Blickwinkel, der sich in weitere Unterthemen („[[Knochen und Muskeln]]“ usw.) ausdifferenzieren lässt.<br />
<br />
== Begriffsgeschichte ==<br />
=== „Stabil, Stabilität, stabilisieren“ im 16. Kinästhetik-Bulletin von 1990 ===<br />
Die Begriffe „stabil“, „Stabilität“ und „stabilisieren“ sind schon in dieser frühesten zusammenhängenden Beschreibung der späteren Konzepte an mehreren einschlägigen Stellen zu finden, nicht aber „instabil, Instabilität“. Der Aspekt der Stabilität erscheint im Zusammenhang mit den Streckmuskeln bzw. Hinterseiten<ref>'''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 16</ref>, mit den Massen<ref>ebd., S. 20</ref> und mit der spezifischen Reihenfolge der Haltungs- und Transportbewegung(sebenen)<ref>ebd., S. 21</ref> . Auffällig ist der unterdessen aufgegebene Fachbegriff der „stabilen Positionen“ in „4.5.3. „Fortbewegung“<ref>ebd., S. 25</ref>, ebenso die unterdessen aufgegebene Identifikation von Rotation und Beugen als stabilste Bewegungen in einer verstrebenden bzw. hängenden Beziehung. Übereinstimmend mit dem heutigen Verständnis wird auf die Stabilisierung zweier benachbarter Massen durch das Blockieren des verbindenden Zwischenraums hingewiesen<ref>ebd., S. 22</ref>. <br />
Im Ganzen ist „stabil und instabil“ als Begriffspaar und grundlegendes Muster noch nicht ausdifferenziert.<br />
=== Die Etablierung des Begriffspaars „stabil – un-/instabil“ ===<br />
„Stabil – unstabil“<ref>'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (1991):''' Kinästhetik in der Krankenpflege. Arbeitsbuch Grundkurs. Übersetzt von Ina Citron. © 1991 Copyright Maietta-Hatch-Inc. S. II.1 (37)</ref> wird als Begriffspaar zum ersten Mal im Grundkurs-Arbeitsbuch „Kinästhetik in der Krankenpflege“ von 1991 erwähnt. Im Kapitel „Menschliche Bewegung“ wird es als Unterscheidung zwischen den stabilen Massen und den unstabilen Zwischenräumen eingeführt und bleibt darauf beschränkt.<br />
<br />
In „Kinästhetik – Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Pflege“ von Frank Hatch, Lenny Maietta und Suzanne Schmidt, dem ersten Fachbuch der Kinästhetik von 1992, wird das Begriffspaar beim Thema „[[Knochen und Muskeln]]“<ref>'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny; Schmidt, Suzanne (1994):''' Kinästhetik. Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Krankenpflege. 3. Auflage. Eschborn: Deutscher Verband für Pflegeberufe. ISBN 3-927944-02-5. S. 39</ref> nicht verwendet. Hingegen wird es im Kapitel „Menschliche Bewegung“ unter dem Titel „Bewegungsebenen für Haltungs- und Transportbewegungen“ (sic!) als leitende Unterscheidung verwendet<ref>ebd., S. 44 ff.</ref>. In diesem Zusammenhang taucht hier zum ersten Mal der heute noch übliche komplette Durchgang durch das menschliche Skelett auf. Unter dem anschließenden Titel „Das Muster stabil/instabil in der Bewegung“ wird das Thema mit dem „funktionalen Aufbau des Skeletts“<ref>ebd., S. 81</ref> in Zusammenhang gebracht, bezüglich Massen und Zwischenräume illustriert und auf den Pflegekontext übertragen.<br />
<br />
Im Jahr 1996 erscheint das Begriffspaar „stabil – instabil“ als wahrnehmbares Muster der menschlichen Bewegung und Unterscheidungsmerkmal von Haltungs- und Transportbewegung in den Grundkurs-Arbeitsbüchern für Infant Handling und Kinästhetik in der Pflege, und zwar mit einem Verweis auf die einfachste Ausprägung des Musters bei Massen und Zwischenräumen. In anderen Zusammenhängen wird es nicht benannt.<br />
<br />
=== „Stabil und instabil“ in „Kybernetik und Kinästhetik“ ===<br />
„Homöostase“ wurde ursprünglich zu Beschreibung der Fähigkeit lebender Systeme, sich innerhalb gewisser Grenzen in einem stabilen Zustand zu halten, geprägt. Der Begriff ist auch heute in dieser Bedeutung vor allem in der Biologie und Medizin weit verbreitet. Etymologisch betrachtet beschreibt „-stase“ allerdings einen unveränderlichen Stillstand – sozusagen die absolute Stabilität –, der bei lebenden Systemen dem Tod gleichkommt<ref>Wikipedia (2018): Homöostase [https://de.wikipedia.org/wiki/Hom%C3%B6ostase Homöostase] (Zugriff 15.08.2018)</ref>.<br />
<br />
Als Alternative hat der Verhaltenskybernetiker K. U. Smith (1907–1994) den Begriff „Homöokinese“ vorgeschlagen. Das zweite Glied „-kinese“ (zu griechisch ''kinesis'' „Bewegung“) hebt die Prozesse, die zu einem Gleichgewicht oder einer Ausgewogenheit innerhalb gewisser Grenzen führen, deutlicher hervor. Damit könne man lebenden Systemen eher gerecht werden. Auffällig ist, dass die beiden Forscher Maturana (*1928) und Varela (1946–2001), die die Dynamik lebender Systeme in ihrem gemeinsamen Buch stets betonen – sozusagen die immanente Instabilität –, durchwegs auf den etablierten Begriff „homöostatisch“ zurückgreifen<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2018):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S.&nbsp;11</ref>. <br />
<br />
Auch hier zeigt sich das Grundmuster „stabil und instabil“ (vgl. unten).<br />
<br />
== Kultur, Geschichte, Tradition ==<br />
Weiterreichende Bedeutung erlangen die beiden Begriffe, betrachtet man sie als grundlegendes duales Muster der Stabilität und Instabilität, der Starrheit und der Veränderung, des Wandels und der Konstanz auf unterschiedlichsten Ebenen. <br />
<br />
In der Thermodynamik findet sich eine Erweiterung dieses dualen Musters durch den Begriff „metastabil“, der das Potenzial zum Übergang von einem stabilen Zustand über eine Phase der Instabilität in einen noch stabileren Zustand definiert<ref>Wikipedia (2018): Metastabilität [https://de.wikipedia.org/wiki/Metastabilit%C3%A4t Metastabilität] (Zugriff 15.08.2018)</ref>.<br />
<br />
Eine große Bedeutung hat das Grundmuster in der Antike, insbesondere in der Philosophie. Die Vorsokratiker Heraklit (um 520 bis 460 v. Chr.) und Parmenides (um 520/515 bis 460/455 v. Chr.) stellen in ihren Fragmenten zwei widersprüchliche Bilder dieser Welt vor.<br />
Heraklit spricht mit „pantha rhei“ („Alles fließt“) von einer ständig im Wandel befindlichen, instabilen Wirklichkeit, der nur der Mensch eine stabile Interpretation zu verleihen versucht.<br />
Parmenides wiederum nimmt die Welt an sich als stabile, unteilbare und unveränderliche Einheit an. <br />
„Nur der trügerische Glaube an die Wirklichkeit der Gegensätze – der Glaube, dass nicht nur existiert, was ist, sondern auch das, was nicht ist – führt zu der Illusion einer Welt der Veränderung.“<ref>'''Popper, Karl R. (2016):''' Die Welt des Parmenides. Der Ursprung des europäischen Denkens. Herausgegeben von Arne Petersen … [et. al.]. München: Piper. ISBN 978-3-492-24071. S. 44 ff.</ref> <br />
<br />
: ''„Alle drei Milesier (Anaximander, Anaximenes, Thales) betrachteten unsere Welt als unser Heim. Es gab da Bewegung, es gab Veränderung in diesem Heim, es gab Hitze und Kälte, Feuer und Feuchtigkeit. Es gab ein Feuer im Herd mit einem Kessel voller Wasser darauf. Das Haus war den Winden ausgesetzt, ein bisschen zugig, um genau zu sein, aber es war unser Haus und bot in gewisser Weise Sicherheit und Stabilität. Für Heraklit allerdings Stand das Haus in Flammen.“<ref>ebd., S. 44 ff.</ref>'' <br />
<br />
<br />
Auch im Dualismus von Yin und Yang begegnet sich ein ähnliches Gegensatzpaar, das gemeinsam– laut „I Ging – Das Buch der Wandlungen“ – die Wandlungen allen Seins als einzig Beständiges auf vielfältigen Ebenen der Psyche, der Physis, der Gesellschaft und des Kosmos in Gang hält.<ref>'''I Ging. Das Buch der Wandlungen.''' In der Originalübersetzung von Richard Wilhelm. 8., ergänzte Auflage 2017. Wiesbaden: Marix. ISBN 978-3-937715-08-7. S. 14 ff.</ref><br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* '''Knobel, Stefan (2012):''' Stabilität – Instabilität. Spielt die Welt verrückt? In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2012, Nr. 2. S. 4–8. Zum Artikel: [[Medium:Lq-2012-2-Stabilität - Instabilität.pdf|Stabilität - Instabilität]]<br />
* '''Scheffer, Marten; Westley, Francis R. (2007):''' The Evolutionary Basis of Rigidity: Locks in Cells, Minds and Society. In: Ecology and Society 12(2): 36. http://www.ecologyandsociety.org/vol12/iss2/art36/ (Zugriff: 22.08.2018).<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Knochen und Muskeln]]<br /><br />
[[Massen und Zwischenräume]]<br /><br />
== Zum Begriff ==<br />
=== Bedeutungsüberblick ===<br />
==== Die Bedeutungen der Begriffe nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ ====<br />
Nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ hat '''stabil''' folgende Bedeutungen: <br><br />
Die Erstbedeutung lautet „a. sehr fest gefügt und dadurch Beanspruchungen aushaltend“ und „b. (besonders Physik, Chemie, Technik) in sich konstant bleibend, gleichbleibend, relativ unveränderlich“. Synonyme sind „derb, fest, haltbar, massiv, robust, solide, strapazierfähig, unverwüstlich, verschleißfest, widerstandsfähig; (österreichisch) strapazfähig; (bildungssprachlich) durabel; (umgangssprachlich) dankbar“.<br />
<br />
Die auch fachsprachlich verwendete Zweitbedeutung lautet „so beständig, dass nicht leicht eine Störung, Gefährdung möglich ist; Veränderungen, Schwankungen kaum unterworfen“. Synonyme sind „beständig, dauerhaft, fest, gleichbleibend hart, konstant, unveränderlich“.<br />
<br />
Die Drittbedeutung lautet „widerstandsfähig; kräftig; nicht anfällig“. Synonyme sind „eisern, gesund, kräftig, stark, unempfindlich, widerstandsfähig, zäh; (Biologie, Medizin) resistent“.<br />
<br />
Als Antonym wird „labil“ angegeben.<br />
<br />
Nach dem Duden Online-Wörterbuch hat '''instabil''' folgende Bedeutungen: <br><br />
Die Erstbedeutung lautet „(besonders Physik, Technik) nicht im Gleichgewicht bleibend; in sich nicht fest, nicht gleich[mäßig], nicht konstant bleibend“. Synonyme sind „alt, altersschwach, baufällig, brüchig, morsch, rissig, unstabil, verfallen, verkommen, wackelig, zerfallen“.<br />
<br />
Die Zweitbedeutung lautet „veränderlich, schwankend; nicht beständig, nicht dauerhaft“. Synonyme sind „schwankend, sprunghaft, unberechenbar, unbeständig, undurchsichtig, unklar, unzuverlässig, veränderlich; (gehoben) unstet, wandelbar“.<br />
<br />
Beide Begriffe werden in der Kinästhetik auch in ihren gemeinsprachlichen Bedeutungen verwendet.<br />
==== Die Verwendung als kinästhetischer Fachbegriff ====<br />
Seit 1991 wird „stabil/Stabilität“ und „instabil/Instabilität“ im fachlichen Kontext der Kinästhetik verwendet. Früh wird das Gegensatzpaar als Muster erkannt, das in verschiedenen Unterthemen des späteren Konzeptsystems aufscheint. Es betrifft eine allgemeinere Unterscheidung, die zur entsprechenden Charakterisierung der menschlichen Anatomie und ihrer Funktionen (z. B. in „Knochen und Muskeln“), als subjektiv erfahrbares und verbindendes Grundmuster, aber auch in anderen Kontexten benutzt wird. Diese Unterscheidung beruht letztlich auf einer Grundfrage, die das Denken des Menschen und sein Weltverständnis seit frühester Zeit prägt.<br />
<br />
=== Herkunft ===<br />
Nach dem „Duden Herkunftswörterbuch“ wurde das Wort '''stabil''' mit den Bedeutungen „beständig, dauerhaft, fest, haltbar; widerstandsfähig“ im 18. Jahrhundert aus lateinisch ''stabilis'' „fest stehend, standhaft, dauerhaft usw.“ entlehnt. Das lateinische Adjektiv gehört mit vielen anderen verwandten Wörtern zur Sippe des lateinischen Verbs ''stare'' „stehen“, das mit deutsch „stehen“ urverwandt ist. Ableitungen sind „Stabilität“ und „stabilisieren“.<br />
<br />
Das Wort '''instabil''' ist zusammengesetzt aus lateinisch ''in-'' „un-, nicht …“ und lateinisch ''stabilis'' (vgl. oben). Das erste Glied ''in-'' ist mit deutsch „un-“ urverwandt und verneint wie dieses in der Zusammensetzung mit Adjektiven deren Bedeutung. Eine Ableitung ist „Instabilität“.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Menschenbild]]<br />
[[Kategorie:Konzeptsystem]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Stabil_und_instabil&diff=4910
Stabil und instabil
2023-12-20T11:52:14Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Weiterführende Literatur und Medien */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|vorläufig abgeschlossen|Joachim Reif/Lutz Zierbeck}}<br />
<br />
<br />
'''''Zusammenfassung:'''''<br>Dieser Artikel beleuchtet die aktuelle Verwendung des Begriffspaars „Stabil und instabil“ als kinaesthetischer Fachbegriff in ausgewählter Fachliteratur. Es wird versucht die Entwicklung des Grundmusters „Stabil und instabil“ in der Kinästhetik anhand literarischer Verweise nachzuvollziehen. Vor einem größeren kulturgeschichtlichen Hintergrund wird dessen grundlegende Bedeutung in Betracht gezogen. Zum Schluss werden begriffliche Aspekte behandelt.<br />
<br />
<br />
== Aktuelle Verwendung des Begriffs ==<br />
[[Datei:Steinturm mit Vogel.jpg|mini]]<br />
=== „Stabil und instabil“ im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
Das gesamte zweite Konzept „Funktionale Anatomie“ etabliert „stabil und instabil“ als grundlegendes erfahrbares Muster der Anatomie in allen vier Unterthemen. <br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Knochen und Muskeln“ ====<br />
Im ersten Unterthema „[[Knochen und Muskeln]]“ wird die Erfahrbarkeit der Knochen mit den Begriffen „hart, stabil und robust“<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2018):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 20</ref> charakterisiert. Die zugehörige anatomische Funktion ist die eines stabilen Gerüsts bzw. des Tragens oder Weiterleitens des Körpergewichts. Die Erfahrbarkeit der Muskeln wird mit „weicher, instabiler und durch Anspannung und Entspannung veränderlich“ charakterisiert. Die zugehörige anatomische Funktion ist die Veränderung oder Erhaltung der Beziehung der Knochen. Sie können durch Anspannung Körpergewicht tragen und sich in ihrer erfahrbaren Eigenschaft sowie in der Funktion den Knochen annähern.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Massen und Zwischenräume“ ====<br />
In „2.2. [[Massen und Zwischenräume]]“ wird explizit auf das „erfahrbare Muster ‚stabil – instabil‘“<ref>ebd., S. 21</ref> verwiesen. Aufbauend auf dem vorausgehenden Unterthema „[[Knochen und Muskeln]]“ sind Massen als kompakte und stabile Strukturen erfahrbar, Zwischenräume hingegen als weicher und instabiler. Ihre zugehörige anatomische Funktion besteht im Tragen oder Weiterleiten des Körpergewichts bzw. in der Veränderung der Beziehung der Massen.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“<ref>ebd., S. 22–25</ref> ====<br />
In „2.3. Haltungsbewegungsebenen und Transportbewegungsebenen“ wird das erfahrbare Muster des regelmäßigen Wechsels der stabileren und instabileren Bewegungsebenen im Zusammenhang mit der Form und Funktionalität der jeweiligen Gelenke thematisiert. In einem kompletten Durchgang durch das menschliche Skelett werden die einzelnen Bewegungsebenen aufgezeigt. Stabilität bzw. Instabilität wird hier durch die Unterscheidung zwischen zwei- bzw. dreidimensionalen (kugelgelenkartigen) Bewegungsmöglichkeiten der einzelnen Ebenen erfahrbar.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Vorder- und Rückseiten“ ====<br />
Auch in „2.4. [[Orientierung]]“ wird auf das Gegensatzpaar „stabil – instabil“ zurückgegriffen, um die Erfahrbarkeit der Vorder- und Rückseiten der Massen zu charakterisieren und auf ihre entsprechenden Funktionen zu verweisen.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Haltungs- und Transportbewegung“==== <br />
Im dritten Konzept „Menschliche Bewegung“ dient das Gegensatzpaar „stabil – instabil“ zur Unterscheidung zwischen Haltungs- und Transportbewegungen<ref>ebd., S. 32</ref>. Sie sind als eher stabile oder veränderliche Beziehung der Massen zueinander erfahrbar. Aus dem notwendigen Zusammenspiel beider Bewegungskomponenten entwickelt jeder Mensch individuelle Bewegungsmuster.<br />
<br />
=== „Stabil und instabil“ in „Kinaesthetics Infant Handling“ ===<br />
Dieses Buch von Lenny Maietta (1950–2018) und Frank Hatch (*1940) stellt das Kind ins Zentrum, hat sich aber als allgemeines Standardwerk der Kinästhetik etabliert. Im Folgenden wird das Auftreten des Musters der Stabilität und Instabilität an einigen einschlägigen Stellen aufgezeigt.<br />
<br />
Geleitwort 1<br />
<br />
Im Geleitwort wird das Muster implizit anhand der Diskussion über genetische Determination versus Beeinflussbarkeit der „angeblich stabilen Persönlichkeitsmerkmale“<ref>'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Übersetzt von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Original-Manuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. Bern: Hogrefe, vorm. Hans Huber Verlag. IBSN 978-3-456-84987-4. S. 9</ref> angedeutet.<br />
<br />
4.4 Konzept: Funktionelle Anatomie<br />
<br />
In „4.4.1 Muskeln und Knochen“ werden Knochen als stabil und das Muskelgewebe als instabil beschrieben; die Darstellung ihrer Eigenschaften und Funktionen stimmt weitgehend mit dem „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ überein. In der vom Buch empfohlenen Aktivität soll das Bewegen der Knochen helfen, „ein Gefühl für die Stabilität“<ref>ebd., S. 86</ref> zu entwickeln. Insofern wird hier eine Brücke zu einer erfahrbaren Eigenschaft gebaut.<br />
<br />
In „4.4.1.2 Entwicklung des Bewegungsapparates“<ref>ebd., S. 88 </ref> wird auf die Bedeutung stabiler und instabiler Umgebungseigenschaften für die Entwicklung des Bewegungsapparates hingewiesen und ebenso darauf, dass die Stabilität der Knochen in engem Zusammenhang mit ihrer Beanspruchung steht.<br />
<br />
In „4.4.2 Massen und Zwischenräume“ wird im Gegensatz zum „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ keine explizite Unterscheidung anhand des Musters der Stabilität und Instabilität vorgenommen. Hier wird verstärkt auf die Abgabe des Gewichts und das Drücken auf eine „stabile Unterlage“<ref>ebd., S. 89</ref> eingegangen.<br />
<br />
In „4.4.3.2 Körperorientierte Bewegung“<ref>ebd., S. 95 ff.</ref> werden erstmals Rückseiten u. a. als stabil und Vorderseiten u. a. als instabil beschrieben.<br />
<br />
4.5 Menschliche Bewegung<br />
<br />
Stabilität und Instabilität werden als wahrnehmbare Eigenschaften der „Haltungs- und der Transportbewegung“<ref>ebd., S. 100</ref> (Kapitel 4.5.1) erwähnt. Diese werden in Kombination als notwendige Voraussetzung für die menschliche Bewegung genannt.<br />
<br />
Die Unterscheidung zwischen stabil und instabil wird an einschlägigen Stellen verwendet, erscheint aber nicht als erfahrbares und die Unterthemen der funktionalen Anatomie verbindendes Grundmuster.<br />
<br />
=== Kommentare, Auswertungen und offene Fragen ===<br />
Als kinästhetischer Fachbegriff benennt „stabil und instabil“ ein Muster, das in den beiden Konzepten der „Funktionalen/Funktionellen Anatomie“ und der „Menschlichen Bewegung“ eine wichtige Grundlage bildet. Dieses Grundmuster ist eine Vorbedingung für gelingende Bewegung ebenso wie für gelingende Anpassungen. Ohne das Zusammenwirken von stabilen und instabilen Eigenschaften der Anatomie (vgl. zweites Konzept) wäre unser Körper entweder zu stabil, also zu starr, oder zu instabil, also zu locker, um die für uns nötigen Bewegungsabläufe zu koordinieren. Dieses Muster entwickelt sich entsprechend der Funktion der einzelnen Teile schon in der Embryonalentwicklung und bestimmt danach wiederum ihre weitere Funktion.<br />
<br />
Das Muster setzt sich im Konzept „Menschliche Bewegung“ fort. Wir haben die Möglichkeit, Bewegung so zu gestalten, dass eine stabile oder instabile Beziehung der Körperteile entsteht. Mehr oder weniger Stabilität wird dabei von „innen“ erzeugt. <br />
Eine andere Form der Stabilität wird erreicht, wenn wir unser Gewicht weitestgehend über unsere Knochen auf die Unterstützungsfläche abgeben, was die muskuläre „Stabilität“ im Körper, die Spannung, reduziert.<br />
<br />
Es wird vor allem deutlich, dass die Kompetenz zur differenzierten Bewegungsregulation zwischen beiden Extremen der Stabilität und Instabilität entscheidend für unsere alltäglichen Möglichkeiten der Bewegung ist. Dabei hilft dieses Grundmuster als übergeordneter und verbindender Blickwinkel, der sich in weitere Unterthemen („[[Knochen und Muskeln]]“ usw.) ausdifferenzieren lässt.<br />
<br />
== Begriffsgeschichte ==<br />
=== „Stabil, Stabilität, stabilisieren“ im 16. Kinästhetik-Bulletin von 1990 ===<br />
Die Begriffe „stabil“, „Stabilität“ und „stabilisieren“ sind schon in dieser frühesten zusammenhängenden Beschreibung der späteren Konzepte an mehreren einschlägigen Stellen zu finden, nicht aber „instabil, Instabilität“. Der Aspekt der Stabilität erscheint im Zusammenhang mit den Streckmuskeln bzw. Hinterseiten<ref>'''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 16</ref>, mit den Massen<ref>ebd., S. 20</ref> und mit der spezifischen Reihenfolge der Haltungs- und Transportbewegung(sebenen)<ref>ebd., S. 21</ref> . Auffällig ist der unterdessen aufgegebene Fachbegriff der „stabilen Positionen“ in „4.5.3. „Fortbewegung“<ref>ebd., S. 25</ref>, ebenso die unterdessen aufgegebene Identifikation von Rotation und Beugen als stabilste Bewegungen in einer verstrebenden bzw. hängenden Beziehung. Übereinstimmend mit dem heutigen Verständnis wird auf die Stabilisierung zweier benachbarter Massen durch das Blockieren des verbindenden Zwischenraums hingewiesen<ref>ebd., S. 22</ref>. <br />
Im Ganzen ist „stabil und instabil“ als Begriffspaar und grundlegendes Muster noch nicht ausdifferenziert.<br />
=== Die Etablierung des Begriffspaars „stabil – un-/instabil“ ===<br />
„Stabil – unstabil“<ref>'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (1991):''' Kinästhetik in der Krankenpflege. Arbeitsbuch Grundkurs. Übersetzt von Ina Citron. © 1991 Copyright Maietta-Hatch-Inc. S. II.1 (37)</ref> wird als Begriffspaar zum ersten Mal im Grundkurs-Arbeitsbuch „Kinästhetik in der Krankenpflege“ von 1991 erwähnt. Im Kapitel „Menschliche Bewegung“ wird es als Unterscheidung zwischen den stabilen Massen und den unstabilen Zwischenräumen eingeführt und bleibt darauf beschränkt.<br />
<br />
In „Kinästhetik – Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Pflege“ von Frank Hatch, Lenny Maietta und Suzanne Schmidt, dem ersten Fachbuch der Kinästhetik von 1992, wird das Begriffspaar beim Thema „[[Knochen und Muskeln]]“<ref>'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny; Schmidt, Suzanne (1994):''' Kinästhetik. Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Krankenpflege. 3. Auflage. Eschborn: Deutscher Verband für Pflegeberufe. ISBN 3-927944-02-5. S. 39</ref> nicht verwendet. Hingegen wird es im Kapitel „Menschliche Bewegung“ unter dem Titel „Bewegungsebenen für Haltungs- und Transportbewegungen“ (sic!) als leitende Unterscheidung verwendet<ref>ebd., S. 44 ff.</ref>. In diesem Zusammenhang taucht hier zum ersten Mal der heute noch übliche komplette Durchgang durch das menschliche Skelett auf. Unter dem anschließenden Titel „Das Muster stabil/instabil in der Bewegung“ wird das Thema mit dem „funktionalen Aufbau des Skeletts“<ref>ebd., S. 81</ref> in Zusammenhang gebracht, bezüglich Massen und Zwischenräume illustriert und auf den Pflegekontext übertragen.<br />
<br />
Im Jahr 1996 erscheint das Begriffspaar „stabil – instabil“ als wahrnehmbares Muster der menschlichen Bewegung und Unterscheidungsmerkmal von Haltungs- und Transportbewegung in den Grundkurs-Arbeitsbüchern für Infant Handling und Kinästhetik in der Pflege, und zwar mit einem Verweis auf die einfachste Ausprägung des Musters bei Massen und Zwischenräumen. In anderen Zusammenhängen wird es nicht benannt.<br />
<br />
=== „Stabil und instabil“ in „Kybernetik und Kinästhetik“ ===<br />
„Homöostase“ wurde ursprünglich zu Beschreibung der Fähigkeit lebender Systeme, sich innerhalb gewisser Grenzen in einem stabilen Zustand zu halten, geprägt. Der Begriff ist auch heute in dieser Bedeutung vor allem in der Biologie und Medizin weit verbreitet. Etymologisch betrachtet beschreibt „-stase“ allerdings einen unveränderlichen Stillstand – sozusagen die absolute Stabilität –, der bei lebenden Systemen dem Tod gleichkommt<ref>Wikipedia (2018): Homöostase [https://de.wikipedia.org/wiki/Hom%C3%B6ostase Homöostase] (Zugriff 15.08.2018)</ref>.<br />
<br />
Als Alternative hat der Verhaltenskybernetiker K. U. Smith (1907–1994) den Begriff „Homöokinese“ vorgeschlagen. Das zweite Glied „-kinese“ (zu griechisch ''kinesis'' „Bewegung“) hebt die Prozesse, die zu einem Gleichgewicht oder einer Ausgewogenheit innerhalb gewisser Grenzen führen, deutlicher hervor. Damit könne man lebenden Systemen eher gerecht werden. Auffällig ist, dass die beiden Forscher Maturana (*1928) und Varela (1946–2001), die die Dynamik lebender Systeme in ihrem gemeinsamen Buch stets betonen – sozusagen die immanente Instabilität –, durchwegs auf den etablierten Begriff „homöostatisch“ zurückgreifen<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2018):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S.&nbsp;11</ref>. <br />
<br />
Auch hier zeigt sich das Grundmuster „stabil und instabil“ (vgl. unten).<br />
<br />
== Kultur, Geschichte, Tradition ==<br />
Weiterreichende Bedeutung erlangen die beiden Begriffe, betrachtet man sie als grundlegendes duales Muster der Stabilität und Instabilität, der Starrheit und der Veränderung, des Wandels und der Konstanz auf unterschiedlichsten Ebenen. <br />
<br />
In der Thermodynamik findet sich eine Erweiterung dieses dualen Musters durch den Begriff „metastabil“, der das Potenzial zum Übergang von einem stabilen Zustand über eine Phase der Instabilität in einen noch stabileren Zustand definiert<ref>Wikipedia (2018): Metastabilität [https://de.wikipedia.org/wiki/Metastabilit%C3%A4t Metastabilität] (Zugriff 15.08.2018)</ref>.<br />
<br />
Eine große Bedeutung hat das Grundmuster in der Antike, insbesondere in der Philosophie. Die Vorsokratiker Heraklit (um 520 bis 460 v. Chr.) und Parmenides (um 520/515 bis 460/455 v. Chr.) stellen in ihren Fragmenten zwei widersprüchliche Bilder dieser Welt vor.<br />
Heraklit spricht mit „pantha rhei“ („Alles fließt“) von einer ständig im Wandel befindlichen, instabilen Wirklichkeit, der nur der Mensch eine stabile Interpretation zu verleihen versucht.<br />
Parmenides wiederum nimmt die Welt an sich als stabile, unteilbare und unveränderliche Einheit an. <br />
„Nur der trügerische Glaube an die Wirklichkeit der Gegensätze – der Glaube, dass nicht nur existiert, was ist, sondern auch das, was nicht ist – führt zu der Illusion einer Welt der Veränderung.“<ref>'''Popper, Karl R. (2016):''' Die Welt des Parmenides. Der Ursprung des europäischen Denkens. Herausgegeben von Arne Petersen … [et. al.]. München: Piper. ISBN 978-3-492-24071. S. 44 ff.</ref> <br />
<br />
: ''„Alle drei Milesier (Anaximander, Anaximenes, Thales) betrachteten unsere Welt als unser Heim. Es gab da Bewegung, es gab Veränderung in diesem Heim, es gab Hitze und Kälte, Feuer und Feuchtigkeit. Es gab ein Feuer im Herd mit einem Kessel voller Wasser darauf. Das Haus war den Winden ausgesetzt, ein bisschen zugig, um genau zu sein, aber es war unser Haus und bot in gewisser Weise Sicherheit und Stabilität. Für Heraklit allerdings Stand das Haus in Flammen.“<ref>ebd., S. 44 ff.</ref>'' <br />
<br />
<br />
Auch im Dualismus von Yin und Yang begegnet sich ein ähnliches Gegensatzpaar, das gemeinsam– laut „I Ging – Das Buch der Wandlungen“ – die Wandlungen allen Seins als einzig Beständiges auf vielfältigen Ebenen der Psyche, der Physis, der Gesellschaft und des Kosmos in Gang hält.<ref>'''I Ging. Das Buch der Wandlungen.''' In der Originalübersetzung von Richard Wilhelm. 8., ergänzte Auflage 2017. Wiesbaden: Marix. ISBN 978-3-937715-08-7. S. 14 ff.</ref><br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* '''Knobel, Stefan (2012):''' Stabilität – Instabilität. Spielt die Welt verrückt? In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2012, Nr. 2. S. 4–8. Zum Artikel: [[Medium:Lq-2012-2-Stabilität und Instabilität.pdf|Stabilität und Instabilität]]<br />
* '''Scheffer, Marten; Westley, Francis R. (2007):''' The Evolutionary Basis of Rigidity: Locks in Cells, Minds and Society. In: Ecology and Society 12(2): 36. http://www.ecologyandsociety.org/vol12/iss2/art36/ (Zugriff: 22.08.2018).<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Knochen und Muskeln]]<br /><br />
[[Massen und Zwischenräume]]<br /><br />
== Zum Begriff ==<br />
=== Bedeutungsüberblick ===<br />
==== Die Bedeutungen der Begriffe nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ ====<br />
Nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ hat '''stabil''' folgende Bedeutungen: <br><br />
Die Erstbedeutung lautet „a. sehr fest gefügt und dadurch Beanspruchungen aushaltend“ und „b. (besonders Physik, Chemie, Technik) in sich konstant bleibend, gleichbleibend, relativ unveränderlich“. Synonyme sind „derb, fest, haltbar, massiv, robust, solide, strapazierfähig, unverwüstlich, verschleißfest, widerstandsfähig; (österreichisch) strapazfähig; (bildungssprachlich) durabel; (umgangssprachlich) dankbar“.<br />
<br />
Die auch fachsprachlich verwendete Zweitbedeutung lautet „so beständig, dass nicht leicht eine Störung, Gefährdung möglich ist; Veränderungen, Schwankungen kaum unterworfen“. Synonyme sind „beständig, dauerhaft, fest, gleichbleibend hart, konstant, unveränderlich“.<br />
<br />
Die Drittbedeutung lautet „widerstandsfähig; kräftig; nicht anfällig“. Synonyme sind „eisern, gesund, kräftig, stark, unempfindlich, widerstandsfähig, zäh; (Biologie, Medizin) resistent“.<br />
<br />
Als Antonym wird „labil“ angegeben.<br />
<br />
Nach dem Duden Online-Wörterbuch hat '''instabil''' folgende Bedeutungen: <br><br />
Die Erstbedeutung lautet „(besonders Physik, Technik) nicht im Gleichgewicht bleibend; in sich nicht fest, nicht gleich[mäßig], nicht konstant bleibend“. Synonyme sind „alt, altersschwach, baufällig, brüchig, morsch, rissig, unstabil, verfallen, verkommen, wackelig, zerfallen“.<br />
<br />
Die Zweitbedeutung lautet „veränderlich, schwankend; nicht beständig, nicht dauerhaft“. Synonyme sind „schwankend, sprunghaft, unberechenbar, unbeständig, undurchsichtig, unklar, unzuverlässig, veränderlich; (gehoben) unstet, wandelbar“.<br />
<br />
Beide Begriffe werden in der Kinästhetik auch in ihren gemeinsprachlichen Bedeutungen verwendet.<br />
==== Die Verwendung als kinästhetischer Fachbegriff ====<br />
Seit 1991 wird „stabil/Stabilität“ und „instabil/Instabilität“ im fachlichen Kontext der Kinästhetik verwendet. Früh wird das Gegensatzpaar als Muster erkannt, das in verschiedenen Unterthemen des späteren Konzeptsystems aufscheint. Es betrifft eine allgemeinere Unterscheidung, die zur entsprechenden Charakterisierung der menschlichen Anatomie und ihrer Funktionen (z. B. in „Knochen und Muskeln“), als subjektiv erfahrbares und verbindendes Grundmuster, aber auch in anderen Kontexten benutzt wird. Diese Unterscheidung beruht letztlich auf einer Grundfrage, die das Denken des Menschen und sein Weltverständnis seit frühester Zeit prägt.<br />
<br />
=== Herkunft ===<br />
Nach dem „Duden Herkunftswörterbuch“ wurde das Wort '''stabil''' mit den Bedeutungen „beständig, dauerhaft, fest, haltbar; widerstandsfähig“ im 18. Jahrhundert aus lateinisch ''stabilis'' „fest stehend, standhaft, dauerhaft usw.“ entlehnt. Das lateinische Adjektiv gehört mit vielen anderen verwandten Wörtern zur Sippe des lateinischen Verbs ''stare'' „stehen“, das mit deutsch „stehen“ urverwandt ist. Ableitungen sind „Stabilität“ und „stabilisieren“.<br />
<br />
Das Wort '''instabil''' ist zusammengesetzt aus lateinisch ''in-'' „un-, nicht …“ und lateinisch ''stabilis'' (vgl. oben). Das erste Glied ''in-'' ist mit deutsch „un-“ urverwandt und verneint wie dieses in der Zusammensetzung mit Adjektiven deren Bedeutung. Eine Ableitung ist „Instabilität“.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Menschenbild]]<br />
[[Kategorie:Konzeptsystem]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Datei:Lq-2012-2-Stabilit%C3%A4t_und_Instabilit%C3%A4t.pdf&diff=4909
Datei:Lq-2012-2-Stabilität und Instabilität.pdf
2023-12-20T11:48:51Z
<p>Lutz Zierbeck: </p>
<hr />
<div></div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Stabil_und_instabil&diff=4908
Stabil und instabil
2023-12-20T11:41:03Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Die Etablierung des Begriffspaars „stabil – un-/instabil“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|vorläufig abgeschlossen|Joachim Reif/Lutz Zierbeck}}<br />
<br />
<br />
'''''Zusammenfassung:'''''<br>Dieser Artikel beleuchtet die aktuelle Verwendung des Begriffspaars „Stabil und instabil“ als kinaesthetischer Fachbegriff in ausgewählter Fachliteratur. Es wird versucht die Entwicklung des Grundmusters „Stabil und instabil“ in der Kinästhetik anhand literarischer Verweise nachzuvollziehen. Vor einem größeren kulturgeschichtlichen Hintergrund wird dessen grundlegende Bedeutung in Betracht gezogen. Zum Schluss werden begriffliche Aspekte behandelt.<br />
<br />
<br />
== Aktuelle Verwendung des Begriffs ==<br />
[[Datei:Steinturm mit Vogel.jpg|mini]]<br />
=== „Stabil und instabil“ im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
Das gesamte zweite Konzept „Funktionale Anatomie“ etabliert „stabil und instabil“ als grundlegendes erfahrbares Muster der Anatomie in allen vier Unterthemen. <br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Knochen und Muskeln“ ====<br />
Im ersten Unterthema „[[Knochen und Muskeln]]“ wird die Erfahrbarkeit der Knochen mit den Begriffen „hart, stabil und robust“<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2018):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 20</ref> charakterisiert. Die zugehörige anatomische Funktion ist die eines stabilen Gerüsts bzw. des Tragens oder Weiterleitens des Körpergewichts. Die Erfahrbarkeit der Muskeln wird mit „weicher, instabiler und durch Anspannung und Entspannung veränderlich“ charakterisiert. Die zugehörige anatomische Funktion ist die Veränderung oder Erhaltung der Beziehung der Knochen. Sie können durch Anspannung Körpergewicht tragen und sich in ihrer erfahrbaren Eigenschaft sowie in der Funktion den Knochen annähern.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Massen und Zwischenräume“ ====<br />
In „2.2. [[Massen und Zwischenräume]]“ wird explizit auf das „erfahrbare Muster ‚stabil – instabil‘“<ref>ebd., S. 21</ref> verwiesen. Aufbauend auf dem vorausgehenden Unterthema „[[Knochen und Muskeln]]“ sind Massen als kompakte und stabile Strukturen erfahrbar, Zwischenräume hingegen als weicher und instabiler. Ihre zugehörige anatomische Funktion besteht im Tragen oder Weiterleiten des Körpergewichts bzw. in der Veränderung der Beziehung der Massen.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“<ref>ebd., S. 22–25</ref> ====<br />
In „2.3. Haltungsbewegungsebenen und Transportbewegungsebenen“ wird das erfahrbare Muster des regelmäßigen Wechsels der stabileren und instabileren Bewegungsebenen im Zusammenhang mit der Form und Funktionalität der jeweiligen Gelenke thematisiert. In einem kompletten Durchgang durch das menschliche Skelett werden die einzelnen Bewegungsebenen aufgezeigt. Stabilität bzw. Instabilität wird hier durch die Unterscheidung zwischen zwei- bzw. dreidimensionalen (kugelgelenkartigen) Bewegungsmöglichkeiten der einzelnen Ebenen erfahrbar.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Vorder- und Rückseiten“ ====<br />
Auch in „2.4. [[Orientierung]]“ wird auf das Gegensatzpaar „stabil – instabil“ zurückgegriffen, um die Erfahrbarkeit der Vorder- und Rückseiten der Massen zu charakterisieren und auf ihre entsprechenden Funktionen zu verweisen.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Haltungs- und Transportbewegung“==== <br />
Im dritten Konzept „Menschliche Bewegung“ dient das Gegensatzpaar „stabil – instabil“ zur Unterscheidung zwischen Haltungs- und Transportbewegungen<ref>ebd., S. 32</ref>. Sie sind als eher stabile oder veränderliche Beziehung der Massen zueinander erfahrbar. Aus dem notwendigen Zusammenspiel beider Bewegungskomponenten entwickelt jeder Mensch individuelle Bewegungsmuster.<br />
<br />
=== „Stabil und instabil“ in „Kinaesthetics Infant Handling“ ===<br />
Dieses Buch von Lenny Maietta (1950–2018) und Frank Hatch (*1940) stellt das Kind ins Zentrum, hat sich aber als allgemeines Standardwerk der Kinästhetik etabliert. Im Folgenden wird das Auftreten des Musters der Stabilität und Instabilität an einigen einschlägigen Stellen aufgezeigt.<br />
<br />
Geleitwort 1<br />
<br />
Im Geleitwort wird das Muster implizit anhand der Diskussion über genetische Determination versus Beeinflussbarkeit der „angeblich stabilen Persönlichkeitsmerkmale“<ref>'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Übersetzt von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Original-Manuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. Bern: Hogrefe, vorm. Hans Huber Verlag. IBSN 978-3-456-84987-4. S. 9</ref> angedeutet.<br />
<br />
4.4 Konzept: Funktionelle Anatomie<br />
<br />
In „4.4.1 Muskeln und Knochen“ werden Knochen als stabil und das Muskelgewebe als instabil beschrieben; die Darstellung ihrer Eigenschaften und Funktionen stimmt weitgehend mit dem „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ überein. In der vom Buch empfohlenen Aktivität soll das Bewegen der Knochen helfen, „ein Gefühl für die Stabilität“<ref>ebd., S. 86</ref> zu entwickeln. Insofern wird hier eine Brücke zu einer erfahrbaren Eigenschaft gebaut.<br />
<br />
In „4.4.1.2 Entwicklung des Bewegungsapparates“<ref>ebd., S. 88 </ref> wird auf die Bedeutung stabiler und instabiler Umgebungseigenschaften für die Entwicklung des Bewegungsapparates hingewiesen und ebenso darauf, dass die Stabilität der Knochen in engem Zusammenhang mit ihrer Beanspruchung steht.<br />
<br />
In „4.4.2 Massen und Zwischenräume“ wird im Gegensatz zum „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ keine explizite Unterscheidung anhand des Musters der Stabilität und Instabilität vorgenommen. Hier wird verstärkt auf die Abgabe des Gewichts und das Drücken auf eine „stabile Unterlage“<ref>ebd., S. 89</ref> eingegangen.<br />
<br />
In „4.4.3.2 Körperorientierte Bewegung“<ref>ebd., S. 95 ff.</ref> werden erstmals Rückseiten u. a. als stabil und Vorderseiten u. a. als instabil beschrieben.<br />
<br />
4.5 Menschliche Bewegung<br />
<br />
Stabilität und Instabilität werden als wahrnehmbare Eigenschaften der „Haltungs- und der Transportbewegung“<ref>ebd., S. 100</ref> (Kapitel 4.5.1) erwähnt. Diese werden in Kombination als notwendige Voraussetzung für die menschliche Bewegung genannt.<br />
<br />
Die Unterscheidung zwischen stabil und instabil wird an einschlägigen Stellen verwendet, erscheint aber nicht als erfahrbares und die Unterthemen der funktionalen Anatomie verbindendes Grundmuster.<br />
<br />
=== Kommentare, Auswertungen und offene Fragen ===<br />
Als kinästhetischer Fachbegriff benennt „stabil und instabil“ ein Muster, das in den beiden Konzepten der „Funktionalen/Funktionellen Anatomie“ und der „Menschlichen Bewegung“ eine wichtige Grundlage bildet. Dieses Grundmuster ist eine Vorbedingung für gelingende Bewegung ebenso wie für gelingende Anpassungen. Ohne das Zusammenwirken von stabilen und instabilen Eigenschaften der Anatomie (vgl. zweites Konzept) wäre unser Körper entweder zu stabil, also zu starr, oder zu instabil, also zu locker, um die für uns nötigen Bewegungsabläufe zu koordinieren. Dieses Muster entwickelt sich entsprechend der Funktion der einzelnen Teile schon in der Embryonalentwicklung und bestimmt danach wiederum ihre weitere Funktion.<br />
<br />
Das Muster setzt sich im Konzept „Menschliche Bewegung“ fort. Wir haben die Möglichkeit, Bewegung so zu gestalten, dass eine stabile oder instabile Beziehung der Körperteile entsteht. Mehr oder weniger Stabilität wird dabei von „innen“ erzeugt. <br />
Eine andere Form der Stabilität wird erreicht, wenn wir unser Gewicht weitestgehend über unsere Knochen auf die Unterstützungsfläche abgeben, was die muskuläre „Stabilität“ im Körper, die Spannung, reduziert.<br />
<br />
Es wird vor allem deutlich, dass die Kompetenz zur differenzierten Bewegungsregulation zwischen beiden Extremen der Stabilität und Instabilität entscheidend für unsere alltäglichen Möglichkeiten der Bewegung ist. Dabei hilft dieses Grundmuster als übergeordneter und verbindender Blickwinkel, der sich in weitere Unterthemen („[[Knochen und Muskeln]]“ usw.) ausdifferenzieren lässt.<br />
<br />
== Begriffsgeschichte ==<br />
=== „Stabil, Stabilität, stabilisieren“ im 16. Kinästhetik-Bulletin von 1990 ===<br />
Die Begriffe „stabil“, „Stabilität“ und „stabilisieren“ sind schon in dieser frühesten zusammenhängenden Beschreibung der späteren Konzepte an mehreren einschlägigen Stellen zu finden, nicht aber „instabil, Instabilität“. Der Aspekt der Stabilität erscheint im Zusammenhang mit den Streckmuskeln bzw. Hinterseiten<ref>'''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 16</ref>, mit den Massen<ref>ebd., S. 20</ref> und mit der spezifischen Reihenfolge der Haltungs- und Transportbewegung(sebenen)<ref>ebd., S. 21</ref> . Auffällig ist der unterdessen aufgegebene Fachbegriff der „stabilen Positionen“ in „4.5.3. „Fortbewegung“<ref>ebd., S. 25</ref>, ebenso die unterdessen aufgegebene Identifikation von Rotation und Beugen als stabilste Bewegungen in einer verstrebenden bzw. hängenden Beziehung. Übereinstimmend mit dem heutigen Verständnis wird auf die Stabilisierung zweier benachbarter Massen durch das Blockieren des verbindenden Zwischenraums hingewiesen<ref>ebd., S. 22</ref>. <br />
Im Ganzen ist „stabil und instabil“ als Begriffspaar und grundlegendes Muster noch nicht ausdifferenziert.<br />
=== Die Etablierung des Begriffspaars „stabil – un-/instabil“ ===<br />
„Stabil – unstabil“<ref>'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (1991):''' Kinästhetik in der Krankenpflege. Arbeitsbuch Grundkurs. Übersetzt von Ina Citron. © 1991 Copyright Maietta-Hatch-Inc. S. II.1 (37)</ref> wird als Begriffspaar zum ersten Mal im Grundkurs-Arbeitsbuch „Kinästhetik in der Krankenpflege“ von 1991 erwähnt. Im Kapitel „Menschliche Bewegung“ wird es als Unterscheidung zwischen den stabilen Massen und den unstabilen Zwischenräumen eingeführt und bleibt darauf beschränkt.<br />
<br />
In „Kinästhetik – Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Pflege“ von Frank Hatch, Lenny Maietta und Suzanne Schmidt, dem ersten Fachbuch der Kinästhetik von 1992, wird das Begriffspaar beim Thema „[[Knochen und Muskeln]]“<ref>'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny; Schmidt, Suzanne (1994):''' Kinästhetik. Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Krankenpflege. 3. Auflage. Eschborn: Deutscher Verband für Pflegeberufe. ISBN 3-927944-02-5. S. 39</ref> nicht verwendet. Hingegen wird es im Kapitel „Menschliche Bewegung“ unter dem Titel „Bewegungsebenen für Haltungs- und Transportbewegungen“ (sic!) als leitende Unterscheidung verwendet<ref>ebd., S. 44 ff.</ref>. In diesem Zusammenhang taucht hier zum ersten Mal der heute noch übliche komplette Durchgang durch das menschliche Skelett auf. Unter dem anschließenden Titel „Das Muster stabil/instabil in der Bewegung“ wird das Thema mit dem „funktionalen Aufbau des Skeletts“<ref>ebd., S. 81</ref> in Zusammenhang gebracht, bezüglich Massen und Zwischenräume illustriert und auf den Pflegekontext übertragen.<br />
<br />
Im Jahr 1996 erscheint das Begriffspaar „stabil – instabil“ als wahrnehmbares Muster der menschlichen Bewegung und Unterscheidungsmerkmal von Haltungs- und Transportbewegung in den Grundkurs-Arbeitsbüchern für Infant Handling und Kinästhetik in der Pflege, und zwar mit einem Verweis auf die einfachste Ausprägung des Musters bei Massen und Zwischenräumen. In anderen Zusammenhängen wird es nicht benannt.<br />
<br />
=== „Stabil und instabil“ in „Kybernetik und Kinästhetik“ ===<br />
„Homöostase“ wurde ursprünglich zu Beschreibung der Fähigkeit lebender Systeme, sich innerhalb gewisser Grenzen in einem stabilen Zustand zu halten, geprägt. Der Begriff ist auch heute in dieser Bedeutung vor allem in der Biologie und Medizin weit verbreitet. Etymologisch betrachtet beschreibt „-stase“ allerdings einen unveränderlichen Stillstand – sozusagen die absolute Stabilität –, der bei lebenden Systemen dem Tod gleichkommt<ref>Wikipedia (2018): Homöostase [https://de.wikipedia.org/wiki/Hom%C3%B6ostase Homöostase] (Zugriff 15.08.2018)</ref>.<br />
<br />
Als Alternative hat der Verhaltenskybernetiker K. U. Smith (1907–1994) den Begriff „Homöokinese“ vorgeschlagen. Das zweite Glied „-kinese“ (zu griechisch ''kinesis'' „Bewegung“) hebt die Prozesse, die zu einem Gleichgewicht oder einer Ausgewogenheit innerhalb gewisser Grenzen führen, deutlicher hervor. Damit könne man lebenden Systemen eher gerecht werden. Auffällig ist, dass die beiden Forscher Maturana (*1928) und Varela (1946–2001), die die Dynamik lebender Systeme in ihrem gemeinsamen Buch stets betonen – sozusagen die immanente Instabilität –, durchwegs auf den etablierten Begriff „homöostatisch“ zurückgreifen<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2018):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S.&nbsp;11</ref>. <br />
<br />
Auch hier zeigt sich das Grundmuster „stabil und instabil“ (vgl. unten).<br />
<br />
== Kultur, Geschichte, Tradition ==<br />
Weiterreichende Bedeutung erlangen die beiden Begriffe, betrachtet man sie als grundlegendes duales Muster der Stabilität und Instabilität, der Starrheit und der Veränderung, des Wandels und der Konstanz auf unterschiedlichsten Ebenen. <br />
<br />
In der Thermodynamik findet sich eine Erweiterung dieses dualen Musters durch den Begriff „metastabil“, der das Potenzial zum Übergang von einem stabilen Zustand über eine Phase der Instabilität in einen noch stabileren Zustand definiert<ref>Wikipedia (2018): Metastabilität [https://de.wikipedia.org/wiki/Metastabilit%C3%A4t Metastabilität] (Zugriff 15.08.2018)</ref>.<br />
<br />
Eine große Bedeutung hat das Grundmuster in der Antike, insbesondere in der Philosophie. Die Vorsokratiker Heraklit (um 520 bis 460 v. Chr.) und Parmenides (um 520/515 bis 460/455 v. Chr.) stellen in ihren Fragmenten zwei widersprüchliche Bilder dieser Welt vor.<br />
Heraklit spricht mit „pantha rhei“ („Alles fließt“) von einer ständig im Wandel befindlichen, instabilen Wirklichkeit, der nur der Mensch eine stabile Interpretation zu verleihen versucht.<br />
Parmenides wiederum nimmt die Welt an sich als stabile, unteilbare und unveränderliche Einheit an. <br />
„Nur der trügerische Glaube an die Wirklichkeit der Gegensätze – der Glaube, dass nicht nur existiert, was ist, sondern auch das, was nicht ist – führt zu der Illusion einer Welt der Veränderung.“<ref>'''Popper, Karl R. (2016):''' Die Welt des Parmenides. Der Ursprung des europäischen Denkens. Herausgegeben von Arne Petersen … [et. al.]. München: Piper. ISBN 978-3-492-24071. S. 44 ff.</ref> <br />
<br />
: ''„Alle drei Milesier (Anaximander, Anaximenes, Thales) betrachteten unsere Welt als unser Heim. Es gab da Bewegung, es gab Veränderung in diesem Heim, es gab Hitze und Kälte, Feuer und Feuchtigkeit. Es gab ein Feuer im Herd mit einem Kessel voller Wasser darauf. Das Haus war den Winden ausgesetzt, ein bisschen zugig, um genau zu sein, aber es war unser Haus und bot in gewisser Weise Sicherheit und Stabilität. Für Heraklit allerdings Stand das Haus in Flammen.“<ref>ebd., S. 44 ff.</ref>'' <br />
<br />
<br />
Auch im Dualismus von Yin und Yang begegnet sich ein ähnliches Gegensatzpaar, das gemeinsam– laut „I Ging – Das Buch der Wandlungen“ – die Wandlungen allen Seins als einzig Beständiges auf vielfältigen Ebenen der Psyche, der Physis, der Gesellschaft und des Kosmos in Gang hält.<ref>'''I Ging. Das Buch der Wandlungen.''' In der Originalübersetzung von Richard Wilhelm. 8., ergänzte Auflage 2017. Wiesbaden: Marix. ISBN 978-3-937715-08-7. S. 14 ff.</ref><br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* '''Knobel, Stefan (2012):''' Stabilität – Instabilität. Spielt die Welt verrückt? In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2012, Nr. 2. S. 4–8.<br />
* '''Scheffer, Marten; Westley, Francis R. (2007):''' The Evolutionary Basis of Rigidity: Locks in Cells, Minds and Society. In: Ecology and Society 12(2): 36. http://www.ecologyandsociety.org/vol12/iss2/art36/ (Zugriff: 22.08.2018).<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Knochen und Muskeln]]<br /><br />
[[Massen und Zwischenräume]]<br /><br />
== Zum Begriff ==<br />
=== Bedeutungsüberblick ===<br />
==== Die Bedeutungen der Begriffe nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ ====<br />
Nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ hat '''stabil''' folgende Bedeutungen: <br><br />
Die Erstbedeutung lautet „a. sehr fest gefügt und dadurch Beanspruchungen aushaltend“ und „b. (besonders Physik, Chemie, Technik) in sich konstant bleibend, gleichbleibend, relativ unveränderlich“. Synonyme sind „derb, fest, haltbar, massiv, robust, solide, strapazierfähig, unverwüstlich, verschleißfest, widerstandsfähig; (österreichisch) strapazfähig; (bildungssprachlich) durabel; (umgangssprachlich) dankbar“.<br />
<br />
Die auch fachsprachlich verwendete Zweitbedeutung lautet „so beständig, dass nicht leicht eine Störung, Gefährdung möglich ist; Veränderungen, Schwankungen kaum unterworfen“. Synonyme sind „beständig, dauerhaft, fest, gleichbleibend hart, konstant, unveränderlich“.<br />
<br />
Die Drittbedeutung lautet „widerstandsfähig; kräftig; nicht anfällig“. Synonyme sind „eisern, gesund, kräftig, stark, unempfindlich, widerstandsfähig, zäh; (Biologie, Medizin) resistent“.<br />
<br />
Als Antonym wird „labil“ angegeben.<br />
<br />
Nach dem Duden Online-Wörterbuch hat '''instabil''' folgende Bedeutungen: <br><br />
Die Erstbedeutung lautet „(besonders Physik, Technik) nicht im Gleichgewicht bleibend; in sich nicht fest, nicht gleich[mäßig], nicht konstant bleibend“. Synonyme sind „alt, altersschwach, baufällig, brüchig, morsch, rissig, unstabil, verfallen, verkommen, wackelig, zerfallen“.<br />
<br />
Die Zweitbedeutung lautet „veränderlich, schwankend; nicht beständig, nicht dauerhaft“. Synonyme sind „schwankend, sprunghaft, unberechenbar, unbeständig, undurchsichtig, unklar, unzuverlässig, veränderlich; (gehoben) unstet, wandelbar“.<br />
<br />
Beide Begriffe werden in der Kinästhetik auch in ihren gemeinsprachlichen Bedeutungen verwendet.<br />
==== Die Verwendung als kinästhetischer Fachbegriff ====<br />
Seit 1991 wird „stabil/Stabilität“ und „instabil/Instabilität“ im fachlichen Kontext der Kinästhetik verwendet. Früh wird das Gegensatzpaar als Muster erkannt, das in verschiedenen Unterthemen des späteren Konzeptsystems aufscheint. Es betrifft eine allgemeinere Unterscheidung, die zur entsprechenden Charakterisierung der menschlichen Anatomie und ihrer Funktionen (z. B. in „Knochen und Muskeln“), als subjektiv erfahrbares und verbindendes Grundmuster, aber auch in anderen Kontexten benutzt wird. Diese Unterscheidung beruht letztlich auf einer Grundfrage, die das Denken des Menschen und sein Weltverständnis seit frühester Zeit prägt.<br />
<br />
=== Herkunft ===<br />
Nach dem „Duden Herkunftswörterbuch“ wurde das Wort '''stabil''' mit den Bedeutungen „beständig, dauerhaft, fest, haltbar; widerstandsfähig“ im 18. Jahrhundert aus lateinisch ''stabilis'' „fest stehend, standhaft, dauerhaft usw.“ entlehnt. Das lateinische Adjektiv gehört mit vielen anderen verwandten Wörtern zur Sippe des lateinischen Verbs ''stare'' „stehen“, das mit deutsch „stehen“ urverwandt ist. Ableitungen sind „Stabilität“ und „stabilisieren“.<br />
<br />
Das Wort '''instabil''' ist zusammengesetzt aus lateinisch ''in-'' „un-, nicht …“ und lateinisch ''stabilis'' (vgl. oben). Das erste Glied ''in-'' ist mit deutsch „un-“ urverwandt und verneint wie dieses in der Zusammensetzung mit Adjektiven deren Bedeutung. Eine Ableitung ist „Instabilität“.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Menschenbild]]<br />
[[Kategorie:Konzeptsystem]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Stabil_und_instabil&diff=4907
Stabil und instabil
2023-12-20T11:37:13Z
<p>Lutz Zierbeck: /* „Stabil und instabil“ im Unterthema „Vorder- und Rückseiten“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|vorläufig abgeschlossen|Joachim Reif/Lutz Zierbeck}}<br />
<br />
<br />
'''''Zusammenfassung:'''''<br>Dieser Artikel beleuchtet die aktuelle Verwendung des Begriffspaars „Stabil und instabil“ als kinaesthetischer Fachbegriff in ausgewählter Fachliteratur. Es wird versucht die Entwicklung des Grundmusters „Stabil und instabil“ in der Kinästhetik anhand literarischer Verweise nachzuvollziehen. Vor einem größeren kulturgeschichtlichen Hintergrund wird dessen grundlegende Bedeutung in Betracht gezogen. Zum Schluss werden begriffliche Aspekte behandelt.<br />
<br />
<br />
== Aktuelle Verwendung des Begriffs ==<br />
[[Datei:Steinturm mit Vogel.jpg|mini]]<br />
=== „Stabil und instabil“ im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
Das gesamte zweite Konzept „Funktionale Anatomie“ etabliert „stabil und instabil“ als grundlegendes erfahrbares Muster der Anatomie in allen vier Unterthemen. <br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Knochen und Muskeln“ ====<br />
Im ersten Unterthema „[[Knochen und Muskeln]]“ wird die Erfahrbarkeit der Knochen mit den Begriffen „hart, stabil und robust“<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2018):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 20</ref> charakterisiert. Die zugehörige anatomische Funktion ist die eines stabilen Gerüsts bzw. des Tragens oder Weiterleitens des Körpergewichts. Die Erfahrbarkeit der Muskeln wird mit „weicher, instabiler und durch Anspannung und Entspannung veränderlich“ charakterisiert. Die zugehörige anatomische Funktion ist die Veränderung oder Erhaltung der Beziehung der Knochen. Sie können durch Anspannung Körpergewicht tragen und sich in ihrer erfahrbaren Eigenschaft sowie in der Funktion den Knochen annähern.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Massen und Zwischenräume“ ====<br />
In „2.2. [[Massen und Zwischenräume]]“ wird explizit auf das „erfahrbare Muster ‚stabil – instabil‘“<ref>ebd., S. 21</ref> verwiesen. Aufbauend auf dem vorausgehenden Unterthema „[[Knochen und Muskeln]]“ sind Massen als kompakte und stabile Strukturen erfahrbar, Zwischenräume hingegen als weicher und instabiler. Ihre zugehörige anatomische Funktion besteht im Tragen oder Weiterleiten des Körpergewichts bzw. in der Veränderung der Beziehung der Massen.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“<ref>ebd., S. 22–25</ref> ====<br />
In „2.3. Haltungsbewegungsebenen und Transportbewegungsebenen“ wird das erfahrbare Muster des regelmäßigen Wechsels der stabileren und instabileren Bewegungsebenen im Zusammenhang mit der Form und Funktionalität der jeweiligen Gelenke thematisiert. In einem kompletten Durchgang durch das menschliche Skelett werden die einzelnen Bewegungsebenen aufgezeigt. Stabilität bzw. Instabilität wird hier durch die Unterscheidung zwischen zwei- bzw. dreidimensionalen (kugelgelenkartigen) Bewegungsmöglichkeiten der einzelnen Ebenen erfahrbar.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Vorder- und Rückseiten“ ====<br />
Auch in „2.4. [[Orientierung]]“ wird auf das Gegensatzpaar „stabil – instabil“ zurückgegriffen, um die Erfahrbarkeit der Vorder- und Rückseiten der Massen zu charakterisieren und auf ihre entsprechenden Funktionen zu verweisen.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Haltungs- und Transportbewegung“==== <br />
Im dritten Konzept „Menschliche Bewegung“ dient das Gegensatzpaar „stabil – instabil“ zur Unterscheidung zwischen Haltungs- und Transportbewegungen<ref>ebd., S. 32</ref>. Sie sind als eher stabile oder veränderliche Beziehung der Massen zueinander erfahrbar. Aus dem notwendigen Zusammenspiel beider Bewegungskomponenten entwickelt jeder Mensch individuelle Bewegungsmuster.<br />
<br />
=== „Stabil und instabil“ in „Kinaesthetics Infant Handling“ ===<br />
Dieses Buch von Lenny Maietta (1950–2018) und Frank Hatch (*1940) stellt das Kind ins Zentrum, hat sich aber als allgemeines Standardwerk der Kinästhetik etabliert. Im Folgenden wird das Auftreten des Musters der Stabilität und Instabilität an einigen einschlägigen Stellen aufgezeigt.<br />
<br />
Geleitwort 1<br />
<br />
Im Geleitwort wird das Muster implizit anhand der Diskussion über genetische Determination versus Beeinflussbarkeit der „angeblich stabilen Persönlichkeitsmerkmale“<ref>'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Übersetzt von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Original-Manuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. Bern: Hogrefe, vorm. Hans Huber Verlag. IBSN 978-3-456-84987-4. S. 9</ref> angedeutet.<br />
<br />
4.4 Konzept: Funktionelle Anatomie<br />
<br />
In „4.4.1 Muskeln und Knochen“ werden Knochen als stabil und das Muskelgewebe als instabil beschrieben; die Darstellung ihrer Eigenschaften und Funktionen stimmt weitgehend mit dem „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ überein. In der vom Buch empfohlenen Aktivität soll das Bewegen der Knochen helfen, „ein Gefühl für die Stabilität“<ref>ebd., S. 86</ref> zu entwickeln. Insofern wird hier eine Brücke zu einer erfahrbaren Eigenschaft gebaut.<br />
<br />
In „4.4.1.2 Entwicklung des Bewegungsapparates“<ref>ebd., S. 88 </ref> wird auf die Bedeutung stabiler und instabiler Umgebungseigenschaften für die Entwicklung des Bewegungsapparates hingewiesen und ebenso darauf, dass die Stabilität der Knochen in engem Zusammenhang mit ihrer Beanspruchung steht.<br />
<br />
In „4.4.2 Massen und Zwischenräume“ wird im Gegensatz zum „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ keine explizite Unterscheidung anhand des Musters der Stabilität und Instabilität vorgenommen. Hier wird verstärkt auf die Abgabe des Gewichts und das Drücken auf eine „stabile Unterlage“<ref>ebd., S. 89</ref> eingegangen.<br />
<br />
In „4.4.3.2 Körperorientierte Bewegung“<ref>ebd., S. 95 ff.</ref> werden erstmals Rückseiten u. a. als stabil und Vorderseiten u. a. als instabil beschrieben.<br />
<br />
4.5 Menschliche Bewegung<br />
<br />
Stabilität und Instabilität werden als wahrnehmbare Eigenschaften der „Haltungs- und der Transportbewegung“<ref>ebd., S. 100</ref> (Kapitel 4.5.1) erwähnt. Diese werden in Kombination als notwendige Voraussetzung für die menschliche Bewegung genannt.<br />
<br />
Die Unterscheidung zwischen stabil und instabil wird an einschlägigen Stellen verwendet, erscheint aber nicht als erfahrbares und die Unterthemen der funktionalen Anatomie verbindendes Grundmuster.<br />
<br />
=== Kommentare, Auswertungen und offene Fragen ===<br />
Als kinästhetischer Fachbegriff benennt „stabil und instabil“ ein Muster, das in den beiden Konzepten der „Funktionalen/Funktionellen Anatomie“ und der „Menschlichen Bewegung“ eine wichtige Grundlage bildet. Dieses Grundmuster ist eine Vorbedingung für gelingende Bewegung ebenso wie für gelingende Anpassungen. Ohne das Zusammenwirken von stabilen und instabilen Eigenschaften der Anatomie (vgl. zweites Konzept) wäre unser Körper entweder zu stabil, also zu starr, oder zu instabil, also zu locker, um die für uns nötigen Bewegungsabläufe zu koordinieren. Dieses Muster entwickelt sich entsprechend der Funktion der einzelnen Teile schon in der Embryonalentwicklung und bestimmt danach wiederum ihre weitere Funktion.<br />
<br />
Das Muster setzt sich im Konzept „Menschliche Bewegung“ fort. Wir haben die Möglichkeit, Bewegung so zu gestalten, dass eine stabile oder instabile Beziehung der Körperteile entsteht. Mehr oder weniger Stabilität wird dabei von „innen“ erzeugt. <br />
Eine andere Form der Stabilität wird erreicht, wenn wir unser Gewicht weitestgehend über unsere Knochen auf die Unterstützungsfläche abgeben, was die muskuläre „Stabilität“ im Körper, die Spannung, reduziert.<br />
<br />
Es wird vor allem deutlich, dass die Kompetenz zur differenzierten Bewegungsregulation zwischen beiden Extremen der Stabilität und Instabilität entscheidend für unsere alltäglichen Möglichkeiten der Bewegung ist. Dabei hilft dieses Grundmuster als übergeordneter und verbindender Blickwinkel, der sich in weitere Unterthemen („[[Knochen und Muskeln]]“ usw.) ausdifferenzieren lässt.<br />
<br />
== Begriffsgeschichte ==<br />
=== „Stabil, Stabilität, stabilisieren“ im 16. Kinästhetik-Bulletin von 1990 ===<br />
Die Begriffe „stabil“, „Stabilität“ und „stabilisieren“ sind schon in dieser frühesten zusammenhängenden Beschreibung der späteren Konzepte an mehreren einschlägigen Stellen zu finden, nicht aber „instabil, Instabilität“. Der Aspekt der Stabilität erscheint im Zusammenhang mit den Streckmuskeln bzw. Hinterseiten<ref>'''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 16</ref>, mit den Massen<ref>ebd., S. 20</ref> und mit der spezifischen Reihenfolge der Haltungs- und Transportbewegung(sebenen)<ref>ebd., S. 21</ref> . Auffällig ist der unterdessen aufgegebene Fachbegriff der „stabilen Positionen“ in „4.5.3. „Fortbewegung“<ref>ebd., S. 25</ref>, ebenso die unterdessen aufgegebene Identifikation von Rotation und Beugen als stabilste Bewegungen in einer verstrebenden bzw. hängenden Beziehung. Übereinstimmend mit dem heutigen Verständnis wird auf die Stabilisierung zweier benachbarter Massen durch das Blockieren des verbindenden Zwischenraums hingewiesen<ref>ebd., S. 22</ref>. <br />
Im Ganzen ist „stabil und instabil“ als Begriffspaar und grundlegendes Muster noch nicht ausdifferenziert.<br />
=== Die Etablierung des Begriffspaars „stabil – un-/instabil“ ===<br />
„Stabil – unstabil“<ref>'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (1991):''' Kinästhetik in der Krankenpflege. Arbeitsbuch Grundkurs. Übersetzt von Ina Citron. © 1991 Copyright Maietta-Hatch-Inc. S. II.1 (37)</ref> wird als Begriffspaar zum ersten Mal im Grundkurs-Arbeitsbuch „Kinästhetik in der Krankenpflege“ von 1991 erwähnt. Im Kapitel „Menschliche Bewegung“ wird es als Unterscheidung zwischen den stabilen Massen und den unstabilen Zwischenräumen eingeführt und bleibt darauf beschränkt.<br />
<br />
In „Kinästhetik – Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Pflege“ von Frank Hatch, Lenny Maietta und Suzanne Schmidt, dem ersten Fachbuch der Kinästhetik von 1992, wird das Begriffspaar beim Thema „Knochen und Muskeln“<ref>'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny; Schmidt, Suzanne (1994):''' Kinästhetik. Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Krankenpflege. 3. Auflage. Eschborn: Deutscher Verband für Pflegeberufe. ISBN 3-927944-02-5. S. 39</ref> nicht verwendet. Hingegen wird es im Kapitel „Menschliche Bewegung“ unter dem Titel „Bewegungsebenen für Haltungs- und Transportbewegungen“ (sic!) als leitende Unterscheidung verwendet<ref>ebd., S. 44 ff.</ref>. In diesem Zusammenhang taucht hier zum ersten Mal der heute noch übliche komplette Durchgang durch das menschliche Skelett auf. Unter dem anschließenden Titel „Das Muster stabil/instabil in der Bewegung“ wird das Thema mit dem „funktionalen Aufbau des Skeletts“<ref>ebd., S. 81</ref> in Zusammenhang gebracht, bezüglich Massen und Zwischenräume illustriert und auf den Pflegekontext übertragen.<br />
<br />
Im Jahr 1996 erscheint das Begriffspaar „stabil – instabil“ als wahrnehmbares Muster der menschlichen Bewegung und Unterscheidungsmerkmal von Haltungs- und Transportbewegung in den Grundkurs-Arbeitsbüchern für Infant Handling und Kinästhetik in der Pflege, und zwar mit einem Verweis auf die einfachste Ausprägung des Musters bei Massen und Zwischenräumen. In anderen Zusammenhängen wird es nicht benannt. <br />
<br />
<br />
<br />
=== „Stabil und instabil“ in „Kybernetik und Kinästhetik“ ===<br />
„Homöostase“ wurde ursprünglich zu Beschreibung der Fähigkeit lebender Systeme, sich innerhalb gewisser Grenzen in einem stabilen Zustand zu halten, geprägt. Der Begriff ist auch heute in dieser Bedeutung vor allem in der Biologie und Medizin weit verbreitet. Etymologisch betrachtet beschreibt „-stase“ allerdings einen unveränderlichen Stillstand – sozusagen die absolute Stabilität –, der bei lebenden Systemen dem Tod gleichkommt<ref>Wikipedia (2018): Homöostase [https://de.wikipedia.org/wiki/Hom%C3%B6ostase Homöostase] (Zugriff 15.08.2018)</ref>.<br />
<br />
Als Alternative hat der Verhaltenskybernetiker K. U. Smith (1907–1994) den Begriff „Homöokinese“ vorgeschlagen. Das zweite Glied „-kinese“ (zu griechisch ''kinesis'' „Bewegung“) hebt die Prozesse, die zu einem Gleichgewicht oder einer Ausgewogenheit innerhalb gewisser Grenzen führen, deutlicher hervor. Damit könne man lebenden Systemen eher gerecht werden. Auffällig ist, dass die beiden Forscher Maturana (*1928) und Varela (1946–2001), die die Dynamik lebender Systeme in ihrem gemeinsamen Buch stets betonen – sozusagen die immanente Instabilität –, durchwegs auf den etablierten Begriff „homöostatisch“ zurückgreifen<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2018):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S.&nbsp;11</ref>. <br />
<br />
Auch hier zeigt sich das Grundmuster „stabil und instabil“ (vgl. unten).<br />
<br />
== Kultur, Geschichte, Tradition ==<br />
Weiterreichende Bedeutung erlangen die beiden Begriffe, betrachtet man sie als grundlegendes duales Muster der Stabilität und Instabilität, der Starrheit und der Veränderung, des Wandels und der Konstanz auf unterschiedlichsten Ebenen. <br />
<br />
In der Thermodynamik findet sich eine Erweiterung dieses dualen Musters durch den Begriff „metastabil“, der das Potenzial zum Übergang von einem stabilen Zustand über eine Phase der Instabilität in einen noch stabileren Zustand definiert<ref>Wikipedia (2018): Metastabilität [https://de.wikipedia.org/wiki/Metastabilit%C3%A4t Metastabilität] (Zugriff 15.08.2018)</ref>.<br />
<br />
Eine große Bedeutung hat das Grundmuster in der Antike, insbesondere in der Philosophie. Die Vorsokratiker Heraklit (um 520 bis 460 v. Chr.) und Parmenides (um 520/515 bis 460/455 v. Chr.) stellen in ihren Fragmenten zwei widersprüchliche Bilder dieser Welt vor.<br />
Heraklit spricht mit „pantha rhei“ („Alles fließt“) von einer ständig im Wandel befindlichen, instabilen Wirklichkeit, der nur der Mensch eine stabile Interpretation zu verleihen versucht.<br />
Parmenides wiederum nimmt die Welt an sich als stabile, unteilbare und unveränderliche Einheit an. <br />
„Nur der trügerische Glaube an die Wirklichkeit der Gegensätze – der Glaube, dass nicht nur existiert, was ist, sondern auch das, was nicht ist – führt zu der Illusion einer Welt der Veränderung.“<ref>'''Popper, Karl R. (2016):''' Die Welt des Parmenides. Der Ursprung des europäischen Denkens. Herausgegeben von Arne Petersen … [et. al.]. München: Piper. ISBN 978-3-492-24071. S. 44 ff.</ref> <br />
<br />
: ''„Alle drei Milesier (Anaximander, Anaximenes, Thales) betrachteten unsere Welt als unser Heim. Es gab da Bewegung, es gab Veränderung in diesem Heim, es gab Hitze und Kälte, Feuer und Feuchtigkeit. Es gab ein Feuer im Herd mit einem Kessel voller Wasser darauf. Das Haus war den Winden ausgesetzt, ein bisschen zugig, um genau zu sein, aber es war unser Haus und bot in gewisser Weise Sicherheit und Stabilität. Für Heraklit allerdings Stand das Haus in Flammen.“<ref>ebd., S. 44 ff.</ref>'' <br />
<br />
<br />
Auch im Dualismus von Yin und Yang begegnet sich ein ähnliches Gegensatzpaar, das gemeinsam– laut „I Ging – Das Buch der Wandlungen“ – die Wandlungen allen Seins als einzig Beständiges auf vielfältigen Ebenen der Psyche, der Physis, der Gesellschaft und des Kosmos in Gang hält.<ref>'''I Ging. Das Buch der Wandlungen.''' In der Originalübersetzung von Richard Wilhelm. 8., ergänzte Auflage 2017. Wiesbaden: Marix. ISBN 978-3-937715-08-7. S. 14 ff.</ref><br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* '''Knobel, Stefan (2012):''' Stabilität – Instabilität. Spielt die Welt verrückt? In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2012, Nr. 2. S. 4–8.<br />
* '''Scheffer, Marten; Westley, Francis R. (2007):''' The Evolutionary Basis of Rigidity: Locks in Cells, Minds and Society. In: Ecology and Society 12(2): 36. http://www.ecologyandsociety.org/vol12/iss2/art36/ (Zugriff: 22.08.2018).<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Knochen und Muskeln]]<br /><br />
[[Massen und Zwischenräume]]<br /><br />
== Zum Begriff ==<br />
=== Bedeutungsüberblick ===<br />
==== Die Bedeutungen der Begriffe nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ ====<br />
Nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ hat '''stabil''' folgende Bedeutungen: <br><br />
Die Erstbedeutung lautet „a. sehr fest gefügt und dadurch Beanspruchungen aushaltend“ und „b. (besonders Physik, Chemie, Technik) in sich konstant bleibend, gleichbleibend, relativ unveränderlich“. Synonyme sind „derb, fest, haltbar, massiv, robust, solide, strapazierfähig, unverwüstlich, verschleißfest, widerstandsfähig; (österreichisch) strapazfähig; (bildungssprachlich) durabel; (umgangssprachlich) dankbar“.<br />
<br />
Die auch fachsprachlich verwendete Zweitbedeutung lautet „so beständig, dass nicht leicht eine Störung, Gefährdung möglich ist; Veränderungen, Schwankungen kaum unterworfen“. Synonyme sind „beständig, dauerhaft, fest, gleichbleibend hart, konstant, unveränderlich“.<br />
<br />
Die Drittbedeutung lautet „widerstandsfähig; kräftig; nicht anfällig“. Synonyme sind „eisern, gesund, kräftig, stark, unempfindlich, widerstandsfähig, zäh; (Biologie, Medizin) resistent“.<br />
<br />
Als Antonym wird „labil“ angegeben.<br />
<br />
Nach dem Duden Online-Wörterbuch hat '''instabil''' folgende Bedeutungen: <br><br />
Die Erstbedeutung lautet „(besonders Physik, Technik) nicht im Gleichgewicht bleibend; in sich nicht fest, nicht gleich[mäßig], nicht konstant bleibend“. Synonyme sind „alt, altersschwach, baufällig, brüchig, morsch, rissig, unstabil, verfallen, verkommen, wackelig, zerfallen“.<br />
<br />
Die Zweitbedeutung lautet „veränderlich, schwankend; nicht beständig, nicht dauerhaft“. Synonyme sind „schwankend, sprunghaft, unberechenbar, unbeständig, undurchsichtig, unklar, unzuverlässig, veränderlich; (gehoben) unstet, wandelbar“.<br />
<br />
Beide Begriffe werden in der Kinästhetik auch in ihren gemeinsprachlichen Bedeutungen verwendet.<br />
==== Die Verwendung als kinästhetischer Fachbegriff ====<br />
Seit 1991 wird „stabil/Stabilität“ und „instabil/Instabilität“ im fachlichen Kontext der Kinästhetik verwendet. Früh wird das Gegensatzpaar als Muster erkannt, das in verschiedenen Unterthemen des späteren Konzeptsystems aufscheint. Es betrifft eine allgemeinere Unterscheidung, die zur entsprechenden Charakterisierung der menschlichen Anatomie und ihrer Funktionen (z. B. in „Knochen und Muskeln“), als subjektiv erfahrbares und verbindendes Grundmuster, aber auch in anderen Kontexten benutzt wird. Diese Unterscheidung beruht letztlich auf einer Grundfrage, die das Denken des Menschen und sein Weltverständnis seit frühester Zeit prägt.<br />
<br />
=== Herkunft ===<br />
Nach dem „Duden Herkunftswörterbuch“ wurde das Wort '''stabil''' mit den Bedeutungen „beständig, dauerhaft, fest, haltbar; widerstandsfähig“ im 18. Jahrhundert aus lateinisch ''stabilis'' „fest stehend, standhaft, dauerhaft usw.“ entlehnt. Das lateinische Adjektiv gehört mit vielen anderen verwandten Wörtern zur Sippe des lateinischen Verbs ''stare'' „stehen“, das mit deutsch „stehen“ urverwandt ist. Ableitungen sind „Stabilität“ und „stabilisieren“.<br />
<br />
Das Wort '''instabil''' ist zusammengesetzt aus lateinisch ''in-'' „un-, nicht …“ und lateinisch ''stabilis'' (vgl. oben). Das erste Glied ''in-'' ist mit deutsch „un-“ urverwandt und verneint wie dieses in der Zusammensetzung mit Adjektiven deren Bedeutung. Eine Ableitung ist „Instabilität“.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Menschenbild]]<br />
[[Kategorie:Konzeptsystem]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Stabil_und_instabil&diff=4906
Stabil und instabil
2023-12-20T11:35:16Z
<p>Lutz Zierbeck: /* „Stabil und instabil“ im Unterthema „Massen und Zwischenräume“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|vorläufig abgeschlossen|Joachim Reif/Lutz Zierbeck}}<br />
<br />
<br />
'''''Zusammenfassung:'''''<br>Dieser Artikel beleuchtet die aktuelle Verwendung des Begriffspaars „Stabil und instabil“ als kinaesthetischer Fachbegriff in ausgewählter Fachliteratur. Es wird versucht die Entwicklung des Grundmusters „Stabil und instabil“ in der Kinästhetik anhand literarischer Verweise nachzuvollziehen. Vor einem größeren kulturgeschichtlichen Hintergrund wird dessen grundlegende Bedeutung in Betracht gezogen. Zum Schluss werden begriffliche Aspekte behandelt.<br />
<br />
<br />
== Aktuelle Verwendung des Begriffs ==<br />
[[Datei:Steinturm mit Vogel.jpg|mini]]<br />
=== „Stabil und instabil“ im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
Das gesamte zweite Konzept „Funktionale Anatomie“ etabliert „stabil und instabil“ als grundlegendes erfahrbares Muster der Anatomie in allen vier Unterthemen. <br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Knochen und Muskeln“ ====<br />
Im ersten Unterthema „[[Knochen und Muskeln]]“ wird die Erfahrbarkeit der Knochen mit den Begriffen „hart, stabil und robust“<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2018):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 20</ref> charakterisiert. Die zugehörige anatomische Funktion ist die eines stabilen Gerüsts bzw. des Tragens oder Weiterleitens des Körpergewichts. Die Erfahrbarkeit der Muskeln wird mit „weicher, instabiler und durch Anspannung und Entspannung veränderlich“ charakterisiert. Die zugehörige anatomische Funktion ist die Veränderung oder Erhaltung der Beziehung der Knochen. Sie können durch Anspannung Körpergewicht tragen und sich in ihrer erfahrbaren Eigenschaft sowie in der Funktion den Knochen annähern.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Massen und Zwischenräume“ ====<br />
In „2.2. [[Massen und Zwischenräume]]“ wird explizit auf das „erfahrbare Muster ‚stabil – instabil‘“<ref>ebd., S. 21</ref> verwiesen. Aufbauend auf dem vorausgehenden Unterthema „[[Knochen und Muskeln]]“ sind Massen als kompakte und stabile Strukturen erfahrbar, Zwischenräume hingegen als weicher und instabiler. Ihre zugehörige anatomische Funktion besteht im Tragen oder Weiterleiten des Körpergewichts bzw. in der Veränderung der Beziehung der Massen.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“<ref>ebd., S. 22–25</ref> ====<br />
In „2.3. Haltungsbewegungsebenen und Transportbewegungsebenen“ wird das erfahrbare Muster des regelmäßigen Wechsels der stabileren und instabileren Bewegungsebenen im Zusammenhang mit der Form und Funktionalität der jeweiligen Gelenke thematisiert. In einem kompletten Durchgang durch das menschliche Skelett werden die einzelnen Bewegungsebenen aufgezeigt. Stabilität bzw. Instabilität wird hier durch die Unterscheidung zwischen zwei- bzw. dreidimensionalen (kugelgelenkartigen) Bewegungsmöglichkeiten der einzelnen Ebenen erfahrbar.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Vorder- und Rückseiten“ ====<br />
Auch in „2.4. Orientierung“ wird auf das Gegensatzpaar „stabil – instabil“ zurückgegriffen, um die Erfahrbarkeit der Vorder- und Rückseiten der Massen zu charakterisieren und auf ihre entsprechenden Funktionen zu verweisen.<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Haltungs- und Transportbewegung“==== <br />
Im dritten Konzept „Menschliche Bewegung“ dient das Gegensatzpaar „stabil – instabil“ zur Unterscheidung zwischen Haltungs- und Transportbewegungen<ref>ebd., S. 32</ref>. Sie sind als eher stabile oder veränderliche Beziehung der Massen zueinander erfahrbar. Aus dem notwendigen Zusammenspiel beider Bewegungskomponenten entwickelt jeder Mensch individuelle Bewegungsmuster.<br />
<br />
=== „Stabil und instabil“ in „Kinaesthetics Infant Handling“ ===<br />
Dieses Buch von Lenny Maietta (1950–2018) und Frank Hatch (*1940) stellt das Kind ins Zentrum, hat sich aber als allgemeines Standardwerk der Kinästhetik etabliert. Im Folgenden wird das Auftreten des Musters der Stabilität und Instabilität an einigen einschlägigen Stellen aufgezeigt.<br />
<br />
Geleitwort 1<br />
<br />
Im Geleitwort wird das Muster implizit anhand der Diskussion über genetische Determination versus Beeinflussbarkeit der „angeblich stabilen Persönlichkeitsmerkmale“<ref>'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Übersetzt von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Original-Manuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. Bern: Hogrefe, vorm. Hans Huber Verlag. IBSN 978-3-456-84987-4. S. 9</ref> angedeutet.<br />
<br />
4.4 Konzept: Funktionelle Anatomie<br />
<br />
In „4.4.1 Muskeln und Knochen“ werden Knochen als stabil und das Muskelgewebe als instabil beschrieben; die Darstellung ihrer Eigenschaften und Funktionen stimmt weitgehend mit dem „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ überein. In der vom Buch empfohlenen Aktivität soll das Bewegen der Knochen helfen, „ein Gefühl für die Stabilität“<ref>ebd., S. 86</ref> zu entwickeln. Insofern wird hier eine Brücke zu einer erfahrbaren Eigenschaft gebaut.<br />
<br />
In „4.4.1.2 Entwicklung des Bewegungsapparates“<ref>ebd., S. 88 </ref> wird auf die Bedeutung stabiler und instabiler Umgebungseigenschaften für die Entwicklung des Bewegungsapparates hingewiesen und ebenso darauf, dass die Stabilität der Knochen in engem Zusammenhang mit ihrer Beanspruchung steht.<br />
<br />
In „4.4.2 Massen und Zwischenräume“ wird im Gegensatz zum „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ keine explizite Unterscheidung anhand des Musters der Stabilität und Instabilität vorgenommen. Hier wird verstärkt auf die Abgabe des Gewichts und das Drücken auf eine „stabile Unterlage“<ref>ebd., S. 89</ref> eingegangen.<br />
<br />
In „4.4.3.2 Körperorientierte Bewegung“<ref>ebd., S. 95 ff.</ref> werden erstmals Rückseiten u. a. als stabil und Vorderseiten u. a. als instabil beschrieben.<br />
<br />
4.5 Menschliche Bewegung<br />
<br />
Stabilität und Instabilität werden als wahrnehmbare Eigenschaften der „Haltungs- und der Transportbewegung“<ref>ebd., S. 100</ref> (Kapitel 4.5.1) erwähnt. Diese werden in Kombination als notwendige Voraussetzung für die menschliche Bewegung genannt.<br />
<br />
Die Unterscheidung zwischen stabil und instabil wird an einschlägigen Stellen verwendet, erscheint aber nicht als erfahrbares und die Unterthemen der funktionalen Anatomie verbindendes Grundmuster.<br />
<br />
=== Kommentare, Auswertungen und offene Fragen ===<br />
Als kinästhetischer Fachbegriff benennt „stabil und instabil“ ein Muster, das in den beiden Konzepten der „Funktionalen/Funktionellen Anatomie“ und der „Menschlichen Bewegung“ eine wichtige Grundlage bildet. Dieses Grundmuster ist eine Vorbedingung für gelingende Bewegung ebenso wie für gelingende Anpassungen. Ohne das Zusammenwirken von stabilen und instabilen Eigenschaften der Anatomie (vgl. zweites Konzept) wäre unser Körper entweder zu stabil, also zu starr, oder zu instabil, also zu locker, um die für uns nötigen Bewegungsabläufe zu koordinieren. Dieses Muster entwickelt sich entsprechend der Funktion der einzelnen Teile schon in der Embryonalentwicklung und bestimmt danach wiederum ihre weitere Funktion.<br />
<br />
Das Muster setzt sich im Konzept „Menschliche Bewegung“ fort. Wir haben die Möglichkeit, Bewegung so zu gestalten, dass eine stabile oder instabile Beziehung der Körperteile entsteht. Mehr oder weniger Stabilität wird dabei von „innen“ erzeugt. <br />
Eine andere Form der Stabilität wird erreicht, wenn wir unser Gewicht weitestgehend über unsere Knochen auf die Unterstützungsfläche abgeben, was die muskuläre „Stabilität“ im Körper, die Spannung, reduziert.<br />
<br />
Es wird vor allem deutlich, dass die Kompetenz zur differenzierten Bewegungsregulation zwischen beiden Extremen der Stabilität und Instabilität entscheidend für unsere alltäglichen Möglichkeiten der Bewegung ist. Dabei hilft dieses Grundmuster als übergeordneter und verbindender Blickwinkel, der sich in weitere Unterthemen („[[Knochen und Muskeln]]“ usw.) ausdifferenzieren lässt.<br />
<br />
== Begriffsgeschichte ==<br />
=== „Stabil, Stabilität, stabilisieren“ im 16. Kinästhetik-Bulletin von 1990 ===<br />
Die Begriffe „stabil“, „Stabilität“ und „stabilisieren“ sind schon in dieser frühesten zusammenhängenden Beschreibung der späteren Konzepte an mehreren einschlägigen Stellen zu finden, nicht aber „instabil, Instabilität“. Der Aspekt der Stabilität erscheint im Zusammenhang mit den Streckmuskeln bzw. Hinterseiten<ref>'''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 16</ref>, mit den Massen<ref>ebd., S. 20</ref> und mit der spezifischen Reihenfolge der Haltungs- und Transportbewegung(sebenen)<ref>ebd., S. 21</ref> . Auffällig ist der unterdessen aufgegebene Fachbegriff der „stabilen Positionen“ in „4.5.3. „Fortbewegung“<ref>ebd., S. 25</ref>, ebenso die unterdessen aufgegebene Identifikation von Rotation und Beugen als stabilste Bewegungen in einer verstrebenden bzw. hängenden Beziehung. Übereinstimmend mit dem heutigen Verständnis wird auf die Stabilisierung zweier benachbarter Massen durch das Blockieren des verbindenden Zwischenraums hingewiesen<ref>ebd., S. 22</ref>. <br />
Im Ganzen ist „stabil und instabil“ als Begriffspaar und grundlegendes Muster noch nicht ausdifferenziert.<br />
=== Die Etablierung des Begriffspaars „stabil – un-/instabil“ ===<br />
„Stabil – unstabil“<ref>'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (1991):''' Kinästhetik in der Krankenpflege. Arbeitsbuch Grundkurs. Übersetzt von Ina Citron. © 1991 Copyright Maietta-Hatch-Inc. S. II.1 (37)</ref> wird als Begriffspaar zum ersten Mal im Grundkurs-Arbeitsbuch „Kinästhetik in der Krankenpflege“ von 1991 erwähnt. Im Kapitel „Menschliche Bewegung“ wird es als Unterscheidung zwischen den stabilen Massen und den unstabilen Zwischenräumen eingeführt und bleibt darauf beschränkt.<br />
<br />
In „Kinästhetik – Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Pflege“ von Frank Hatch, Lenny Maietta und Suzanne Schmidt, dem ersten Fachbuch der Kinästhetik von 1992, wird das Begriffspaar beim Thema „Knochen und Muskeln“<ref>'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny; Schmidt, Suzanne (1994):''' Kinästhetik. Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Krankenpflege. 3. Auflage. Eschborn: Deutscher Verband für Pflegeberufe. ISBN 3-927944-02-5. S. 39</ref> nicht verwendet. Hingegen wird es im Kapitel „Menschliche Bewegung“ unter dem Titel „Bewegungsebenen für Haltungs- und Transportbewegungen“ (sic!) als leitende Unterscheidung verwendet<ref>ebd., S. 44 ff.</ref>. In diesem Zusammenhang taucht hier zum ersten Mal der heute noch übliche komplette Durchgang durch das menschliche Skelett auf. Unter dem anschließenden Titel „Das Muster stabil/instabil in der Bewegung“ wird das Thema mit dem „funktionalen Aufbau des Skeletts“<ref>ebd., S. 81</ref> in Zusammenhang gebracht, bezüglich Massen und Zwischenräume illustriert und auf den Pflegekontext übertragen.<br />
<br />
Im Jahr 1996 erscheint das Begriffspaar „stabil – instabil“ als wahrnehmbares Muster der menschlichen Bewegung und Unterscheidungsmerkmal von Haltungs- und Transportbewegung in den Grundkurs-Arbeitsbüchern für Infant Handling und Kinästhetik in der Pflege, und zwar mit einem Verweis auf die einfachste Ausprägung des Musters bei Massen und Zwischenräumen. In anderen Zusammenhängen wird es nicht benannt. <br />
<br />
<br />
<br />
=== „Stabil und instabil“ in „Kybernetik und Kinästhetik“ ===<br />
„Homöostase“ wurde ursprünglich zu Beschreibung der Fähigkeit lebender Systeme, sich innerhalb gewisser Grenzen in einem stabilen Zustand zu halten, geprägt. Der Begriff ist auch heute in dieser Bedeutung vor allem in der Biologie und Medizin weit verbreitet. Etymologisch betrachtet beschreibt „-stase“ allerdings einen unveränderlichen Stillstand – sozusagen die absolute Stabilität –, der bei lebenden Systemen dem Tod gleichkommt<ref>Wikipedia (2018): Homöostase [https://de.wikipedia.org/wiki/Hom%C3%B6ostase Homöostase] (Zugriff 15.08.2018)</ref>.<br />
<br />
Als Alternative hat der Verhaltenskybernetiker K. U. Smith (1907–1994) den Begriff „Homöokinese“ vorgeschlagen. Das zweite Glied „-kinese“ (zu griechisch ''kinesis'' „Bewegung“) hebt die Prozesse, die zu einem Gleichgewicht oder einer Ausgewogenheit innerhalb gewisser Grenzen führen, deutlicher hervor. Damit könne man lebenden Systemen eher gerecht werden. Auffällig ist, dass die beiden Forscher Maturana (*1928) und Varela (1946–2001), die die Dynamik lebender Systeme in ihrem gemeinsamen Buch stets betonen – sozusagen die immanente Instabilität –, durchwegs auf den etablierten Begriff „homöostatisch“ zurückgreifen<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2018):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S.&nbsp;11</ref>. <br />
<br />
Auch hier zeigt sich das Grundmuster „stabil und instabil“ (vgl. unten).<br />
<br />
== Kultur, Geschichte, Tradition ==<br />
Weiterreichende Bedeutung erlangen die beiden Begriffe, betrachtet man sie als grundlegendes duales Muster der Stabilität und Instabilität, der Starrheit und der Veränderung, des Wandels und der Konstanz auf unterschiedlichsten Ebenen. <br />
<br />
In der Thermodynamik findet sich eine Erweiterung dieses dualen Musters durch den Begriff „metastabil“, der das Potenzial zum Übergang von einem stabilen Zustand über eine Phase der Instabilität in einen noch stabileren Zustand definiert<ref>Wikipedia (2018): Metastabilität [https://de.wikipedia.org/wiki/Metastabilit%C3%A4t Metastabilität] (Zugriff 15.08.2018)</ref>.<br />
<br />
Eine große Bedeutung hat das Grundmuster in der Antike, insbesondere in der Philosophie. Die Vorsokratiker Heraklit (um 520 bis 460 v. Chr.) und Parmenides (um 520/515 bis 460/455 v. Chr.) stellen in ihren Fragmenten zwei widersprüchliche Bilder dieser Welt vor.<br />
Heraklit spricht mit „pantha rhei“ („Alles fließt“) von einer ständig im Wandel befindlichen, instabilen Wirklichkeit, der nur der Mensch eine stabile Interpretation zu verleihen versucht.<br />
Parmenides wiederum nimmt die Welt an sich als stabile, unteilbare und unveränderliche Einheit an. <br />
„Nur der trügerische Glaube an die Wirklichkeit der Gegensätze – der Glaube, dass nicht nur existiert, was ist, sondern auch das, was nicht ist – führt zu der Illusion einer Welt der Veränderung.“<ref>'''Popper, Karl R. (2016):''' Die Welt des Parmenides. Der Ursprung des europäischen Denkens. Herausgegeben von Arne Petersen … [et. al.]. München: Piper. ISBN 978-3-492-24071. S. 44 ff.</ref> <br />
<br />
: ''„Alle drei Milesier (Anaximander, Anaximenes, Thales) betrachteten unsere Welt als unser Heim. Es gab da Bewegung, es gab Veränderung in diesem Heim, es gab Hitze und Kälte, Feuer und Feuchtigkeit. Es gab ein Feuer im Herd mit einem Kessel voller Wasser darauf. Das Haus war den Winden ausgesetzt, ein bisschen zugig, um genau zu sein, aber es war unser Haus und bot in gewisser Weise Sicherheit und Stabilität. Für Heraklit allerdings Stand das Haus in Flammen.“<ref>ebd., S. 44 ff.</ref>'' <br />
<br />
<br />
Auch im Dualismus von Yin und Yang begegnet sich ein ähnliches Gegensatzpaar, das gemeinsam– laut „I Ging – Das Buch der Wandlungen“ – die Wandlungen allen Seins als einzig Beständiges auf vielfältigen Ebenen der Psyche, der Physis, der Gesellschaft und des Kosmos in Gang hält.<ref>'''I Ging. Das Buch der Wandlungen.''' In der Originalübersetzung von Richard Wilhelm. 8., ergänzte Auflage 2017. Wiesbaden: Marix. ISBN 978-3-937715-08-7. S. 14 ff.</ref><br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* '''Knobel, Stefan (2012):''' Stabilität – Instabilität. Spielt die Welt verrückt? In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2012, Nr. 2. S. 4–8.<br />
* '''Scheffer, Marten; Westley, Francis R. (2007):''' The Evolutionary Basis of Rigidity: Locks in Cells, Minds and Society. In: Ecology and Society 12(2): 36. http://www.ecologyandsociety.org/vol12/iss2/art36/ (Zugriff: 22.08.2018).<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Knochen und Muskeln]]<br /><br />
[[Massen und Zwischenräume]]<br /><br />
== Zum Begriff ==<br />
=== Bedeutungsüberblick ===<br />
==== Die Bedeutungen der Begriffe nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ ====<br />
Nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ hat '''stabil''' folgende Bedeutungen: <br><br />
Die Erstbedeutung lautet „a. sehr fest gefügt und dadurch Beanspruchungen aushaltend“ und „b. (besonders Physik, Chemie, Technik) in sich konstant bleibend, gleichbleibend, relativ unveränderlich“. Synonyme sind „derb, fest, haltbar, massiv, robust, solide, strapazierfähig, unverwüstlich, verschleißfest, widerstandsfähig; (österreichisch) strapazfähig; (bildungssprachlich) durabel; (umgangssprachlich) dankbar“.<br />
<br />
Die auch fachsprachlich verwendete Zweitbedeutung lautet „so beständig, dass nicht leicht eine Störung, Gefährdung möglich ist; Veränderungen, Schwankungen kaum unterworfen“. Synonyme sind „beständig, dauerhaft, fest, gleichbleibend hart, konstant, unveränderlich“.<br />
<br />
Die Drittbedeutung lautet „widerstandsfähig; kräftig; nicht anfällig“. Synonyme sind „eisern, gesund, kräftig, stark, unempfindlich, widerstandsfähig, zäh; (Biologie, Medizin) resistent“.<br />
<br />
Als Antonym wird „labil“ angegeben.<br />
<br />
Nach dem Duden Online-Wörterbuch hat '''instabil''' folgende Bedeutungen: <br><br />
Die Erstbedeutung lautet „(besonders Physik, Technik) nicht im Gleichgewicht bleibend; in sich nicht fest, nicht gleich[mäßig], nicht konstant bleibend“. Synonyme sind „alt, altersschwach, baufällig, brüchig, morsch, rissig, unstabil, verfallen, verkommen, wackelig, zerfallen“.<br />
<br />
Die Zweitbedeutung lautet „veränderlich, schwankend; nicht beständig, nicht dauerhaft“. Synonyme sind „schwankend, sprunghaft, unberechenbar, unbeständig, undurchsichtig, unklar, unzuverlässig, veränderlich; (gehoben) unstet, wandelbar“.<br />
<br />
Beide Begriffe werden in der Kinästhetik auch in ihren gemeinsprachlichen Bedeutungen verwendet.<br />
==== Die Verwendung als kinästhetischer Fachbegriff ====<br />
Seit 1991 wird „stabil/Stabilität“ und „instabil/Instabilität“ im fachlichen Kontext der Kinästhetik verwendet. Früh wird das Gegensatzpaar als Muster erkannt, das in verschiedenen Unterthemen des späteren Konzeptsystems aufscheint. Es betrifft eine allgemeinere Unterscheidung, die zur entsprechenden Charakterisierung der menschlichen Anatomie und ihrer Funktionen (z. B. in „Knochen und Muskeln“), als subjektiv erfahrbares und verbindendes Grundmuster, aber auch in anderen Kontexten benutzt wird. Diese Unterscheidung beruht letztlich auf einer Grundfrage, die das Denken des Menschen und sein Weltverständnis seit frühester Zeit prägt.<br />
<br />
=== Herkunft ===<br />
Nach dem „Duden Herkunftswörterbuch“ wurde das Wort '''stabil''' mit den Bedeutungen „beständig, dauerhaft, fest, haltbar; widerstandsfähig“ im 18. Jahrhundert aus lateinisch ''stabilis'' „fest stehend, standhaft, dauerhaft usw.“ entlehnt. Das lateinische Adjektiv gehört mit vielen anderen verwandten Wörtern zur Sippe des lateinischen Verbs ''stare'' „stehen“, das mit deutsch „stehen“ urverwandt ist. Ableitungen sind „Stabilität“ und „stabilisieren“.<br />
<br />
Das Wort '''instabil''' ist zusammengesetzt aus lateinisch ''in-'' „un-, nicht …“ und lateinisch ''stabilis'' (vgl. oben). Das erste Glied ''in-'' ist mit deutsch „un-“ urverwandt und verneint wie dieses in der Zusammensetzung mit Adjektiven deren Bedeutung. Eine Ableitung ist „Instabilität“.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Menschenbild]]<br />
[[Kategorie:Konzeptsystem]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Stabil_und_instabil&diff=4905
Stabil und instabil
2023-12-20T11:34:21Z
<p>Lutz Zierbeck: /* „Stabil und instabil“ im Unterthema „Massen und Zwischenräume“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|vorläufig abgeschlossen|Joachim Reif/Lutz Zierbeck}}<br />
<br />
<br />
'''''Zusammenfassung:'''''<br>Dieser Artikel beleuchtet die aktuelle Verwendung des Begriffspaars „Stabil und instabil“ als kinaesthetischer Fachbegriff in ausgewählter Fachliteratur. Es wird versucht die Entwicklung des Grundmusters „Stabil und instabil“ in der Kinästhetik anhand literarischer Verweise nachzuvollziehen. Vor einem größeren kulturgeschichtlichen Hintergrund wird dessen grundlegende Bedeutung in Betracht gezogen. Zum Schluss werden begriffliche Aspekte behandelt.<br />
<br />
<br />
== Aktuelle Verwendung des Begriffs ==<br />
[[Datei:Steinturm mit Vogel.jpg|mini]]<br />
=== „Stabil und instabil“ im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
Das gesamte zweite Konzept „Funktionale Anatomie“ etabliert „stabil und instabil“ als grundlegendes erfahrbares Muster der Anatomie in allen vier Unterthemen. <br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Knochen und Muskeln“ ====<br />
Im ersten Unterthema „[[Knochen und Muskeln]]“ wird die Erfahrbarkeit der Knochen mit den Begriffen „hart, stabil und robust“<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2018):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 20</ref> charakterisiert. Die zugehörige anatomische Funktion ist die eines stabilen Gerüsts bzw. des Tragens oder Weiterleitens des Körpergewichts. Die Erfahrbarkeit der Muskeln wird mit „weicher, instabiler und durch Anspannung und Entspannung veränderlich“ charakterisiert. Die zugehörige anatomische Funktion ist die Veränderung oder Erhaltung der Beziehung der Knochen. Sie können durch Anspannung Körpergewicht tragen und sich in ihrer erfahrbaren Eigenschaft sowie in der Funktion den Knochen annähern.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Massen und Zwischenräume“ ====<br />
In „2.2. [[Massen und Zwischenräume]]“ wird explizit auf das „erfahrbare Muster ‚stabil – instabil‘“<ref>ebd., S. 21</ref> verwiesen. Aufbauend auf dem vorausgehenden Unterthema „Knochen und Muskeln“ sind Massen als kompakte und stabile Strukturen erfahrbar, Zwischenräume hingegen als weicher und instabiler. Ihre zugehörige anatomische Funktion besteht im Tragen oder Weiterleiten des Körpergewichts bzw. in der Veränderung der Beziehung der Massen.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“<ref>ebd., S. 22–25</ref> ====<br />
In „2.3. Haltungsbewegungsebenen und Transportbewegungsebenen“ wird das erfahrbare Muster des regelmäßigen Wechsels der stabileren und instabileren Bewegungsebenen im Zusammenhang mit der Form und Funktionalität der jeweiligen Gelenke thematisiert. In einem kompletten Durchgang durch das menschliche Skelett werden die einzelnen Bewegungsebenen aufgezeigt. Stabilität bzw. Instabilität wird hier durch die Unterscheidung zwischen zwei- bzw. dreidimensionalen (kugelgelenkartigen) Bewegungsmöglichkeiten der einzelnen Ebenen erfahrbar.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Vorder- und Rückseiten“ ====<br />
Auch in „2.4. Orientierung“ wird auf das Gegensatzpaar „stabil – instabil“ zurückgegriffen, um die Erfahrbarkeit der Vorder- und Rückseiten der Massen zu charakterisieren und auf ihre entsprechenden Funktionen zu verweisen.<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Haltungs- und Transportbewegung“==== <br />
Im dritten Konzept „Menschliche Bewegung“ dient das Gegensatzpaar „stabil – instabil“ zur Unterscheidung zwischen Haltungs- und Transportbewegungen<ref>ebd., S. 32</ref>. Sie sind als eher stabile oder veränderliche Beziehung der Massen zueinander erfahrbar. Aus dem notwendigen Zusammenspiel beider Bewegungskomponenten entwickelt jeder Mensch individuelle Bewegungsmuster.<br />
<br />
=== „Stabil und instabil“ in „Kinaesthetics Infant Handling“ ===<br />
Dieses Buch von Lenny Maietta (1950–2018) und Frank Hatch (*1940) stellt das Kind ins Zentrum, hat sich aber als allgemeines Standardwerk der Kinästhetik etabliert. Im Folgenden wird das Auftreten des Musters der Stabilität und Instabilität an einigen einschlägigen Stellen aufgezeigt.<br />
<br />
Geleitwort 1<br />
<br />
Im Geleitwort wird das Muster implizit anhand der Diskussion über genetische Determination versus Beeinflussbarkeit der „angeblich stabilen Persönlichkeitsmerkmale“<ref>'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Übersetzt von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Original-Manuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. Bern: Hogrefe, vorm. Hans Huber Verlag. IBSN 978-3-456-84987-4. S. 9</ref> angedeutet.<br />
<br />
4.4 Konzept: Funktionelle Anatomie<br />
<br />
In „4.4.1 Muskeln und Knochen“ werden Knochen als stabil und das Muskelgewebe als instabil beschrieben; die Darstellung ihrer Eigenschaften und Funktionen stimmt weitgehend mit dem „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ überein. In der vom Buch empfohlenen Aktivität soll das Bewegen der Knochen helfen, „ein Gefühl für die Stabilität“<ref>ebd., S. 86</ref> zu entwickeln. Insofern wird hier eine Brücke zu einer erfahrbaren Eigenschaft gebaut.<br />
<br />
In „4.4.1.2 Entwicklung des Bewegungsapparates“<ref>ebd., S. 88 </ref> wird auf die Bedeutung stabiler und instabiler Umgebungseigenschaften für die Entwicklung des Bewegungsapparates hingewiesen und ebenso darauf, dass die Stabilität der Knochen in engem Zusammenhang mit ihrer Beanspruchung steht.<br />
<br />
In „4.4.2 Massen und Zwischenräume“ wird im Gegensatz zum „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ keine explizite Unterscheidung anhand des Musters der Stabilität und Instabilität vorgenommen. Hier wird verstärkt auf die Abgabe des Gewichts und das Drücken auf eine „stabile Unterlage“<ref>ebd., S. 89</ref> eingegangen.<br />
<br />
In „4.4.3.2 Körperorientierte Bewegung“<ref>ebd., S. 95 ff.</ref> werden erstmals Rückseiten u. a. als stabil und Vorderseiten u. a. als instabil beschrieben.<br />
<br />
4.5 Menschliche Bewegung<br />
<br />
Stabilität und Instabilität werden als wahrnehmbare Eigenschaften der „Haltungs- und der Transportbewegung“<ref>ebd., S. 100</ref> (Kapitel 4.5.1) erwähnt. Diese werden in Kombination als notwendige Voraussetzung für die menschliche Bewegung genannt.<br />
<br />
Die Unterscheidung zwischen stabil und instabil wird an einschlägigen Stellen verwendet, erscheint aber nicht als erfahrbares und die Unterthemen der funktionalen Anatomie verbindendes Grundmuster.<br />
<br />
=== Kommentare, Auswertungen und offene Fragen ===<br />
Als kinästhetischer Fachbegriff benennt „stabil und instabil“ ein Muster, das in den beiden Konzepten der „Funktionalen/Funktionellen Anatomie“ und der „Menschlichen Bewegung“ eine wichtige Grundlage bildet. Dieses Grundmuster ist eine Vorbedingung für gelingende Bewegung ebenso wie für gelingende Anpassungen. Ohne das Zusammenwirken von stabilen und instabilen Eigenschaften der Anatomie (vgl. zweites Konzept) wäre unser Körper entweder zu stabil, also zu starr, oder zu instabil, also zu locker, um die für uns nötigen Bewegungsabläufe zu koordinieren. Dieses Muster entwickelt sich entsprechend der Funktion der einzelnen Teile schon in der Embryonalentwicklung und bestimmt danach wiederum ihre weitere Funktion.<br />
<br />
Das Muster setzt sich im Konzept „Menschliche Bewegung“ fort. Wir haben die Möglichkeit, Bewegung so zu gestalten, dass eine stabile oder instabile Beziehung der Körperteile entsteht. Mehr oder weniger Stabilität wird dabei von „innen“ erzeugt. <br />
Eine andere Form der Stabilität wird erreicht, wenn wir unser Gewicht weitestgehend über unsere Knochen auf die Unterstützungsfläche abgeben, was die muskuläre „Stabilität“ im Körper, die Spannung, reduziert.<br />
<br />
Es wird vor allem deutlich, dass die Kompetenz zur differenzierten Bewegungsregulation zwischen beiden Extremen der Stabilität und Instabilität entscheidend für unsere alltäglichen Möglichkeiten der Bewegung ist. Dabei hilft dieses Grundmuster als übergeordneter und verbindender Blickwinkel, der sich in weitere Unterthemen („[[Knochen und Muskeln]]“ usw.) ausdifferenzieren lässt.<br />
<br />
== Begriffsgeschichte ==<br />
=== „Stabil, Stabilität, stabilisieren“ im 16. Kinästhetik-Bulletin von 1990 ===<br />
Die Begriffe „stabil“, „Stabilität“ und „stabilisieren“ sind schon in dieser frühesten zusammenhängenden Beschreibung der späteren Konzepte an mehreren einschlägigen Stellen zu finden, nicht aber „instabil, Instabilität“. Der Aspekt der Stabilität erscheint im Zusammenhang mit den Streckmuskeln bzw. Hinterseiten<ref>'''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 16</ref>, mit den Massen<ref>ebd., S. 20</ref> und mit der spezifischen Reihenfolge der Haltungs- und Transportbewegung(sebenen)<ref>ebd., S. 21</ref> . Auffällig ist der unterdessen aufgegebene Fachbegriff der „stabilen Positionen“ in „4.5.3. „Fortbewegung“<ref>ebd., S. 25</ref>, ebenso die unterdessen aufgegebene Identifikation von Rotation und Beugen als stabilste Bewegungen in einer verstrebenden bzw. hängenden Beziehung. Übereinstimmend mit dem heutigen Verständnis wird auf die Stabilisierung zweier benachbarter Massen durch das Blockieren des verbindenden Zwischenraums hingewiesen<ref>ebd., S. 22</ref>. <br />
Im Ganzen ist „stabil und instabil“ als Begriffspaar und grundlegendes Muster noch nicht ausdifferenziert.<br />
=== Die Etablierung des Begriffspaars „stabil – un-/instabil“ ===<br />
„Stabil – unstabil“<ref>'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (1991):''' Kinästhetik in der Krankenpflege. Arbeitsbuch Grundkurs. Übersetzt von Ina Citron. © 1991 Copyright Maietta-Hatch-Inc. S. II.1 (37)</ref> wird als Begriffspaar zum ersten Mal im Grundkurs-Arbeitsbuch „Kinästhetik in der Krankenpflege“ von 1991 erwähnt. Im Kapitel „Menschliche Bewegung“ wird es als Unterscheidung zwischen den stabilen Massen und den unstabilen Zwischenräumen eingeführt und bleibt darauf beschränkt.<br />
<br />
In „Kinästhetik – Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Pflege“ von Frank Hatch, Lenny Maietta und Suzanne Schmidt, dem ersten Fachbuch der Kinästhetik von 1992, wird das Begriffspaar beim Thema „Knochen und Muskeln“<ref>'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny; Schmidt, Suzanne (1994):''' Kinästhetik. Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Krankenpflege. 3. Auflage. Eschborn: Deutscher Verband für Pflegeberufe. ISBN 3-927944-02-5. S. 39</ref> nicht verwendet. Hingegen wird es im Kapitel „Menschliche Bewegung“ unter dem Titel „Bewegungsebenen für Haltungs- und Transportbewegungen“ (sic!) als leitende Unterscheidung verwendet<ref>ebd., S. 44 ff.</ref>. In diesem Zusammenhang taucht hier zum ersten Mal der heute noch übliche komplette Durchgang durch das menschliche Skelett auf. Unter dem anschließenden Titel „Das Muster stabil/instabil in der Bewegung“ wird das Thema mit dem „funktionalen Aufbau des Skeletts“<ref>ebd., S. 81</ref> in Zusammenhang gebracht, bezüglich Massen und Zwischenräume illustriert und auf den Pflegekontext übertragen.<br />
<br />
Im Jahr 1996 erscheint das Begriffspaar „stabil – instabil“ als wahrnehmbares Muster der menschlichen Bewegung und Unterscheidungsmerkmal von Haltungs- und Transportbewegung in den Grundkurs-Arbeitsbüchern für Infant Handling und Kinästhetik in der Pflege, und zwar mit einem Verweis auf die einfachste Ausprägung des Musters bei Massen und Zwischenräumen. In anderen Zusammenhängen wird es nicht benannt. <br />
<br />
<br />
<br />
=== „Stabil und instabil“ in „Kybernetik und Kinästhetik“ ===<br />
„Homöostase“ wurde ursprünglich zu Beschreibung der Fähigkeit lebender Systeme, sich innerhalb gewisser Grenzen in einem stabilen Zustand zu halten, geprägt. Der Begriff ist auch heute in dieser Bedeutung vor allem in der Biologie und Medizin weit verbreitet. Etymologisch betrachtet beschreibt „-stase“ allerdings einen unveränderlichen Stillstand – sozusagen die absolute Stabilität –, der bei lebenden Systemen dem Tod gleichkommt<ref>Wikipedia (2018): Homöostase [https://de.wikipedia.org/wiki/Hom%C3%B6ostase Homöostase] (Zugriff 15.08.2018)</ref>.<br />
<br />
Als Alternative hat der Verhaltenskybernetiker K. U. Smith (1907–1994) den Begriff „Homöokinese“ vorgeschlagen. Das zweite Glied „-kinese“ (zu griechisch ''kinesis'' „Bewegung“) hebt die Prozesse, die zu einem Gleichgewicht oder einer Ausgewogenheit innerhalb gewisser Grenzen führen, deutlicher hervor. Damit könne man lebenden Systemen eher gerecht werden. Auffällig ist, dass die beiden Forscher Maturana (*1928) und Varela (1946–2001), die die Dynamik lebender Systeme in ihrem gemeinsamen Buch stets betonen – sozusagen die immanente Instabilität –, durchwegs auf den etablierten Begriff „homöostatisch“ zurückgreifen<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2018):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S.&nbsp;11</ref>. <br />
<br />
Auch hier zeigt sich das Grundmuster „stabil und instabil“ (vgl. unten).<br />
<br />
== Kultur, Geschichte, Tradition ==<br />
Weiterreichende Bedeutung erlangen die beiden Begriffe, betrachtet man sie als grundlegendes duales Muster der Stabilität und Instabilität, der Starrheit und der Veränderung, des Wandels und der Konstanz auf unterschiedlichsten Ebenen. <br />
<br />
In der Thermodynamik findet sich eine Erweiterung dieses dualen Musters durch den Begriff „metastabil“, der das Potenzial zum Übergang von einem stabilen Zustand über eine Phase der Instabilität in einen noch stabileren Zustand definiert<ref>Wikipedia (2018): Metastabilität [https://de.wikipedia.org/wiki/Metastabilit%C3%A4t Metastabilität] (Zugriff 15.08.2018)</ref>.<br />
<br />
Eine große Bedeutung hat das Grundmuster in der Antike, insbesondere in der Philosophie. Die Vorsokratiker Heraklit (um 520 bis 460 v. Chr.) und Parmenides (um 520/515 bis 460/455 v. Chr.) stellen in ihren Fragmenten zwei widersprüchliche Bilder dieser Welt vor.<br />
Heraklit spricht mit „pantha rhei“ („Alles fließt“) von einer ständig im Wandel befindlichen, instabilen Wirklichkeit, der nur der Mensch eine stabile Interpretation zu verleihen versucht.<br />
Parmenides wiederum nimmt die Welt an sich als stabile, unteilbare und unveränderliche Einheit an. <br />
„Nur der trügerische Glaube an die Wirklichkeit der Gegensätze – der Glaube, dass nicht nur existiert, was ist, sondern auch das, was nicht ist – führt zu der Illusion einer Welt der Veränderung.“<ref>'''Popper, Karl R. (2016):''' Die Welt des Parmenides. Der Ursprung des europäischen Denkens. Herausgegeben von Arne Petersen … [et. al.]. München: Piper. ISBN 978-3-492-24071. S. 44 ff.</ref> <br />
<br />
: ''„Alle drei Milesier (Anaximander, Anaximenes, Thales) betrachteten unsere Welt als unser Heim. Es gab da Bewegung, es gab Veränderung in diesem Heim, es gab Hitze und Kälte, Feuer und Feuchtigkeit. Es gab ein Feuer im Herd mit einem Kessel voller Wasser darauf. Das Haus war den Winden ausgesetzt, ein bisschen zugig, um genau zu sein, aber es war unser Haus und bot in gewisser Weise Sicherheit und Stabilität. Für Heraklit allerdings Stand das Haus in Flammen.“<ref>ebd., S. 44 ff.</ref>'' <br />
<br />
<br />
Auch im Dualismus von Yin und Yang begegnet sich ein ähnliches Gegensatzpaar, das gemeinsam– laut „I Ging – Das Buch der Wandlungen“ – die Wandlungen allen Seins als einzig Beständiges auf vielfältigen Ebenen der Psyche, der Physis, der Gesellschaft und des Kosmos in Gang hält.<ref>'''I Ging. Das Buch der Wandlungen.''' In der Originalübersetzung von Richard Wilhelm. 8., ergänzte Auflage 2017. Wiesbaden: Marix. ISBN 978-3-937715-08-7. S. 14 ff.</ref><br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* '''Knobel, Stefan (2012):''' Stabilität – Instabilität. Spielt die Welt verrückt? In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2012, Nr. 2. S. 4–8.<br />
* '''Scheffer, Marten; Westley, Francis R. (2007):''' The Evolutionary Basis of Rigidity: Locks in Cells, Minds and Society. In: Ecology and Society 12(2): 36. http://www.ecologyandsociety.org/vol12/iss2/art36/ (Zugriff: 22.08.2018).<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Knochen und Muskeln]]<br /><br />
[[Massen und Zwischenräume]]<br /><br />
== Zum Begriff ==<br />
=== Bedeutungsüberblick ===<br />
==== Die Bedeutungen der Begriffe nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ ====<br />
Nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ hat '''stabil''' folgende Bedeutungen: <br><br />
Die Erstbedeutung lautet „a. sehr fest gefügt und dadurch Beanspruchungen aushaltend“ und „b. (besonders Physik, Chemie, Technik) in sich konstant bleibend, gleichbleibend, relativ unveränderlich“. Synonyme sind „derb, fest, haltbar, massiv, robust, solide, strapazierfähig, unverwüstlich, verschleißfest, widerstandsfähig; (österreichisch) strapazfähig; (bildungssprachlich) durabel; (umgangssprachlich) dankbar“.<br />
<br />
Die auch fachsprachlich verwendete Zweitbedeutung lautet „so beständig, dass nicht leicht eine Störung, Gefährdung möglich ist; Veränderungen, Schwankungen kaum unterworfen“. Synonyme sind „beständig, dauerhaft, fest, gleichbleibend hart, konstant, unveränderlich“.<br />
<br />
Die Drittbedeutung lautet „widerstandsfähig; kräftig; nicht anfällig“. Synonyme sind „eisern, gesund, kräftig, stark, unempfindlich, widerstandsfähig, zäh; (Biologie, Medizin) resistent“.<br />
<br />
Als Antonym wird „labil“ angegeben.<br />
<br />
Nach dem Duden Online-Wörterbuch hat '''instabil''' folgende Bedeutungen: <br><br />
Die Erstbedeutung lautet „(besonders Physik, Technik) nicht im Gleichgewicht bleibend; in sich nicht fest, nicht gleich[mäßig], nicht konstant bleibend“. Synonyme sind „alt, altersschwach, baufällig, brüchig, morsch, rissig, unstabil, verfallen, verkommen, wackelig, zerfallen“.<br />
<br />
Die Zweitbedeutung lautet „veränderlich, schwankend; nicht beständig, nicht dauerhaft“. Synonyme sind „schwankend, sprunghaft, unberechenbar, unbeständig, undurchsichtig, unklar, unzuverlässig, veränderlich; (gehoben) unstet, wandelbar“.<br />
<br />
Beide Begriffe werden in der Kinästhetik auch in ihren gemeinsprachlichen Bedeutungen verwendet.<br />
==== Die Verwendung als kinästhetischer Fachbegriff ====<br />
Seit 1991 wird „stabil/Stabilität“ und „instabil/Instabilität“ im fachlichen Kontext der Kinästhetik verwendet. Früh wird das Gegensatzpaar als Muster erkannt, das in verschiedenen Unterthemen des späteren Konzeptsystems aufscheint. Es betrifft eine allgemeinere Unterscheidung, die zur entsprechenden Charakterisierung der menschlichen Anatomie und ihrer Funktionen (z. B. in „Knochen und Muskeln“), als subjektiv erfahrbares und verbindendes Grundmuster, aber auch in anderen Kontexten benutzt wird. Diese Unterscheidung beruht letztlich auf einer Grundfrage, die das Denken des Menschen und sein Weltverständnis seit frühester Zeit prägt.<br />
<br />
=== Herkunft ===<br />
Nach dem „Duden Herkunftswörterbuch“ wurde das Wort '''stabil''' mit den Bedeutungen „beständig, dauerhaft, fest, haltbar; widerstandsfähig“ im 18. Jahrhundert aus lateinisch ''stabilis'' „fest stehend, standhaft, dauerhaft usw.“ entlehnt. Das lateinische Adjektiv gehört mit vielen anderen verwandten Wörtern zur Sippe des lateinischen Verbs ''stare'' „stehen“, das mit deutsch „stehen“ urverwandt ist. Ableitungen sind „Stabilität“ und „stabilisieren“.<br />
<br />
Das Wort '''instabil''' ist zusammengesetzt aus lateinisch ''in-'' „un-, nicht …“ und lateinisch ''stabilis'' (vgl. oben). Das erste Glied ''in-'' ist mit deutsch „un-“ urverwandt und verneint wie dieses in der Zusammensetzung mit Adjektiven deren Bedeutung. Eine Ableitung ist „Instabilität“.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Menschenbild]]<br />
[[Kategorie:Konzeptsystem]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Stabil_und_instabil&diff=4904
Stabil und instabil
2023-12-20T11:33:02Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Kommentare, Auswertungen und offene Fragen */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|vorläufig abgeschlossen|Joachim Reif/Lutz Zierbeck}}<br />
<br />
<br />
'''''Zusammenfassung:'''''<br>Dieser Artikel beleuchtet die aktuelle Verwendung des Begriffspaars „Stabil und instabil“ als kinaesthetischer Fachbegriff in ausgewählter Fachliteratur. Es wird versucht die Entwicklung des Grundmusters „Stabil und instabil“ in der Kinästhetik anhand literarischer Verweise nachzuvollziehen. Vor einem größeren kulturgeschichtlichen Hintergrund wird dessen grundlegende Bedeutung in Betracht gezogen. Zum Schluss werden begriffliche Aspekte behandelt.<br />
<br />
<br />
== Aktuelle Verwendung des Begriffs ==<br />
[[Datei:Steinturm mit Vogel.jpg|mini]]<br />
=== „Stabil und instabil“ im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
Das gesamte zweite Konzept „Funktionale Anatomie“ etabliert „stabil und instabil“ als grundlegendes erfahrbares Muster der Anatomie in allen vier Unterthemen. <br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Knochen und Muskeln“ ====<br />
Im ersten Unterthema „[[Knochen und Muskeln]]“ wird die Erfahrbarkeit der Knochen mit den Begriffen „hart, stabil und robust“<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2018):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 20</ref> charakterisiert. Die zugehörige anatomische Funktion ist die eines stabilen Gerüsts bzw. des Tragens oder Weiterleitens des Körpergewichts. Die Erfahrbarkeit der Muskeln wird mit „weicher, instabiler und durch Anspannung und Entspannung veränderlich“ charakterisiert. Die zugehörige anatomische Funktion ist die Veränderung oder Erhaltung der Beziehung der Knochen. Sie können durch Anspannung Körpergewicht tragen und sich in ihrer erfahrbaren Eigenschaft sowie in der Funktion den Knochen annähern.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Massen und Zwischenräume“ ====<br />
In „2.2. Massen und Zwischenräume“ wird explizit auf das „erfahrbare Muster ‚stabil – instabil‘“<ref>ebd., S. 21</ref> verwiesen. Aufbauend auf dem vorausgehenden Unterthema „Knochen und Muskeln“ sind Massen als kompakte und stabile Strukturen erfahrbar, Zwischenräume hingegen als weicher und instabiler. Ihre zugehörige anatomische Funktion besteht im Tragen oder Weiterleiten des Körpergewichts bzw. in der Veränderung der Beziehung der Massen. <br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“<ref>ebd., S. 22–25</ref> ====<br />
In „2.3. Haltungsbewegungsebenen und Transportbewegungsebenen“ wird das erfahrbare Muster des regelmäßigen Wechsels der stabileren und instabileren Bewegungsebenen im Zusammenhang mit der Form und Funktionalität der jeweiligen Gelenke thematisiert. In einem kompletten Durchgang durch das menschliche Skelett werden die einzelnen Bewegungsebenen aufgezeigt. Stabilität bzw. Instabilität wird hier durch die Unterscheidung zwischen zwei- bzw. dreidimensionalen (kugelgelenkartigen) Bewegungsmöglichkeiten der einzelnen Ebenen erfahrbar.<br />
<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Vorder- und Rückseiten“ ====<br />
Auch in „2.4. Orientierung“ wird auf das Gegensatzpaar „stabil – instabil“ zurückgegriffen, um die Erfahrbarkeit der Vorder- und Rückseiten der Massen zu charakterisieren und auf ihre entsprechenden Funktionen zu verweisen.<br />
==== „Stabil und instabil“ im Unterthema „Haltungs- und Transportbewegung“==== <br />
Im dritten Konzept „Menschliche Bewegung“ dient das Gegensatzpaar „stabil – instabil“ zur Unterscheidung zwischen Haltungs- und Transportbewegungen<ref>ebd., S. 32</ref>. Sie sind als eher stabile oder veränderliche Beziehung der Massen zueinander erfahrbar. Aus dem notwendigen Zusammenspiel beider Bewegungskomponenten entwickelt jeder Mensch individuelle Bewegungsmuster.<br />
<br />
=== „Stabil und instabil“ in „Kinaesthetics Infant Handling“ ===<br />
Dieses Buch von Lenny Maietta (1950–2018) und Frank Hatch (*1940) stellt das Kind ins Zentrum, hat sich aber als allgemeines Standardwerk der Kinästhetik etabliert. Im Folgenden wird das Auftreten des Musters der Stabilität und Instabilität an einigen einschlägigen Stellen aufgezeigt.<br />
<br />
Geleitwort 1<br />
<br />
Im Geleitwort wird das Muster implizit anhand der Diskussion über genetische Determination versus Beeinflussbarkeit der „angeblich stabilen Persönlichkeitsmerkmale“<ref>'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Übersetzt von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Original-Manuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. Bern: Hogrefe, vorm. Hans Huber Verlag. IBSN 978-3-456-84987-4. S. 9</ref> angedeutet.<br />
<br />
4.4 Konzept: Funktionelle Anatomie<br />
<br />
In „4.4.1 Muskeln und Knochen“ werden Knochen als stabil und das Muskelgewebe als instabil beschrieben; die Darstellung ihrer Eigenschaften und Funktionen stimmt weitgehend mit dem „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ überein. In der vom Buch empfohlenen Aktivität soll das Bewegen der Knochen helfen, „ein Gefühl für die Stabilität“<ref>ebd., S. 86</ref> zu entwickeln. Insofern wird hier eine Brücke zu einer erfahrbaren Eigenschaft gebaut.<br />
<br />
In „4.4.1.2 Entwicklung des Bewegungsapparates“<ref>ebd., S. 88 </ref> wird auf die Bedeutung stabiler und instabiler Umgebungseigenschaften für die Entwicklung des Bewegungsapparates hingewiesen und ebenso darauf, dass die Stabilität der Knochen in engem Zusammenhang mit ihrer Beanspruchung steht.<br />
<br />
In „4.4.2 Massen und Zwischenräume“ wird im Gegensatz zum „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ keine explizite Unterscheidung anhand des Musters der Stabilität und Instabilität vorgenommen. Hier wird verstärkt auf die Abgabe des Gewichts und das Drücken auf eine „stabile Unterlage“<ref>ebd., S. 89</ref> eingegangen.<br />
<br />
In „4.4.3.2 Körperorientierte Bewegung“<ref>ebd., S. 95 ff.</ref> werden erstmals Rückseiten u. a. als stabil und Vorderseiten u. a. als instabil beschrieben.<br />
<br />
4.5 Menschliche Bewegung<br />
<br />
Stabilität und Instabilität werden als wahrnehmbare Eigenschaften der „Haltungs- und der Transportbewegung“<ref>ebd., S. 100</ref> (Kapitel 4.5.1) erwähnt. Diese werden in Kombination als notwendige Voraussetzung für die menschliche Bewegung genannt.<br />
<br />
Die Unterscheidung zwischen stabil und instabil wird an einschlägigen Stellen verwendet, erscheint aber nicht als erfahrbares und die Unterthemen der funktionalen Anatomie verbindendes Grundmuster.<br />
<br />
=== Kommentare, Auswertungen und offene Fragen ===<br />
Als kinästhetischer Fachbegriff benennt „stabil und instabil“ ein Muster, das in den beiden Konzepten der „Funktionalen/Funktionellen Anatomie“ und der „Menschlichen Bewegung“ eine wichtige Grundlage bildet. Dieses Grundmuster ist eine Vorbedingung für gelingende Bewegung ebenso wie für gelingende Anpassungen. Ohne das Zusammenwirken von stabilen und instabilen Eigenschaften der Anatomie (vgl. zweites Konzept) wäre unser Körper entweder zu stabil, also zu starr, oder zu instabil, also zu locker, um die für uns nötigen Bewegungsabläufe zu koordinieren. Dieses Muster entwickelt sich entsprechend der Funktion der einzelnen Teile schon in der Embryonalentwicklung und bestimmt danach wiederum ihre weitere Funktion.<br />
<br />
Das Muster setzt sich im Konzept „Menschliche Bewegung“ fort. Wir haben die Möglichkeit, Bewegung so zu gestalten, dass eine stabile oder instabile Beziehung der Körperteile entsteht. Mehr oder weniger Stabilität wird dabei von „innen“ erzeugt. <br />
Eine andere Form der Stabilität wird erreicht, wenn wir unser Gewicht weitestgehend über unsere Knochen auf die Unterstützungsfläche abgeben, was die muskuläre „Stabilität“ im Körper, die Spannung, reduziert.<br />
<br />
Es wird vor allem deutlich, dass die Kompetenz zur differenzierten Bewegungsregulation zwischen beiden Extremen der Stabilität und Instabilität entscheidend für unsere alltäglichen Möglichkeiten der Bewegung ist. Dabei hilft dieses Grundmuster als übergeordneter und verbindender Blickwinkel, der sich in weitere Unterthemen („[[Knochen und Muskeln]]“ usw.) ausdifferenzieren lässt.<br />
<br />
== Begriffsgeschichte ==<br />
=== „Stabil, Stabilität, stabilisieren“ im 16. Kinästhetik-Bulletin von 1990 ===<br />
Die Begriffe „stabil“, „Stabilität“ und „stabilisieren“ sind schon in dieser frühesten zusammenhängenden Beschreibung der späteren Konzepte an mehreren einschlägigen Stellen zu finden, nicht aber „instabil, Instabilität“. Der Aspekt der Stabilität erscheint im Zusammenhang mit den Streckmuskeln bzw. Hinterseiten<ref>'''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 16</ref>, mit den Massen<ref>ebd., S. 20</ref> und mit der spezifischen Reihenfolge der Haltungs- und Transportbewegung(sebenen)<ref>ebd., S. 21</ref> . Auffällig ist der unterdessen aufgegebene Fachbegriff der „stabilen Positionen“ in „4.5.3. „Fortbewegung“<ref>ebd., S. 25</ref>, ebenso die unterdessen aufgegebene Identifikation von Rotation und Beugen als stabilste Bewegungen in einer verstrebenden bzw. hängenden Beziehung. Übereinstimmend mit dem heutigen Verständnis wird auf die Stabilisierung zweier benachbarter Massen durch das Blockieren des verbindenden Zwischenraums hingewiesen<ref>ebd., S. 22</ref>. <br />
Im Ganzen ist „stabil und instabil“ als Begriffspaar und grundlegendes Muster noch nicht ausdifferenziert.<br />
=== Die Etablierung des Begriffspaars „stabil – un-/instabil“ ===<br />
„Stabil – unstabil“<ref>'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (1991):''' Kinästhetik in der Krankenpflege. Arbeitsbuch Grundkurs. Übersetzt von Ina Citron. © 1991 Copyright Maietta-Hatch-Inc. S. II.1 (37)</ref> wird als Begriffspaar zum ersten Mal im Grundkurs-Arbeitsbuch „Kinästhetik in der Krankenpflege“ von 1991 erwähnt. Im Kapitel „Menschliche Bewegung“ wird es als Unterscheidung zwischen den stabilen Massen und den unstabilen Zwischenräumen eingeführt und bleibt darauf beschränkt.<br />
<br />
In „Kinästhetik – Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Pflege“ von Frank Hatch, Lenny Maietta und Suzanne Schmidt, dem ersten Fachbuch der Kinästhetik von 1992, wird das Begriffspaar beim Thema „Knochen und Muskeln“<ref>'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny; Schmidt, Suzanne (1994):''' Kinästhetik. Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Krankenpflege. 3. Auflage. Eschborn: Deutscher Verband für Pflegeberufe. ISBN 3-927944-02-5. S. 39</ref> nicht verwendet. Hingegen wird es im Kapitel „Menschliche Bewegung“ unter dem Titel „Bewegungsebenen für Haltungs- und Transportbewegungen“ (sic!) als leitende Unterscheidung verwendet<ref>ebd., S. 44 ff.</ref>. In diesem Zusammenhang taucht hier zum ersten Mal der heute noch übliche komplette Durchgang durch das menschliche Skelett auf. Unter dem anschließenden Titel „Das Muster stabil/instabil in der Bewegung“ wird das Thema mit dem „funktionalen Aufbau des Skeletts“<ref>ebd., S. 81</ref> in Zusammenhang gebracht, bezüglich Massen und Zwischenräume illustriert und auf den Pflegekontext übertragen.<br />
<br />
Im Jahr 1996 erscheint das Begriffspaar „stabil – instabil“ als wahrnehmbares Muster der menschlichen Bewegung und Unterscheidungsmerkmal von Haltungs- und Transportbewegung in den Grundkurs-Arbeitsbüchern für Infant Handling und Kinästhetik in der Pflege, und zwar mit einem Verweis auf die einfachste Ausprägung des Musters bei Massen und Zwischenräumen. In anderen Zusammenhängen wird es nicht benannt. <br />
<br />
<br />
<br />
=== „Stabil und instabil“ in „Kybernetik und Kinästhetik“ ===<br />
„Homöostase“ wurde ursprünglich zu Beschreibung der Fähigkeit lebender Systeme, sich innerhalb gewisser Grenzen in einem stabilen Zustand zu halten, geprägt. Der Begriff ist auch heute in dieser Bedeutung vor allem in der Biologie und Medizin weit verbreitet. Etymologisch betrachtet beschreibt „-stase“ allerdings einen unveränderlichen Stillstand – sozusagen die absolute Stabilität –, der bei lebenden Systemen dem Tod gleichkommt<ref>Wikipedia (2018): Homöostase [https://de.wikipedia.org/wiki/Hom%C3%B6ostase Homöostase] (Zugriff 15.08.2018)</ref>.<br />
<br />
Als Alternative hat der Verhaltenskybernetiker K. U. Smith (1907–1994) den Begriff „Homöokinese“ vorgeschlagen. Das zweite Glied „-kinese“ (zu griechisch ''kinesis'' „Bewegung“) hebt die Prozesse, die zu einem Gleichgewicht oder einer Ausgewogenheit innerhalb gewisser Grenzen führen, deutlicher hervor. Damit könne man lebenden Systemen eher gerecht werden. Auffällig ist, dass die beiden Forscher Maturana (*1928) und Varela (1946–2001), die die Dynamik lebender Systeme in ihrem gemeinsamen Buch stets betonen – sozusagen die immanente Instabilität –, durchwegs auf den etablierten Begriff „homöostatisch“ zurückgreifen<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2018):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S.&nbsp;11</ref>. <br />
<br />
Auch hier zeigt sich das Grundmuster „stabil und instabil“ (vgl. unten).<br />
<br />
== Kultur, Geschichte, Tradition ==<br />
Weiterreichende Bedeutung erlangen die beiden Begriffe, betrachtet man sie als grundlegendes duales Muster der Stabilität und Instabilität, der Starrheit und der Veränderung, des Wandels und der Konstanz auf unterschiedlichsten Ebenen. <br />
<br />
In der Thermodynamik findet sich eine Erweiterung dieses dualen Musters durch den Begriff „metastabil“, der das Potenzial zum Übergang von einem stabilen Zustand über eine Phase der Instabilität in einen noch stabileren Zustand definiert<ref>Wikipedia (2018): Metastabilität [https://de.wikipedia.org/wiki/Metastabilit%C3%A4t Metastabilität] (Zugriff 15.08.2018)</ref>.<br />
<br />
Eine große Bedeutung hat das Grundmuster in der Antike, insbesondere in der Philosophie. Die Vorsokratiker Heraklit (um 520 bis 460 v. Chr.) und Parmenides (um 520/515 bis 460/455 v. Chr.) stellen in ihren Fragmenten zwei widersprüchliche Bilder dieser Welt vor.<br />
Heraklit spricht mit „pantha rhei“ („Alles fließt“) von einer ständig im Wandel befindlichen, instabilen Wirklichkeit, der nur der Mensch eine stabile Interpretation zu verleihen versucht.<br />
Parmenides wiederum nimmt die Welt an sich als stabile, unteilbare und unveränderliche Einheit an. <br />
„Nur der trügerische Glaube an die Wirklichkeit der Gegensätze – der Glaube, dass nicht nur existiert, was ist, sondern auch das, was nicht ist – führt zu der Illusion einer Welt der Veränderung.“<ref>'''Popper, Karl R. (2016):''' Die Welt des Parmenides. Der Ursprung des europäischen Denkens. Herausgegeben von Arne Petersen … [et. al.]. München: Piper. ISBN 978-3-492-24071. S. 44 ff.</ref> <br />
<br />
: ''„Alle drei Milesier (Anaximander, Anaximenes, Thales) betrachteten unsere Welt als unser Heim. Es gab da Bewegung, es gab Veränderung in diesem Heim, es gab Hitze und Kälte, Feuer und Feuchtigkeit. Es gab ein Feuer im Herd mit einem Kessel voller Wasser darauf. Das Haus war den Winden ausgesetzt, ein bisschen zugig, um genau zu sein, aber es war unser Haus und bot in gewisser Weise Sicherheit und Stabilität. Für Heraklit allerdings Stand das Haus in Flammen.“<ref>ebd., S. 44 ff.</ref>'' <br />
<br />
<br />
Auch im Dualismus von Yin und Yang begegnet sich ein ähnliches Gegensatzpaar, das gemeinsam– laut „I Ging – Das Buch der Wandlungen“ – die Wandlungen allen Seins als einzig Beständiges auf vielfältigen Ebenen der Psyche, der Physis, der Gesellschaft und des Kosmos in Gang hält.<ref>'''I Ging. Das Buch der Wandlungen.''' In der Originalübersetzung von Richard Wilhelm. 8., ergänzte Auflage 2017. Wiesbaden: Marix. ISBN 978-3-937715-08-7. S. 14 ff.</ref><br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* '''Knobel, Stefan (2012):''' Stabilität – Instabilität. Spielt die Welt verrückt? In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2012, Nr. 2. S. 4–8.<br />
* '''Scheffer, Marten; Westley, Francis R. (2007):''' The Evolutionary Basis of Rigidity: Locks in Cells, Minds and Society. In: Ecology and Society 12(2): 36. http://www.ecologyandsociety.org/vol12/iss2/art36/ (Zugriff: 22.08.2018).<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Knochen und Muskeln]]<br /><br />
[[Massen und Zwischenräume]]<br /><br />
== Zum Begriff ==<br />
=== Bedeutungsüberblick ===<br />
==== Die Bedeutungen der Begriffe nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ ====<br />
Nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ hat '''stabil''' folgende Bedeutungen: <br><br />
Die Erstbedeutung lautet „a. sehr fest gefügt und dadurch Beanspruchungen aushaltend“ und „b. (besonders Physik, Chemie, Technik) in sich konstant bleibend, gleichbleibend, relativ unveränderlich“. Synonyme sind „derb, fest, haltbar, massiv, robust, solide, strapazierfähig, unverwüstlich, verschleißfest, widerstandsfähig; (österreichisch) strapazfähig; (bildungssprachlich) durabel; (umgangssprachlich) dankbar“.<br />
<br />
Die auch fachsprachlich verwendete Zweitbedeutung lautet „so beständig, dass nicht leicht eine Störung, Gefährdung möglich ist; Veränderungen, Schwankungen kaum unterworfen“. Synonyme sind „beständig, dauerhaft, fest, gleichbleibend hart, konstant, unveränderlich“.<br />
<br />
Die Drittbedeutung lautet „widerstandsfähig; kräftig; nicht anfällig“. Synonyme sind „eisern, gesund, kräftig, stark, unempfindlich, widerstandsfähig, zäh; (Biologie, Medizin) resistent“.<br />
<br />
Als Antonym wird „labil“ angegeben.<br />
<br />
Nach dem Duden Online-Wörterbuch hat '''instabil''' folgende Bedeutungen: <br><br />
Die Erstbedeutung lautet „(besonders Physik, Technik) nicht im Gleichgewicht bleibend; in sich nicht fest, nicht gleich[mäßig], nicht konstant bleibend“. Synonyme sind „alt, altersschwach, baufällig, brüchig, morsch, rissig, unstabil, verfallen, verkommen, wackelig, zerfallen“.<br />
<br />
Die Zweitbedeutung lautet „veränderlich, schwankend; nicht beständig, nicht dauerhaft“. Synonyme sind „schwankend, sprunghaft, unberechenbar, unbeständig, undurchsichtig, unklar, unzuverlässig, veränderlich; (gehoben) unstet, wandelbar“.<br />
<br />
Beide Begriffe werden in der Kinästhetik auch in ihren gemeinsprachlichen Bedeutungen verwendet.<br />
==== Die Verwendung als kinästhetischer Fachbegriff ====<br />
Seit 1991 wird „stabil/Stabilität“ und „instabil/Instabilität“ im fachlichen Kontext der Kinästhetik verwendet. Früh wird das Gegensatzpaar als Muster erkannt, das in verschiedenen Unterthemen des späteren Konzeptsystems aufscheint. Es betrifft eine allgemeinere Unterscheidung, die zur entsprechenden Charakterisierung der menschlichen Anatomie und ihrer Funktionen (z. B. in „Knochen und Muskeln“), als subjektiv erfahrbares und verbindendes Grundmuster, aber auch in anderen Kontexten benutzt wird. Diese Unterscheidung beruht letztlich auf einer Grundfrage, die das Denken des Menschen und sein Weltverständnis seit frühester Zeit prägt.<br />
<br />
=== Herkunft ===<br />
Nach dem „Duden Herkunftswörterbuch“ wurde das Wort '''stabil''' mit den Bedeutungen „beständig, dauerhaft, fest, haltbar; widerstandsfähig“ im 18. Jahrhundert aus lateinisch ''stabilis'' „fest stehend, standhaft, dauerhaft usw.“ entlehnt. Das lateinische Adjektiv gehört mit vielen anderen verwandten Wörtern zur Sippe des lateinischen Verbs ''stare'' „stehen“, das mit deutsch „stehen“ urverwandt ist. Ableitungen sind „Stabilität“ und „stabilisieren“.<br />
<br />
Das Wort '''instabil''' ist zusammengesetzt aus lateinisch ''in-'' „un-, nicht …“ und lateinisch ''stabilis'' (vgl. oben). Das erste Glied ''in-'' ist mit deutsch „un-“ urverwandt und verneint wie dieses in der Zusammensetzung mit Adjektiven deren Bedeutung. Eine Ableitung ist „Instabilität“.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Menschenbild]]<br />
[[Kategorie:Konzeptsystem]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Unterschied&diff=4903
Unterschied
2023-12-20T11:24:13Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Unterschied in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N. /Joachim Reif}}<br />
<br />
'''''Zusammenfassung:<br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus dem einschlägigen Zitaten zum Thema „Unterschied“ aus den Büchern „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ und „Kybernetik und Kinästhetik“. Sie thematisieren die Bedeutung des Unterschieds für Wahrnehmung und Lernen gemäß der Definition von Gregory Bateson, dass Informationen aus Unterschieden bestehen, die für das einzelne Individuum einen Unterschied ausmachen. Hervorgehoben wird ebenso die Bedeutung für die Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung und -regulation durch die persönliche, konkrete Erfahrung im Rahmen der Kinästhetik.<br />
<br />
== Unterschied in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat ist in das fünfte Kapitel „Lernen: Allgemeine Blickpunkte“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel thematisieren die „Bedeutung des Begriffs Lernen im Alltag“, das „Fehlen einer umfassenden wissenschaftlichen Theorie des Lernens“, „Lernen, Erfahrung und Denken“ und die „Grundfunktionen des Lernens“. Das Zitat ist der Text des fünften Unterkapitels „Unterschiede führen zu bedeutsamen Unterscheidungen“.<br />
: ''„Aus dem kybernetischen Blickwinkel von Kinaesthetics spielen '''Unterschiede''' beim Wahrnehmen, Erkennen und Lernen eine zentrale Rolle.''<br />
<br />
: ''Gregory Bateson (1904–1980), ein weiterer Pionier der Kybernetik, präzisierte diese Tatsache mit der Formulierung: ‚Informationen bestehen aus Unterschieden, die einen Unterschied machen‘ (Bateson 2014, S. 123<ref>'''Bateson, Gregory (2014):''' Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Übersetzt von Hans Günter Holl. 10. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 691). ISBN 978-3-518-28291-3. <br />
1. Auflage: 1987. Erstausgabe: 1982. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (ISBN 978-3-518-57603-8).<br />
Originalausgabe: vgl. Bateson, Gregory (1979)</ref>). Das heißt, der Unterschied muss vom einzelnen Lebewesen als solcher wahrgenommen werden (können), um zu einer Information zu werden, die es in einem Lernprozess verwenden kann.''<br />
<br />
: ''Was bedeutet diese Definition einer Information? Es leuchtet ein, dass Delphine mittels Echo-Ortung Unterschiede wahrnehmen, die für uns keine Unterschiede ausmachen können, oder dass Raubvögel mit ihren Augen aus großen Entfernungen Unterschiede wahrnehmen können, die für uns zu klein sind. Ihre Lernprozesse und ihre innere ‚Konstruktion‘ der Welt müssen ganz anders gestaltet sein als unsere.''<br />
<br />
: ''Das folgende Beispiel soll die Bedeutung der Definition für das Verständnis unserer Wahrnehmung und unserer Lernprozesse beleuchten: Der Dirigent eines Symphonie-Orchesters hört Unterschiede, die wir als Laien nicht hören. Gewiss können wir lernen, solche Unterschiede wahrzunehmen, indem wir unser Gehör sensibilisieren. Bei einem solchen Lernprozess ist aber wiederum von entscheidender Bedeutung, ob wir mit unseren individuellen Voraussetzungen die entsprechenden Unterschiede als solche wahrnehmen können, ob sie für uns einen Unterschied ausmachen. Es wird uns dabei zu Beginn nicht möglich sein, allzu feine Unterschiede, die für den erfahrenen Dirigenten deutlich wahrnehmbar sind, festzustellen, und wir werden nicht auf Anhieb fähig sein, 30 verschiedene Instrumente ‚einzeln‘ zu hören.''<br />
<br />
: ''Aus kybernetischer Sicht wird dieser Sachverhalt treffender so beschrieben: Wir können nicht auf Anhieb Unterschiede zwischen 30 Instrumenten in uns produzieren. Denn aus dieser Perspektive ist die Wahrnehmung ein aktiver [[Feedback-Control-Theorie|Feedback-Prozess]] eines Individuums und nicht ein passives, ‚mechanisches‘ Empfangen (z. B. von Schallwellen).''<br />
<br />
: ''Bei der Steuerung unseres Verhaltens produzieren wir fortlaufend durch unsere eigene Bewegung Unterschiede, nehmen sie wahr und vergleichen konstant die Ist-Werte und die Soll-Werte. Dieser Regelkreis ermöglicht die notwendigen, ständigen Anpassungsleistungen der Selbststeuerung.''<br />
<br />
: ''Wie das Gehör können wir auch unsere Bewegungswahrnehmung sensibilisieren und lernen, auf immer feinere und vielfältigere Unterschiede in der Steuerung unserer Bewegung zu achten. Als Werkzeug zur Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung dient in Kinaesthetics das Konzeptsystem. Es ist ein differenziertes System von Unterscheidungen, die für jeden Menschen individuell erfahrbar sind. Bei den [[Bewegungselemente|Bewegungselementen]] ‚Raum‘ und ‚Zeit‘ geht es z. B. um groß – klein, viel – wenig, schnell – langsam, in der Funktionalen Anatomie um hart – weich, veränderlich – robust usw. Sie dienen als Fokus für das Lernen in Bewegungserfahrungen.''<br />
<br />
: ''Unterschiede bzw. Unterscheidungen spielen in Kinaesthetics grundsätzlich eine zentrale Rolle. So sind z. B. die Unterschiede zwischen der eigenen Bewegung und derjenigen einer PartnerIn in den [[Partnererfahrung|Partnererfahrungen]] eine treibende Kraft des Lernens. In den gemeinsamen Reflexionen sind es die Unterschiede zwischen den einzelnen Beschreibungen der Erfahrungen.''<br />
<br />
: ''Kinaesthetics-Lernsequenzen sind oft so angelegt, dass am Ende die aktuell erreichte Situation mit der Ausgangslage verglichen werden kann, z. B. durch die Vergleichsaktivitäten A1 – A2 im [[Lernzyklus]]. Durch solche Unterschiedserfahrungen wird der Lern- und Kompetenzzuwachs in der Reflexion fassbar, was ein bewusstes und differenziertes Lernen fördert. Mit Ihren Notizen treffen Sie dabei Entscheidungen über Unterschiede und Unterscheidungen, die für Sie persönlich Bedeutung haben.“''<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Der gekochte Frosch'''“:<br />
: ''„Gregory Bateson verwendet die folgende, als quasi-wissenschaftlich bezeichnete Fabel, um deutlich zu machen, dass ‚wir [uns] fast immer unbewusst sind über die Trends in den Veränderungen unseres Zustandes. ... Wenn man einen Frosch dazu bringen kann, ruhig in einem Topf mit kaltem Wasser sitzen zu bleiben, und wenn man dann die Wassertemperatur sehr langsam und sanft erhöht, so dass es keinen Augenblick gibt, der sich als der Augenblick ‚abhebt‘, in dem der Frosch springen sollte, dann wird er niemals springen. Er wird gekocht werden.‘ (Bateson 2014, ebd., S. 122.) Durch diese Fabel wird verständlich, warum wir langsame Entwicklungen und Lernprozesse von uns selbst sehr viel schwerer feststellen als schnelle und unterscheidbare Veränderungen und Lernerfolge.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 56–57.<br />
<br />
== Unterschied in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“, und zwar aus dem abschließenden sechsten Kapitel „Kinästhetik ist praktische Kybernetik“. Das Zitat ist eingebettet in das zweite Unterkapitel „Selbstregulation und persönliches Lernen“. Vorausgehend wird die Frage „Wie reguliere ich mich“ thematisiert. Das Zitat ist der Text der nachfolgenden Themen „Der Unterschied“ und „Lernen durch die Erfahrung von Unterschieden“.<br />
: „'''''Der Unterschied'''''<br>''Wenn Sie die einleitende Bewegungsanleitung ausgeführt haben, konnten Sie feststellen, dass Sie in erster Linie dazu aufgefordert wurden, auf für Sie erfahrbare '''Unterschiede''' zu achten. Die Absicht dabei war selbstverständlich, dass Sie dadurch etwas lernen.''<br />
<br />
: ''Nun lässt sich in jedem größeren Universallexikon nachschlagen, dass aus wissenschaftlicher Perspektive eine umfassende Theorie des Lernens nach wie vor fehlt (vgl. European Kinaesthetics Association 2020b, S. 52f.<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7.</ref>). Hinter der zentralen Rolle, die Unterschiede in der Kinästhetik spielen, stehen gewichtige Beiträge der Kybernetik zum Thema Lernen, die nur zögerlich eine Umsetzung im pädagogischen Alltag unseres Kulturkreises finden.''<br />
<br />
: ''Ein Kybernetiker, der sich brennend für das Thema Lernen interessierte, war Gregory Bateson. Auch wenn er selbst nach vielen Jahren sein früheres Modell einer umfassenden Lerntheorie verwarf, enthalten dieses und sein Lebenswerk – auch nach seiner eigenen Meinung – außerordentlich stimmige Argumentationen und Gedanken über das Lernen von Lebewesen. (Bateson 2017, S. 362–399<ref>'''Bateson, Gregory (2017):''' Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Übersetzt von Hans Günter Holl. 12. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-28171-0. <br />
1. Auflage: 1985. Erstausgabe: 1981. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (ISBN 978-3-518-07539-5).<br />
Originalausgabe (1995): Steps to an Ecology of Mind, Collected Essays in Anthropology, Psychiatry, Evolution and Epistemology. Copyright © 1972 by Chandler Publishing Company.</ref>) Er prägte bezüglich der Funktionsweise jeglicher Wahrnehmungssysteme (und als simple Definition einer Information bzw. von 1 bit) die Formulierung: ‚Information consists of differences that make a difference.‘ (Bateson 1979, S. 99<ref>'''Bateson, Gregory (1979):''' Mind And Nature. A Necessary Unity. New York: E. P. Dutton. ISBN 0-525-15590-2.</ref>; ‚Informationen bestehen aus Unterschieden, die einen Unterschied machen‘, Bateson 2014, S. 123<ref>'''Bateson, Gregory (2014): ''' Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Übersetzt von Hans Günter Holl. 10. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 691). ISBN 978-3-518-28291-3.</ref>) ''<br />
<br />
: ''So zeigte er, dass es grundsätzlich beim Lernen oder bei Verhaltensänderungen immer um Unterschiede geht, die für das einzelne Individuum oder ein bestimmtes System überhaupt einen Unterschied ausmachen. Natürlich ist die Grundlage dafür der Bau und das Spektrum eines Wahrnehmungssystems, so dass Unterschiede, die sich außerhalb des Spektrums befinden, zu kleine oder zu langsame Unterschiede nicht wahrgenommen werden können. Grundsätzlich gilt aber: Was für jemanden einen erfahr- und wahrnehmbaren, verhaltensrelevanten Unterschied darstellt, kann für jemand anderen – oder mit sehr viel höherer Wahrscheinlichkeit für ein Tier oder eine Pflanze – keinen Unterschied ausmachen; dies hängt letztlich ganz und gar vom einzelnen Individuum ab. (vgl. Bateson 2014, S. 118 ff.<ref>ebd.</ref>)<br />
<br />
: '''''Lernen durch die Erfahrung von Unterschieden'''''<br>''Genau vor diesem kybernetischen Hintergrund ist die Kinästhetik aus pädagogischer Sicht in höchstem Maße individualisierend und baut auf eigenverantwortlichem Lernen auf. Die Kinästhetik beginnt immer bei den Unterschieden, die Sie mit Ihren individuellen Voraussetzungen und mit Ihrer persönlichen Bewegungsgeschichte feststellen können. Sie liefert Ihnen keine Theorie, wie Sie sich richtig bewegen sollen, sondern ein außerordentlich differenziertes System von Blickwinkeln, mit denen Sie lernen können, auf Ihre eigene Bewegung zu achten und sie bewusst zu regulieren. (vgl. European Kinaesthetics Association 2020b, S. 56–57 und Infobox S. 61<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7.<br><br />
1. Auflage: 2012<br>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7.<br><br />
1. Auflage: 2012<br></ref>)''<br />
<br />
: ''Dabei wird davon ausgegangen, dass Sie wohl am meisten über Ihr ‚richtiges‘ Sitzen lernen, wenn Sie versuchen, im konkreten Tun auf Unterschiede und Qualitäten zu achten, die Ihnen persönlich erfahrbar sind, und dabei lernen, sich auf dieser Grundlage an den gegebenen Moment anzupassen.''<br />
<br />
: ''Darum kann die Kinästhetik mit den Worten des Neurobiologen F. J. Varela als eine [[1.-Person-Methode]] bezeichnet werden (vgl. European Kinaesthetics Association 2020b, S. 9 f. und Infobox S. 62 f.<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7.<br><br />
1. Auflage: 2012<br></ref>).“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 60–61.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]<br />
[[Kategorie:Lernen]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Unterschied&diff=4902
Unterschied
2023-12-20T11:21:02Z
<p>Lutz Zierbeck: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N. /Joachim Reif}}<br />
<br />
'''''Zusammenfassung:<br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus dem einschlägigen Zitaten zum Thema „Unterschied“ aus den Büchern „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ und „Kybernetik und Kinästhetik“. Sie thematisieren die Bedeutung des Unterschieds für Wahrnehmung und Lernen gemäß der Definition von Gregory Bateson, dass Informationen aus Unterschieden bestehen, die für das einzelne Individuum einen Unterschied ausmachen. Hervorgehoben wird ebenso die Bedeutung für die Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung und -regulation durch die persönliche, konkrete Erfahrung im Rahmen der Kinästhetik.<br />
<br />
== Unterschied in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat ist in das fünfte Kapitel „Lernen: Allgemeine Blickpunkte“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel thematisieren die „Bedeutung des Begriffs Lernen im Alltag“, das „Fehlen einer umfassenden wissenschaftlichen Theorie des Lernens“, „Lernen, Erfahrung und Denken“ und die „Grundfunktionen des Lernens“. Das Zitat ist der Text des fünften Unterkapitels „Unterschiede führen zu bedeutsamen Unterscheidungen“.<br />
: ''„Aus dem kybernetischen Blickwinkel von Kinaesthetics spielen '''Unterschiede''' beim Wahrnehmen, Erkennen und Lernen eine zentrale Rolle.''<br />
<br />
: ''Gregory Bateson (1904–1980), ein weiterer Pionier der Kybernetik, präzisierte diese Tatsache mit der Formulierung: ‚Informationen bestehen aus Unterschieden, die einen Unterschied machen‘ (Bateson 2014, S. 123<ref>'''Bateson, Gregory (2014):''' Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Übersetzt von Hans Günter Holl. 10. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 691). ISBN 978-3-518-28291-3. <br />
1. Auflage: 1987. Erstausgabe: 1982. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (ISBN 978-3-518-57603-8).<br />
Originalausgabe: vgl. Bateson, Gregory (1979)</ref>). Das heißt, der Unterschied muss vom einzelnen Lebewesen als solcher wahrgenommen werden (können), um zu einer Information zu werden, die es in einem Lernprozess verwenden kann.''<br />
<br />
: ''Was bedeutet diese Definition einer Information? Es leuchtet ein, dass Delphine mittels Echo-Ortung Unterschiede wahrnehmen, die für uns keine Unterschiede ausmachen können, oder dass Raubvögel mit ihren Augen aus großen Entfernungen Unterschiede wahrnehmen können, die für uns zu klein sind. Ihre Lernprozesse und ihre innere ‚Konstruktion‘ der Welt müssen ganz anders gestaltet sein als unsere.''<br />
<br />
: ''Das folgende Beispiel soll die Bedeutung der Definition für das Verständnis unserer Wahrnehmung und unserer Lernprozesse beleuchten: Der Dirigent eines Symphonie-Orchesters hört Unterschiede, die wir als Laien nicht hören. Gewiss können wir lernen, solche Unterschiede wahrzunehmen, indem wir unser Gehör sensibilisieren. Bei einem solchen Lernprozess ist aber wiederum von entscheidender Bedeutung, ob wir mit unseren individuellen Voraussetzungen die entsprechenden Unterschiede als solche wahrnehmen können, ob sie für uns einen Unterschied ausmachen. Es wird uns dabei zu Beginn nicht möglich sein, allzu feine Unterschiede, die für den erfahrenen Dirigenten deutlich wahrnehmbar sind, festzustellen, und wir werden nicht auf Anhieb fähig sein, 30 verschiedene Instrumente ‚einzeln‘ zu hören.''<br />
<br />
: ''Aus kybernetischer Sicht wird dieser Sachverhalt treffender so beschrieben: Wir können nicht auf Anhieb Unterschiede zwischen 30 Instrumenten in uns produzieren. Denn aus dieser Perspektive ist die Wahrnehmung ein aktiver [[Feedback-Control-Theorie|Feedback-Prozess]] eines Individuums und nicht ein passives, ‚mechanisches‘ Empfangen (z. B. von Schallwellen).''<br />
<br />
: ''Bei der Steuerung unseres Verhaltens produzieren wir fortlaufend durch unsere eigene Bewegung Unterschiede, nehmen sie wahr und vergleichen konstant die Ist-Werte und die Soll-Werte. Dieser Regelkreis ermöglicht die notwendigen, ständigen Anpassungsleistungen der Selbststeuerung.''<br />
<br />
: ''Wie das Gehör können wir auch unsere Bewegungswahrnehmung sensibilisieren und lernen, auf immer feinere und vielfältigere Unterschiede in der Steuerung unserer Bewegung zu achten. Als Werkzeug zur Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung dient in Kinaesthetics das Konzeptsystem. Es ist ein differenziertes System von Unterscheidungen, die für jeden Menschen individuell erfahrbar sind. Bei den [[Bewegungselemente|Bewegungselementen]] ‚Raum‘ und ‚Zeit‘ geht es z. B. um groß – klein, viel – wenig, schnell – langsam, in der Funktionalen Anatomie um hart – weich, veränderlich – robust usw. Sie dienen als Fokus für das Lernen in Bewegungserfahrungen.''<br />
<br />
: ''Unterschiede bzw. Unterscheidungen spielen in Kinaesthetics grundsätzlich eine zentrale Rolle. So sind z. B. die Unterschiede zwischen der eigenen Bewegung und derjenigen einer PartnerIn in den [[Partnererfahrung|Partnererfahrungen]] eine treibende Kraft des Lernens. In den gemeinsamen Reflexionen sind es die Unterschiede zwischen den einzelnen Beschreibungen der Erfahrungen.''<br />
<br />
: ''Kinaesthetics-Lernsequenzen sind oft so angelegt, dass am Ende die aktuell erreichte Situation mit der Ausgangslage verglichen werden kann, z. B. durch die Vergleichsaktivitäten A1 – A2 im [[Lernzyklus]]. Durch solche Unterschiedserfahrungen wird der Lern- und Kompetenzzuwachs in der Reflexion fassbar, was ein bewusstes und differenziertes Lernen fördert. Mit Ihren Notizen treffen Sie dabei Entscheidungen über Unterschiede und Unterscheidungen, die für Sie persönlich Bedeutung haben.“''<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Der gekochte Frosch'''“:<br />
: ''„Gregory Bateson verwendet die folgende, als quasi-wissenschaftlich bezeichnete Fabel, um deutlich zu machen, dass ‚wir [uns] fast immer unbewusst sind über die Trends in den Veränderungen unseres Zustandes. ... Wenn man einen Frosch dazu bringen kann, ruhig in einem Topf mit kaltem Wasser sitzen zu bleiben, und wenn man dann die Wassertemperatur sehr langsam und sanft erhöht, so dass es keinen Augenblick gibt, der sich als der Augenblick ‚abhebt‘, in dem der Frosch springen sollte, dann wird er niemals springen. Er wird gekocht werden.' (Bateson 2014, ebd., S. 122.) Durch diese Fabel wird verständlich, warum wir langsame Entwicklungen und Lernprozesse von uns selbst sehr viel schwerer feststellen als schnelle und unterscheidbare Veränderungen und Lernerfolge.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 56–57.<br />
<br />
== Unterschied in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“, und zwar aus dem abschließenden sechsten Kapitel „Kinästhetik ist praktische Kybernetik“. Das Zitat ist eingebettet in das zweite Unterkapitel „Selbstregulation und persönliches Lernen“. Vorausgehend wird die Frage „Wie reguliere ich mich“ thematisiert. Das Zitat ist der Text der nachfolgenden Themen „Der Unterschied“ und „Lernen durch die Erfahrung von Unterschieden“.<br />
: „'''''Der Unterschied'''''<br>''Wenn Sie die einleitende Bewegungsanleitung ausgeführt haben, konnten Sie feststellen, dass Sie in erster Linie dazu aufgefordert wurden, auf für Sie erfahrbare '''Unterschiede''' zu achten. Die Absicht dabei war selbstverständlich, dass Sie dadurch etwas lernen.''<br />
<br />
: ''Nun lässt sich in jedem größeren Universallexikon nachschlagen, dass aus wissenschaftlicher Perspektive eine umfassende Theorie des Lernens nach wie vor fehlt (vgl. European Kinaesthetics Association 2020b, S. 52f.<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7.</ref>). Hinter der zentralen Rolle, die Unterschiede in der Kinästhetik spielen, stehen gewichtige Beiträge der Kybernetik zum Thema Lernen, die nur zögerlich eine Umsetzung im pädagogischen Alltag unseres Kulturkreises finden.''<br />
<br />
: ''Ein Kybernetiker, der sich brennend für das Thema Lernen interessierte, war Gregory Bateson. Auch wenn er selbst nach vielen Jahren sein früheres Modell einer umfassenden Lerntheorie verwarf, enthalten dieses und sein Lebenswerk – auch nach seiner eigenen Meinung – außerordentlich stimmige Argumentationen und Gedanken über das Lernen von Lebewesen. (Bateson 2017, S. 362–399<ref>'''Bateson, Gregory (2017):''' Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Übersetzt von Hans Günter Holl. 12. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-28171-0. <br />
1. Auflage: 1985. Erstausgabe: 1981. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (ISBN 978-3-518-07539-5).<br />
Originalausgabe (1995): Steps to an Ecology of Mind, Collected Essays in Anthropology, Psychiatry, Evolution and Epistemology. Copyright © 1972 by Chandler Publishing Company.</ref>) Er prägte bezüglich der Funktionsweise jeglicher Wahrnehmungssysteme (und als simple Definition einer Information bzw. von 1 bit) die Formulierung: ‚Information consists of differences that make a difference.‘ (Bateson 1979, S. 99<ref>'''Bateson, Gregory (1979):''' Mind And Nature. A Necessary Unity. New York: E. P. Dutton. ISBN 0-525-15590-2.</ref>; ‚Informationen bestehen aus Unterschieden, die einen Unterschied machen‘, Bateson 2014, S. 123<ref>'''Bateson, Gregory (2014): ''' Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Übersetzt von Hans Günter Holl. 10. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 691). ISBN 978-3-518-28291-3.</ref>) ''<br />
<br />
: ''So zeigte er, dass es grundsätzlich beim Lernen oder bei Verhaltensänderungen immer um Unterschiede geht, die für das einzelne Individuum oder ein bestimmtes System überhaupt einen Unterschied ausmachen. Natürlich ist die Grundlage dafür der Bau und das Spektrum eines Wahrnehmungssystems, so dass Unterschiede, die sich außerhalb des Spektrums befinden, zu kleine oder zu langsame Unterschiede nicht wahrgenommen werden können. Grundsätzlich gilt aber: Was für jemanden einen erfahr- und wahrnehmbaren, verhaltensrelevanten Unterschied darstellt, kann für jemand anderen – oder mit sehr viel höherer Wahrscheinlichkeit für ein Tier oder eine Pflanze – keinen Unterschied ausmachen; dies hängt letztlich ganz und gar vom einzelnen Individuum ab. (vgl. Bateson 2014, S. 118 ff.<ref>ebd.</ref>)<br />
<br />
: '''''Lernen durch die Erfahrung von Unterschieden'''''<br>''Genau vor diesem kybernetischen Hintergrund ist die Kinästhetik aus pädagogischer Sicht in höchstem Maße individualisierend und baut auf eigenverantwortlichem Lernen auf. Die Kinästhetik beginnt immer bei den Unterschieden, die Sie mit Ihren individuellen Voraussetzungen und mit Ihrer persönlichen Bewegungsgeschichte feststellen können. Sie liefert Ihnen keine Theorie, wie Sie sich richtig bewegen sollen, sondern ein außerordentlich differenziertes System von Blickwinkeln, mit denen Sie lernen können, auf Ihre eigene Bewegung zu achten und sie bewusst zu regulieren. (vgl. European Kinaesthetics Association 2020b, S. 56–57 und Infobox S. 61<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7.<br><br />
1. Auflage: 2012<br>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7.<br><br />
1. Auflage: 2012<br></ref>)''<br />
<br />
: ''Dabei wird davon ausgegangen, dass Sie wohl am meisten über Ihr ‚richtiges‘ Sitzen lernen, wenn Sie versuchen, im konkreten Tun auf Unterschiede und Qualitäten zu achten, die Ihnen persönlich erfahrbar sind, und dabei lernen, sich auf dieser Grundlage an den gegebenen Moment anzupassen.''<br />
<br />
: ''Darum kann die Kinästhetik mit den Worten des Neurobiologen F. J. Varela als eine [[1.-Person-Methode]] bezeichnet werden (vgl. European Kinaesthetics Association 2020b, S. 9 f. und Infobox S. 62 f.<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7.<br><br />
1. Auflage: 2012<br></ref>).“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 60–61.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]<br />
[[Kategorie:Lernen]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Viabilit%C3%A4t&diff=4901
Viabilität
2023-12-20T10:51:06Z
<p>Lutz Zierbeck: </p>
<hr />
<div><br />
{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Sabine Kaserer}}<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Die ersten beiden Kapitel dieses Artikels sind mit Fachliteratur angelegt. Sie bestehen aus einschlägigen Zitaten zum Thema Viabilität. Mit Viabilität bezeichnet Ernst von Glasersfeld Lösungswege, die sich an der Gang- und Brauchbarkeit im Kontext von Problemstellung und Absicht orientieren. Er benutzt das Wort „passend“ als Synonym von „viabel“.<br />
<br />
== Viabilität in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das erste Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“. Der Begriff Viabilität kommt in den Büchern von Hatch und Maietta sowie in den weiteren Büchern des EKA-Verlags („Konzeptsystem“, „Kybernetik und Kinästhetik“) nicht vor. Zahlreiche Belege in der Zeitschrift „lebensqualität/LQ“ weisen hingegen darauf hin, dass insbesondere der Begriff „viabel handeln“ im EKA-Netzwerk gängig verwendet wird und eine wichtige Rolle spielt. Dies wird hier mit vier Beispielen aufgezeigt. Abschließend folgt im dritten Kapitel ein Fachartikel mit den einschlägigen Zitaten zu Viabilität/viabel aus den Werken von Ernst von Glasersfeld.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“. Es ist in das 3. Kapitel „Bewegungskompetenz – das zentrale Thema“ eingebettet. Das Kapitel beschreibt zuerst die Bedeutung der Bewegungskompetenz. Im Unterkapitel 3.1.3 werden aus der Perspektive der Erfahrbarkeit die Komponenten und Faktoren beschrieben, die im Zusammenspiel die Bewegungskompetenz ausmachen und helfen, sie bewusst zu entwickeln. <br />
<br />
Der zitierte Text stammt aus der Infobox „Viabel/Viabilität“<br />
: ''„Der Philosoph Ernst von Glasersfeld (1917–2010) führte diese Begriffe im Rahmen des von ihm begründeten ‚radikalen Konstruktivismus' in die wissenschaftliche Diskussion ein. Sie bezeichnen die Lösung eines Problems, die sich nicht an der Idee der (‚wissenschaftlichen') Wahrheit, an der Idee von richtig und falsch orientiert, sondern an der Gang- oder Brauchbarkeit im Kontext der Problemstellung und der verfolgten Absicht – im Wissen, dass es viele gangbare Lösungswege gibt. Glasersfeld braucht das Wort ‚passend‘ (in Bezug auf Kontext und Absicht) als Synonym von '''‚viabel‘'''.“''<br />
Im Fließtext des Unterkapitels 3.1.3 „Komponenten der Bewegungskompetenz“ findet sich im 3. Absatz der Begriff „Viabel Handeln“:<br />
: '' „Im Folgenden werden aus der Perspektive der Erfahrbarkeit die Komponenten und Faktoren beschrieben, die im Zusammenspiel die Bewegungskompetenz ausmachen und helfen, sie bewusst zu entwickeln. Auf der Grundlage der Feedback-Kontroll-Theorie (vgl. Kapitel 4.3.) beleuchten die ersten beiden Komponenten dieses Modells die Faktoren der Sensibilisierung der Wahrnehmung und der Entwicklung einer differenzierten Bewegung, die dritte Komponente die Faktoren der Verhaltenssteuerung. Sie werden aus der Ich-Perspektive dargestellt. [...]''<br />
: <big>'''''Viabel''' handeln: Die Entwicklung produktiver Verhaltensmöglichkeiten</big> <br> Ich kann gleichzeitig eine komplexe Herausforderung des Alltags bewältigen, auf die Qualität meiner eigenen Bewegung achten und dadurch mein Verhalten passend und zum Ziel führend steuern. Ich bin imstande, meine eigene Bewegung bewusst und produktiv an meine individuellen Voraussetzungen, an diejenigen von InteraktionspartnerInnen sowie an die Absicht und den Verlauf der Situation anzupassen. Ich bin in der Lage, die Achtsamkeit auf meine Bewegung im Verlauf einer Situation differenziert zu lenken und so die eigene Bewegung möglichst optimal am Kriterium von Lernen und Entwicklung zu orientieren.“ '' <br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S.33<br />
<br />
== Viabilität/viabel handeln in der Zeitschrift „lebensqualität/LQ“ ==<br />
{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Sabine Kaserer}}<br />
=== lebensqualität 01/2013: „Die Wirkung liegt nicht in der Maßnahme. Umgang mit Methoden“ ===<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Rubrik „thema“ der Zeitschrift „lebensqualität“ 01/2013. Ute Kirov und Stefan Knobel beleuchten in diesem Artikel die Gefährlichkeit von Handlungsanleitungen, die dazu führen, dass die Achtung auf die Maßnahme statt auf das individuelle Verhalten im Zentrum steht. Unter der Überschrift „Kompetenz und Selbstverantwortung“ thematisieren sie vor diesem Hintergrund gegen den Schluss die Bedeutung des viablen Handelns.<br />
: ''„'''Viabel handeln ''' <br> Heinz von Foerster drückte es so aus: ‚Handle stets so, dass sich die Anzahl der Möglichkeiten vergrößert‘ (von Foerster 2004, S. 36<ref>'''Foerster, Heinz von; Pörksen, Bernhard (2019):''' Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. 12. Auflage. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg (Systemische Horizonte). ISBN 978-3-89670-646-1. S. 36</ref>). Und genau darum geht es, wenn ich mit einem Menschen in Bewegung komme, der meine Hilfe braucht. Wir können zwar den anderen nicht verändern, aber wir können uns verändern. In unserem eigenen Verhalten haben wir die Wahl. Wir können unser Verhalten an Bewegungs-Antworten des Anderen anpassen. Wir können lernen, viabel zu handeln. Das heißt auf Deutsch: Ich kann lernen, im richtigen Moment das Passende zu tun. Und darin liegt das große Potenzial des pflegerischen Angebotes. Anstatt allzu viel vorauszuplanen, muss die unterstützende Person in der Lage sein, während der Interaktion das eigene Handeln zu variieren und an das Verhalten des anderen anzupassen.“''<br />
Quelle: '''Kirov, Ute; Knobel, Stefan (2013):''' Die Wirkung liegt nicht in der Maßnahme. Umgang mit Methoden. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2013, Nr. 1. S. 8.<br />
<br />
=== lebensqualität 01/2016: „Der Schlüssel zur Qualität. Teil 3: Kinaesthetics als Führungsinstrument“ ===<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Rubrik „thema“ der Zeitschrift „lebensqualität“ 01/2016. Elisabeth Nachreiner beleuchtet in diesem Artikel die Problematik des gängigen Qualitätsmanagements, das mit Standards bzw. der Beschreibung und Überprüfung genau festgelegter Prozesse pflegerische Qualität zu gewährleisten versucht. Ihre Begegnung mit Kinaesthetics führte sie und ihre Institution zu einem Qualitätsverständnis, das den einzelnen Menschen und Viabilität statt Standards in den Mittelpunkt stellt. <br />
: ''„'''Viabel handeln ''' <br> Der Qualitätsgedanke war ein völlig neuer. Wir stellten fest, dass es keine Standards braucht, sondern dass wir '''viabel''' handeln, uns an die jeweilige Situation anpassen müssen. ‚Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen sind dann viabel, wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen.‘ (v. Glasersfeld 1997, S. 43<ref>'''Glasersfeld, Ernst von (2011): ''' Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. Übersetzt von Wolfram Karl Köck. 7. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1326). ISBN 978-3-518-28926-6. S.&nbsp;43.</ref>) Es nützt nichts, Prozesse zu beschreiben, weil es sowieso anders kommt. Wir brauchen die Kompetenz, jeden Tag die Unterstützungen geben zu können, die im Moment erforderlich sind – nicht mehr und nicht weniger.“''<br />
<br />
Quelle: '''Nachreiner, Elisabeth (2016):''' Der Schlüssel zur Qualität. Teil 3: Kinaesthetics als Führungsinstrument. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2016, Nr. 1. S. 15–16.<br />
<br />
=== lebensqualität 03/2016: „Es gibt keinen ‚kinästhetischen Knietransfer‘. Kritische Anmerkungen zu einem gängigen Ausdruck.“ ===<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Rubrik „praxis“ der Zeitschrift „lebensqualität“ 03/2016. Axel Enke beleuchtet in diesem Artikel die Problematik standardisierter „Bewegungstechniken vor dem Hintergrund der Idee der Viabilität. Er zeigt auf, inwiefern der gängige Begriff des kinästhetischen Knietransfers im Widerspruch dazu steht.<br />
: '' '''„<big>Viabel</big><br> Die Definition ''' <br> Der Begriff ‚'''viabel‘''' geht auf den Konstruktivisten Ernst von Glasersfeld zurück. Er bedeutet gangbar, brauchbar oder passend, und zwar in dem Sinn, dass es bei der Verwirklichung einer Absicht nicht einen bestimmten richtigen Weg gibt, sondern unzählige brauchbare und passende Möglichkeiten.''<br />
:'''''Die Bedeutung für die Pflege''' <br> Kinaesthetics verknüpft die Bedeutung dieses Begriffes insbesondere mit Interaktionen, da sich hier zwei oder mehr Menschen aneinander anpassen müssen. Gerade von professionellen HelferInnen wird erwartet, dass sie sich individuell und brauchbar an das Verhalten des anderen anpassen können. Diese Kompetenz ist erlernbar und ein zentraler Aspekt in Kinaesthetics. “''<br />
<br />
Quelle: '''Enke, Axel (2016):''' Es gibt keinen „kinästhetischen Knietransfer“. Kritische Anmerkungen zu einem gängigen Ausdruck. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2016, Nr. 3. S. 32.<br />
<br />
=== LQ 03/2017: „Liegen Sie bequem? Positionsunterstützung in der Endoskopie“ ===<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Rubrik „praxis“ der Zeitschrift „LQ“ 03/2017. Heike Brenner beleuchtet in diesem Artikel mit einem Beispiel, welche Bedeutung die Kinästhetik im Funktionsbereich der Endoskopie haben kann. Zu Beginn erläutert sie unter der Überschrift „Viabel handeln auf der Funktionsabteilung“, wie ihr dies bewusst geworden ist. <br />
: '' In der gezielten Auseinandersetzung mit meiner eigenen Bewegungskompetenz entdeckte ich, dass es in Kinaesthetics nicht um ‚schneller, höher, stärker‘ und auch nicht um ‚Griffe‘ oder konkrete Handlungsanleitungen geht. Vielmehr geht es darum, Bewegung mithilfe der verschiedenen Kinaesthetics- Konzeptblickwinkel wahrzunehmen und verstehen zu lernen. Weiterhin verstand ich, dass es bei verschiedenen Bewegungsunterstützungen wichtig ist, Bewegungsunterschiede analysieren zu können, Bewegungsalternativen zu finden und schließlich aus einem Pool gefundener Bewegungsideen das Passende für die jeweilige Situation herauszusuchen – sprich, '''viabel''' handeln zu können.“''<br />
<br />
Quelle: '''Brenner, Heike (2017):''' Liegen Sie bequem? Positionsunterstützung in der Endoskopie. In: LQ. kinaesthetics – zirkuläres denken – lebensqualität. 2017, Nr. 3. S. 40.<br />
<br />
== Viabilität/viabel bei Ernst von Glasersfeld ==<br />
{{Infobox|vorläufig abgeschlossen|Stefan Marty-Teuber/Sabine Kaserer}}<br />
=== „Einführung in den Konstruktivismus“ (erste Ausgabe 1985) ===<br />
Dieser Sammelband mit Beiträgen verschiedener AutorInnen, die in den Rahmen des Konstruktivismus gestellt werden können, enthält den Aufsatz „Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität“<ref>'''Foerster, Heinz von, u. a. (1992):''' Einführung in den Konstruktivismus. Beiträge von Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld, Peter M. Hejl, Siegfried J. Schmidt, Paul Watzlawick. München, Zürich: Piper (Veröffentlichungen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung. Herausgegeben von Heinz Gumin und Heinrich Meier. Band 5. Serie Piper 1165). ISBN 978-3-492-11165-2. S. 9</ref> von Ernst von Glasersfeld. An die Themen der skeptischen Tradition, von Wissen und Wissenschaft, des unbeliebten Instrumentalismus schließt sich das Kapitel „Funktion statt Isomorphie“<ref>ebd. S. 18</ref> an. In diesem weist von Glasersfeld darauf hin, dass er sich seit fünfzehn Jahren mit der Ausarbeitung der konstruktivistischen Denkweise befasst habe. Für ihn liegt der Unterschied zur philosophischen Tradition darin, dass ''„sie das herkömmliche Verhältnis zwischen der Welt der faßbaren Erlebnisse und der ontologischen Wirklichkeit durch ein anderes begriffliches Verhältnis ersetzt“''<ref>ebd.</ref>. Traditionell wurde stets als natürlich und unabdingbar vorausgesetzt, dass die eigenen Erlebnisse und die Wirklichkeit gleichförmig sind, übereinstimmen oder zumindest korrespondieren. Nach dem Postulat des radikalen Konstruktivismus ist diese Beziehung grundsätzlich andersartig und kann mit den Begriffen Kompatibilität oder Viabilität charakterisiert werden. <br />
<br />
Von Glasersfeld verweist darauf, dass er den Begriff Viabilität in Anlehnung an das englische Wort Viability gewählt habe. In einer Fußnote erwähnt er als ursprüngliche Bedeutung „Gangbarkeit“ und die daran anschließende entwicklungsgeschichtliche Verwendung ''„für die Überlebensfähigkeit von Arten, Individuen und Mutationen“''<ref>ebd.</ref>, in welchem Sinn er den Begriff in der Erkenntnistheorie verwendet habe.<br />
<br />
Durch den Begriff Viabilität gründe sich die Beziehung zwischen den eigenen Erlebnissen und der Wirklichkeit ''„auf den Begriff des Passens im Sinne des Funktionierens“''<ref>ebd. S. 19</ref>. Dies stehe im Gegensatz zur traditionellen Auffassung, die ikonisch sei, also der Idee der Abbildung verpflichtet, und davon ausgehe, dass eine gewisse Übereinstimmung bestehe, die begrifflich auf Gleichförmigkeit oder Isomorphie beruhe. Im Anschluss veranschaulicht von Glaserfeld diesen Unterschied mit einem metaphorischen Beispiel.<br />
: ''„Ein metaphorisches Beispiel mag den Unterschied greifbarer machen. Ein blinder Wanderer, der den Fluß jenseits eines nicht allzu dichten Waldes erreichen möchte, kann zwischen den Bäumen viele Wege finden, die ihn an sein Ziel bringen. Selbst wenn er tausendmal liefe und alle die gewählten Wege in seinem Gedächtnis aufzeichnete, hätte er nicht ein Bild des Waldes, sondern ein Netz von Wegen, die zum gewünschten Ziel führen, eben weil sie die Bäume des Waldes erfolgreich vermeiden. Aus der Perspektive des Wanderers betrachtet, dessen einzige Erfahrung im Gehen und zeitweiligen Anstoßen besteht, wäre dieses Netz nicht mehr und nicht weniger als eine Darstellung der bisher verwirklichten Möglichkeiten, an den Fluß zu gelangen. Angenommen der Wald verändert sich nicht zu schnell, so zeigt das Netz dem Waldläufer, wo er laufen kann; doch von den Hindernissen, zwischen denen alle diese erfolgreichen Wege liegen, sagt es ihm nichts, als daß sie eben sein Laufen hier und dort behindert haben. In diesem Sinn ‚paßt‘ das Netz in den ‚wirklichen‘ Wald, doch die Umwelt, die der blinde Wanderer erlebt, enthält weder Wald noch Bäume, wie ein außenstehender Beobachter sie sehen könnte. Sie besteht lediglich aus Schritten, die der Wanderer erfolgreich gemacht hat, und Schritten, die von Hindernissen vereitelt wurden.“<ref>ebd.</ref>''<br />
An die folgenden Kapitel „Die erlebte Umwelt“<ref>ebd. S. 20</ref>, „Auslese und Viabilität“<ref>ebd. S. 23</ref>, „Evolutionäre Epistemologie“<ref>ebd. S. 27</ref> und „Der konstruktive Vorschlag“<ref>ebd. S. 29</ref> schließt sich das Kapitel „Stufen der Wirklichkeit“<ref>ebd. S. 31</ref> an. Von Glaserfeld geht hier auf den Einwand ein, dass der Begriff Objektivität aufgegeben werde, wenn Wissen bzw. die als dieses betrachteten kognitiven Strukturen keine Übereinstimmung mit einer unabhängig existierenden Wirklichkeit aufweisen würden, sondern nur ''„auf Grund ihrer instrumentalen Funktion bewertet werden“''<ref>ebd.</ref>. Zur Idee der Objektivität zitiert er in einer Fußnote den Satz ''„Objektivität ist die Wahnvorstellung eines Subjekts, dass es beobachten könnte ohne sich selbst“''<ref>ebd.</ref> von Heinz von Foerster. Er verweist darauf, dass dies bereits die Vorsokratiker entdeckt hätten und die Philosophie nichtsdestotrotz an der Vorstellung eines einzigen wahren Wissens festhalte, weil derselbe „wirkliche“ Sachverhalt unmöglich von verschiedenen kognitiven Strukturen wahrheitsgetreu widerspiegelt werden könne. Unter klarer Bezugnahme auf Viabilität stellt er darauf die Perspektive des radikalen Konstruktivismus dar.<br />
: ''„Da Wissen für den Konstruktivisten nie Bild oder Widerspiegelung der ontischen Wirklichkeit darstellt, sondern stets nur einen möglichen Weg, um zwischen den ‚Gegenständen‘ durchzukommen, schließt das Finden eines befriedigenden Wegs nie aus, daß da andere befriedigende Wege gefunden werden können. Darum kann, vom konstruktivistischen Gesichtspunkt aus, auch nie ein bestimmter gangbarer Weg, eine bestimmte Lösung eines Problems oder eine bestimmte Vorstellung von einem Sachverhalt als die objektiv richtige oder wahre bezeichnet werden.“<ref>ebd. S. 32</ref>''<br />
Im Schlussteil seines Aufsatzes bespricht von Glasersfeld die Möglichkeit, zum ''„Aufbau der ‚objektiven‘ Wirklichkeit“''<ref>ebd. S. 36</ref> - so die Überschrift des letzten inhaltlichen Kapitels – zu gelangen. Er begründet sie durch die menschliche Fähigkeit zur Selbstreflexion bzw. zur Reflexion wiederholter Erfahrungen, aus der Stufen der Wirklichkeitskonstruktion entstehen<ref>ebd. S. 32 f.</ref>, und durch die Möglichkeit, die Erfahrungen anderer Menschen durch sprachliche Interaktion in die eigene Wirklichkeitskonstruktion einzubeziehen<ref>ebd. S. 33 ff.</ref>. Dass Erlebtes von anderen bestätigt wird, verleihe ihm zwar keine unabhängige Existenz im Sinn der Ontologie, der Lehre vom Seienden.<br />
: ''„Doch – und das ist weitaus wichtiger – solche Bestätigung zeigt, daß die jeweiligen kognitiven Strukturen (die Begriffe, Beziehungen und Regeln), die man im Aufbau des Erlebnisses verwendet hat, in zwei verschiedenen Kontexten '''viabel''' sind: erstens im Kontext des eigenen Ordnens und Organisierens, des Erlebens und zweitens im Kontext des Modells, das man sich von dem anderen aufgebaut hat. Dieser zweite Kontext entsteht eben dadurch, daß wir uns nach und nach Modelle von anderen zurechtlegen, denen wir unsere eigenen Fähigkeiten zuschreiben und schließlich auch unsere eigenen Begriffe und Vorstellungen von der Erlebenswelt. Wenn diese Begriffe und Vorstellungen sich dann auch in den Modellen der anderen als viabel erweisen, dann gewinnen sie eine Gültigkeit, die wir mit gutem Recht ‚objektiv‘ nennen können.“<ref>ebd. S. 37</ref>''<br />
<br />
=== „Radikaler Konstruktivismus“ (deutsche Erstauflage 1997) ===<br />
Im Kapitel „Von mentalen Operationen zur Konstruktion der Wirklichkeit“<ref>'''Glasersfeld, Ernst von (2011): ''' Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. Übersetzt von Wolfram Karl Köck. 7. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1326). ISBN 978-3-518-28926-6. S.&nbsp;41</ref>verweist Ernst von Glasersfeld zu Beginn darauf, dass der Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896–1980) nicht als Erster vertreten hat, dass der Mensch seine Begriffe und das Bild seiner Lebenswelt konstruiert, als Erster aber aus entwicklungspsychologischer Perspektive zu dieser Aussage gelangt ist. Er selbst sei durch die Tatsache, dass er mit mehreren Sprachen aufwuchs, gedrängt worden zu fragen, woher Wissen komme und wie es aufgebaut werde. Deshalb liegt es für ihn wie für Piaget auf der Hand, die kindliche Entwicklung heranzuziehen. Aus der Sicht der traditionellen Philosophie, die auf der Grundlage von zeitloser Logik und nicht von Entwicklung Erkenntnisse sucht, ist dies allerdings eine Todsünde bzw. ein Fehlschluss. Darauf erläutert von Glasersfeld, wie Piaget bereits 1937 im Rahmen seiner genetischen Erkenntnistheorie ein Modell bzw. Bezugssystem einführte (Begriffsstruktur der Gegenstände, Raum, Zeit und Kausalität). In diesem können Kinder eine zusammenhängende Wirklichkeit ihrer Erfahrungen konstruieren und von wenig zufriedenstellendem Wissen zu angemessenerem Wissen gelangen. Für von Glasersfeld erweitert Piaget hier seine oft wiederholte Aussage, ''„dass Erkenntnis kein Bild der realen Welt ist“''<ref>ebd. S. 42</ref>. Er betont, dass sich traditionelle ErkenntnistheoretikerInnen durch diese Aussagen in ihrem Glauben nicht erschüttern lassen, dass besseres Wissen die Realität des Seienden auch besser abbildet. Im Anschluss führt er im Zusammenhang mit diesen Themen den von ihm verwendeten Begriff Viabilität ein: <br />
<br />
: ''„Die Anhänger wie die Kritiker Piagets vernachlässigen folglich oft in ihren Schriften, daß Piaget als Biologe angefangen hat und daß er Erkenntnis als ein Instrument der Anpassung verstand, also als ein Werkzeug, mit dem wir uns in die Welt unserer Erfahrung einfügen.<br>Da die Ausdrücke ‚Anpassung‘ und ‚angepaßt‘ häufig mißverstanden werden (siehe unten, 2. Kapitel) und der Ausdruck ‚angemessen‘ oder ‚adäquat‘ gewöhnlich utilitaristisch aufgefaßt wird, verwende ich den biologischen Ausdruck '''Viabilität'''. Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen sind dann '''viabel''', wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen. Nach konstruktivistischer Denkweise ersetzt der Begriff der Viabilität im Bereich der Erfahrung [Bereich der Erfahrung: im Orig. kursiv] den traditionellen philosophischen Wahrheitsbegriff, der eine ‚korrekte‘ Abbildung der Realität [Abbildung der Realität: im Orig. kursiv] bestimmt. Diese Substitution ändert natürlich nichts am Alltagsbegriff der Wahrheit, der die getreuliche Wiederholung oder Beschreibung einer Erfahrung [ im Orig. kursiv] bedeutet.<br>Für diejenigen, die an Erkenntnis als Abbildung glauben, bewirkt diese radikale Veränderung des Begriffs der Erkenntnis und seines Bezugs zur Realität einen furchtbaren Schock. Sie schließen direkt daraus, daß die Ablehnung der Abbildungsvorstellung gleichbedeutend ist mit dem Leugnen der Realität schlechthin, was freilich töricht wäre. Die Welt unserer Erfahrung ist ja kaum je so, wie wir sie gerne hätten. Dies schließt jedoch nicht aus, daß wir unser Wissen davon selbst konstruiert haben.“<ref>ebd. S. 43</ref>''<br />
<br />
Im Folgenden charakterisiert von Glasersfeld den radikalen Konstruktivismus als ''„eine besondere Art, Wissen zu begreifen, und zwar Wissen nicht nur als Ergebnis, sondern auch als Tätigkeit“''<ref>ebd.</ref> und verweist darauf, dass er unbeliebt war und ist, weil er mit der vorherrschenden Tradition der Philosophie bricht. Dies bringt er in Zusammenhang damit, dass die Psychologie und die Linguistik in Amerika bis weit in die 1970er-Jahre hinein von B. F. Skinner (1904–1990) bzw. vom Behaviorismus dominiert wurde. Nach diesem wird das menschliche Verhalten von der Umwelt determiniert, wozu es nach von Glasersfeld keinen objektiven Zugang gibt:<br />
: ''„Was jedoch ein Naturwissenschaftler oder irgendein denkender Mensch als seine ‚Umwelt‘ kategorisiert und hernach kausal mit dem Verhalten eines beobachteten Organismus verknüpft, das liegt im Erfahrungsbereich des Beobachters und niemals in einer von ihm unabhängigen Außenwelt.“<ref>ebd. S. 44</ref>''<br />
<br />
=== „Die Gewissheit der Ungewissheit – Gespräche zum Konstruktivismus“ (Erstauflage 2002) ===<br />
Diese von Bernhard Pörksen veröffentlichte Sammlung von Gesprächen mit Begründern des Konstruktivismus enthält unter der Überschrift „Was im Kopf eines anderen vorgeht, können wir nie wissen“<ref>'''Pörksen, Bernhard (2019): ''' Die Gewissheit der Ungewissheit. Gespräche zum Konstruktivismus. Mit Heinz von Foerster [u. a.]. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Systemische Horizonte). ISBN 978-3-8497-0285-4. S. 46</ref> ein Gespräch mit Ernst von Glasersfeld. Es geht von der Perspektive Gottes bzw. des völlig richtigen Bildes der Realität aus, das in der Antike bereits von den Vorsokratikern und insbesondere von Skeptikern wie Pyrrhon (um 362 v. Chr. bis um 270–275 v. Chr.) infrage gestellt wurde. <br />
<br />
Im Kapitel „Der Irrtum der evolutionären Erkenntnistheorie“<ref>ebd. S. 50</ref> zieht Pörksen die evolutionäre Erkenntnistheorie des Zoologen und Verhaltensforschers Konrad Lorenz (1903–1989) heran, um einen ''„systematischen Zusammenhang zwischen unseren Wahrnehmungen und der wirklichen Welt“''<ref>ebd.</ref> zu stützen. Nach dieser Theorie hat sich die menschliche Wahrnehmung allmählich durch Versuch und (gegebenenfalls tödlichen) Irrtum evolutionär an die wirkliche Welt angepasst und sich ihr angenähert. Konstruktionen, die die Realität grob verkennen, haben durch natürliche Selektion nicht überlebt. Von Glasersfeld wendet dagegen ein, dass das von Lorenz konstruierte Modell den Fehler enthält, dass die Evolutionstheorie als Beschreibung der wirklichen Welt verstanden wird. Sie sei wohl empirisch begründbar, könne dies aber nicht leisten.<br />
: ''„Man kann wohl sagen, dass wir die Kategorien von Raum und Zeit genau deshalb erfunden haben, weil sie besonders gut funktionieren und zu der Wirklichkeit passen, die wir erleben. Aber gutes Funktionieren ist niemals ein Beweis für die Widerspiegelung der äußeren Welt. Darum spreche ich lieber von '''Viabilität''', denn das betont, dass man immer auch mit anderen Möglichkeiten des Passens rechnen muss.“<ref>ebd. S. 51</ref>''<br />
Im Anschluss veranschaulicht von Glasersfeld die menschliche Erkenntnissituation mit dem Beispiel des Blindflugs eines Flugzeugpiloten, das er Humberto Maturana (*1928) verdankt. Beim Blindflug ist der Pilot von der Außenwelt des Flugzeugs isoliert und passt sein Verhalten fortlaufend an die Angaben der Instrumente an. Wenn draußen ein Sturm tobt, bemerkt er über seine Instrumente, dass das Flugzeug vom Kurs abkommt, greift fortlaufend korrigierend ein, landet schließlich sicher und erreicht sein Ziel. Aber was sich draußen genau abgespielt hat, weiß er nicht: ''„Von der eigentlichen Ursache, dem Sturm, hat er keine Ahnung“''<ref>ebd. S. 52</ref>. <br />
<br />
Im Folgenden wird die Frage nach der Aufgabe und dem Ziel der Wissenschaft thematisiert, und zwar vor dem Hintergrund, dass es nach den bisherigen Ausführungen nicht darum gehen kann, die äußere Welt zu erkennen und Wahrheit zu verbreiten. Pörksen präzisiert dann dieses Thema, indem er von Glasersfeld nach Kriterien fragt, die wissenschaftliche Wirklichkeitskonstruktionen voneinander unterscheiden lassen, ohne dass man beurteilt, welche einer imaginären Wahrheit näher kommt. Darauf schlägt von Glasersfeld das Kriterium der Viabilität vor und erläutert dieses genauer.<br />
: ''„Das Kriterium, das ich vorschlage, ist die Brauchbarkeit bzw. '''Viabilität'''. Den Begriff der Viabilität, der zu jenem der Anpassung in einer engen Beziehung steht, habe ich aus der Evolutionstheorie übernommen; er dient dazu, im Bereich der Erfahrungswelt den klassischen philosophischen Wahrheitsbegriff zu ersetzen, der eine exakte Abbildung der Realität annimmt. Ein Organismus ist dann, so möchte ich definieren, '''viabel''', wenn es ihm gelingt, unter den gegebenen Beschränkungen und den gegenwärtigen Umständen zu überleben. Und brauchbar oder viabel nenne ich Handlungs- und Denkweisen, die an allen Hindernissen vorbei zum gewünschten Ziel führen. Allerdings ist die Feststellung, ob eine Konstruktion viabel ist, von den eigenen Werten abhängig. Sie enthält ein subjektives Moment und verlangt ein persönliches Urteil. Die Wahl der Werte, die Ethik, lässt sich nicht durch den Konstruktivismus begründen: Es handelt sich um Setzungen.“<ref>ebd. S. 53</ref>''<br />
Als Beispiel einer viablen Theorie nennt von Glasersfeld darauf die Weltraumfahrt: Um auf dem Mond zu landen oder Satelliten gezielt ins All zu schicken, arbeitet sie noch immer mit vielen Formeln von Isaac Newton (1643–1727), obwohl aufgrund ihrer Relativierung durch Albert Einstein (1879–1955) niemand sagen würde, dass sie die Wahrheit abbilden. Dennoch sind sie für bestimmte Zwecke ''„nach wie vor brauchbar und nützlich, mehr nicht“''<ref>ebd.</ref>.<br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* [https://youtu.be/B5sW1RaTcx4 Video „Glasersfeld erklärt den RK“ (brgdomath.com)]<br />
''Ein Video (5:09) mit einer kurzen Biografie von Ernst von Glasersfeld und einem Interview, in dem er den erkenntnistheoretischen Ansatz des radikalen Konstruktivismus und den Kernbegriff der Viabilität (3:30) erläutert.''<br />
* [http://www.univie.ac.at/constructivism/EvG/papers/253.pdf Interview mit Ernst von Glasersfeld]<br />
''Interview von R. Voss mit Ernst von Glasersfeld vom 08.12.2000 anläßlich seines Vortrag an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. In: '''Voss, Reinhard (Hg.) (2002):''' Unterricht aus konstruktivistischer Sicht (Instruction from a constructivist perspective). Kriftel: Hermann Luchterhand. ISBN 978-3-472-05052-0. S. 26–32.''<br />
* [http://www.evg-archive.net/ Website des Ernst von Glasersfeld-Archivs]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Wahrnehmung&diff=4900
Wahrnehmung
2023-12-20T10:33:44Z
<p>Lutz Zierbeck: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Wahrnehmung. Erläutert wird ihre Abhängigkeit von den Sinnessystemen, die einem Lebewesen zur Verfügung stehen, und insbesondere vom wahrnehmenden Individuum. Wahrnehmung darf nicht als eine objektive Abbildung der Welt verstanden werden, sondern ist ein zirkulärer Prozess des in Bezug auf Information geschlossenen Individuums.<br />
<br />
== Wahrnehmung in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat ist in das vierte Kapitel „Theoretische Grundlagen von Kinaesthetics“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel „Leben bedeutet Bewegung“ und „Schwerkraft und Bewegung“ beleuchten die grundlegende Bedeutung der Bewegung und der Schwerkraft für das Leben. Das dritte Unterkapitel „Zirkuläre Selbstregulationsprozesse als Grundlage des menschlichen Verhaltens“ beschreibt die Zirkularität bzw. die [[Feedback-Control-Theorie]] als Verhaltensgrundlage. Das Zitat ist der Text des anschließenden vierten Kapitels „Geschlossenheit und Individualität der Wahrnehmung“.<br />
[[Datei:Familie eis.png|mini|rechts|''Wer nimmt bei dieser Begegnung was wahr? Zeichnen Sie mit Pfeilen ein, worauf die einzelnen Akteure im gleichen Moment ihre Aufmerksamkeit richten könnten.'']]<br />
: ''„Es leuchtet ein, dass eine Ameise, eine Fledermaus oder ein Delphin die Welt wohl ganz anders wahrnehmen als wir. Neurobiologische Forschungen zeigen auf, dass die Wahrnehmung jedes Lebewesens davon abhängig ist, über welche Sinnessysteme es verfügt und für welches Spektrum von Reizen diese Systeme aufgrund ihrer Struktur empfindlich sind. Grundsätzlich vermittelt die gesamte Sinneswahrnehmung einem Lebewesen ein ‚[[Stabil und instabil|stabiles]]‘ und zusammenhängendes Bild seiner selbst und seiner Umgebung. Das Zusammentreffen mit Reizen (Licht, Schall, Berührung, Bewegung usw.) ist also eine Voraussetzung der Wahrnehmung. Die Reize bestimmen aber nicht, wie ein Lebewesen sie wahrnimmt. In wissenschaftlicher Formulierung spricht man davon, dass lebende Systeme prinzipiell ‚informationally closed‘, d. h., in Bezug auf Information geschlossen sind. Die Wahrnehmung darf nicht als eine objektive Abbildung einer gegebenen Umgebung betrachtet werden. Vielmehr ‚errechnet‘ jedes Individuum fortlaufend das Bild seiner Welt. Wie im vorangehenden Kapitel beschrieben, vollzieht sich dieses Errechnen in [[Zirkularität|zirkulären Prozessen]], an denen nicht nur das Wahrnehmungssystem und das Nervensystem, sondern ebenso das Bewegungssystem beteiligt sind.''<br />
<br />
: ''Grundsätzlich ist somit davon auszugehen, dass jeder einzelne Mensch die Welt auf seine individuelle Art und Weise wahrnimmt. Natürlich ist es für die Entwicklung des Menschen wichtig, dass er lernt, die Welt über Interaktion und Kommunikation ‚gleich‘ oder ähnlich wie seine Eltern oder Bezugspersonen wahrzunehmen. Da wir ähnliche Strukturen aufweisen, die eine sehr differenzierte Interaktion und Kommunikation ermöglichen, können wir wahrscheinliche Aussagen darüber machen, wie andere Menschen die Welt erleben. Doch insbesondere im Kontakt mit Menschen mit Demenz oder Behinderung, aber auch in Alltagssituationen kann sich uns der Gedanke aufdrängen, dass ein anderer Mensch die Welt offensichtlich anders wahrnimmt als wir selbst.“''<br />
<br />
Text der zugehörigen Infobox „'''Wie entsteht die Welt, die ich wahrnehme?'''“:<br />
: ''„Der Neurobiologe F. J. Varela (1946–2001) formulierte das Resultat seiner Forschungsarbeiten über das Sehen in einem Interview ungefähr so: ‚Ist da draußen etwas (z. B. Licht), das zu meinem Auge kommt? – Nein: Es gibt keine Beziehung zwischen dem Licht und dem Farbsehen. Die Unterschiede, die wir wahrnehmen und als verschiedene Farben bezeichnen, spiegeln nicht eine äußere, objektive Realität, sondern beruhen auf der Art und Weise, wie wir strukturell ‚zusammengesetzt‘ sind.''<br />
<br />
: ''Wie entsteht die Welt, die ich wahrnehme? – Im ‚Zusammenprall‘ (‚clash‘) zwischen unserer Struktur und dem Milieu, in das wir buchstäblich eintauchen, entsteht die Welt. Wir sind so gebaut, dass aus dem Zusammentreffen der Aktivitäten des Gehirns und der Aktivitäten des Auges ein stabiles Bild der Welt, eine konstante visuelle Realität entsteht. Die Funktion des Hirns kann nicht als Informationsaufnahme beschrieben werden.‘ (Reichle 2005)“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 46.<br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* '''Foerster, Heinz von; Pörksen, Bernhard (2019):''' Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. 12. Auflage. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg (Systemische Horizonte). ISBN 978-3-89670-646-1.<br>Auf das Thema Wahrnehmung geht insbesondere das Kapitel „I.1. Biologie der Wahrnehmung“ (S. 15 bis 28) ein.<br />
<br />
* '''Bateson, Gregory (2014): ''' Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Übersetzt von Hans Günter Holl. 10. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 691). ISBN 978-3-518-28291-3. S. 39–51.<br />
<br />
* '''Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (2015):''' Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Aus dem Spanischen von Kurt Ludewig in Zusammenarbeit mit dem Institut für systemische Studien e. V. in Hamburg. 6. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag (Fischer Taschenbücher 17855).<br />
<br />
: Die Wahrnehmung wird im ersten Kapitel „Das Erkennen erkennen“ u. a. mit den Stichworten „Der blinde Fleck“ (S. 21), „Wir sehen nicht, dass wir nicht sehen“ (S. 23), „Farbe: keine Eigenschaft der Dinge“ (S. 24), „Wahrnehmung und individuelle Struktur“ (S. 27) thematisiert.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[Unterschied]]<br />
* [[Feedback-Control-Theorie]]<br />
* [[Zirkularität]]<br />
<br />
[[Kategorie: Kybernetische Grundlagen]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Weber_und_Fechner&diff=4899
Weber und Fechner
2023-12-20T10:24:32Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Gustav Theodor Fechner */</p>
<hr />
<div><br />
{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt| Martina Huth, Stefan Knobel/Andreas Borrmann}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel von Martina Huth und Stefan Knobel wird in der Trainerbildung Stufe 1 der EKA verwendet.<br />
==''„Das Weber-Fechner-Gesetz ''==<br />
<br />
:'' Vor gut 150 Jahren formulierte Gustav Theodor Fechner (1801–1887) im Rahmen der Psychophysik das Weber-Fechner-Gesetz. Dieses Gesetz ist für das Bewegungslernen in [[Kinaesthetics (Begriff)|Kinaesthetics]] von großer Bedeutung. <br />
<br />
==='' Je höher die Spannung, desto unsensibler ''===<br />
:''Jede TeilnehmerIn eines Kinaesthetics-Grundkurses macht in Bezug auf die [[Wahrnehmung]] mit dem kinästhetischen Sinnessystem eine interessante Entdeckung. Je höher die Spannung ist, umso undifferenzierter ist die Erfahrung, die man von einer bestimmten Aktivität machen kann. Wenn man sich zum Beispiel mit wenig Körperspannung von Rückenlage in Seitenlage dreht, kann man diese Fortbewegung sehr differenziert wahrnehmen und feine Unterschiede ausmachen. Bei gleicher Aktivität und hoher Körperspannung ändert sich das: Es wird viel schwieriger, detaillierte Unterschiede zu beschreiben. Warum es sich so verhält, ist seit über 150 Jahren bekannt.<br />
<br />
==='' Psychophysik ''===<br />
:''Mitten in der kontroversen Diskussion um Darwins Evolutionstheorie begründete G. T. Fechner 1860 die neue Disziplin der Psychophysik mit dem Ziel, die seit Jahrhunderten geltende Trennung der Erklärung von Körper und Geist aufzuheben. Zuvor hatte man versucht, Fragen rund um den menschlichen Körper mit physikalischen Gesetzen, Fragen nach dem Geist oder der Seele mit göttlichen Prinzipien zu beantworten.<br> <br />
:''Wegen der sehr kontroversen wissenschaftlichen Diskussionen (Glaubens- oder Wissenschaftsparadigma), die in der damaligen Zeit geführt wurden, hatten es viele Wissenschaftler nicht leicht. So auch die beiden Namensgeber des Weber-Fechner-Gesetzes, Gustav Theodor Fechner (1801–1887) und Ernst Heinrich Weber (1795–1878). Die beiden Männer sind wichtige Pioniere der experimentellen Psychologie, und ihre Erkenntnisse werden noch heute in Bewegungskonzepten wie der Feldenkrais-Pädagogik oder Kinaesthetics berücksichtigt. <br />
==='' Worum geht es? ''===<br />
:''Als Naturforscher versuchten Weber und Fechner die Sinnesleistung des Menschen zu messen. Sie waren von der Idee überzeugt, dass es möglich sein müsse, durch Experimente die Grundprinzipien der menschlichen Wahrnehmung quantitativ, also mit mathematischen Methoden bzw. Formeln ausdrücken zu können. Nach und nach entwickelten sie experimentelle Methoden, um Sinnesempfindungen durch die Sinne einschließlich des kinästhetischen Sinns (Bewegungssinns) zu untersuchen. Da sie sich damals noch nicht auf bildgebende Verfahren oder elektronische Messungen stützen konnten, mussten sie in ihren Versuchsreihen mit dem Zusammenhang zwischen physikalischen Reizen (Töne, Licht, Gewicht usw.) und dem subjektiven Erleben der ProbandInnen (z. B. lauter – leiser – nicht hörbar) arbeiten. Die von Fechner entwickelten Methoden sind zum Teil noch heute gebräuchlich. Beim sogenannten ‚Grenzverfahren‘ variiert die VersuchsleiterIn die Intensität eines Reizes und die ProbandIn gibt an, ob sie diesen wahrnimmt bzw. von einer anderen Reizintensität unterscheiden kann. Wird ein Reiz wahrgenommen, verringert die VersuchsleiterIn die Reizstärke, wenn nicht, erhöht sie diese. Der Mittelwert aller Wendepunkte markiert die sogenannte absolute Wahrnehmungsschwelle, d. h. die kleinste Reizintensität, die nötig ist, damit ein Reiz überhaupt wahrgenommen werden kann.<br>''<br />
:''Eine Variante stellt die ‚Herstellungsmethode‘ dar. Dabei wird die Intensität des Reizes nach der Anweisung der ProbandIn oder durch sie selbst verändert, bis sie glaubt, die absolute Schwelle angeben zu können. Der Versuch wird mehrmals wiederholt, und der Mittelwert aller Angaben ergibt die absolute Wahrnehmungsschwelle.''<br />
<br />
:''Schon 1834 entdeckte E. H. Weber, dass es bei der Wahrnehmung von unterschiedlichen Reizintensitäten Schwellen des gerade noch wahrnehmbaren Unterschieds (just noticeable difference) gibt. Solche ‚Unterschiedsschwellen‘ bezeichnen den kleinsten Unterschied zwischen zwei Reizintensitäten, der gerade noch wahrgenommen werden kann. Webers große Entdeckung war, dass die Unterschiedsschwellen stets von der Intensität des vorangehenden Reizes abhängen und diese Unterschiede in einem nahezu konstanten mathematischen Verhältnis zu den Ausgangsreizen stehen. Das bedeutet: Je stärker der Ausgangsreiz ist, desto größer muss der Unterschied ausfallen, damit er überhaupt wahrgenommen werden kann. In der Fachliteratur wird dieses Verhältnis heute mit dem Begriff ‚Webersche Konstante‘ bezeichnet. Mit einem Beispiel ausgedrückt: Wenn ein Gegenstand 100 Gramm schwer ist, muss ein zweiter mehr als 2,5 Gramm schwerer sein, damit ein Unterschied im Gewicht der beiden Gegenstände wahrgenommen werden kann. Ist nun ein Gegenstand 1 Kilogramm schwer, muss nach dem Weberschen Gesetz ein zweiter Gegenstand 25 Gramm schwerer sein, damit er als schwerer empfunden werden kann. Mit anderen Worten: Der Mensch kann Veränderungen der Reizintensität nicht wie ein technischer Sensor linear unterscheiden, sondern nur im Verhältnis zum vorausgehenden Reiz.<br>''<br />
:''Konkret beträgt beim Tastsinn der erforderliche relative Zuwachs etwa 3 % des Hautdrucks, beim Helligkeitssehen braucht es etwa 1 bis 2 % der Lichtstärke. Beim Geschmack muss die Konzentration um 10 bis 20 % steigen, um als stärker empfunden zu werden. Mit dem kinästhetischen Sinnessystem kann ein Gewichtsunterschied erst ab einer Abweichung von ungefähr 2,5 % wahrgenommen werden, was sich auch im persönlichen Experiment nachvollziehen lässt. Die Unterschiedsschwelle liegt für die Muskeln bei mindestens einem Vierzigstel der aktuellen Anstrengung. <br />
<br />
:''Fechner knüpfte in seiner Arbeit an diese Erkenntnisse von Weber an. Er interessierte sich für den Zusammenhang zwischen der physikalischen Reiz- und der subjektiven Empfindungsintensität. Seine heute als ‚Weber-Fechner-Gesetz‘ bekannte Formel besagt, dass die Empfindungsstärke mit dem Logarithmus der physikalischen Reizstärke wächst. Das bedeutet (in einem bestimmten Spektrum): Wenn man die physikalische Intensität eines Reizes verdoppelt, wird das nicht als Verdoppelung empfunden. Verändert sich die physikalische Reizintensität im niedrigen Bereich, fällt ein geringer Zuwachs viel stärker ins Gewicht, als wenn sie im höheren Bereich zunimmt: Hier flacht die Empfindungsstärke ab. In späterer Zeit entdeckte S. T. Stevens (1906–1973), dass sich dieser Zusammenhang manchmal auch ganz anders darstellt und verallgemeinerte mit seinem Potenzgesetz die Formel von Fechner. ''<br />
==='' Bedeutung für das Bewegungslernen ''===<br />
:''Die Erkenntnisse aus diesen Forschungsprozessen der Psychophysik finden Anwendung in verschiedenen Schulen des Bewegungslernens. Ein Beispiel dafür ist der Physiker und Begründer der gleichnamigen Bewegungslehre Moshé Feldenkrais (1904–1984). Er beschäftigte sich mit Neurophysiologie sowie Neuropsychologie und veröffentlichte seine Erkenntnisse in vielen Schriften, unter anderem in seinem grundlegenden Buch mit dem Titel ‚Body and Mature Behaviour". Er erkannte schon um 1940 die Bedeutung der physikalischen Gesetzmäßigkeiten für die Bewegungsökonomie und das [[Lernparadigma|Lernen]] von Menschen. Er übertrug die Erkenntnisse von Weber und Fechner auf seine Arbeit und stellte fest, dass sich durch die Sensibilisierung der kinästhetischen Selbstwahrnehmung grundlegende Funktionen verbessern und Verhaltensänderungen leichter erreichen lassen. Eine wichtige Rolle spielt dabei, sich für ein möglichst großes Spektrum von Unterschieden zu sensibilisieren, indem man die eigene Anstrengung bewusst und angepasst regulieren lernt. Für die meisten Menschen besteht die Herausforderung darin, ihre Anstrengung verringern zu lernen.''<br />
<br />
:''Auch im Entwicklungs- und Lernverständnis von Kinaesthetics spielen die Erkenntnisse von Weber und Fechner eine wichtige Rolle. Eine zentrale Annahme in Kinaesthetics ist, dass Menschen durch die Auseinandersetzung mit Unterschieden lernen. In diesem Zusammenhang helfen uns die Grundlagen der Psychophysik besser zu verstehen, wie ein Mensch sein Verhalten steuern bzw. seine Aktivitäten anpassen kann. Dies hängt maßgeblich von der Höhe seiner Grundspannung ab. Grundsätzlich gilt: Je höher seine Grundspannung ist, umso größer ist der relative Unterschied, der für ihn überhaupt wahrnehmbar ist, desto ‚grober‘ fallen seine Anpassungen aus. Das bedeutet, dass ein Mensch über mehr Möglichkeiten in seinem Verhalten verfügt, je besser er in der Lage ist, seine Spannung gezielt an eine Situation anzupassen.<br>''<br />
:''In Bezug auf das Bewegungslernen und die Entwicklung der Bewegungskompetenz lässt sich feststellen: Wenn Menschen ihre Sensibilität vergrößern, entwickeln sie die notwendige Fähigkeit zum Bemerken von angepassten und feinen Unterschieden, was leichter zu Verhaltensänderungen führt. Sie können mit dieser Sensibilität aktiv und selbstgesteuert aus einer Vielzahl von Möglichkeiten eine Entscheidung treffen, wie sie eine bestimmte Tätigkeit ausführen. <br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese Erkenntnisse auch in der Bewegung mit einer anderen Person genutzt werden können.“<br />
<br />
== Kurzbiografien ==<br />
<br />
==='' „Ernst Heinrich Weber ''===<br />
[[Datei:Ernst HeinrichWeber.jpg|right|200px|]]<br />
:''Ernst Heinrich Weber wurde am 24. Juni 1795 in Wittenberg (Sachsen-Anhalt) geboren. Er studierte in Wittenberg und Leipzig und wurde 1818 zum außerordentlichen Professor für vergleichende Anatomie ernannt. Er beschäftigte sich in seinem Forscherleben mit der mikroskopischen Anatomie, der Entwicklungsgeschichte von Tieren und machte eine sehr bedeutende Untersuchung zur Mechanik des menschlichen Gehens. Als Lehrer, Kollege und Freund arbeitete er zusammen mit Gustav Theodor Fechner im Rahmen der Psychophysik und legte damit einen Grundstein für die heutige Psychologie. Die sogenannte Webersche Konstante ist ein bleibendes Resultat seiner Arbeit.<br />
:''Er starb am 26. Januar 1878 als Mitglied des Ordens ‚Pour le mérite für Wissenschaft und Künste‘ und Ehrenbürger der Stadt Leipzig.''<br />
<br />
<br clear=all><br />
==='' Gustav Theodor Fechner ''===<br />
[[Datei:Gustav Fechner.jpg|right|200px]]<br />
:''Gustav Theodor Fechner wurde am 19. April 1801 in Großsärchen (Sachsen) geboren. Er studierte in Leipzig Physiologie und Algebra und eignete sich sein umfassendes Wissen in verschiedenen Wissenschaftsgebieten weitgehend als Autodidakt an. 1835 wurde er Direktor des ersten physikalischen Institutes von Deutschland in Leipzig. In den 1860er-Jahren gründete er die Forschungsrichtung der Psychophysik, welche die Basis für die heutige Verhaltensforschung und Psychologie legte. In seinem 1876 veröffentlichten Buch ‚Vorschule der Ästhetik‘ vertrat er als erster auf diesem Gebiet den induktiven Forschungsansatz (vom Phänomen zur allgemeinen Theorie).''<br />
:''Es gelang ihm, Prinzipien des menschlichen Verhaltens zu beschreiben, die noch heute ihre Gültigkeit haben – unter anderem das Weber-Fechner-Gesetz. Er starb am 18. November 1887 als Ehrendoktor der Medizin und Ehrenbürger der Stadt Leipzig.''<br />
<br />
== Quellen ==<br />
<br />
:''Ahlers, M.-T. (2005): Psychophysik – Einführung in einige Grundgedanken Webers, Fechners und Stevens. ''<br />
<br />
:''Ayan, S.: Stimulus inspirans (2007). In: Gehirn & Geist 5, 2007, S. 22–27. <br />
<br />
:''Feldenkrais, Moshe (2006).: Die Feldenkraismethode in Aktion. 7. Auflage. Paderborn: Media-Print. <br />
<br />
:''Holm, M.(1999): Do you feel the difference? Der Beitrag der Feldenkrais-Methode zur Gesundheitsförderung. Diplomarbeit im Studiengang Psychologie, Universität Bremen. <br />
<br />
:''Huth, M. (2007): Kinaesthetics. Ein Schulungskonzept zur Anbahnung von Diplomarbeit im Studiengang Pflegepädagogik, Fachhochschule Bielefeld. <br />
<br />
:''Institute for Human Development (IHD) (n.d.): Rahmen-Curriculum Kinaesthetics Dornbirn: IHD ''Human Development Research GmbH. Karl, C. (1993): Vorstellungen vom Lernen bei Feldenkrais. In: Kinästhetik-Bulletin 20/1993, S. 8–10. <br />
<br />
:''Maietta, L.: Kinästhetik (1986). In: Kinästhetik–Bulletin 10/1986, S. 16–19. <br />
<br />
:''Smith, K. U. & Smith, T. J. (1999): Wissenschaftliche Beiträge der Verhaltenskybernetik: Eine Perspektive. Kinästhetik Zeitschrift 5/1999, S. 45–76. <br />
<br />
:''Zimbardo, P. G. (1995): Psychologie. 6. Auflage. Berlin: Springer Verlag.“<br />
<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]<br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
https://de.wikipedia.org/wiki/Weber-Fechner-Gesetz<br />
<br />
[https://ia800708.us.archive.org/view_archive.php?archive=/28/items/crossref-pre-1923-scholarly-works/10.1007%252Fbf01681708.zip&file=10.1007%252Fbf01687823.pdf Studien über das Weber-Fechner'sche Gesetz.]<br />
<br />
http://www.ewald-gerth.de/Weber-Fechner.pdf<br />
<br />
https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/fechnersches-gesetz/4830<br />
<br />
https://lexikon.stangl.eu/2818/weber-fechnersche-gesetz</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Weber_und_Fechner&diff=4898
Weber und Fechner
2023-12-20T10:23:53Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Quellen */</p>
<hr />
<div><br />
{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt| Martina Huth, Stefan Knobel/Andreas Borrmann}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel von Martina Huth und Stefan Knobel wird in der Trainerbildung Stufe 1 der EKA verwendet.<br />
==''„Das Weber-Fechner-Gesetz ''==<br />
<br />
:'' Vor gut 150 Jahren formulierte Gustav Theodor Fechner (1801–1887) im Rahmen der Psychophysik das Weber-Fechner-Gesetz. Dieses Gesetz ist für das Bewegungslernen in [[Kinaesthetics (Begriff)|Kinaesthetics]] von großer Bedeutung. <br />
<br />
==='' Je höher die Spannung, desto unsensibler ''===<br />
:''Jede TeilnehmerIn eines Kinaesthetics-Grundkurses macht in Bezug auf die [[Wahrnehmung]] mit dem kinästhetischen Sinnessystem eine interessante Entdeckung. Je höher die Spannung ist, umso undifferenzierter ist die Erfahrung, die man von einer bestimmten Aktivität machen kann. Wenn man sich zum Beispiel mit wenig Körperspannung von Rückenlage in Seitenlage dreht, kann man diese Fortbewegung sehr differenziert wahrnehmen und feine Unterschiede ausmachen. Bei gleicher Aktivität und hoher Körperspannung ändert sich das: Es wird viel schwieriger, detaillierte Unterschiede zu beschreiben. Warum es sich so verhält, ist seit über 150 Jahren bekannt.<br />
<br />
==='' Psychophysik ''===<br />
:''Mitten in der kontroversen Diskussion um Darwins Evolutionstheorie begründete G. T. Fechner 1860 die neue Disziplin der Psychophysik mit dem Ziel, die seit Jahrhunderten geltende Trennung der Erklärung von Körper und Geist aufzuheben. Zuvor hatte man versucht, Fragen rund um den menschlichen Körper mit physikalischen Gesetzen, Fragen nach dem Geist oder der Seele mit göttlichen Prinzipien zu beantworten.<br> <br />
:''Wegen der sehr kontroversen wissenschaftlichen Diskussionen (Glaubens- oder Wissenschaftsparadigma), die in der damaligen Zeit geführt wurden, hatten es viele Wissenschaftler nicht leicht. So auch die beiden Namensgeber des Weber-Fechner-Gesetzes, Gustav Theodor Fechner (1801–1887) und Ernst Heinrich Weber (1795–1878). Die beiden Männer sind wichtige Pioniere der experimentellen Psychologie, und ihre Erkenntnisse werden noch heute in Bewegungskonzepten wie der Feldenkrais-Pädagogik oder Kinaesthetics berücksichtigt. <br />
==='' Worum geht es? ''===<br />
:''Als Naturforscher versuchten Weber und Fechner die Sinnesleistung des Menschen zu messen. Sie waren von der Idee überzeugt, dass es möglich sein müsse, durch Experimente die Grundprinzipien der menschlichen Wahrnehmung quantitativ, also mit mathematischen Methoden bzw. Formeln ausdrücken zu können. Nach und nach entwickelten sie experimentelle Methoden, um Sinnesempfindungen durch die Sinne einschließlich des kinästhetischen Sinns (Bewegungssinns) zu untersuchen. Da sie sich damals noch nicht auf bildgebende Verfahren oder elektronische Messungen stützen konnten, mussten sie in ihren Versuchsreihen mit dem Zusammenhang zwischen physikalischen Reizen (Töne, Licht, Gewicht usw.) und dem subjektiven Erleben der ProbandInnen (z. B. lauter – leiser – nicht hörbar) arbeiten. Die von Fechner entwickelten Methoden sind zum Teil noch heute gebräuchlich. Beim sogenannten ‚Grenzverfahren‘ variiert die VersuchsleiterIn die Intensität eines Reizes und die ProbandIn gibt an, ob sie diesen wahrnimmt bzw. von einer anderen Reizintensität unterscheiden kann. Wird ein Reiz wahrgenommen, verringert die VersuchsleiterIn die Reizstärke, wenn nicht, erhöht sie diese. Der Mittelwert aller Wendepunkte markiert die sogenannte absolute Wahrnehmungsschwelle, d. h. die kleinste Reizintensität, die nötig ist, damit ein Reiz überhaupt wahrgenommen werden kann.<br>''<br />
:''Eine Variante stellt die ‚Herstellungsmethode‘ dar. Dabei wird die Intensität des Reizes nach der Anweisung der ProbandIn oder durch sie selbst verändert, bis sie glaubt, die absolute Schwelle angeben zu können. Der Versuch wird mehrmals wiederholt, und der Mittelwert aller Angaben ergibt die absolute Wahrnehmungsschwelle.''<br />
<br />
:''Schon 1834 entdeckte E. H. Weber, dass es bei der Wahrnehmung von unterschiedlichen Reizintensitäten Schwellen des gerade noch wahrnehmbaren Unterschieds (just noticeable difference) gibt. Solche ‚Unterschiedsschwellen‘ bezeichnen den kleinsten Unterschied zwischen zwei Reizintensitäten, der gerade noch wahrgenommen werden kann. Webers große Entdeckung war, dass die Unterschiedsschwellen stets von der Intensität des vorangehenden Reizes abhängen und diese Unterschiede in einem nahezu konstanten mathematischen Verhältnis zu den Ausgangsreizen stehen. Das bedeutet: Je stärker der Ausgangsreiz ist, desto größer muss der Unterschied ausfallen, damit er überhaupt wahrgenommen werden kann. In der Fachliteratur wird dieses Verhältnis heute mit dem Begriff ‚Webersche Konstante‘ bezeichnet. Mit einem Beispiel ausgedrückt: Wenn ein Gegenstand 100 Gramm schwer ist, muss ein zweiter mehr als 2,5 Gramm schwerer sein, damit ein Unterschied im Gewicht der beiden Gegenstände wahrgenommen werden kann. Ist nun ein Gegenstand 1 Kilogramm schwer, muss nach dem Weberschen Gesetz ein zweiter Gegenstand 25 Gramm schwerer sein, damit er als schwerer empfunden werden kann. Mit anderen Worten: Der Mensch kann Veränderungen der Reizintensität nicht wie ein technischer Sensor linear unterscheiden, sondern nur im Verhältnis zum vorausgehenden Reiz.<br>''<br />
:''Konkret beträgt beim Tastsinn der erforderliche relative Zuwachs etwa 3 % des Hautdrucks, beim Helligkeitssehen braucht es etwa 1 bis 2 % der Lichtstärke. Beim Geschmack muss die Konzentration um 10 bis 20 % steigen, um als stärker empfunden zu werden. Mit dem kinästhetischen Sinnessystem kann ein Gewichtsunterschied erst ab einer Abweichung von ungefähr 2,5 % wahrgenommen werden, was sich auch im persönlichen Experiment nachvollziehen lässt. Die Unterschiedsschwelle liegt für die Muskeln bei mindestens einem Vierzigstel der aktuellen Anstrengung. <br />
<br />
:''Fechner knüpfte in seiner Arbeit an diese Erkenntnisse von Weber an. Er interessierte sich für den Zusammenhang zwischen der physikalischen Reiz- und der subjektiven Empfindungsintensität. Seine heute als ‚Weber-Fechner-Gesetz‘ bekannte Formel besagt, dass die Empfindungsstärke mit dem Logarithmus der physikalischen Reizstärke wächst. Das bedeutet (in einem bestimmten Spektrum): Wenn man die physikalische Intensität eines Reizes verdoppelt, wird das nicht als Verdoppelung empfunden. Verändert sich die physikalische Reizintensität im niedrigen Bereich, fällt ein geringer Zuwachs viel stärker ins Gewicht, als wenn sie im höheren Bereich zunimmt: Hier flacht die Empfindungsstärke ab. In späterer Zeit entdeckte S. T. Stevens (1906–1973), dass sich dieser Zusammenhang manchmal auch ganz anders darstellt und verallgemeinerte mit seinem Potenzgesetz die Formel von Fechner. ''<br />
==='' Bedeutung für das Bewegungslernen ''===<br />
:''Die Erkenntnisse aus diesen Forschungsprozessen der Psychophysik finden Anwendung in verschiedenen Schulen des Bewegungslernens. Ein Beispiel dafür ist der Physiker und Begründer der gleichnamigen Bewegungslehre Moshé Feldenkrais (1904–1984). Er beschäftigte sich mit Neurophysiologie sowie Neuropsychologie und veröffentlichte seine Erkenntnisse in vielen Schriften, unter anderem in seinem grundlegenden Buch mit dem Titel ‚Body and Mature Behaviour". Er erkannte schon um 1940 die Bedeutung der physikalischen Gesetzmäßigkeiten für die Bewegungsökonomie und das [[Lernparadigma|Lernen]] von Menschen. Er übertrug die Erkenntnisse von Weber und Fechner auf seine Arbeit und stellte fest, dass sich durch die Sensibilisierung der kinästhetischen Selbstwahrnehmung grundlegende Funktionen verbessern und Verhaltensänderungen leichter erreichen lassen. Eine wichtige Rolle spielt dabei, sich für ein möglichst großes Spektrum von Unterschieden zu sensibilisieren, indem man die eigene Anstrengung bewusst und angepasst regulieren lernt. Für die meisten Menschen besteht die Herausforderung darin, ihre Anstrengung verringern zu lernen.''<br />
<br />
:''Auch im Entwicklungs- und Lernverständnis von Kinaesthetics spielen die Erkenntnisse von Weber und Fechner eine wichtige Rolle. Eine zentrale Annahme in Kinaesthetics ist, dass Menschen durch die Auseinandersetzung mit Unterschieden lernen. In diesem Zusammenhang helfen uns die Grundlagen der Psychophysik besser zu verstehen, wie ein Mensch sein Verhalten steuern bzw. seine Aktivitäten anpassen kann. Dies hängt maßgeblich von der Höhe seiner Grundspannung ab. Grundsätzlich gilt: Je höher seine Grundspannung ist, umso größer ist der relative Unterschied, der für ihn überhaupt wahrnehmbar ist, desto ‚grober‘ fallen seine Anpassungen aus. Das bedeutet, dass ein Mensch über mehr Möglichkeiten in seinem Verhalten verfügt, je besser er in der Lage ist, seine Spannung gezielt an eine Situation anzupassen.<br>''<br />
:''In Bezug auf das Bewegungslernen und die Entwicklung der Bewegungskompetenz lässt sich feststellen: Wenn Menschen ihre Sensibilität vergrößern, entwickeln sie die notwendige Fähigkeit zum Bemerken von angepassten und feinen Unterschieden, was leichter zu Verhaltensänderungen führt. Sie können mit dieser Sensibilität aktiv und selbstgesteuert aus einer Vielzahl von Möglichkeiten eine Entscheidung treffen, wie sie eine bestimmte Tätigkeit ausführen. <br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese Erkenntnisse auch in der Bewegung mit einer anderen Person genutzt werden können.“<br />
<br />
== Kurzbiografien ==<br />
<br />
==='' „Ernst Heinrich Weber ''===<br />
[[Datei:Ernst HeinrichWeber.jpg|right|200px|]]<br />
:''Ernst Heinrich Weber wurde am 24. Juni 1795 in Wittenberg (Sachsen-Anhalt) geboren. Er studierte in Wittenberg und Leipzig und wurde 1818 zum außerordentlichen Professor für vergleichende Anatomie ernannt. Er beschäftigte sich in seinem Forscherleben mit der mikroskopischen Anatomie, der Entwicklungsgeschichte von Tieren und machte eine sehr bedeutende Untersuchung zur Mechanik des menschlichen Gehens. Als Lehrer, Kollege und Freund arbeitete er zusammen mit Gustav Theodor Fechner im Rahmen der Psychophysik und legte damit einen Grundstein für die heutige Psychologie. Die sogenannte Webersche Konstante ist ein bleibendes Resultat seiner Arbeit.<br />
:''Er starb am 26. Januar 1878 als Mitglied des Ordens ‚Pour le mérite für Wissenschaft und Künste‘ und Ehrenbürger der Stadt Leipzig.''<br />
<br />
<br clear=all><br />
==='' Gustav Theodor Fechner ''===<br />
[[Datei:Gustav Fechner.jpg|right|200px]]<br />
:''Gustav Theodor Fechner wurde am 19. April 1801 in Großsärchen (Sachsen) geboren. Er studierte in Leipzig Physiologie und Algebra und eignete sich sein umfassendes Wissen in verschiedenen Wissenschaftsgebieten weitgehend als Autodidakt an. 1835 wurde er Direktor des ersten physikalischen Institutes von Deutschland in Leipzig. In den 1860er-Jahren gründete er die Forschungsrichtung der Psychophysik, welche die Basis für die heutige Verhaltensforschung und Psychologie legte. In seinem 1876 veröffentlichten Buch ‚Vorschule der Ästhetik‘ vertrat er als erster auf diesem Gebiet den induktiven Forschungsansatz (vom Phänomen zur allgemeinen Theorie).''<br />
:''Es gelang ihm, Prinzipien des menschlichen Verhaltens zu beschreiben, die noch heute ihre Gültigkeit haben – unter anderem das Weber-Fechner-Gesetz. Er starb am 18. November 1887 als Ehrendoktor der Medizin und Ehrenbürger der Stadt Leipzig.‘''<br />
<br />
== Quellen ==<br />
<br />
:''Ahlers, M.-T. (2005): Psychophysik – Einführung in einige Grundgedanken Webers, Fechners und Stevens. ''<br />
<br />
:''Ayan, S.: Stimulus inspirans (2007). In: Gehirn & Geist 5, 2007, S. 22–27. <br />
<br />
:''Feldenkrais, Moshe (2006).: Die Feldenkraismethode in Aktion. 7. Auflage. Paderborn: Media-Print. <br />
<br />
:''Holm, M.(1999): Do you feel the difference? Der Beitrag der Feldenkrais-Methode zur Gesundheitsförderung. Diplomarbeit im Studiengang Psychologie, Universität Bremen. <br />
<br />
:''Huth, M. (2007): Kinaesthetics. Ein Schulungskonzept zur Anbahnung von Diplomarbeit im Studiengang Pflegepädagogik, Fachhochschule Bielefeld. <br />
<br />
:''Institute for Human Development (IHD) (n.d.): Rahmen-Curriculum Kinaesthetics Dornbirn: IHD ''Human Development Research GmbH. Karl, C. (1993): Vorstellungen vom Lernen bei Feldenkrais. In: Kinästhetik-Bulletin 20/1993, S. 8–10. <br />
<br />
:''Maietta, L.: Kinästhetik (1986). In: Kinästhetik–Bulletin 10/1986, S. 16–19. <br />
<br />
:''Smith, K. U. & Smith, T. J. (1999): Wissenschaftliche Beiträge der Verhaltenskybernetik: Eine Perspektive. Kinästhetik Zeitschrift 5/1999, S. 45–76. <br />
<br />
:''Zimbardo, P. G. (1995): Psychologie. 6. Auflage. Berlin: Springer Verlag.“<br />
<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]<br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
https://de.wikipedia.org/wiki/Weber-Fechner-Gesetz<br />
<br />
[https://ia800708.us.archive.org/view_archive.php?archive=/28/items/crossref-pre-1923-scholarly-works/10.1007%252Fbf01681708.zip&file=10.1007%252Fbf01687823.pdf Studien über das Weber-Fechner'sche Gesetz.]<br />
<br />
http://www.ewald-gerth.de/Weber-Fechner.pdf<br />
<br />
https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/fechnersches-gesetz/4830<br />
<br />
https://lexikon.stangl.eu/2818/weber-fechnersche-gesetz</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Weber_und_Fechner&diff=4897
Weber und Fechner
2023-12-20T10:16:23Z
<p>Lutz Zierbeck: </p>
<hr />
<div><br />
{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt| Martina Huth, Stefan Knobel/Andreas Borrmann}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel von Martina Huth und Stefan Knobel wird in der Trainerbildung Stufe 1 der EKA verwendet.<br />
==''„Das Weber-Fechner-Gesetz ''==<br />
<br />
:'' Vor gut 150 Jahren formulierte Gustav Theodor Fechner (1801–1887) im Rahmen der Psychophysik das Weber-Fechner-Gesetz. Dieses Gesetz ist für das Bewegungslernen in [[Kinaesthetics (Begriff)|Kinaesthetics]] von großer Bedeutung. <br />
<br />
==='' Je höher die Spannung, desto unsensibler ''===<br />
:''Jede TeilnehmerIn eines Kinaesthetics-Grundkurses macht in Bezug auf die [[Wahrnehmung]] mit dem kinästhetischen Sinnessystem eine interessante Entdeckung. Je höher die Spannung ist, umso undifferenzierter ist die Erfahrung, die man von einer bestimmten Aktivität machen kann. Wenn man sich zum Beispiel mit wenig Körperspannung von Rückenlage in Seitenlage dreht, kann man diese Fortbewegung sehr differenziert wahrnehmen und feine Unterschiede ausmachen. Bei gleicher Aktivität und hoher Körperspannung ändert sich das: Es wird viel schwieriger, detaillierte Unterschiede zu beschreiben. Warum es sich so verhält, ist seit über 150 Jahren bekannt.<br />
<br />
==='' Psychophysik ''===<br />
:''Mitten in der kontroversen Diskussion um Darwins Evolutionstheorie begründete G. T. Fechner 1860 die neue Disziplin der Psychophysik mit dem Ziel, die seit Jahrhunderten geltende Trennung der Erklärung von Körper und Geist aufzuheben. Zuvor hatte man versucht, Fragen rund um den menschlichen Körper mit physikalischen Gesetzen, Fragen nach dem Geist oder der Seele mit göttlichen Prinzipien zu beantworten.<br> <br />
:''Wegen der sehr kontroversen wissenschaftlichen Diskussionen (Glaubens- oder Wissenschaftsparadigma), die in der damaligen Zeit geführt wurden, hatten es viele Wissenschaftler nicht leicht. So auch die beiden Namensgeber des Weber-Fechner-Gesetzes, Gustav Theodor Fechner (1801–1887) und Ernst Heinrich Weber (1795–1878). Die beiden Männer sind wichtige Pioniere der experimentellen Psychologie, und ihre Erkenntnisse werden noch heute in Bewegungskonzepten wie der Feldenkrais-Pädagogik oder Kinaesthetics berücksichtigt. <br />
==='' Worum geht es? ''===<br />
:''Als Naturforscher versuchten Weber und Fechner die Sinnesleistung des Menschen zu messen. Sie waren von der Idee überzeugt, dass es möglich sein müsse, durch Experimente die Grundprinzipien der menschlichen Wahrnehmung quantitativ, also mit mathematischen Methoden bzw. Formeln ausdrücken zu können. Nach und nach entwickelten sie experimentelle Methoden, um Sinnesempfindungen durch die Sinne einschließlich des kinästhetischen Sinns (Bewegungssinns) zu untersuchen. Da sie sich damals noch nicht auf bildgebende Verfahren oder elektronische Messungen stützen konnten, mussten sie in ihren Versuchsreihen mit dem Zusammenhang zwischen physikalischen Reizen (Töne, Licht, Gewicht usw.) und dem subjektiven Erleben der ProbandInnen (z. B. lauter – leiser – nicht hörbar) arbeiten. Die von Fechner entwickelten Methoden sind zum Teil noch heute gebräuchlich. Beim sogenannten ‚Grenzverfahren‘ variiert die VersuchsleiterIn die Intensität eines Reizes und die ProbandIn gibt an, ob sie diesen wahrnimmt bzw. von einer anderen Reizintensität unterscheiden kann. Wird ein Reiz wahrgenommen, verringert die VersuchsleiterIn die Reizstärke, wenn nicht, erhöht sie diese. Der Mittelwert aller Wendepunkte markiert die sogenannte absolute Wahrnehmungsschwelle, d. h. die kleinste Reizintensität, die nötig ist, damit ein Reiz überhaupt wahrgenommen werden kann.<br>''<br />
:''Eine Variante stellt die ‚Herstellungsmethode‘ dar. Dabei wird die Intensität des Reizes nach der Anweisung der ProbandIn oder durch sie selbst verändert, bis sie glaubt, die absolute Schwelle angeben zu können. Der Versuch wird mehrmals wiederholt, und der Mittelwert aller Angaben ergibt die absolute Wahrnehmungsschwelle.''<br />
<br />
:''Schon 1834 entdeckte E. H. Weber, dass es bei der Wahrnehmung von unterschiedlichen Reizintensitäten Schwellen des gerade noch wahrnehmbaren Unterschieds (just noticeable difference) gibt. Solche ‚Unterschiedsschwellen‘ bezeichnen den kleinsten Unterschied zwischen zwei Reizintensitäten, der gerade noch wahrgenommen werden kann. Webers große Entdeckung war, dass die Unterschiedsschwellen stets von der Intensität des vorangehenden Reizes abhängen und diese Unterschiede in einem nahezu konstanten mathematischen Verhältnis zu den Ausgangsreizen stehen. Das bedeutet: Je stärker der Ausgangsreiz ist, desto größer muss der Unterschied ausfallen, damit er überhaupt wahrgenommen werden kann. In der Fachliteratur wird dieses Verhältnis heute mit dem Begriff ‚Webersche Konstante‘ bezeichnet. Mit einem Beispiel ausgedrückt: Wenn ein Gegenstand 100 Gramm schwer ist, muss ein zweiter mehr als 2,5 Gramm schwerer sein, damit ein Unterschied im Gewicht der beiden Gegenstände wahrgenommen werden kann. Ist nun ein Gegenstand 1 Kilogramm schwer, muss nach dem Weberschen Gesetz ein zweiter Gegenstand 25 Gramm schwerer sein, damit er als schwerer empfunden werden kann. Mit anderen Worten: Der Mensch kann Veränderungen der Reizintensität nicht wie ein technischer Sensor linear unterscheiden, sondern nur im Verhältnis zum vorausgehenden Reiz.<br>''<br />
:''Konkret beträgt beim Tastsinn der erforderliche relative Zuwachs etwa 3 % des Hautdrucks, beim Helligkeitssehen braucht es etwa 1 bis 2 % der Lichtstärke. Beim Geschmack muss die Konzentration um 10 bis 20 % steigen, um als stärker empfunden zu werden. Mit dem kinästhetischen Sinnessystem kann ein Gewichtsunterschied erst ab einer Abweichung von ungefähr 2,5 % wahrgenommen werden, was sich auch im persönlichen Experiment nachvollziehen lässt. Die Unterschiedsschwelle liegt für die Muskeln bei mindestens einem Vierzigstel der aktuellen Anstrengung. <br />
<br />
:''Fechner knüpfte in seiner Arbeit an diese Erkenntnisse von Weber an. Er interessierte sich für den Zusammenhang zwischen der physikalischen Reiz- und der subjektiven Empfindungsintensität. Seine heute als ‚Weber-Fechner-Gesetz‘ bekannte Formel besagt, dass die Empfindungsstärke mit dem Logarithmus der physikalischen Reizstärke wächst. Das bedeutet (in einem bestimmten Spektrum): Wenn man die physikalische Intensität eines Reizes verdoppelt, wird das nicht als Verdoppelung empfunden. Verändert sich die physikalische Reizintensität im niedrigen Bereich, fällt ein geringer Zuwachs viel stärker ins Gewicht, als wenn sie im höheren Bereich zunimmt: Hier flacht die Empfindungsstärke ab. In späterer Zeit entdeckte S. T. Stevens (1906–1973), dass sich dieser Zusammenhang manchmal auch ganz anders darstellt und verallgemeinerte mit seinem Potenzgesetz die Formel von Fechner. ''<br />
==='' Bedeutung für das Bewegungslernen ''===<br />
:''Die Erkenntnisse aus diesen Forschungsprozessen der Psychophysik finden Anwendung in verschiedenen Schulen des Bewegungslernens. Ein Beispiel dafür ist der Physiker und Begründer der gleichnamigen Bewegungslehre Moshé Feldenkrais (1904–1984). Er beschäftigte sich mit Neurophysiologie sowie Neuropsychologie und veröffentlichte seine Erkenntnisse in vielen Schriften, unter anderem in seinem grundlegenden Buch mit dem Titel ‚Body and Mature Behaviour". Er erkannte schon um 1940 die Bedeutung der physikalischen Gesetzmäßigkeiten für die Bewegungsökonomie und das [[Lernparadigma|Lernen]] von Menschen. Er übertrug die Erkenntnisse von Weber und Fechner auf seine Arbeit und stellte fest, dass sich durch die Sensibilisierung der kinästhetischen Selbstwahrnehmung grundlegende Funktionen verbessern und Verhaltensänderungen leichter erreichen lassen. Eine wichtige Rolle spielt dabei, sich für ein möglichst großes Spektrum von Unterschieden zu sensibilisieren, indem man die eigene Anstrengung bewusst und angepasst regulieren lernt. Für die meisten Menschen besteht die Herausforderung darin, ihre Anstrengung verringern zu lernen.''<br />
<br />
:''Auch im Entwicklungs- und Lernverständnis von Kinaesthetics spielen die Erkenntnisse von Weber und Fechner eine wichtige Rolle. Eine zentrale Annahme in Kinaesthetics ist, dass Menschen durch die Auseinandersetzung mit Unterschieden lernen. In diesem Zusammenhang helfen uns die Grundlagen der Psychophysik besser zu verstehen, wie ein Mensch sein Verhalten steuern bzw. seine Aktivitäten anpassen kann. Dies hängt maßgeblich von der Höhe seiner Grundspannung ab. Grundsätzlich gilt: Je höher seine Grundspannung ist, umso größer ist der relative Unterschied, der für ihn überhaupt wahrnehmbar ist, desto ‚grober‘ fallen seine Anpassungen aus. Das bedeutet, dass ein Mensch über mehr Möglichkeiten in seinem Verhalten verfügt, je besser er in der Lage ist, seine Spannung gezielt an eine Situation anzupassen.<br>''<br />
:''In Bezug auf das Bewegungslernen und die Entwicklung der Bewegungskompetenz lässt sich feststellen: Wenn Menschen ihre Sensibilität vergrößern, entwickeln sie die notwendige Fähigkeit zum Bemerken von angepassten und feinen Unterschieden, was leichter zu Verhaltensänderungen führt. Sie können mit dieser Sensibilität aktiv und selbstgesteuert aus einer Vielzahl von Möglichkeiten eine Entscheidung treffen, wie sie eine bestimmte Tätigkeit ausführen. <br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese Erkenntnisse auch in der Bewegung mit einer anderen Person genutzt werden können.“<br />
<br />
== Kurzbiografien ==<br />
<br />
==='' „Ernst Heinrich Weber ''===<br />
[[Datei:Ernst HeinrichWeber.jpg|right|200px|]]<br />
:''Ernst Heinrich Weber wurde am 24. Juni 1795 in Wittenberg (Sachsen-Anhalt) geboren. Er studierte in Wittenberg und Leipzig und wurde 1818 zum außerordentlichen Professor für vergleichende Anatomie ernannt. Er beschäftigte sich in seinem Forscherleben mit der mikroskopischen Anatomie, der Entwicklungsgeschichte von Tieren und machte eine sehr bedeutende Untersuchung zur Mechanik des menschlichen Gehens. Als Lehrer, Kollege und Freund arbeitete er zusammen mit Gustav Theodor Fechner im Rahmen der Psychophysik und legte damit einen Grundstein für die heutige Psychologie. Die sogenannte Webersche Konstante ist ein bleibendes Resultat seiner Arbeit.<br />
:''Er starb am 26. Januar 1878 als Mitglied des Ordens ‚Pour le mérite für Wissenschaft und Künste‘ und Ehrenbürger der Stadt Leipzig.''<br />
<br />
<br clear=all><br />
==='' Gustav Theodor Fechner ''===<br />
[[Datei:Gustav Fechner.jpg|right|200px]]<br />
:''Gustav Theodor Fechner wurde am 19. April 1801 in Großsärchen (Sachsen) geboren. Er studierte in Leipzig Physiologie und Algebra und eignete sich sein umfassendes Wissen in verschiedenen Wissenschaftsgebieten weitgehend als Autodidakt an. 1835 wurde er Direktor des ersten physikalischen Institutes von Deutschland in Leipzig. In den 1860er-Jahren gründete er die Forschungsrichtung der Psychophysik, welche die Basis für die heutige Verhaltensforschung und Psychologie legte. In seinem 1876 veröffentlichten Buch ‚Vorschule der Ästhetik‘ vertrat er als erster auf diesem Gebiet den induktiven Forschungsansatz (vom Phänomen zur allgemeinen Theorie).''<br />
:''Es gelang ihm, Prinzipien des menschlichen Verhaltens zu beschreiben, die noch heute ihre Gültigkeit haben – unter anderem das Weber-Fechner-Gesetz. Er starb am 18. November 1887 als Ehrendoktor der Medizin und Ehrenbürger der Stadt Leipzig.‘''<br />
<br />
== Quellen ==<br />
<br />
:''‚Ahlers, M.-T. (2005): Psychophysik – Einführung in einige Grundgedanken Webers, Fechners und Stevens. ''<br />
<br />
:''Ayan, S.: Stimulus inspirans (2007). In: Gehirn & Geist 5, 2007, S. 22–27. <br />
<br />
:''Feldenkrais, Moshe (2006).: Die Feldenkraismethode in Aktion. 7. Auflage. Paderborn: Media-Print. <br />
<br />
:''Holm, M.(1999): Do you feel the difference? Der Beitrag der Feldenkrais-Methode zur Gesundheitsförderung. Diplomarbeit im Studiengang Psychologie, Universität Bremen. <br />
<br />
:''Huth, M. (2007): Kinaesthetics. Ein Schulungskonzept zur Anbahnung von Diplomarbeit im Studiengang Pflegepädagogik, Fachhochschule Bielefeld. <br />
<br />
:''Institute for Human Development (IHD) (n.d.): Rahmen-Curriculum Kinaesthetics Dornbirn: IHD ''Human Development Research GmbH. Karl, C. (1993): Vorstellungen vom Lernen bei Feldenkrais. In: Kinästhetik-Bulletin 20/1993, S. 8–10. <br />
<br />
:''Maietta, L.: Kinästhetik (1986). In: Kinästhetik–Bulletin 10/1986, S. 16–19. <br />
<br />
:''Smith, K. U. & Smith, T. J. (1999): Wissenschaftliche Beiträge der Verhaltenskybernetik: Eine Perspektive. Kinästhetik Zeitschrift 5/1999, S. 45–76. <br />
<br />
:''Zimbardo, P. G. (1995): Psychologie. 6. Auflage. Berlin: Springer Verlag.“<br />
<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]<br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
https://de.wikipedia.org/wiki/Weber-Fechner-Gesetz<br />
<br />
[https://ia800708.us.archive.org/view_archive.php?archive=/28/items/crossref-pre-1923-scholarly-works/10.1007%252Fbf01681708.zip&file=10.1007%252Fbf01687823.pdf Studien über das Weber-Fechner'sche Gesetz.]<br />
<br />
http://www.ewald-gerth.de/Weber-Fechner.pdf<br />
<br />
https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/fechnersches-gesetz/4830<br />
<br />
https://lexikon.stangl.eu/2818/weber-fechnersche-gesetz</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Zirkularit%C3%A4t&diff=4894
Zirkularität
2023-12-20T10:05:52Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Weiterführende Literatur und Medien */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Lutz Zierbeck}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Zirkularität. Er beschreibt zirkuläre, also „kreisförmige“ Wirkungszusammenhänge oder Prozesse im Unterschied zu linearen, „geradlinigen“ Wirkungen. <br />
<br />
== Infobox zu zirkulären Wirkungszusammenhängen in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat ist in das vierte Kapitel „Theoretische Grundlagen von Kinaesthetics“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel „Leben bedeutet Bewegung“ und „Schwerkraft und Bewegung“ beleuchten die grundlegende Bedeutung der Bewegung und der Schwerkraft für das Leben. Das Zitat ist der Text einer Infobox „Zirkulärer Wirkungszusammenhang“ des dritten Unterkapitels „Zirkuläre Selbstregulationsprozesse als Grundlage des menschlichen Verhaltens“.<br />
<br />
[[Datei:Regelkreis-ABC 2.jpg|mini|rechts]]<br />
: ''„In einer [[Interaktion]] mit einer PartnerIn beeinflusst das Verhalten einer Person (A) fortlaufend das Verhalten der anderen Person (B). Gleichzeitig wirkt das Verhalten der InteraktionspartnerIn (B) fortlaufend auf das Verhalten der ersten Person (A) zurück. Dabei wird weder das Verhalten der ersten Person durch das Verhalten der zweiten Person bestimmt oder determiniert noch umgekehrt. Bei einer solchen Rückkoppelung – hier von zwei Elementen – macht das klassische Erklärungsmuster keinen Sinn, weil eine Person in einer [[Interaktion]] sozusagen ebenso sehr Ursache wie Wirkung ist. Auf dem zirkulären Wirkungszusammenhang zwischen drei Elementen, und zwar Motoren (A), Sensoren (B) und Rechnern (C), beruhen sich selbst steuernde, technische Systeme wie Roboter oder Heizsysteme mit Thermostat.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 44.<br />
<br />
== Zirkularität in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“. Es ist eingebettet in das dritte Kapitel „Der Kern: Feedback und Zirkularität“. Ihm voraus gehen die Unterkapitel „Selbstregulation durch Feedback“, „Wie funktioniert ein Heizsystem“ und „Ist-Wert, Soll-Wert und Rückkoppelung“. Das Zitat ist ein Ausschnitt aus dem vierten Unterkapitel „Zirkularität und Linearität“ und umfasst das fünfte Unterkapitel „Komplexe Anpassungsleistungen“. In diesem Kontext wird auch die oben abgebildete Grafik ähnlich erläutert.<br />
: '''''„Zirkularität und Linearität'''''<br>''[...]<br>Ein sich selbst regulierendes System wie z. B. ein Heizsystem mit Thermostat muss hingegen zirkulär funktionieren:<br>• Die beiden Aktivitäten (‚on‘- oder ‚off‘-Betrieb) des Heizkessels A sind die Ursache der Anzeige des Sensors B, d. h. seines Verhaltens.<br>• Die Anzeige des Sensors B ist die ursächliche Grundlage der Berechnung des Unterschiedes zwischen Ist- und Soll-Wert und der daraus folgenden ‚Befehlsausgabe‘ durch den Rechner C an den Heizkessel A.<br>• Der Rechner C ist die Ursache dafür, dass der Heizkessel A an- oder abstellt.<br>• usw.''<br />
: ''Durch die vorausgehende Formulierung soll gezeigt werden, warum die Kybernetik dieses Thema als einen ‚circular causal‘, d. h. ‚kreisförmig-ursächlichen‘ Mechanismus beschreibt. Zugleich mag man erahnen, dass kybernetisches Denken eine große Herausforderung darstellt und ein grundsätzliches Umdenken verlangt. Gemäß der Kybernetik beruht menschliches Verhalten auf einer fortlaufenden Fehlerkorrektur im Kreis und kann nicht durch bestimmte Ursachen begründet werden. Es unter dem Blickwinkel von Ursache und Wirkung, von linearen Zusammenhängen zu betrachten, greift zu kurz.''<br />
: ''Gregory Bateson war als Anthropologe mit der Breite und der Geschichte des menschlichen Denkens bestens vertraut. Er schreibt, dass es in diesem erwähnten Sinne seines Erachtens kein kybernetisches Denken vor dem Zweiten Weltkrieg gibt. (Bateson 2014<ref>'''Bateson, Gregory (2014): ''' Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Übersetzt von Hans Günter Holl. 10. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 691). ISBN 978-3-518-28291-3.</ref>, S. 129, S.&nbsp;132)''<br />
: ''[[Unterschied|Unterschiede]] spielen in Regelkreisen oder Feedback-Schleifen eine entscheidende Rolle. Die Bedeutung von Unterschieden im Rahmen der menschlichen Feedback-Kontrolle sowie der Lern- und Erkenntnistheorie wird im Kapitel 6.2 dargestellt.''<br />
: '''''Komplexe Anpassungsleistungen'''''<br>''Norbert Wiener beschrieb schon früh das Aufheben eines Bleistifts als einen Prozess, der nur durch Zirkularität erklärbar ist (vgl. Infobox S. 26). Er bezeichnete das Prinzip der Rückkoppelung als ‚einen wichtigen neuen Gedanken‘ der Neurophysiologie und erklärte frühere lineare Erklärungen als unhaltbar. Sie gingen davon aus, dass das Nervensystem als abgeschlossenes Organ ,von den Sinnen Signale empfängt und diese in die Muskeln entlädt‘. Das Gehirn gibt in kybernetischem Denken nicht den Befehl dazu, einen Bleistift aufzuheben (Ursache), woraus folgt, dass der Arm gehorcht (Wirkung). Vielmehr beruht diese Aktivität auf Regelkreisen oder Feedback-Schleifen, welche die Elemente des Nerven-, Bewegungs- und Sinnessystems zirkulär verbinden. Eine grundlegende Rolle für das ganze Wahrnehmungssystem spielt dabei der kinästhetische oder propriozeptive Sinn (vgl. auch Infobox S. 56).''<br />
: ''Mit diesen Überlegungen zeigt sich ein wichtiger Unterschied zwischen dem Menschen und dem Beispiel der Heizung. Bei dieser handelt es sich um ein sehr träges System. Im Vergleich zu den fast unmittelbar und ohne erfahrbare Verzögerung funktionierenden Feedback-Kreisläufen, auf denen das Aufheben eines Bleistiftes beruht, arbeitet ein Heizsystem in einem extremen Schneckentempo und weist keine komplexen Anpassungsleistungen auf.“''<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Kybernetik war nicht nur technisch orientiert'''“ (S. 26):<br />
: ''„[...]<br>'''Kybernetik und kinästhetische Sinneswahrnehmung'''''<br>''Das folgende längere Zitat zeigt auf, dass Norbert Wiener auch die Dimension der Kybernetik erkannte, die in der Kinästhetik kultiviert und umgesetzt wird:''<br />
: ''‚Angenommen, ich hebe einen Bleistift auf. Um dies zu tun, muss ich bestimmte Muskeln bewegen. Nur ein fachkundiger Anatom kennt alle diese Muskeln, und selbst er könnte die Handlung kaum als bewusste Willensanstrengung ausführen, indem er jeden betroffenen Muskel in der richtigen Reihenfolge kontrahieren würde. Es ist nicht unser Ziel, einzelne Muskeln zu bewegen, sondern den Bleistift aufzuheben. Sobald wir das einmal beschlossen haben, geht die Bewegung des Arms und der Hand auf eine solche Art vonstatten, dass man sagen könnte: Das Maß, um welches der Bleistift noch nicht aufgehoben ist, wird stufenweise verringert. Dieser Teil der Handlung geschieht nicht mit vollem Bewusstsein. Um eine Handlung in dieser Weise durchzuführen, muss es eine – bewusste oder unbewusste – Meldung an das Nervensystem darüber geben, wie stark wir in jedem einzelnen Augenblick das Ziel verfehlt haben, den Bleistift aufzuheben. Diese Meldung mag zumindest teilweise visuell sein, im Allgemeinen aber ist sie eher kinästhetisch bzw. propriozeptiv, um einen Begriff zu verwenden, der zur Zeit in Mode ist. Wenn diese propriozeptiven Sinneseindrücke fehlen und wir sie nicht visuell oder auf andere Weise ersetzen, so sind wir unfähig, die Handlung des Bleistiftaufhebens auszuführen; wir befinden uns dann in einem Zustand, den man Ataxie nennt. Auf der anderen Seite ist eine übermäßige Rückkoppelung wahrscheinlich eine ebenso große Behinderung. In diesem Fall schießt die Muskelbewegung über ihr Ziel hinaus und gerät in eine unkontrollierbare Oszillation. Dieser Zustand, der häufig mit einer Verletzung des Kleinhirns in Verbindung gebracht wird, ist als Intentionstremor bekannt.‘''<br />
: '''''Zirkularität als neues Erklärungsmuster der Bewegungsregulation'''''<br>''In der Fortsetzung des Zitats betont Wiener das grundsätzlich neue Verständnis der Bewegungs- bzw. Verhaltensregulation und seine mögliche Tragweite in unterschiedlichsten Bereichen:''<br />
: ''‚In diesem Falle nun besteht eine signifikante Parallele zwischen der Tätigkeit des Nervensystems und der Arbeitsweise bestimmter Maschinen. Das Prinzip der Rückkoppelung führt einen wichtigen neuen Gedanken in die Neurophysiologie ein. Das zentrale Nervensystem erscheint nicht länger als ein in sich abgeschlossenes Organ, welches von den Sinnen Signale empfängt und diese in die Muskeln entlädt. Ganz im Gegenteil sind einige seiner typischsten Aktivitäten nur als zirkuläre Prozesse erklärbar, d. h. als Prozesse, die vom Nervensystem in die Muskeln wandern und durch die Sinnesorgane wieder in das Nervensystem zurückgelangen. Dieser Befund scheint die Erforschung des Nervensystems als einem integrierten Ganzen einen deutlichen Schritt vorwärts zu bringen. Der neue Ansatz, den die Kybernetik darstellt – eine Integration von Untersuchungen, die weder rein biologisch noch rein physikalisch sind, sondern vielmehr eine Kombination beider Wissensgebiete bilden –, hat schon jetzt unter Beweis gestellt, dass er bei der Lösung vieler Probleme der Technik, der Physiologie und höchstwahrscheinlich auch der Psychiatrie von Nutzen sein kann.‘ (Wiener 2001<ref>'''Wiener, Norbert (2001): ''' Futurum exactum. Ausgewählte Schriften zur Kybernetik und Kommunikationstheorie. Übersetzt von C. Kassung. Herausgegeben von Bernhard Dotzler. Wien, New York: Springer. ISBN 978-3-211-83467-1. <br>Originalausgabe der Beiträge von Norbert Wiener: Norbert Wiener. Collected Works with Commentaries. © MIT Press 1976 and 1985. <br></ref>, S. 16).“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 23–24, 26.<br />
<br />
== Erfahrungsberichte ==<br />
* '''Zimmermann, Hubert; Kirov, Ute (2016):''' Optimal Handling bei Schädel-Hirn-Trauma. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics und zirkuläres Denken. 2016, Nr. 4. S. 20–26.<br><br />
Zum Artikel: [[Medium:Lq-2016-4-Optimal Handling bei Schädel-Hirn-Trauma.pdf|Optimal Handling bei Schädel-Hirn-Trauma ]]<br><br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Lineare Kausalität]]<br><br />
[[Feedback-Control-Theorie]]<br><br />
[[Wahrnehmung]]<br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* '''Enke, Axel (2019):''' Über die Zirkularität von Haltung und Kompetenz. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2019, Nr. 4. &nbsp;S.33-35.<br><br />
Zum Artikel: [[Medium:Lq-2019-4-Über die Zirkularität von Haltung und Kompetenz.pdf|Über die Zirkularität von Haltung und Kompetenz]] <br><br />
* '''Wikipedia:''' Zirkularität (Kybernetik). https://de.wikipedia.org/wiki/Zirkularit%C3%A4t_(Kybernetik) (Zugriff: 29.11.2019).<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie: Kybernetische Grundlagen]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Zirkularit%C3%A4t&diff=4893
Zirkularität
2023-12-20T10:04:42Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Weiterführende Literatur und Medien */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Lutz Zierbeck}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Zirkularität. Er beschreibt zirkuläre, also „kreisförmige“ Wirkungszusammenhänge oder Prozesse im Unterschied zu linearen, „geradlinigen“ Wirkungen. <br />
<br />
== Infobox zu zirkulären Wirkungszusammenhängen in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat ist in das vierte Kapitel „Theoretische Grundlagen von Kinaesthetics“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel „Leben bedeutet Bewegung“ und „Schwerkraft und Bewegung“ beleuchten die grundlegende Bedeutung der Bewegung und der Schwerkraft für das Leben. Das Zitat ist der Text einer Infobox „Zirkulärer Wirkungszusammenhang“ des dritten Unterkapitels „Zirkuläre Selbstregulationsprozesse als Grundlage des menschlichen Verhaltens“.<br />
<br />
[[Datei:Regelkreis-ABC 2.jpg|mini|rechts]]<br />
: ''„In einer [[Interaktion]] mit einer PartnerIn beeinflusst das Verhalten einer Person (A) fortlaufend das Verhalten der anderen Person (B). Gleichzeitig wirkt das Verhalten der InteraktionspartnerIn (B) fortlaufend auf das Verhalten der ersten Person (A) zurück. Dabei wird weder das Verhalten der ersten Person durch das Verhalten der zweiten Person bestimmt oder determiniert noch umgekehrt. Bei einer solchen Rückkoppelung – hier von zwei Elementen – macht das klassische Erklärungsmuster keinen Sinn, weil eine Person in einer [[Interaktion]] sozusagen ebenso sehr Ursache wie Wirkung ist. Auf dem zirkulären Wirkungszusammenhang zwischen drei Elementen, und zwar Motoren (A), Sensoren (B) und Rechnern (C), beruhen sich selbst steuernde, technische Systeme wie Roboter oder Heizsysteme mit Thermostat.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 44.<br />
<br />
== Zirkularität in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“. Es ist eingebettet in das dritte Kapitel „Der Kern: Feedback und Zirkularität“. Ihm voraus gehen die Unterkapitel „Selbstregulation durch Feedback“, „Wie funktioniert ein Heizsystem“ und „Ist-Wert, Soll-Wert und Rückkoppelung“. Das Zitat ist ein Ausschnitt aus dem vierten Unterkapitel „Zirkularität und Linearität“ und umfasst das fünfte Unterkapitel „Komplexe Anpassungsleistungen“. In diesem Kontext wird auch die oben abgebildete Grafik ähnlich erläutert.<br />
: '''''„Zirkularität und Linearität'''''<br>''[...]<br>Ein sich selbst regulierendes System wie z. B. ein Heizsystem mit Thermostat muss hingegen zirkulär funktionieren:<br>• Die beiden Aktivitäten (‚on‘- oder ‚off‘-Betrieb) des Heizkessels A sind die Ursache der Anzeige des Sensors B, d. h. seines Verhaltens.<br>• Die Anzeige des Sensors B ist die ursächliche Grundlage der Berechnung des Unterschiedes zwischen Ist- und Soll-Wert und der daraus folgenden ‚Befehlsausgabe‘ durch den Rechner C an den Heizkessel A.<br>• Der Rechner C ist die Ursache dafür, dass der Heizkessel A an- oder abstellt.<br>• usw.''<br />
: ''Durch die vorausgehende Formulierung soll gezeigt werden, warum die Kybernetik dieses Thema als einen ‚circular causal‘, d. h. ‚kreisförmig-ursächlichen‘ Mechanismus beschreibt. Zugleich mag man erahnen, dass kybernetisches Denken eine große Herausforderung darstellt und ein grundsätzliches Umdenken verlangt. Gemäß der Kybernetik beruht menschliches Verhalten auf einer fortlaufenden Fehlerkorrektur im Kreis und kann nicht durch bestimmte Ursachen begründet werden. Es unter dem Blickwinkel von Ursache und Wirkung, von linearen Zusammenhängen zu betrachten, greift zu kurz.''<br />
: ''Gregory Bateson war als Anthropologe mit der Breite und der Geschichte des menschlichen Denkens bestens vertraut. Er schreibt, dass es in diesem erwähnten Sinne seines Erachtens kein kybernetisches Denken vor dem Zweiten Weltkrieg gibt. (Bateson 2014<ref>'''Bateson, Gregory (2014): ''' Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Übersetzt von Hans Günter Holl. 10. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 691). ISBN 978-3-518-28291-3.</ref>, S. 129, S.&nbsp;132)''<br />
: ''[[Unterschied|Unterschiede]] spielen in Regelkreisen oder Feedback-Schleifen eine entscheidende Rolle. Die Bedeutung von Unterschieden im Rahmen der menschlichen Feedback-Kontrolle sowie der Lern- und Erkenntnistheorie wird im Kapitel 6.2 dargestellt.''<br />
: '''''Komplexe Anpassungsleistungen'''''<br>''Norbert Wiener beschrieb schon früh das Aufheben eines Bleistifts als einen Prozess, der nur durch Zirkularität erklärbar ist (vgl. Infobox S. 26). Er bezeichnete das Prinzip der Rückkoppelung als ‚einen wichtigen neuen Gedanken‘ der Neurophysiologie und erklärte frühere lineare Erklärungen als unhaltbar. Sie gingen davon aus, dass das Nervensystem als abgeschlossenes Organ ,von den Sinnen Signale empfängt und diese in die Muskeln entlädt‘. Das Gehirn gibt in kybernetischem Denken nicht den Befehl dazu, einen Bleistift aufzuheben (Ursache), woraus folgt, dass der Arm gehorcht (Wirkung). Vielmehr beruht diese Aktivität auf Regelkreisen oder Feedback-Schleifen, welche die Elemente des Nerven-, Bewegungs- und Sinnessystems zirkulär verbinden. Eine grundlegende Rolle für das ganze Wahrnehmungssystem spielt dabei der kinästhetische oder propriozeptive Sinn (vgl. auch Infobox S. 56).''<br />
: ''Mit diesen Überlegungen zeigt sich ein wichtiger Unterschied zwischen dem Menschen und dem Beispiel der Heizung. Bei dieser handelt es sich um ein sehr träges System. Im Vergleich zu den fast unmittelbar und ohne erfahrbare Verzögerung funktionierenden Feedback-Kreisläufen, auf denen das Aufheben eines Bleistiftes beruht, arbeitet ein Heizsystem in einem extremen Schneckentempo und weist keine komplexen Anpassungsleistungen auf.“''<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Kybernetik war nicht nur technisch orientiert'''“ (S. 26):<br />
: ''„[...]<br>'''Kybernetik und kinästhetische Sinneswahrnehmung'''''<br>''Das folgende längere Zitat zeigt auf, dass Norbert Wiener auch die Dimension der Kybernetik erkannte, die in der Kinästhetik kultiviert und umgesetzt wird:''<br />
: ''‚Angenommen, ich hebe einen Bleistift auf. Um dies zu tun, muss ich bestimmte Muskeln bewegen. Nur ein fachkundiger Anatom kennt alle diese Muskeln, und selbst er könnte die Handlung kaum als bewusste Willensanstrengung ausführen, indem er jeden betroffenen Muskel in der richtigen Reihenfolge kontrahieren würde. Es ist nicht unser Ziel, einzelne Muskeln zu bewegen, sondern den Bleistift aufzuheben. Sobald wir das einmal beschlossen haben, geht die Bewegung des Arms und der Hand auf eine solche Art vonstatten, dass man sagen könnte: Das Maß, um welches der Bleistift noch nicht aufgehoben ist, wird stufenweise verringert. Dieser Teil der Handlung geschieht nicht mit vollem Bewusstsein. Um eine Handlung in dieser Weise durchzuführen, muss es eine – bewusste oder unbewusste – Meldung an das Nervensystem darüber geben, wie stark wir in jedem einzelnen Augenblick das Ziel verfehlt haben, den Bleistift aufzuheben. Diese Meldung mag zumindest teilweise visuell sein, im Allgemeinen aber ist sie eher kinästhetisch bzw. propriozeptiv, um einen Begriff zu verwenden, der zur Zeit in Mode ist. Wenn diese propriozeptiven Sinneseindrücke fehlen und wir sie nicht visuell oder auf andere Weise ersetzen, so sind wir unfähig, die Handlung des Bleistiftaufhebens auszuführen; wir befinden uns dann in einem Zustand, den man Ataxie nennt. Auf der anderen Seite ist eine übermäßige Rückkoppelung wahrscheinlich eine ebenso große Behinderung. In diesem Fall schießt die Muskelbewegung über ihr Ziel hinaus und gerät in eine unkontrollierbare Oszillation. Dieser Zustand, der häufig mit einer Verletzung des Kleinhirns in Verbindung gebracht wird, ist als Intentionstremor bekannt.‘''<br />
: '''''Zirkularität als neues Erklärungsmuster der Bewegungsregulation'''''<br>''In der Fortsetzung des Zitats betont Wiener das grundsätzlich neue Verständnis der Bewegungs- bzw. Verhaltensregulation und seine mögliche Tragweite in unterschiedlichsten Bereichen:''<br />
: ''‚In diesem Falle nun besteht eine signifikante Parallele zwischen der Tätigkeit des Nervensystems und der Arbeitsweise bestimmter Maschinen. Das Prinzip der Rückkoppelung führt einen wichtigen neuen Gedanken in die Neurophysiologie ein. Das zentrale Nervensystem erscheint nicht länger als ein in sich abgeschlossenes Organ, welches von den Sinnen Signale empfängt und diese in die Muskeln entlädt. Ganz im Gegenteil sind einige seiner typischsten Aktivitäten nur als zirkuläre Prozesse erklärbar, d. h. als Prozesse, die vom Nervensystem in die Muskeln wandern und durch die Sinnesorgane wieder in das Nervensystem zurückgelangen. Dieser Befund scheint die Erforschung des Nervensystems als einem integrierten Ganzen einen deutlichen Schritt vorwärts zu bringen. Der neue Ansatz, den die Kybernetik darstellt – eine Integration von Untersuchungen, die weder rein biologisch noch rein physikalisch sind, sondern vielmehr eine Kombination beider Wissensgebiete bilden –, hat schon jetzt unter Beweis gestellt, dass er bei der Lösung vieler Probleme der Technik, der Physiologie und höchstwahrscheinlich auch der Psychiatrie von Nutzen sein kann.‘ (Wiener 2001<ref>'''Wiener, Norbert (2001): ''' Futurum exactum. Ausgewählte Schriften zur Kybernetik und Kommunikationstheorie. Übersetzt von C. Kassung. Herausgegeben von Bernhard Dotzler. Wien, New York: Springer. ISBN 978-3-211-83467-1. <br>Originalausgabe der Beiträge von Norbert Wiener: Norbert Wiener. Collected Works with Commentaries. © MIT Press 1976 and 1985. <br></ref>, S. 16).“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 23–24, 26.<br />
<br />
== Erfahrungsberichte ==<br />
* '''Zimmermann, Hubert; Kirov, Ute (2016):''' Optimal Handling bei Schädel-Hirn-Trauma. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics und zirkuläres Denken. 2016, Nr. 4. S. 20–26.<br><br />
Zum Artikel: [[Medium:Lq-2016-4-Optimal Handling bei Schädel-Hirn-Trauma.pdf|Optimal Handling bei Schädel-Hirn-Trauma ]]<br><br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Lineare Kausalität]]<br><br />
[[Feedback-Control-Theorie]]<br><br />
[[Wahrnehmung]]<br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* '''Enke, Axel (2019):''' Über die Zirkularität von Haltung und Kompetenz. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2019, Nr. 4. &nbsp;S. 33-35.<br><br />
Zum Artikel: [[Medium:Lq-2019-4-Über die Zirkularität von Haltung und Kompetenz.pdf|Über die Zirkularität von Haltung und Kompetenz]] <br><br />
* '''Wikipedia:''' Zirkularität (Kybernetik). https://de.wikipedia.org/wiki/Zirkularit%C3%A4t_(Kybernetik) (Zugriff: 29.11.2019).<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie: Kybernetische Grundlagen]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Zirkularit%C3%A4t&diff=4892
Zirkularität
2023-12-20T10:04:15Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Erfahrungsberichte */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Lutz Zierbeck}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Zirkularität. Er beschreibt zirkuläre, also „kreisförmige“ Wirkungszusammenhänge oder Prozesse im Unterschied zu linearen, „geradlinigen“ Wirkungen. <br />
<br />
== Infobox zu zirkulären Wirkungszusammenhängen in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat ist in das vierte Kapitel „Theoretische Grundlagen von Kinaesthetics“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel „Leben bedeutet Bewegung“ und „Schwerkraft und Bewegung“ beleuchten die grundlegende Bedeutung der Bewegung und der Schwerkraft für das Leben. Das Zitat ist der Text einer Infobox „Zirkulärer Wirkungszusammenhang“ des dritten Unterkapitels „Zirkuläre Selbstregulationsprozesse als Grundlage des menschlichen Verhaltens“.<br />
<br />
[[Datei:Regelkreis-ABC 2.jpg|mini|rechts]]<br />
: ''„In einer [[Interaktion]] mit einer PartnerIn beeinflusst das Verhalten einer Person (A) fortlaufend das Verhalten der anderen Person (B). Gleichzeitig wirkt das Verhalten der InteraktionspartnerIn (B) fortlaufend auf das Verhalten der ersten Person (A) zurück. Dabei wird weder das Verhalten der ersten Person durch das Verhalten der zweiten Person bestimmt oder determiniert noch umgekehrt. Bei einer solchen Rückkoppelung – hier von zwei Elementen – macht das klassische Erklärungsmuster keinen Sinn, weil eine Person in einer [[Interaktion]] sozusagen ebenso sehr Ursache wie Wirkung ist. Auf dem zirkulären Wirkungszusammenhang zwischen drei Elementen, und zwar Motoren (A), Sensoren (B) und Rechnern (C), beruhen sich selbst steuernde, technische Systeme wie Roboter oder Heizsysteme mit Thermostat.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 44.<br />
<br />
== Zirkularität in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“. Es ist eingebettet in das dritte Kapitel „Der Kern: Feedback und Zirkularität“. Ihm voraus gehen die Unterkapitel „Selbstregulation durch Feedback“, „Wie funktioniert ein Heizsystem“ und „Ist-Wert, Soll-Wert und Rückkoppelung“. Das Zitat ist ein Ausschnitt aus dem vierten Unterkapitel „Zirkularität und Linearität“ und umfasst das fünfte Unterkapitel „Komplexe Anpassungsleistungen“. In diesem Kontext wird auch die oben abgebildete Grafik ähnlich erläutert.<br />
: '''''„Zirkularität und Linearität'''''<br>''[...]<br>Ein sich selbst regulierendes System wie z. B. ein Heizsystem mit Thermostat muss hingegen zirkulär funktionieren:<br>• Die beiden Aktivitäten (‚on‘- oder ‚off‘-Betrieb) des Heizkessels A sind die Ursache der Anzeige des Sensors B, d. h. seines Verhaltens.<br>• Die Anzeige des Sensors B ist die ursächliche Grundlage der Berechnung des Unterschiedes zwischen Ist- und Soll-Wert und der daraus folgenden ‚Befehlsausgabe‘ durch den Rechner C an den Heizkessel A.<br>• Der Rechner C ist die Ursache dafür, dass der Heizkessel A an- oder abstellt.<br>• usw.''<br />
: ''Durch die vorausgehende Formulierung soll gezeigt werden, warum die Kybernetik dieses Thema als einen ‚circular causal‘, d. h. ‚kreisförmig-ursächlichen‘ Mechanismus beschreibt. Zugleich mag man erahnen, dass kybernetisches Denken eine große Herausforderung darstellt und ein grundsätzliches Umdenken verlangt. Gemäß der Kybernetik beruht menschliches Verhalten auf einer fortlaufenden Fehlerkorrektur im Kreis und kann nicht durch bestimmte Ursachen begründet werden. Es unter dem Blickwinkel von Ursache und Wirkung, von linearen Zusammenhängen zu betrachten, greift zu kurz.''<br />
: ''Gregory Bateson war als Anthropologe mit der Breite und der Geschichte des menschlichen Denkens bestens vertraut. Er schreibt, dass es in diesem erwähnten Sinne seines Erachtens kein kybernetisches Denken vor dem Zweiten Weltkrieg gibt. (Bateson 2014<ref>'''Bateson, Gregory (2014): ''' Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Übersetzt von Hans Günter Holl. 10. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 691). ISBN 978-3-518-28291-3.</ref>, S. 129, S.&nbsp;132)''<br />
: ''[[Unterschied|Unterschiede]] spielen in Regelkreisen oder Feedback-Schleifen eine entscheidende Rolle. Die Bedeutung von Unterschieden im Rahmen der menschlichen Feedback-Kontrolle sowie der Lern- und Erkenntnistheorie wird im Kapitel 6.2 dargestellt.''<br />
: '''''Komplexe Anpassungsleistungen'''''<br>''Norbert Wiener beschrieb schon früh das Aufheben eines Bleistifts als einen Prozess, der nur durch Zirkularität erklärbar ist (vgl. Infobox S. 26). Er bezeichnete das Prinzip der Rückkoppelung als ‚einen wichtigen neuen Gedanken‘ der Neurophysiologie und erklärte frühere lineare Erklärungen als unhaltbar. Sie gingen davon aus, dass das Nervensystem als abgeschlossenes Organ ,von den Sinnen Signale empfängt und diese in die Muskeln entlädt‘. Das Gehirn gibt in kybernetischem Denken nicht den Befehl dazu, einen Bleistift aufzuheben (Ursache), woraus folgt, dass der Arm gehorcht (Wirkung). Vielmehr beruht diese Aktivität auf Regelkreisen oder Feedback-Schleifen, welche die Elemente des Nerven-, Bewegungs- und Sinnessystems zirkulär verbinden. Eine grundlegende Rolle für das ganze Wahrnehmungssystem spielt dabei der kinästhetische oder propriozeptive Sinn (vgl. auch Infobox S. 56).''<br />
: ''Mit diesen Überlegungen zeigt sich ein wichtiger Unterschied zwischen dem Menschen und dem Beispiel der Heizung. Bei dieser handelt es sich um ein sehr träges System. Im Vergleich zu den fast unmittelbar und ohne erfahrbare Verzögerung funktionierenden Feedback-Kreisläufen, auf denen das Aufheben eines Bleistiftes beruht, arbeitet ein Heizsystem in einem extremen Schneckentempo und weist keine komplexen Anpassungsleistungen auf.“''<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Kybernetik war nicht nur technisch orientiert'''“ (S. 26):<br />
: ''„[...]<br>'''Kybernetik und kinästhetische Sinneswahrnehmung'''''<br>''Das folgende längere Zitat zeigt auf, dass Norbert Wiener auch die Dimension der Kybernetik erkannte, die in der Kinästhetik kultiviert und umgesetzt wird:''<br />
: ''‚Angenommen, ich hebe einen Bleistift auf. Um dies zu tun, muss ich bestimmte Muskeln bewegen. Nur ein fachkundiger Anatom kennt alle diese Muskeln, und selbst er könnte die Handlung kaum als bewusste Willensanstrengung ausführen, indem er jeden betroffenen Muskel in der richtigen Reihenfolge kontrahieren würde. Es ist nicht unser Ziel, einzelne Muskeln zu bewegen, sondern den Bleistift aufzuheben. Sobald wir das einmal beschlossen haben, geht die Bewegung des Arms und der Hand auf eine solche Art vonstatten, dass man sagen könnte: Das Maß, um welches der Bleistift noch nicht aufgehoben ist, wird stufenweise verringert. Dieser Teil der Handlung geschieht nicht mit vollem Bewusstsein. Um eine Handlung in dieser Weise durchzuführen, muss es eine – bewusste oder unbewusste – Meldung an das Nervensystem darüber geben, wie stark wir in jedem einzelnen Augenblick das Ziel verfehlt haben, den Bleistift aufzuheben. Diese Meldung mag zumindest teilweise visuell sein, im Allgemeinen aber ist sie eher kinästhetisch bzw. propriozeptiv, um einen Begriff zu verwenden, der zur Zeit in Mode ist. Wenn diese propriozeptiven Sinneseindrücke fehlen und wir sie nicht visuell oder auf andere Weise ersetzen, so sind wir unfähig, die Handlung des Bleistiftaufhebens auszuführen; wir befinden uns dann in einem Zustand, den man Ataxie nennt. Auf der anderen Seite ist eine übermäßige Rückkoppelung wahrscheinlich eine ebenso große Behinderung. In diesem Fall schießt die Muskelbewegung über ihr Ziel hinaus und gerät in eine unkontrollierbare Oszillation. Dieser Zustand, der häufig mit einer Verletzung des Kleinhirns in Verbindung gebracht wird, ist als Intentionstremor bekannt.‘''<br />
: '''''Zirkularität als neues Erklärungsmuster der Bewegungsregulation'''''<br>''In der Fortsetzung des Zitats betont Wiener das grundsätzlich neue Verständnis der Bewegungs- bzw. Verhaltensregulation und seine mögliche Tragweite in unterschiedlichsten Bereichen:''<br />
: ''‚In diesem Falle nun besteht eine signifikante Parallele zwischen der Tätigkeit des Nervensystems und der Arbeitsweise bestimmter Maschinen. Das Prinzip der Rückkoppelung führt einen wichtigen neuen Gedanken in die Neurophysiologie ein. Das zentrale Nervensystem erscheint nicht länger als ein in sich abgeschlossenes Organ, welches von den Sinnen Signale empfängt und diese in die Muskeln entlädt. Ganz im Gegenteil sind einige seiner typischsten Aktivitäten nur als zirkuläre Prozesse erklärbar, d. h. als Prozesse, die vom Nervensystem in die Muskeln wandern und durch die Sinnesorgane wieder in das Nervensystem zurückgelangen. Dieser Befund scheint die Erforschung des Nervensystems als einem integrierten Ganzen einen deutlichen Schritt vorwärts zu bringen. Der neue Ansatz, den die Kybernetik darstellt – eine Integration von Untersuchungen, die weder rein biologisch noch rein physikalisch sind, sondern vielmehr eine Kombination beider Wissensgebiete bilden –, hat schon jetzt unter Beweis gestellt, dass er bei der Lösung vieler Probleme der Technik, der Physiologie und höchstwahrscheinlich auch der Psychiatrie von Nutzen sein kann.‘ (Wiener 2001<ref>'''Wiener, Norbert (2001): ''' Futurum exactum. Ausgewählte Schriften zur Kybernetik und Kommunikationstheorie. Übersetzt von C. Kassung. Herausgegeben von Bernhard Dotzler. Wien, New York: Springer. ISBN 978-3-211-83467-1. <br>Originalausgabe der Beiträge von Norbert Wiener: Norbert Wiener. Collected Works with Commentaries. © MIT Press 1976 and 1985. <br></ref>, S. 16).“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 23–24, 26.<br />
<br />
== Erfahrungsberichte ==<br />
* '''Zimmermann, Hubert; Kirov, Ute (2016):''' Optimal Handling bei Schädel-Hirn-Trauma. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics und zirkuläres Denken. 2016, Nr. 4. S. 20–26.<br><br />
Zum Artikel: [[Medium:Lq-2016-4-Optimal Handling bei Schädel-Hirn-Trauma.pdf|Optimal Handling bei Schädel-Hirn-Trauma ]]<br><br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Lineare Kausalität]]<br><br />
[[Feedback-Control-Theorie]]<br><br />
[[Wahrnehmung]]<br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* '''Enke, Axel (2019):''' Über die Zirkularität von Haltung und Kompetenz. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2019, Nr. 4. &nbsp;S. 33 - 35.<br><br />
Zum Artikel: [[Medium:Lq-2019-4-Über die Zirkularität von Haltung und Kompetenz.pdf|Über die Zirkularität von Haltung und Kompetenz]] <br><br />
* '''Wikipedia:''' Zirkularität (Kybernetik). https://de.wikipedia.org/wiki/Zirkularit%C3%A4t_(Kybernetik) (Zugriff: 29.11.2019).<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie: Kybernetische Grundlagen]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Datei:Lq-2016-4-Optimal_Handling_bei_Sch%C3%A4del-Hirn-Trauma.pdf&diff=4891
Datei:Lq-2016-4-Optimal Handling bei Schädel-Hirn-Trauma.pdf
2023-12-20T10:01:49Z
<p>Lutz Zierbeck: </p>
<hr />
<div></div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Zirkularit%C3%A4t&diff=4890
Zirkularität
2023-12-20T09:56:24Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Erfahrungsberichte */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Lutz Zierbeck}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Zirkularität. Er beschreibt zirkuläre, also „kreisförmige“ Wirkungszusammenhänge oder Prozesse im Unterschied zu linearen, „geradlinigen“ Wirkungen. <br />
<br />
== Infobox zu zirkulären Wirkungszusammenhängen in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat ist in das vierte Kapitel „Theoretische Grundlagen von Kinaesthetics“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel „Leben bedeutet Bewegung“ und „Schwerkraft und Bewegung“ beleuchten die grundlegende Bedeutung der Bewegung und der Schwerkraft für das Leben. Das Zitat ist der Text einer Infobox „Zirkulärer Wirkungszusammenhang“ des dritten Unterkapitels „Zirkuläre Selbstregulationsprozesse als Grundlage des menschlichen Verhaltens“.<br />
<br />
[[Datei:Regelkreis-ABC 2.jpg|mini|rechts]]<br />
: ''„In einer [[Interaktion]] mit einer PartnerIn beeinflusst das Verhalten einer Person (A) fortlaufend das Verhalten der anderen Person (B). Gleichzeitig wirkt das Verhalten der InteraktionspartnerIn (B) fortlaufend auf das Verhalten der ersten Person (A) zurück. Dabei wird weder das Verhalten der ersten Person durch das Verhalten der zweiten Person bestimmt oder determiniert noch umgekehrt. Bei einer solchen Rückkoppelung – hier von zwei Elementen – macht das klassische Erklärungsmuster keinen Sinn, weil eine Person in einer [[Interaktion]] sozusagen ebenso sehr Ursache wie Wirkung ist. Auf dem zirkulären Wirkungszusammenhang zwischen drei Elementen, und zwar Motoren (A), Sensoren (B) und Rechnern (C), beruhen sich selbst steuernde, technische Systeme wie Roboter oder Heizsysteme mit Thermostat.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 44.<br />
<br />
== Zirkularität in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“. Es ist eingebettet in das dritte Kapitel „Der Kern: Feedback und Zirkularität“. Ihm voraus gehen die Unterkapitel „Selbstregulation durch Feedback“, „Wie funktioniert ein Heizsystem“ und „Ist-Wert, Soll-Wert und Rückkoppelung“. Das Zitat ist ein Ausschnitt aus dem vierten Unterkapitel „Zirkularität und Linearität“ und umfasst das fünfte Unterkapitel „Komplexe Anpassungsleistungen“. In diesem Kontext wird auch die oben abgebildete Grafik ähnlich erläutert.<br />
: '''''„Zirkularität und Linearität'''''<br>''[...]<br>Ein sich selbst regulierendes System wie z. B. ein Heizsystem mit Thermostat muss hingegen zirkulär funktionieren:<br>• Die beiden Aktivitäten (‚on‘- oder ‚off‘-Betrieb) des Heizkessels A sind die Ursache der Anzeige des Sensors B, d. h. seines Verhaltens.<br>• Die Anzeige des Sensors B ist die ursächliche Grundlage der Berechnung des Unterschiedes zwischen Ist- und Soll-Wert und der daraus folgenden ‚Befehlsausgabe‘ durch den Rechner C an den Heizkessel A.<br>• Der Rechner C ist die Ursache dafür, dass der Heizkessel A an- oder abstellt.<br>• usw.''<br />
: ''Durch die vorausgehende Formulierung soll gezeigt werden, warum die Kybernetik dieses Thema als einen ‚circular causal‘, d. h. ‚kreisförmig-ursächlichen‘ Mechanismus beschreibt. Zugleich mag man erahnen, dass kybernetisches Denken eine große Herausforderung darstellt und ein grundsätzliches Umdenken verlangt. Gemäß der Kybernetik beruht menschliches Verhalten auf einer fortlaufenden Fehlerkorrektur im Kreis und kann nicht durch bestimmte Ursachen begründet werden. Es unter dem Blickwinkel von Ursache und Wirkung, von linearen Zusammenhängen zu betrachten, greift zu kurz.''<br />
: ''Gregory Bateson war als Anthropologe mit der Breite und der Geschichte des menschlichen Denkens bestens vertraut. Er schreibt, dass es in diesem erwähnten Sinne seines Erachtens kein kybernetisches Denken vor dem Zweiten Weltkrieg gibt. (Bateson 2014<ref>'''Bateson, Gregory (2014): ''' Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Übersetzt von Hans Günter Holl. 10. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 691). ISBN 978-3-518-28291-3.</ref>, S. 129, S.&nbsp;132)''<br />
: ''[[Unterschied|Unterschiede]] spielen in Regelkreisen oder Feedback-Schleifen eine entscheidende Rolle. Die Bedeutung von Unterschieden im Rahmen der menschlichen Feedback-Kontrolle sowie der Lern- und Erkenntnistheorie wird im Kapitel 6.2 dargestellt.''<br />
: '''''Komplexe Anpassungsleistungen'''''<br>''Norbert Wiener beschrieb schon früh das Aufheben eines Bleistifts als einen Prozess, der nur durch Zirkularität erklärbar ist (vgl. Infobox S. 26). Er bezeichnete das Prinzip der Rückkoppelung als ‚einen wichtigen neuen Gedanken‘ der Neurophysiologie und erklärte frühere lineare Erklärungen als unhaltbar. Sie gingen davon aus, dass das Nervensystem als abgeschlossenes Organ ,von den Sinnen Signale empfängt und diese in die Muskeln entlädt‘. Das Gehirn gibt in kybernetischem Denken nicht den Befehl dazu, einen Bleistift aufzuheben (Ursache), woraus folgt, dass der Arm gehorcht (Wirkung). Vielmehr beruht diese Aktivität auf Regelkreisen oder Feedback-Schleifen, welche die Elemente des Nerven-, Bewegungs- und Sinnessystems zirkulär verbinden. Eine grundlegende Rolle für das ganze Wahrnehmungssystem spielt dabei der kinästhetische oder propriozeptive Sinn (vgl. auch Infobox S. 56).''<br />
: ''Mit diesen Überlegungen zeigt sich ein wichtiger Unterschied zwischen dem Menschen und dem Beispiel der Heizung. Bei dieser handelt es sich um ein sehr träges System. Im Vergleich zu den fast unmittelbar und ohne erfahrbare Verzögerung funktionierenden Feedback-Kreisläufen, auf denen das Aufheben eines Bleistiftes beruht, arbeitet ein Heizsystem in einem extremen Schneckentempo und weist keine komplexen Anpassungsleistungen auf.“''<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Kybernetik war nicht nur technisch orientiert'''“ (S. 26):<br />
: ''„[...]<br>'''Kybernetik und kinästhetische Sinneswahrnehmung'''''<br>''Das folgende längere Zitat zeigt auf, dass Norbert Wiener auch die Dimension der Kybernetik erkannte, die in der Kinästhetik kultiviert und umgesetzt wird:''<br />
: ''‚Angenommen, ich hebe einen Bleistift auf. Um dies zu tun, muss ich bestimmte Muskeln bewegen. Nur ein fachkundiger Anatom kennt alle diese Muskeln, und selbst er könnte die Handlung kaum als bewusste Willensanstrengung ausführen, indem er jeden betroffenen Muskel in der richtigen Reihenfolge kontrahieren würde. Es ist nicht unser Ziel, einzelne Muskeln zu bewegen, sondern den Bleistift aufzuheben. Sobald wir das einmal beschlossen haben, geht die Bewegung des Arms und der Hand auf eine solche Art vonstatten, dass man sagen könnte: Das Maß, um welches der Bleistift noch nicht aufgehoben ist, wird stufenweise verringert. Dieser Teil der Handlung geschieht nicht mit vollem Bewusstsein. Um eine Handlung in dieser Weise durchzuführen, muss es eine – bewusste oder unbewusste – Meldung an das Nervensystem darüber geben, wie stark wir in jedem einzelnen Augenblick das Ziel verfehlt haben, den Bleistift aufzuheben. Diese Meldung mag zumindest teilweise visuell sein, im Allgemeinen aber ist sie eher kinästhetisch bzw. propriozeptiv, um einen Begriff zu verwenden, der zur Zeit in Mode ist. Wenn diese propriozeptiven Sinneseindrücke fehlen und wir sie nicht visuell oder auf andere Weise ersetzen, so sind wir unfähig, die Handlung des Bleistiftaufhebens auszuführen; wir befinden uns dann in einem Zustand, den man Ataxie nennt. Auf der anderen Seite ist eine übermäßige Rückkoppelung wahrscheinlich eine ebenso große Behinderung. In diesem Fall schießt die Muskelbewegung über ihr Ziel hinaus und gerät in eine unkontrollierbare Oszillation. Dieser Zustand, der häufig mit einer Verletzung des Kleinhirns in Verbindung gebracht wird, ist als Intentionstremor bekannt.‘''<br />
: '''''Zirkularität als neues Erklärungsmuster der Bewegungsregulation'''''<br>''In der Fortsetzung des Zitats betont Wiener das grundsätzlich neue Verständnis der Bewegungs- bzw. Verhaltensregulation und seine mögliche Tragweite in unterschiedlichsten Bereichen:''<br />
: ''‚In diesem Falle nun besteht eine signifikante Parallele zwischen der Tätigkeit des Nervensystems und der Arbeitsweise bestimmter Maschinen. Das Prinzip der Rückkoppelung führt einen wichtigen neuen Gedanken in die Neurophysiologie ein. Das zentrale Nervensystem erscheint nicht länger als ein in sich abgeschlossenes Organ, welches von den Sinnen Signale empfängt und diese in die Muskeln entlädt. Ganz im Gegenteil sind einige seiner typischsten Aktivitäten nur als zirkuläre Prozesse erklärbar, d. h. als Prozesse, die vom Nervensystem in die Muskeln wandern und durch die Sinnesorgane wieder in das Nervensystem zurückgelangen. Dieser Befund scheint die Erforschung des Nervensystems als einem integrierten Ganzen einen deutlichen Schritt vorwärts zu bringen. Der neue Ansatz, den die Kybernetik darstellt – eine Integration von Untersuchungen, die weder rein biologisch noch rein physikalisch sind, sondern vielmehr eine Kombination beider Wissensgebiete bilden –, hat schon jetzt unter Beweis gestellt, dass er bei der Lösung vieler Probleme der Technik, der Physiologie und höchstwahrscheinlich auch der Psychiatrie von Nutzen sein kann.‘ (Wiener 2001<ref>'''Wiener, Norbert (2001): ''' Futurum exactum. Ausgewählte Schriften zur Kybernetik und Kommunikationstheorie. Übersetzt von C. Kassung. Herausgegeben von Bernhard Dotzler. Wien, New York: Springer. ISBN 978-3-211-83467-1. <br>Originalausgabe der Beiträge von Norbert Wiener: Norbert Wiener. Collected Works with Commentaries. © MIT Press 1976 and 1985. <br></ref>, S. 16).“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 23–24, 26.<br />
<br />
== Erfahrungsberichte ==<br />
* '''Zimmermann, Hubert; Kirov, Ute (2016):''' Optimal Handling bei Schädel-Hirn-Trauma. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics und zirkuläres Denken. 2016, Nr. 4. S. 20–26.<br><br />
Zum Artikel: [[Medium:Lq-2019-4-Über die Zirkularität von Haltung und Kompetenz.pdf|Über die Zirkularität von Haltung und Kompetenz]] <br><br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Lineare Kausalität]]<br><br />
[[Feedback-Control-Theorie]]<br><br />
[[Wahrnehmung]]<br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* '''Enke, Axel (2019):''' Über die Zirkularität von Haltung und Kompetenz. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2019, Nr. 4. &nbsp;S. 33 - 35.<br><br />
Zum Artikel: [[Medium:Lq-2019-4-Über die Zirkularität von Haltung und Kompetenz.pdf|Über die Zirkularität von Haltung und Kompetenz]] <br><br />
* '''Wikipedia:''' Zirkularität (Kybernetik). https://de.wikipedia.org/wiki/Zirkularit%C3%A4t_(Kybernetik) (Zugriff: 29.11.2019).<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie: Kybernetische Grundlagen]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Zirkularit%C3%A4t&diff=4889
Zirkularität
2023-12-20T09:54:49Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Weiterführende Literatur und Medien */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Lutz Zierbeck}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Zirkularität. Er beschreibt zirkuläre, also „kreisförmige“ Wirkungszusammenhänge oder Prozesse im Unterschied zu linearen, „geradlinigen“ Wirkungen. <br />
<br />
== Infobox zu zirkulären Wirkungszusammenhängen in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat ist in das vierte Kapitel „Theoretische Grundlagen von Kinaesthetics“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel „Leben bedeutet Bewegung“ und „Schwerkraft und Bewegung“ beleuchten die grundlegende Bedeutung der Bewegung und der Schwerkraft für das Leben. Das Zitat ist der Text einer Infobox „Zirkulärer Wirkungszusammenhang“ des dritten Unterkapitels „Zirkuläre Selbstregulationsprozesse als Grundlage des menschlichen Verhaltens“.<br />
<br />
[[Datei:Regelkreis-ABC 2.jpg|mini|rechts]]<br />
: ''„In einer [[Interaktion]] mit einer PartnerIn beeinflusst das Verhalten einer Person (A) fortlaufend das Verhalten der anderen Person (B). Gleichzeitig wirkt das Verhalten der InteraktionspartnerIn (B) fortlaufend auf das Verhalten der ersten Person (A) zurück. Dabei wird weder das Verhalten der ersten Person durch das Verhalten der zweiten Person bestimmt oder determiniert noch umgekehrt. Bei einer solchen Rückkoppelung – hier von zwei Elementen – macht das klassische Erklärungsmuster keinen Sinn, weil eine Person in einer [[Interaktion]] sozusagen ebenso sehr Ursache wie Wirkung ist. Auf dem zirkulären Wirkungszusammenhang zwischen drei Elementen, und zwar Motoren (A), Sensoren (B) und Rechnern (C), beruhen sich selbst steuernde, technische Systeme wie Roboter oder Heizsysteme mit Thermostat.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 44.<br />
<br />
== Zirkularität in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“. Es ist eingebettet in das dritte Kapitel „Der Kern: Feedback und Zirkularität“. Ihm voraus gehen die Unterkapitel „Selbstregulation durch Feedback“, „Wie funktioniert ein Heizsystem“ und „Ist-Wert, Soll-Wert und Rückkoppelung“. Das Zitat ist ein Ausschnitt aus dem vierten Unterkapitel „Zirkularität und Linearität“ und umfasst das fünfte Unterkapitel „Komplexe Anpassungsleistungen“. In diesem Kontext wird auch die oben abgebildete Grafik ähnlich erläutert.<br />
: '''''„Zirkularität und Linearität'''''<br>''[...]<br>Ein sich selbst regulierendes System wie z. B. ein Heizsystem mit Thermostat muss hingegen zirkulär funktionieren:<br>• Die beiden Aktivitäten (‚on‘- oder ‚off‘-Betrieb) des Heizkessels A sind die Ursache der Anzeige des Sensors B, d. h. seines Verhaltens.<br>• Die Anzeige des Sensors B ist die ursächliche Grundlage der Berechnung des Unterschiedes zwischen Ist- und Soll-Wert und der daraus folgenden ‚Befehlsausgabe‘ durch den Rechner C an den Heizkessel A.<br>• Der Rechner C ist die Ursache dafür, dass der Heizkessel A an- oder abstellt.<br>• usw.''<br />
: ''Durch die vorausgehende Formulierung soll gezeigt werden, warum die Kybernetik dieses Thema als einen ‚circular causal‘, d. h. ‚kreisförmig-ursächlichen‘ Mechanismus beschreibt. Zugleich mag man erahnen, dass kybernetisches Denken eine große Herausforderung darstellt und ein grundsätzliches Umdenken verlangt. Gemäß der Kybernetik beruht menschliches Verhalten auf einer fortlaufenden Fehlerkorrektur im Kreis und kann nicht durch bestimmte Ursachen begründet werden. Es unter dem Blickwinkel von Ursache und Wirkung, von linearen Zusammenhängen zu betrachten, greift zu kurz.''<br />
: ''Gregory Bateson war als Anthropologe mit der Breite und der Geschichte des menschlichen Denkens bestens vertraut. Er schreibt, dass es in diesem erwähnten Sinne seines Erachtens kein kybernetisches Denken vor dem Zweiten Weltkrieg gibt. (Bateson 2014<ref>'''Bateson, Gregory (2014): ''' Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Übersetzt von Hans Günter Holl. 10. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 691). ISBN 978-3-518-28291-3.</ref>, S. 129, S.&nbsp;132)''<br />
: ''[[Unterschied|Unterschiede]] spielen in Regelkreisen oder Feedback-Schleifen eine entscheidende Rolle. Die Bedeutung von Unterschieden im Rahmen der menschlichen Feedback-Kontrolle sowie der Lern- und Erkenntnistheorie wird im Kapitel 6.2 dargestellt.''<br />
: '''''Komplexe Anpassungsleistungen'''''<br>''Norbert Wiener beschrieb schon früh das Aufheben eines Bleistifts als einen Prozess, der nur durch Zirkularität erklärbar ist (vgl. Infobox S. 26). Er bezeichnete das Prinzip der Rückkoppelung als ‚einen wichtigen neuen Gedanken‘ der Neurophysiologie und erklärte frühere lineare Erklärungen als unhaltbar. Sie gingen davon aus, dass das Nervensystem als abgeschlossenes Organ ,von den Sinnen Signale empfängt und diese in die Muskeln entlädt‘. Das Gehirn gibt in kybernetischem Denken nicht den Befehl dazu, einen Bleistift aufzuheben (Ursache), woraus folgt, dass der Arm gehorcht (Wirkung). Vielmehr beruht diese Aktivität auf Regelkreisen oder Feedback-Schleifen, welche die Elemente des Nerven-, Bewegungs- und Sinnessystems zirkulär verbinden. Eine grundlegende Rolle für das ganze Wahrnehmungssystem spielt dabei der kinästhetische oder propriozeptive Sinn (vgl. auch Infobox S. 56).''<br />
: ''Mit diesen Überlegungen zeigt sich ein wichtiger Unterschied zwischen dem Menschen und dem Beispiel der Heizung. Bei dieser handelt es sich um ein sehr träges System. Im Vergleich zu den fast unmittelbar und ohne erfahrbare Verzögerung funktionierenden Feedback-Kreisläufen, auf denen das Aufheben eines Bleistiftes beruht, arbeitet ein Heizsystem in einem extremen Schneckentempo und weist keine komplexen Anpassungsleistungen auf.“''<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Kybernetik war nicht nur technisch orientiert'''“ (S. 26):<br />
: ''„[...]<br>'''Kybernetik und kinästhetische Sinneswahrnehmung'''''<br>''Das folgende längere Zitat zeigt auf, dass Norbert Wiener auch die Dimension der Kybernetik erkannte, die in der Kinästhetik kultiviert und umgesetzt wird:''<br />
: ''‚Angenommen, ich hebe einen Bleistift auf. Um dies zu tun, muss ich bestimmte Muskeln bewegen. Nur ein fachkundiger Anatom kennt alle diese Muskeln, und selbst er könnte die Handlung kaum als bewusste Willensanstrengung ausführen, indem er jeden betroffenen Muskel in der richtigen Reihenfolge kontrahieren würde. Es ist nicht unser Ziel, einzelne Muskeln zu bewegen, sondern den Bleistift aufzuheben. Sobald wir das einmal beschlossen haben, geht die Bewegung des Arms und der Hand auf eine solche Art vonstatten, dass man sagen könnte: Das Maß, um welches der Bleistift noch nicht aufgehoben ist, wird stufenweise verringert. Dieser Teil der Handlung geschieht nicht mit vollem Bewusstsein. Um eine Handlung in dieser Weise durchzuführen, muss es eine – bewusste oder unbewusste – Meldung an das Nervensystem darüber geben, wie stark wir in jedem einzelnen Augenblick das Ziel verfehlt haben, den Bleistift aufzuheben. Diese Meldung mag zumindest teilweise visuell sein, im Allgemeinen aber ist sie eher kinästhetisch bzw. propriozeptiv, um einen Begriff zu verwenden, der zur Zeit in Mode ist. Wenn diese propriozeptiven Sinneseindrücke fehlen und wir sie nicht visuell oder auf andere Weise ersetzen, so sind wir unfähig, die Handlung des Bleistiftaufhebens auszuführen; wir befinden uns dann in einem Zustand, den man Ataxie nennt. Auf der anderen Seite ist eine übermäßige Rückkoppelung wahrscheinlich eine ebenso große Behinderung. In diesem Fall schießt die Muskelbewegung über ihr Ziel hinaus und gerät in eine unkontrollierbare Oszillation. Dieser Zustand, der häufig mit einer Verletzung des Kleinhirns in Verbindung gebracht wird, ist als Intentionstremor bekannt.‘''<br />
: '''''Zirkularität als neues Erklärungsmuster der Bewegungsregulation'''''<br>''In der Fortsetzung des Zitats betont Wiener das grundsätzlich neue Verständnis der Bewegungs- bzw. Verhaltensregulation und seine mögliche Tragweite in unterschiedlichsten Bereichen:''<br />
: ''‚In diesem Falle nun besteht eine signifikante Parallele zwischen der Tätigkeit des Nervensystems und der Arbeitsweise bestimmter Maschinen. Das Prinzip der Rückkoppelung führt einen wichtigen neuen Gedanken in die Neurophysiologie ein. Das zentrale Nervensystem erscheint nicht länger als ein in sich abgeschlossenes Organ, welches von den Sinnen Signale empfängt und diese in die Muskeln entlädt. Ganz im Gegenteil sind einige seiner typischsten Aktivitäten nur als zirkuläre Prozesse erklärbar, d. h. als Prozesse, die vom Nervensystem in die Muskeln wandern und durch die Sinnesorgane wieder in das Nervensystem zurückgelangen. Dieser Befund scheint die Erforschung des Nervensystems als einem integrierten Ganzen einen deutlichen Schritt vorwärts zu bringen. Der neue Ansatz, den die Kybernetik darstellt – eine Integration von Untersuchungen, die weder rein biologisch noch rein physikalisch sind, sondern vielmehr eine Kombination beider Wissensgebiete bilden –, hat schon jetzt unter Beweis gestellt, dass er bei der Lösung vieler Probleme der Technik, der Physiologie und höchstwahrscheinlich auch der Psychiatrie von Nutzen sein kann.‘ (Wiener 2001<ref>'''Wiener, Norbert (2001): ''' Futurum exactum. Ausgewählte Schriften zur Kybernetik und Kommunikationstheorie. Übersetzt von C. Kassung. Herausgegeben von Bernhard Dotzler. Wien, New York: Springer. ISBN 978-3-211-83467-1. <br>Originalausgabe der Beiträge von Norbert Wiener: Norbert Wiener. Collected Works with Commentaries. © MIT Press 1976 and 1985. <br></ref>, S. 16).“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 23–24, 26.<br />
<br />
== Erfahrungsberichte ==<br />
* '''Zimmermann, Hubert; Kirov, Ute (2016):''' Optimal Handling bei Schädel-Hirn-Trauma. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics und zirkuläres Denken. 2016, Nr. 4. S. 20–26.<br><br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Lineare Kausalität]]<br><br />
[[Feedback-Control-Theorie]]<br><br />
[[Wahrnehmung]]<br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* '''Enke, Axel (2019):''' Über die Zirkularität von Haltung und Kompetenz. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2019, Nr. 4. &nbsp;S. 33 - 35.<br><br />
Zum Artikel: [[Medium:Lq-2019-4-Über die Zirkularität von Haltung und Kompetenz.pdf|Über die Zirkularität von Haltung und Kompetenz]] <br><br />
* '''Wikipedia:''' Zirkularität (Kybernetik). https://de.wikipedia.org/wiki/Zirkularit%C3%A4t_(Kybernetik) (Zugriff: 29.11.2019).<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie: Kybernetische Grundlagen]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Zirkularit%C3%A4t&diff=4888
Zirkularität
2023-12-20T09:50:42Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Weiterführende Literatur und Medien */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Lutz Zierbeck}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Zirkularität. Er beschreibt zirkuläre, also „kreisförmige“ Wirkungszusammenhänge oder Prozesse im Unterschied zu linearen, „geradlinigen“ Wirkungen. <br />
<br />
== Infobox zu zirkulären Wirkungszusammenhängen in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat ist in das vierte Kapitel „Theoretische Grundlagen von Kinaesthetics“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel „Leben bedeutet Bewegung“ und „Schwerkraft und Bewegung“ beleuchten die grundlegende Bedeutung der Bewegung und der Schwerkraft für das Leben. Das Zitat ist der Text einer Infobox „Zirkulärer Wirkungszusammenhang“ des dritten Unterkapitels „Zirkuläre Selbstregulationsprozesse als Grundlage des menschlichen Verhaltens“.<br />
<br />
[[Datei:Regelkreis-ABC 2.jpg|mini|rechts]]<br />
: ''„In einer [[Interaktion]] mit einer PartnerIn beeinflusst das Verhalten einer Person (A) fortlaufend das Verhalten der anderen Person (B). Gleichzeitig wirkt das Verhalten der InteraktionspartnerIn (B) fortlaufend auf das Verhalten der ersten Person (A) zurück. Dabei wird weder das Verhalten der ersten Person durch das Verhalten der zweiten Person bestimmt oder determiniert noch umgekehrt. Bei einer solchen Rückkoppelung – hier von zwei Elementen – macht das klassische Erklärungsmuster keinen Sinn, weil eine Person in einer [[Interaktion]] sozusagen ebenso sehr Ursache wie Wirkung ist. Auf dem zirkulären Wirkungszusammenhang zwischen drei Elementen, und zwar Motoren (A), Sensoren (B) und Rechnern (C), beruhen sich selbst steuernde, technische Systeme wie Roboter oder Heizsysteme mit Thermostat.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 44.<br />
<br />
== Zirkularität in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“. Es ist eingebettet in das dritte Kapitel „Der Kern: Feedback und Zirkularität“. Ihm voraus gehen die Unterkapitel „Selbstregulation durch Feedback“, „Wie funktioniert ein Heizsystem“ und „Ist-Wert, Soll-Wert und Rückkoppelung“. Das Zitat ist ein Ausschnitt aus dem vierten Unterkapitel „Zirkularität und Linearität“ und umfasst das fünfte Unterkapitel „Komplexe Anpassungsleistungen“. In diesem Kontext wird auch die oben abgebildete Grafik ähnlich erläutert.<br />
: '''''„Zirkularität und Linearität'''''<br>''[...]<br>Ein sich selbst regulierendes System wie z. B. ein Heizsystem mit Thermostat muss hingegen zirkulär funktionieren:<br>• Die beiden Aktivitäten (‚on‘- oder ‚off‘-Betrieb) des Heizkessels A sind die Ursache der Anzeige des Sensors B, d. h. seines Verhaltens.<br>• Die Anzeige des Sensors B ist die ursächliche Grundlage der Berechnung des Unterschiedes zwischen Ist- und Soll-Wert und der daraus folgenden ‚Befehlsausgabe‘ durch den Rechner C an den Heizkessel A.<br>• Der Rechner C ist die Ursache dafür, dass der Heizkessel A an- oder abstellt.<br>• usw.''<br />
: ''Durch die vorausgehende Formulierung soll gezeigt werden, warum die Kybernetik dieses Thema als einen ‚circular causal‘, d. h. ‚kreisförmig-ursächlichen‘ Mechanismus beschreibt. Zugleich mag man erahnen, dass kybernetisches Denken eine große Herausforderung darstellt und ein grundsätzliches Umdenken verlangt. Gemäß der Kybernetik beruht menschliches Verhalten auf einer fortlaufenden Fehlerkorrektur im Kreis und kann nicht durch bestimmte Ursachen begründet werden. Es unter dem Blickwinkel von Ursache und Wirkung, von linearen Zusammenhängen zu betrachten, greift zu kurz.''<br />
: ''Gregory Bateson war als Anthropologe mit der Breite und der Geschichte des menschlichen Denkens bestens vertraut. Er schreibt, dass es in diesem erwähnten Sinne seines Erachtens kein kybernetisches Denken vor dem Zweiten Weltkrieg gibt. (Bateson 2014<ref>'''Bateson, Gregory (2014): ''' Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Übersetzt von Hans Günter Holl. 10. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 691). ISBN 978-3-518-28291-3.</ref>, S. 129, S.&nbsp;132)''<br />
: ''[[Unterschied|Unterschiede]] spielen in Regelkreisen oder Feedback-Schleifen eine entscheidende Rolle. Die Bedeutung von Unterschieden im Rahmen der menschlichen Feedback-Kontrolle sowie der Lern- und Erkenntnistheorie wird im Kapitel 6.2 dargestellt.''<br />
: '''''Komplexe Anpassungsleistungen'''''<br>''Norbert Wiener beschrieb schon früh das Aufheben eines Bleistifts als einen Prozess, der nur durch Zirkularität erklärbar ist (vgl. Infobox S. 26). Er bezeichnete das Prinzip der Rückkoppelung als ‚einen wichtigen neuen Gedanken‘ der Neurophysiologie und erklärte frühere lineare Erklärungen als unhaltbar. Sie gingen davon aus, dass das Nervensystem als abgeschlossenes Organ ,von den Sinnen Signale empfängt und diese in die Muskeln entlädt‘. Das Gehirn gibt in kybernetischem Denken nicht den Befehl dazu, einen Bleistift aufzuheben (Ursache), woraus folgt, dass der Arm gehorcht (Wirkung). Vielmehr beruht diese Aktivität auf Regelkreisen oder Feedback-Schleifen, welche die Elemente des Nerven-, Bewegungs- und Sinnessystems zirkulär verbinden. Eine grundlegende Rolle für das ganze Wahrnehmungssystem spielt dabei der kinästhetische oder propriozeptive Sinn (vgl. auch Infobox S. 56).''<br />
: ''Mit diesen Überlegungen zeigt sich ein wichtiger Unterschied zwischen dem Menschen und dem Beispiel der Heizung. Bei dieser handelt es sich um ein sehr träges System. Im Vergleich zu den fast unmittelbar und ohne erfahrbare Verzögerung funktionierenden Feedback-Kreisläufen, auf denen das Aufheben eines Bleistiftes beruht, arbeitet ein Heizsystem in einem extremen Schneckentempo und weist keine komplexen Anpassungsleistungen auf.“''<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Kybernetik war nicht nur technisch orientiert'''“ (S. 26):<br />
: ''„[...]<br>'''Kybernetik und kinästhetische Sinneswahrnehmung'''''<br>''Das folgende längere Zitat zeigt auf, dass Norbert Wiener auch die Dimension der Kybernetik erkannte, die in der Kinästhetik kultiviert und umgesetzt wird:''<br />
: ''‚Angenommen, ich hebe einen Bleistift auf. Um dies zu tun, muss ich bestimmte Muskeln bewegen. Nur ein fachkundiger Anatom kennt alle diese Muskeln, und selbst er könnte die Handlung kaum als bewusste Willensanstrengung ausführen, indem er jeden betroffenen Muskel in der richtigen Reihenfolge kontrahieren würde. Es ist nicht unser Ziel, einzelne Muskeln zu bewegen, sondern den Bleistift aufzuheben. Sobald wir das einmal beschlossen haben, geht die Bewegung des Arms und der Hand auf eine solche Art vonstatten, dass man sagen könnte: Das Maß, um welches der Bleistift noch nicht aufgehoben ist, wird stufenweise verringert. Dieser Teil der Handlung geschieht nicht mit vollem Bewusstsein. Um eine Handlung in dieser Weise durchzuführen, muss es eine – bewusste oder unbewusste – Meldung an das Nervensystem darüber geben, wie stark wir in jedem einzelnen Augenblick das Ziel verfehlt haben, den Bleistift aufzuheben. Diese Meldung mag zumindest teilweise visuell sein, im Allgemeinen aber ist sie eher kinästhetisch bzw. propriozeptiv, um einen Begriff zu verwenden, der zur Zeit in Mode ist. Wenn diese propriozeptiven Sinneseindrücke fehlen und wir sie nicht visuell oder auf andere Weise ersetzen, so sind wir unfähig, die Handlung des Bleistiftaufhebens auszuführen; wir befinden uns dann in einem Zustand, den man Ataxie nennt. Auf der anderen Seite ist eine übermäßige Rückkoppelung wahrscheinlich eine ebenso große Behinderung. In diesem Fall schießt die Muskelbewegung über ihr Ziel hinaus und gerät in eine unkontrollierbare Oszillation. Dieser Zustand, der häufig mit einer Verletzung des Kleinhirns in Verbindung gebracht wird, ist als Intentionstremor bekannt.‘''<br />
: '''''Zirkularität als neues Erklärungsmuster der Bewegungsregulation'''''<br>''In der Fortsetzung des Zitats betont Wiener das grundsätzlich neue Verständnis der Bewegungs- bzw. Verhaltensregulation und seine mögliche Tragweite in unterschiedlichsten Bereichen:''<br />
: ''‚In diesem Falle nun besteht eine signifikante Parallele zwischen der Tätigkeit des Nervensystems und der Arbeitsweise bestimmter Maschinen. Das Prinzip der Rückkoppelung führt einen wichtigen neuen Gedanken in die Neurophysiologie ein. Das zentrale Nervensystem erscheint nicht länger als ein in sich abgeschlossenes Organ, welches von den Sinnen Signale empfängt und diese in die Muskeln entlädt. Ganz im Gegenteil sind einige seiner typischsten Aktivitäten nur als zirkuläre Prozesse erklärbar, d. h. als Prozesse, die vom Nervensystem in die Muskeln wandern und durch die Sinnesorgane wieder in das Nervensystem zurückgelangen. Dieser Befund scheint die Erforschung des Nervensystems als einem integrierten Ganzen einen deutlichen Schritt vorwärts zu bringen. Der neue Ansatz, den die Kybernetik darstellt – eine Integration von Untersuchungen, die weder rein biologisch noch rein physikalisch sind, sondern vielmehr eine Kombination beider Wissensgebiete bilden –, hat schon jetzt unter Beweis gestellt, dass er bei der Lösung vieler Probleme der Technik, der Physiologie und höchstwahrscheinlich auch der Psychiatrie von Nutzen sein kann.‘ (Wiener 2001<ref>'''Wiener, Norbert (2001): ''' Futurum exactum. Ausgewählte Schriften zur Kybernetik und Kommunikationstheorie. Übersetzt von C. Kassung. Herausgegeben von Bernhard Dotzler. Wien, New York: Springer. ISBN 978-3-211-83467-1. <br>Originalausgabe der Beiträge von Norbert Wiener: Norbert Wiener. Collected Works with Commentaries. © MIT Press 1976 and 1985. <br></ref>, S. 16).“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 23–24, 26.<br />
<br />
== Erfahrungsberichte ==<br />
* '''Zimmermann, Hubert; Kirov, Ute (2016):''' Optimal Handling bei Schädel-Hirn-Trauma. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics und zirkuläres Denken. 2016, Nr. 4. S. 20–26.<br><br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Lineare Kausalität]]<br><br />
[[Feedback-Control-Theorie]]<br><br />
[[Wahrnehmung]]<br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* '''Enke, Axel (2019):''' Über die Zirkularität von Haltung und Kompetenz. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2019, Nr. 4. &nbsp;S. 33 - 35.<br><br />
Zum Artikel:<br />
* '''Wikipedia:''' Zirkularität (Kybernetik). https://de.wikipedia.org/wiki/Zirkularit%C3%A4t_(Kybernetik) (Zugriff: 29.11.2019).<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie: Kybernetische Grundlagen]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Datei:Lq-2019-4-%C3%9Cber_die_Zirkularit%C3%A4t_von_Haltung_und_Kompetenz.pdf&diff=4887
Datei:Lq-2019-4-Über die Zirkularität von Haltung und Kompetenz.pdf
2023-12-20T09:46:56Z
<p>Lutz Zierbeck: </p>
<hr />
<div></div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Zirkularit%C3%A4t&diff=4885
Zirkularität
2023-12-20T09:30:47Z
<p>Lutz Zierbeck: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Lutz Zierbeck}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Zirkularität. Er beschreibt zirkuläre, also „kreisförmige“ Wirkungszusammenhänge oder Prozesse im Unterschied zu linearen, „geradlinigen“ Wirkungen. <br />
<br />
== Infobox zu zirkulären Wirkungszusammenhängen in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat ist in das vierte Kapitel „Theoretische Grundlagen von Kinaesthetics“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel „Leben bedeutet Bewegung“ und „Schwerkraft und Bewegung“ beleuchten die grundlegende Bedeutung der Bewegung und der Schwerkraft für das Leben. Das Zitat ist der Text einer Infobox „Zirkulärer Wirkungszusammenhang“ des dritten Unterkapitels „Zirkuläre Selbstregulationsprozesse als Grundlage des menschlichen Verhaltens“.<br />
<br />
[[Datei:Regelkreis-ABC 2.jpg|mini|rechts]]<br />
: ''„In einer [[Interaktion]] mit einer PartnerIn beeinflusst das Verhalten einer Person (A) fortlaufend das Verhalten der anderen Person (B). Gleichzeitig wirkt das Verhalten der InteraktionspartnerIn (B) fortlaufend auf das Verhalten der ersten Person (A) zurück. Dabei wird weder das Verhalten der ersten Person durch das Verhalten der zweiten Person bestimmt oder determiniert noch umgekehrt. Bei einer solchen Rückkoppelung – hier von zwei Elementen – macht das klassische Erklärungsmuster keinen Sinn, weil eine Person in einer [[Interaktion]] sozusagen ebenso sehr Ursache wie Wirkung ist. Auf dem zirkulären Wirkungszusammenhang zwischen drei Elementen, und zwar Motoren (A), Sensoren (B) und Rechnern (C), beruhen sich selbst steuernde, technische Systeme wie Roboter oder Heizsysteme mit Thermostat.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 44.<br />
<br />
== Zirkularität in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“. Es ist eingebettet in das dritte Kapitel „Der Kern: Feedback und Zirkularität“. Ihm voraus gehen die Unterkapitel „Selbstregulation durch Feedback“, „Wie funktioniert ein Heizsystem“ und „Ist-Wert, Soll-Wert und Rückkoppelung“. Das Zitat ist ein Ausschnitt aus dem vierten Unterkapitel „Zirkularität und Linearität“ und umfasst das fünfte Unterkapitel „Komplexe Anpassungsleistungen“. In diesem Kontext wird auch die oben abgebildete Grafik ähnlich erläutert.<br />
: '''''„Zirkularität und Linearität'''''<br>''[...]<br>Ein sich selbst regulierendes System wie z. B. ein Heizsystem mit Thermostat muss hingegen zirkulär funktionieren:<br>• Die beiden Aktivitäten (‚on‘- oder ‚off‘-Betrieb) des Heizkessels A sind die Ursache der Anzeige des Sensors B, d. h. seines Verhaltens.<br>• Die Anzeige des Sensors B ist die ursächliche Grundlage der Berechnung des Unterschiedes zwischen Ist- und Soll-Wert und der daraus folgenden ‚Befehlsausgabe‘ durch den Rechner C an den Heizkessel A.<br>• Der Rechner C ist die Ursache dafür, dass der Heizkessel A an- oder abstellt.<br>• usw.''<br />
: ''Durch die vorausgehende Formulierung soll gezeigt werden, warum die Kybernetik dieses Thema als einen ‚circular causal‘, d. h. ‚kreisförmig-ursächlichen‘ Mechanismus beschreibt. Zugleich mag man erahnen, dass kybernetisches Denken eine große Herausforderung darstellt und ein grundsätzliches Umdenken verlangt. Gemäß der Kybernetik beruht menschliches Verhalten auf einer fortlaufenden Fehlerkorrektur im Kreis und kann nicht durch bestimmte Ursachen begründet werden. Es unter dem Blickwinkel von Ursache und Wirkung, von linearen Zusammenhängen zu betrachten, greift zu kurz.''<br />
: ''Gregory Bateson war als Anthropologe mit der Breite und der Geschichte des menschlichen Denkens bestens vertraut. Er schreibt, dass es in diesem erwähnten Sinne seines Erachtens kein kybernetisches Denken vor dem Zweiten Weltkrieg gibt. (Bateson 2014<ref>'''Bateson, Gregory (2014): ''' Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Übersetzt von Hans Günter Holl. 10. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 691). ISBN 978-3-518-28291-3.</ref>, S. 129, S.&nbsp;132)''<br />
: ''[[Unterschied|Unterschiede]] spielen in Regelkreisen oder Feedback-Schleifen eine entscheidende Rolle. Die Bedeutung von Unterschieden im Rahmen der menschlichen Feedback-Kontrolle sowie der Lern- und Erkenntnistheorie wird im Kapitel 6.2 dargestellt.''<br />
: '''''Komplexe Anpassungsleistungen'''''<br>''Norbert Wiener beschrieb schon früh das Aufheben eines Bleistifts als einen Prozess, der nur durch Zirkularität erklärbar ist (vgl. Infobox S. 26). Er bezeichnete das Prinzip der Rückkoppelung als ‚einen wichtigen neuen Gedanken‘ der Neurophysiologie und erklärte frühere lineare Erklärungen als unhaltbar. Sie gingen davon aus, dass das Nervensystem als abgeschlossenes Organ ,von den Sinnen Signale empfängt und diese in die Muskeln entlädt‘. Das Gehirn gibt in kybernetischem Denken nicht den Befehl dazu, einen Bleistift aufzuheben (Ursache), woraus folgt, dass der Arm gehorcht (Wirkung). Vielmehr beruht diese Aktivität auf Regelkreisen oder Feedback-Schleifen, welche die Elemente des Nerven-, Bewegungs- und Sinnessystems zirkulär verbinden. Eine grundlegende Rolle für das ganze Wahrnehmungssystem spielt dabei der kinästhetische oder propriozeptive Sinn (vgl. auch Infobox S. 56).''<br />
: ''Mit diesen Überlegungen zeigt sich ein wichtiger Unterschied zwischen dem Menschen und dem Beispiel der Heizung. Bei dieser handelt es sich um ein sehr träges System. Im Vergleich zu den fast unmittelbar und ohne erfahrbare Verzögerung funktionierenden Feedback-Kreisläufen, auf denen das Aufheben eines Bleistiftes beruht, arbeitet ein Heizsystem in einem extremen Schneckentempo und weist keine komplexen Anpassungsleistungen auf.“''<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Kybernetik war nicht nur technisch orientiert'''“ (S. 26):<br />
: ''„[...]<br>'''Kybernetik und kinästhetische Sinneswahrnehmung'''''<br>''Das folgende längere Zitat zeigt auf, dass Norbert Wiener auch die Dimension der Kybernetik erkannte, die in der Kinästhetik kultiviert und umgesetzt wird:''<br />
: ''‚Angenommen, ich hebe einen Bleistift auf. Um dies zu tun, muss ich bestimmte Muskeln bewegen. Nur ein fachkundiger Anatom kennt alle diese Muskeln, und selbst er könnte die Handlung kaum als bewusste Willensanstrengung ausführen, indem er jeden betroffenen Muskel in der richtigen Reihenfolge kontrahieren würde. Es ist nicht unser Ziel, einzelne Muskeln zu bewegen, sondern den Bleistift aufzuheben. Sobald wir das einmal beschlossen haben, geht die Bewegung des Arms und der Hand auf eine solche Art vonstatten, dass man sagen könnte: Das Maß, um welches der Bleistift noch nicht aufgehoben ist, wird stufenweise verringert. Dieser Teil der Handlung geschieht nicht mit vollem Bewusstsein. Um eine Handlung in dieser Weise durchzuführen, muss es eine – bewusste oder unbewusste – Meldung an das Nervensystem darüber geben, wie stark wir in jedem einzelnen Augenblick das Ziel verfehlt haben, den Bleistift aufzuheben. Diese Meldung mag zumindest teilweise visuell sein, im Allgemeinen aber ist sie eher kinästhetisch bzw. propriozeptiv, um einen Begriff zu verwenden, der zur Zeit in Mode ist. Wenn diese propriozeptiven Sinneseindrücke fehlen und wir sie nicht visuell oder auf andere Weise ersetzen, so sind wir unfähig, die Handlung des Bleistiftaufhebens auszuführen; wir befinden uns dann in einem Zustand, den man Ataxie nennt. Auf der anderen Seite ist eine übermäßige Rückkoppelung wahrscheinlich eine ebenso große Behinderung. In diesem Fall schießt die Muskelbewegung über ihr Ziel hinaus und gerät in eine unkontrollierbare Oszillation. Dieser Zustand, der häufig mit einer Verletzung des Kleinhirns in Verbindung gebracht wird, ist als Intentionstremor bekannt.‘''<br />
: '''''Zirkularität als neues Erklärungsmuster der Bewegungsregulation'''''<br>''In der Fortsetzung des Zitats betont Wiener das grundsätzlich neue Verständnis der Bewegungs- bzw. Verhaltensregulation und seine mögliche Tragweite in unterschiedlichsten Bereichen:''<br />
: ''‚In diesem Falle nun besteht eine signifikante Parallele zwischen der Tätigkeit des Nervensystems und der Arbeitsweise bestimmter Maschinen. Das Prinzip der Rückkoppelung führt einen wichtigen neuen Gedanken in die Neurophysiologie ein. Das zentrale Nervensystem erscheint nicht länger als ein in sich abgeschlossenes Organ, welches von den Sinnen Signale empfängt und diese in die Muskeln entlädt. Ganz im Gegenteil sind einige seiner typischsten Aktivitäten nur als zirkuläre Prozesse erklärbar, d. h. als Prozesse, die vom Nervensystem in die Muskeln wandern und durch die Sinnesorgane wieder in das Nervensystem zurückgelangen. Dieser Befund scheint die Erforschung des Nervensystems als einem integrierten Ganzen einen deutlichen Schritt vorwärts zu bringen. Der neue Ansatz, den die Kybernetik darstellt – eine Integration von Untersuchungen, die weder rein biologisch noch rein physikalisch sind, sondern vielmehr eine Kombination beider Wissensgebiete bilden –, hat schon jetzt unter Beweis gestellt, dass er bei der Lösung vieler Probleme der Technik, der Physiologie und höchstwahrscheinlich auch der Psychiatrie von Nutzen sein kann.‘ (Wiener 2001<ref>'''Wiener, Norbert (2001): ''' Futurum exactum. Ausgewählte Schriften zur Kybernetik und Kommunikationstheorie. Übersetzt von C. Kassung. Herausgegeben von Bernhard Dotzler. Wien, New York: Springer. ISBN 978-3-211-83467-1. <br>Originalausgabe der Beiträge von Norbert Wiener: Norbert Wiener. Collected Works with Commentaries. © MIT Press 1976 and 1985. <br></ref>, S. 16).“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 23–24, 26.<br />
<br />
== Erfahrungsberichte ==<br />
* '''Zimmermann, Hubert; Kirov, Ute (2016):''' Optimal Handling bei Schädel-Hirn-Trauma. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics und zirkuläres Denken. 2016, Nr. 4. S. 20–26.<br><br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Lineare Kausalität]]<br><br />
[[Feedback-Control-Theorie]]<br><br />
[[Wahrnehmung]]<br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* '''Wikipedia:''' Zirkularität (Kybernetik). https://de.wikipedia.org/wiki/Zirkularit%C3%A4t_(Kybernetik) (Zugriff: 29.11.2019).<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie: Kybernetische Grundlagen]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Heinz_von_Foerster&diff=4880
Heinz von Foerster
2023-12-19T06:54:37Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Ethischer Imperativ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|in Bearbeitung|Lutz Zierbeck/Sabine Kaserer}}{| class="wikitable" <br />
<br><br />
<br />
'''''Zusammenfassung'':'''''<br>„Heinz von Foerster (1911-2002) spielte für die Entwicklung der Kybernetik eine entscheidende Rolle. Sein Labor, das "Biological Computer Lab" entwickelte sich zu einem kybernetischen Kompetenzzentrum, zu dem viele herausragende WissenschaftlerInnen einen engen Kontakt hatten, wo sie sich trafen und forschten. Bis ins hohe Alter blieb von Foerster ein Vordenker der Kybernetik<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 44.</ref>"'' <br><br />
<br />
HvF, wie er sich selber nannte, hat in seinem langen Leben in vielen Gebieten geforscht und gearbeitet. Sein Werk ist vielfältig und umfangreich, große Teile davon haben eine Bedeutung für Kinästhetik, vor allem seine kybernetischen Studien und seine Arbeiten zur Ethik und zum Lernen. <br><br />
<br />
Nach einer kurzen tabellarischen Aufzählung wichtiger Eckdaten und Ereignisse folgt die Vertiefung einiger der aufgeführten Themen, z. T. mit Literaturzitaten untermauert. Die Bedeutung seines Werkes für Kinästhetik wird im 3. Kapitel erläutert.<br> <br />
<br>Die Arbeit am Artikel ist noch nicht abgeschlossen! Wir laden zum Mitdenken, Mitdiskutieren und Mitschreiben ein! Siehe Diskussionsseite.<br />
<br />
== Tabellarischer Lebenslauf ==<br />
|-<br />
! Jahr !! Leben und Werk<br />
|-<br />
| 1911 || Geboren am 13. November in Wien. <br />
|-<br />
| ab 1930 || Studium der Physik an der Technischen Hochschule Wien. <br />
|-<br />
|-<br />
| 1938 || Erste Arbeitsstelle als Physiker im Forschungslabor und kurzzeitig auch als Vertreter bei der Firma E. Leybold´s Nachfolger, Vakuumpumpenfabrik in Köln.<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019): ''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). ISBN 978-3-89670-557-0. S. 116 ff.</ref> <br />
|-<br />
|-<br />
| 1939 || Lernt am Neujahrsabend die Schauspielerin Mai Stürmer kennen, sie heiraten wenige Monate später.<ref>ebd., S. 119 ff</ref><br />
<br />
|-<br />
|-<br />
| 1939 || Umzug nach Berlin, Direktor des Forschungslabors der GEMA (Gesellschaft für elektroakustische und mechanische Apparate mbH, dem Pionierunternehmen auf dem Gebiet der Radar- und Funkmesstechnik).<ref>ebd., S. 121 ff</ref> <br />
<br />
|-<br />
|-<br />
| 1944 || Er reicht seine Dissertation zum Thema Plasmaoszillationen an der Universität Breslau ein, wird aber nicht promoviert, da er keinen Ariernachweis vorlegen kann.<ref>ebd., S. 127 ff.</ref><br />
|-<br />
|-<br />
| 1945 || Neuanfang in Wien als Kulturchef des amerikanischen Radiosenders „Rot-Weiß-Rot“.<ref>ebd., S. 146 ff.</ref><br />
|-<br />
|-<br />
| 1948 || Veröffentlichung des Buches „Das Gedächtnis – eine quantenphysikalische Untersuchung“.<ref>ebd., S. 151 f</ref> <br />
|-<br />
|-<br />
| 1949 || Übersiedlung in die USA, Teilnahme an der 6. [[Macy-Konferenzen|Macy-Konferenz]], Direktor des Mikrowellenlabors der Universität Illinois.<ref>ebd., S. 153 ff.</ref> <br />
<br />
|-<br />
|1956 / 57||2 Freisemester (Sabbatical) Studium biologischer Themen.<ref>ebd., S. 206 ff.</ref> <br />
<br />
|-<br />
| 1958||Gründung seines eigenen Labors „Biological Computer Lab, BCL“.<ref>ebd., S. 211 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1959||„Selforganization Systems Conference“.<ref>ebd., S. 222 ff</ref> <br />
|-<br />
| 1960||„Principles of Selforganization Conference“.<ref>ebd., S. 227 ff</ref> <br />
|-<br />
| 1962||„Information Processing in the Nervous System“ Konferenz in Leiden, NL. Macht dort Bekanntschaft mit dem Biologen Humberto Maturana.<ref>ebd., S. 232 ff.</ref><br />
|-<br />
| 1968||Heuristics I und II.<ref>ebd., S. 241 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1969||Heuristics III, Zeit der Studentenrevolutionen. Verfasst einen Katalog mit StudentInnen zusammen.<ref>ebd., S. 244 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1970||Unterricht der „honours class ingeneering group“. Schreibt mit StudentInnen zusammen das „Ecological Source book“.<ref>ebd., S. 250 f.</ref> <br />
|-<br />
| 1973||„Om-Conference“.<ref>ebd., S. 271 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1974||Kurs für Studenten und gemeinsames Buch darüber: „Cybernetcs of Cybernetics“.<ref>ebd., S. 251 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1975||Baut sein Haus (größtenteils eigenhändig) auf dem Rattlesnake Hill in Pescadero, Kalifornien.<ref>ebd., S. 281 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1976||Schließung des BCL, Emeritierung.<ref>ebd., S. 266 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1990||Familientherapie-Konferenz in Paris: „Ethik und Kybernetik 2. Ordnung“.<ref>ebd., S. 286 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1994||Weltkongress f. Soziale Psychiatrie in Hamburg: „Abschied von Babylon“.<ref>ebd., S. 288 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1996||Konferenz in Heidelberg: „Die Schule neu erfinden“ mit Ernst von Glasersfeld.<ref>ebd., S. 292 f.</ref> <br />
|-<br />
| 2002||Tod am 2. Oktober in Pescadero, Kalifornien.<br />
|}<br />
<br />
== Vertiefung ausgewählter Themen ==<br />
Das Werk von Heinz von Foerster ist umfangreich und vielfältig. Einige Themen, die für das Verständnis des Menschen HvF und für die Entwicklung seiner Ideen interessant sind, sowie verschiedene Forschungs- und Entwicklungsprojekte sollen im Folgenden etwas vertieft dargestellt werden. <br />
<br />
=== Kindheit und Jugend - Herkunft und Einflüsse === <br />
Sein Vater, der Ingenieur Emil von Foerster, muss 3 Jahre nach der Geburt von Heinz in den ersten Weltkrieg ziehen und ist lange Jahre in Kriegsgefangenschaft.<ref>ebd., S. 72 ff.</ref> Somit wird er hauptsächlich von seine Mutter Lilith von Foerster erzogen, die in künstlerisch-intellektuellen Kreisen verkehrt (z. B. mit dem Maler Oskar Kokoschka oder dem Philosophen Rudolf Kassner). Ihre Mutter war Marie Lang, eine der ersten Frauenrechtlerinnen Europas, deren Gedankengut einen deutlichen Einfluss auf ihn hat.<br />
<br />
Ebenso hat in seiner Kindheit die Tante Grete Wiesenthal Einfluss auf seine Entwicklung, eine weltberühmte Tänzerin, deren Kostüme größtenteils seine Mutter entwirft. Er berichtet schwärmerisch über viele Stunden in den Garderoben und hinter der Bühne, wo er die „''unglaublich schönen Frauen''“<ref>ebd., S. 79.</ref> beobachtet. <br />
<br />
Über seinen Onkel Erwin Lang kommt er in Berührung mit der chinesischen Philosophie des Tao, die ihn fasziniert.<ref>ebd., S. 84 und 296 ff.</ref> <br />
<br />
Zusammen mit seinem Cousin Martin Lang beginnt er sich im Alter von 14 Jahren mit der Zauberei zu befassen. Sie bringen es bis zur Aufnahme in die IAO (internationale Artistenorganisation) mit einem Zauber-Diplom<ref>ebd., S. 92 ff.</ref> In dieser Zeit entwickelt er seine Kompetenzen, vor einem grossen Publikum wirkungsvoll aufzutreten, aber auch wichtige Grundätze des Konstruktivismus. Als Zauberer sind beide so erfolgreich, weil sie imstande sind, „''ein Ambiente, einen Kontext zu erzeugen; eine'' ''Welt, in der die Zuschauer mitspielen, diese Welt zu erzeugen.''“<ref>ebd., S. 95.</ref><br />
: '' „Wir haben es so gemacht, dass der Zuschauer sich eine Welt aufbaut, in dem das geschieht, was er gehofft hat, dass es geschehen würde. Das hat mich zu dem Satz gebracht: Der Hörer, nicht der Sprecher bestimmt die Bedeutung einer Aussage.“''<ref>ebd., S. 98.</ref> <br />
<br />
: '' „Das Wesentliche des Zauberns liegt darin, den Zuschauer zu überreden, eine Welt für sich zu konstruieren, in der Wunderbares passiert. So ist sozusagen meine frühe Assoziation mit der Zauberei direkt mit Konstruktivismus verknüpft.“ ''<ref>ebd., S. 99.</ref><br />
<br />
=== Studienzeit - Grundlagen und Arbeitsweise === <br />
Er studiert Physik an der Technischen Hochschule Wien. In dieser Zeit knüpft er Kontakt zum „Wiener Kreis“, in dem Philosophen, Logiker, Mathematiker, Historiker und andere eine eigene philosophische Haltung begründen. Hier erlebt er eine Zusammenarbeit von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fachrichtungen, die sich gegenseitig in ihrem Denken befruchten. Dieser anregende und kreative Austausch beeindruckt ihn so, dass er ihn in seiner weiteren Laufbahn als Forscher stets sucht und verwirklicht (siehe Macy-Konferenzen und Biological Computer Lab).<br />
<br />
=== Erste Forschungstätigkeit - Elektroakustik === <br />
Er wird Direktor des Forschungslabors der GEMA (Gesellschaft für elektroakustische und mechanische Apparate mbH, dem Pionierunternehmen auf dem Gebiet der Radar- und Funkmesstechnik). Hier forscht er bereits zum Thema Interaktion, mit dem er sich Zeit seines Lebens immer wieder in höchst unterschiedlichen Aspekten beschäftigt.<br />
Spätestens als 1939 der zweite Weltkrieg beginnt, wird alle Energie auf sogenannte kriegswichtige Themen ausgerichtet. Dazu sagt Heinz von Foerster: <br />
: '' „Die Firma GEMA war ja ein Rüstungsbetrieb; Kriegsindustrie. Die haben die Radare für die Deutschen gebaut. Und ich habe dort im Forschungslabor an Sachen geforscht, die einfach unerforschbar waren. Das habe ich zusammen mit den Leuten gemacht, die gesagt haben: ‚Wir müssen das boykottieren‘. Also haben wir das boykottiert, indem wir immer Forschungsprogramme gewählt haben, die eigentlich undurchführbar waren. Und da konnte ich eben weiterarbeiten, denn die Projekte haben sehr vielversprechend ausgeschaut. Wir haben sie auch so formuliert, dass sie vielversprechend ausgeschaut haben.<ref>ebd., S. 132.</ref>“<br />
Die Firma wird nach dem Beginn des Bombenkrieges von Berlin nach Schlesien (heute Polen) verlegt.<br />
<br />
=== Kriegsende, Neuanfang in Wien === <br />
Kurz vor Kriegsende flieht seine Frau Mai von Foerster mit den drei Söhnen mit einem der letzten Züge aus Schlesien zu ihrer Mutter in die Nähe von Heidelberg. HvF bleibt zunächst, später schlägt er sich auf höchst abenteuerlichen Wegen durch bis zu seiner Familie. Von dort geht es mit seiner Frau und 2 von 3 Söhnen weiter in die Gegend von Kufstein / Österreich, der 3. Sohn Johannes bleibt vorübergehend bei seiner Großmutter<ref>ebd., S. 129 ff.</ref>. <br />
<br />
Um seine Mutter und die Geschwister wieder zu sehen, geht er nach Wien, was zu dieser Zeit eine sehr mühselige Reise in eine besetzte und gefährliche Stadt ist. Dort bekommt er beim neu gegründeten Amerikanischen Radiosender „Rot-Weiss-Rot“ als Mitglied Nummer 7 eine Anstellung als Techniker und Rundfunkjournalist und wird zum Kulturchef des Senders<ref>ebd., S. 146 ff.</ref> Gleichzeitig hat er (verbotenerweise) eine 2 Arbeit, er baut die Telefonfirma Schrack-Ericcson wieder auf, die von den Besatzern geplündert wurde.<br />
<br />
Nachdem seine Frau mit den beiden Söhnen in Wien angekommen sind, versuchten sie ihr drittes Kind aus Deutschland einreisen zu lassen. Da es auf legalem Wege nicht möglich ist, holen sie es schließlich nach 4 Jahren Trennung illegal über die geschlossene Grenze<ref>ebd., S. 150 f.</ref> <br />
: '' „Zu fünft haben wir bei Tante Haserl, einer älteren Schwester meines Vaters, in einer winzigen Wohnung, in einem winzigen Kabinett gewohnt.“''<ref>ebd., S. 151.</ref><br />
<br />
=== Buchveröffentlichung: „Das Gedächtnis – eine quantenphysikalische Untersuchung“=== <br />
Neben seiner Arbeit verfasst er in Nachtschichten sein erstes Buch, darin vertritt er die später verworfene Theorie, dass Elementarbewusstseinsinhalte auf Molekülen gespeichert werden, deren Zerfall das Phänomen des Vergessens erklären könne<ref>ebd., S. 160.</ref>. Er verknüpft dabei Quantenphysik mit Physiologie. <br />
: '' „In'' ''meinem Vorwort habe ich geschrieben: ‚Die Zeit scheint gekommen, wo die Wege geistigen Forschens heterogenster Gebiete zu ihrem gemeinsamen Ursprung zusammenfinden.‘ Da bin ich sehr stolz, dass ich in einem kleinen Paragraphen, der meinem'' Gedächtnis ''vorangeht, sozusagen über die Vorteile der Interdisziplinarität geschrieben habe; schon im Jahre 1948."<ref>ebd., S. 152.</ref>“''<br />
<br />
=== Übersiedlung in die USA - Vorträge und Anstellung im Mikrowellenlabor === <br />
Sein Buch „Das Gedächtnis“ erregt Aufmerksamkeit beim Neurophysiologen Warren McCulloch, Direktor der Neuropsychiatrie der Universität Illinois in Chicago, der ihn 1949 zur Vorstellung seiner Theorie über Gedächtnis und Vergessen an seine Universität einlädt.<br />
<br />
Er bekommt daraufhin eine Einladung zur 6. [[Macy-Konferenzen|Macy-Konferenz]], auf der er über seine Thesen zum Gedächtnis spricht und eine grossen Anzahl Forscher aus verschiedensten Fachgebieten kennenlernt. Siehe Kapitel 2.7.<br />
<br />
''„McCulloch schickte ihn als Physiker an das physikalische Departement der Universität von Illinois in Champaign-Urbana, wo im ‚Department of Electrical Engineering‘ der Direktorposten des Mikrowellenlabors verwaist war. HvF bekam die Stelle und mit vielen Schwierigkeiten die Immigrationsbewilligung für sich sowie wenig später auch für seine Frau Mai und die drei Söhne.“ ''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 45.</ref><br />
<br />
In diesem Labor mit Namen Electron Tube Research Lab (Elektroröhrenlaboratorium) befasst man sich mit der drahtlosen Telegraphie mittels Mikrowellen und anderen Themen. HvF spezialisiert sich auf die Modulation von Licht mittels Mikrowellen zur Nachrichtenübermittlung<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019): ''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). ISBN 978-3-89670-557-0. S. 201 ff.</ref>. <br />
Zu den erfolgreichsten Projekten dieses Labors gehört auch eine Stoppuhr, mit der man ein Millionstel einer Millionstel Sekunde messen kann, zu dem Zeitpunkt die schnellste der Welt.<br />
<br />
=== Die [[Macy-Konferenzen]] === <br />
Ein Meilenstein im Werdegang von HvF ist die Einladung zur 6. Macy-Konferenz vom 24. bis 25. März 1949 in New York. Thema der Konferenz ist "Circular Causal and Feedback Mechanisms in Biological and Social Systems". Dieses jährlich stattfindende Treffen hochkarätiger Wissenschaftler zeichnet sich durch eine sehr lebendige und inspirierende Diskussionskultur und einer Vernetzung über Wissensgebiete hinweg aus. Vertreten sind Fachgebiete wie Mathematik, Informatik (John von Neumann, ein Vater der Computertechnologie), Anthropologie (Margaret Mead und [[Gregory Bateson]]), Kybernetik ([[Norbert Wiener]]), Physiologie, Psychologie, Psychoanalyse, Psychiatrie, Elektrotechnik, Medizin, Zoologie, Soziologie, Ethnologie, Anatomie, Neurologie, Verhaltensforschung, Mathematik, Radiobiologie, Biophysik, Philosophie, Ökonomie u. a.. Er hält dort seinen Vortrag über Gedächtnis und Vergessen. Er wird zum Herausgeber der Publikation der Konferenzakten bestimmt (angeblich, um seine schlechten Englischkenntnisse zu verbessern)<ref>American Society for Cybernetics, Washington USA, 2021. https://asc-cybernetics.org/foundations/history/MacySummary.htm Zugriff 3.12.2021</ref>. Diese Rolle behält er bis zur letzten Macy-Konferenz. <br />
<br />
: ''„In sehr kurzer Zeit war er von der äußersten Peripherie (dem Nachkriegs-Wien) ins Zentrum einer der bedeutendsten Wissenschafts-Bewegungen des 20. Jahrhunderts geraten.<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11 (1): 9-30. https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref>''“ <br />
<br />
Von 1949 bis 1953 nimmt er jedes Jahr an den Macy-Konferenzen teil. Dazu schreibt er: <br />
: „''Mein Geist, mein Spirit, meine Erfahrungen, meine Fähigkeiten und meine Technologie waren da, um diese Röhren zu bauen, aber mein Herz und'' ''meine Seele waren bei den Kybernetikern, den Macy-Leuten.“''<ref>ebd., S. 206.</ref><br />
<br />
=== Freisemester, Biologiestudium === <br />
1956 / 57 nutzt er zwei ihn zustehende Freisemester (sabaticals), um Teilgebiete der Biologie zu studieren. Das erste Semester verbringt er bei bei Warren McCulloch am berühmten Massachusetts Institute of Technologies (MIT) im Research Laboratory of Electronics. Thema dort ist zu dem Zeitpunkt künstliche Intelligenz. Das zweite Semester studiert er auf Empfehlung von [[Norbert Wiener]] bei Arturo Rosenblueth, einem Neurophysiologen, der sich zu der Zeit in Mexico City mit Kardiologie befasst. Foerster setzt sich dort mit kybernetischer Biologie auseinander, speziell mit der Arbeitsweise von Muskelfasern. <br />
: „''Während dieses Aufenthalts verfasste er unter anderem ein - dann unveröffentlicht gebliebenes - Manuskript, dessen Inhalt die Kybernetik der Muskelaktivität betraf.“''<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. ''Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften'' 11 (1): 9-30. <br />
<br />
https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref><br />
<br />
=== Biological Computer Lab, BCL === <br />
1958 gründet er sein eigenes Labor, das Biological Computer Lab, BCL. <br />
: „''In einer interdisziplinären Atmosphäre des Vertrauens wurden so technische Projekte verwirklicht, konnten aber auch grundsätzliche Fragen und Erklärungsmodelle diskutiert werden. Schwerpunkte dieser Diskussionen waren das Modell der Zirkularität, die Selbstorganisations- und Chaostheorie, die Funktionsweise der Wahrnehmung und neuronaler Netzwerke und selbstverständlich ganz grundsätzliche erkenntnistheoretische Fragen. HvF und sein BCL entwickelten sich so zu einem Zentrum, das mit den Argumentationen der führenden KybernetikerInnen vertraut war und zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Formulierung und Entwicklung der Kybernetik leistete.<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 49.</ref>“ '' <br />
<br />
Als Professor und Direktor der BCL ist er nun mit Forschung und Lehre betraut. Typisch für ihn ist sein Verständnis von Lehren.<br />
: „''Unterrichten nicht als einseitiges Dozieren von oben herab, sondern als ein gemeinsames Forschen, zu dem alle Beteiligten mit ihren Kompetenzen ihren Beitrag leisten. In den 68er-Jahren hatten seine Veranstaltungen großen Zulauf, weil er die StudentInnen und ihre Anliegen ernst nahm.<ref>ebd., S. 48.</ref>“ ''<br />
<br />
Die Bedeutung dieses Labors und die Reichweite seiner Wirkung wird vom Wissenschaftshistoriker Albert Müller so eingeschätzt: <br />
:„''Und ebenso motiviert mich der Umstand, daß das BCL in der Literatur zur Geschichte der Kybernetik, der Systemtheorie, der nun wieder neu debattierten Bionik, des parallelen Rechnens, der Neurophysiologie, der Bio-Logik, der künstlichen Intelligenz, des symbolischen Rechnens oder des Konstruktivismus als Denktradition - man könnte noch weitere Wissensgebiete von gegenwärtig großem Renommee aufzählen - nur sehr selten erwähnt wird, obwohl Mitarbeiter dieser Einrichtung, des BCL, als maßgeblich für die jeweilige Domäne in der Literatur zu diesen Wissensgebieten erscheinen. Ist das eine spezielle Vergeßlichkeit der history of science (die Vergeßlichkeit der science selbst ist ja weithin bekannt)?<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11 (1): 9-30. https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref>“ '' <br />
<br />
Die Wechselwirkung dieser gegenseitigen Beeinflussung der Forscher beschreibt Albert Müller in einem Beispiel: <br />
: „''[[Humberto Maturana]] kam also an das BCL und erarbeitete dort unter anderem einen wichtigen Artikel auf dem Weg zu seiner - heute weltweit bekannten - Theorie der [[Autopoiese (Autopoiesis)]]. Aber auch die erste Ausformulierung der nun auf den Begriff gebrachten Theorie der Autopoiesis erschien zuerst als interne Publikation des BCL. Schüler und Mitarbeiter Maturanas entwickelten ebenfalls Beziehungen zum BCL, und zentrale erste Publikationen - zum Beispiel jene von Francisco Varela wurden als BCL-Reports herausgegeben... Wahrscheinlich war es die Herausforderung durch den Impuls der chilenischen Gruppe, die es Heinz von Foerster ermöglichte, die Entwicklung seiner radikalen Version einer Kybernetik zweiter Ordnung (second order cybernetics) voranzutreiben. Dies soll nicht heißen, daß sich Foersters Konzepte aus denen Maturanas ableiten ließen, oder umgekehrt. Die Parallelen und die wechselseitige Stimulierung wurde auf einer Konferenz zu Cognitive Studies and Artificial Intelligence Research 1969 sichtbar. Foersters Beitrag kann als direkte Antwort auf jenen von Maturana gelesen werden - und vice versa<ref>ebd.</ref>.“ '' <br />
<br />
: „''Mehrere wichtige Konferenzen kamen im unmittelbaren Umfeld des BCL zustande. Thematisch kreisten sie um Probleme der Systemtheorie und speziell um den Bereich selbstorganisierender Systeme. Noch heute sind die Konferenzbände wie Self-Organizing Systems oder Principles of Self-Organization grundlegend für diesen Forschungsbereich.<ref>ebd.</ref>“ '' <br />
<br />
Dazu gehört das Erforschen vom Parallelrechnen der Nervennetze von Lebewesen im Gegensatz zu den seriellen Rechenoperationen in Computern (wie sie John von Neumann zu der Zeit baut). Ein "biologischer Computer" namens Numarete wird entwickelt, der die Funktionsweise des Auges von Lebewesen als Vorbild hat (bei dem gleichzeitig eine grosse Menge an Informationen berechnet werden im Zusammenspiel von Muskel-, Sinnes- und neuronalen Zellen). Ein weiterer Schritt auf diesem Gebiet ist der Bau eines Computers zur Analyse akustischer Signale.<br />
Bionik wird als Alternative zur 1956 formulierten Artificial Intelligence verstanden, die sich aber letztendlich ihr gegenüber durchsetzt.<br />
<br />
Das Biological Computer Lab wird 1976 geschlossen, weil die Finanzierung nicht mehr gewährleistet war. Mit seiner unkonventionellen Art des Denkens hat sich HvF im Universitätsbereich nicht nur Freunde gemacht. Er selbst sagt dazu: <br />
:''„Ich glaube, das ist meine Schuld gewesen. Ich glaube, ich habe die die Politik der Wissenschaft zu wenig verstanden. (...) Ich habe nicht daran gedacht: ‚Wie verkauft man das? Was muss man machen, dass es an die Öffentlichkeit kommt, dass es in die Zeitungen kommt, dass es die Institute wissen, die die Gelder hergeben?‘ Also in Public Relations habe ich völlig versagt.“''<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019):''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). <nowiki>ISBN 978-3-89670-557-0</nowiki>. 1. Auflage: 2002. S. 271.</ref>"<br />
Da sich das abgezeichnet hatte, lässt sich HvF zum 65. Geburtstag emeritieren.<br />
<br />
== Ausgewählte Aussagen ==<br />
=== Kybernetik, Zirkularität ===<br />
: „'' Am besten sprechen wir über das Steuern eines Bootes, da der Begriff Kybernetik, den Norbert Wiener prägte und im Jahre 1948 zum Titel seines Buches machte, auf das griechische Wort für Steuermann (kybernetes) zurückgeht, [...] Was macht ein Steuermann, der sein Schiff sicher in den Hafen hineinmanövrieren möchte? Er absolviert kein ein für allemal festgelegtes Programm, sondern er variiert dies permanent. Wenn das Boot vom Kurs und seinem Ziel nach links abweicht, weil der Wind so stark bläst, schätzt er diese Kursabweichung ein, so daß er weiterhin auf den Hafen zufährt. Er versucht, den Fehler zu korrigieren. Und vielleicht steuert er etwas zu stark gegen. Das Ergebnis ist womöglich eine Kursabweichung nach rechts – und die Notwendigkeit, erneut gegenzusteuern. In jedem Moment wird die Abweichung in Relation zu dem ins Auge gefassten Ziel, dem Telos, das zum Beispiel ein Hafen sein kann, korrigiert. Das Betätigen des Steuers, eine Ursache, erzeugt also eine Wirkung; das ist die Kurskorrektur. Und diese Wirkung wird wieder zu einer Ursache, denn man stellt eine neue Kursabweichung fest. Und diese erzeugt ihrerseits eine Wirkung, nämlich wiederum eine Kurskorrektur. Solche Steuerungsvorgänge sind ein wunderbares Beispiel zirkulärer Kausalität.''“<ref> ''' Foerster, Heinz von; Pörksen, Bernhard (2006) ''': Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. 7. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag. ISBN 13-3-89670-214-0. 1. Auflage: 1998. S. 107.</ref><br />
HvF beschreibt in seiner bekannt einfachen, aber sehr nachvollziehbaren Ausdrucksweise die [[Feedback-Control-Theorie]], die im Fachgebiet Kinästhetik eine zentrale Rolle beim Verständnis der Bewegungssteuerung bzw. allgemein der Verhaltenssteuerung von Lebewesen spielt.<br />
<br />
=== Hermeneutik des Hörens ===<br />
: „'' Der Hörer, nicht der Sprecher, bestimmt die Bedeutung einer Aussage. Gewöhnlich glaubt man, daß der Sprecher festlegt, was ein Satz bedeutet, und der Hörer verstehen muß, was der Sprecher gesagt hat. Aber das ist ein fundamentaler Irrtum. Der Hörer ist es, der die merkwürdigen Laute, die ich oder ein anderer mit Hilfe der eigenen Stimmlippen hervorrufen, interpretiert und ihnen einen bzw. seinen Sinn gibt. ''“<ref> ' ebd., S. 100.</ref><br />
<br />
=== Der Schüler als nichttriviale Maschine ===<br />
: „''Das Schreckliche mit den Kindern ist, so glauben viele, daß sie sich nicht auf eine voraussagbare Weise gebärden. Sie agieren noch nicht wie triviale Maschinen, die auf einen bestimmten Input immer ein und denselben Output erzeugen.''“<ref> ' ebd., S. 65.</ref><br />
Zur Erläuterung berichtet HvF von seinem Geschichtslehrer im Gymnasium, der auf die Frage „Was waren die Griechen für ein Volk?“ keine andere Antwort als „Ein heiteres Volk.“ akzeptierte. So schalte man Unberechenbarkeit und Kreativität aus.<br />
: „''Der Großteil unserer institutionalisierten Erziehungsbemühungen hat zum Ziel, unsere Kinder zu trivialisieren. ''“<ref> ' ebd., S. 65.</ref><br />
<br />
=== Ethischer Imperativ === <br />
: „''Ich habe einmal gesagt: ‚Handle stets so, daß die Anzahl der Möglichkeiten wächst.‘ Das ist mein ethischer Imperativ [...] Gemeint ist, daß man die Aktivitäten eines anderen nicht einschränken soll, sondern daß es gut wäre, sich auf eine Weise zu verhalten, die die Freiheit des anderen und der Gemeinschaft vergrößert. Denn je größer die Freiheit ist, desto größer sind die Wahlmöglichkeiten und desto eher ist auch die Chance gegeben, für die eigenen Handlungen Verantwortung zu übernehmen. Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Nur wer frei ist – und immer wieder anders agieren könnte –, kann verantwortlich handeln.''“<ref> ' ebd., S. 36.</ref><br />
<br />
==Bedeutung für Kinästhetik==<br />
Zu diesem Thema hat eine Diskussion begonnen, bei der weiterhin Mitwirken erwünscht ist. Siehe Diskussionsseite [[Diskussion: Heinz von Foerster]] dieses Artikels.<br />
<br />
==Weiterführende Literatur und Medien==<br />
'''Maria Pruckner:''' 90 Jahre Heinz von Foerster | Relaunch 2021. <br />
https://www.youtube.com/watch?v=-OPdH8Pk6x4 (Zugriff: 07.02.2022).<br />
<br />
'''Nikola Bock und Jutta Schubert:''' Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners - Tanz mit der Welt. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=RNdTrdi5nG4 (Zugriff: 27.10.2021).<br />
<br />
'''Lucas Pawlik:''' Einführung in die Kybern-ethik Heinz von Foersters Teil I. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=PeE9eAoT6x8 (Zugriff: 09.12.2021).<br />
<br />
'''Lucas Pawlik:''' Einführung in die Kybern-ethik Heinz von Foersters Teil II. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=y9oRamZyq28<br />
(Zugriff: 09.12.2021).<br />
<br />
''' Universität Wien, Artikel aus der Zeitschrift für Geschichtswissenschaften: ''' Im Goldenen Hecht. Über Konstruktivismus und Geschichte. Ein Gespräch zwischen Heinz von Foerster, Albert Müller und Karl H. Müller <br><br />
https://www.univie.ac.at/heinz-von-foerster-archive/etexte/int.pdf (Zugriff: 11.08.2021).<br />
<br />
==Einzelnachweise==<br />
<br />
<references /></div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Heinz_von_Foerster&diff=4879
Heinz von Foerster
2023-12-19T06:54:12Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Der Schüler als nichttriviale Maschine */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|in Bearbeitung|Lutz Zierbeck/Sabine Kaserer}}{| class="wikitable" <br />
<br><br />
<br />
'''''Zusammenfassung'':'''''<br>„Heinz von Foerster (1911-2002) spielte für die Entwicklung der Kybernetik eine entscheidende Rolle. Sein Labor, das "Biological Computer Lab" entwickelte sich zu einem kybernetischen Kompetenzzentrum, zu dem viele herausragende WissenschaftlerInnen einen engen Kontakt hatten, wo sie sich trafen und forschten. Bis ins hohe Alter blieb von Foerster ein Vordenker der Kybernetik<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 44.</ref>"'' <br><br />
<br />
HvF, wie er sich selber nannte, hat in seinem langen Leben in vielen Gebieten geforscht und gearbeitet. Sein Werk ist vielfältig und umfangreich, große Teile davon haben eine Bedeutung für Kinästhetik, vor allem seine kybernetischen Studien und seine Arbeiten zur Ethik und zum Lernen. <br><br />
<br />
Nach einer kurzen tabellarischen Aufzählung wichtiger Eckdaten und Ereignisse folgt die Vertiefung einiger der aufgeführten Themen, z. T. mit Literaturzitaten untermauert. Die Bedeutung seines Werkes für Kinästhetik wird im 3. Kapitel erläutert.<br> <br />
<br>Die Arbeit am Artikel ist noch nicht abgeschlossen! Wir laden zum Mitdenken, Mitdiskutieren und Mitschreiben ein! Siehe Diskussionsseite.<br />
<br />
== Tabellarischer Lebenslauf ==<br />
|-<br />
! Jahr !! Leben und Werk<br />
|-<br />
| 1911 || Geboren am 13. November in Wien. <br />
|-<br />
| ab 1930 || Studium der Physik an der Technischen Hochschule Wien. <br />
|-<br />
|-<br />
| 1938 || Erste Arbeitsstelle als Physiker im Forschungslabor und kurzzeitig auch als Vertreter bei der Firma E. Leybold´s Nachfolger, Vakuumpumpenfabrik in Köln.<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019): ''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). ISBN 978-3-89670-557-0. S. 116 ff.</ref> <br />
|-<br />
|-<br />
| 1939 || Lernt am Neujahrsabend die Schauspielerin Mai Stürmer kennen, sie heiraten wenige Monate später.<ref>ebd., S. 119 ff</ref><br />
<br />
|-<br />
|-<br />
| 1939 || Umzug nach Berlin, Direktor des Forschungslabors der GEMA (Gesellschaft für elektroakustische und mechanische Apparate mbH, dem Pionierunternehmen auf dem Gebiet der Radar- und Funkmesstechnik).<ref>ebd., S. 121 ff</ref> <br />
<br />
|-<br />
|-<br />
| 1944 || Er reicht seine Dissertation zum Thema Plasmaoszillationen an der Universität Breslau ein, wird aber nicht promoviert, da er keinen Ariernachweis vorlegen kann.<ref>ebd., S. 127 ff.</ref><br />
|-<br />
|-<br />
| 1945 || Neuanfang in Wien als Kulturchef des amerikanischen Radiosenders „Rot-Weiß-Rot“.<ref>ebd., S. 146 ff.</ref><br />
|-<br />
|-<br />
| 1948 || Veröffentlichung des Buches „Das Gedächtnis – eine quantenphysikalische Untersuchung“.<ref>ebd., S. 151 f</ref> <br />
|-<br />
|-<br />
| 1949 || Übersiedlung in die USA, Teilnahme an der 6. [[Macy-Konferenzen|Macy-Konferenz]], Direktor des Mikrowellenlabors der Universität Illinois.<ref>ebd., S. 153 ff.</ref> <br />
<br />
|-<br />
|1956 / 57||2 Freisemester (Sabbatical) Studium biologischer Themen.<ref>ebd., S. 206 ff.</ref> <br />
<br />
|-<br />
| 1958||Gründung seines eigenen Labors „Biological Computer Lab, BCL“.<ref>ebd., S. 211 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1959||„Selforganization Systems Conference“.<ref>ebd., S. 222 ff</ref> <br />
|-<br />
| 1960||„Principles of Selforganization Conference“.<ref>ebd., S. 227 ff</ref> <br />
|-<br />
| 1962||„Information Processing in the Nervous System“ Konferenz in Leiden, NL. Macht dort Bekanntschaft mit dem Biologen Humberto Maturana.<ref>ebd., S. 232 ff.</ref><br />
|-<br />
| 1968||Heuristics I und II.<ref>ebd., S. 241 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1969||Heuristics III, Zeit der Studentenrevolutionen. Verfasst einen Katalog mit StudentInnen zusammen.<ref>ebd., S. 244 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1970||Unterricht der „honours class ingeneering group“. Schreibt mit StudentInnen zusammen das „Ecological Source book“.<ref>ebd., S. 250 f.</ref> <br />
|-<br />
| 1973||„Om-Conference“.<ref>ebd., S. 271 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1974||Kurs für Studenten und gemeinsames Buch darüber: „Cybernetcs of Cybernetics“.<ref>ebd., S. 251 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1975||Baut sein Haus (größtenteils eigenhändig) auf dem Rattlesnake Hill in Pescadero, Kalifornien.<ref>ebd., S. 281 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1976||Schließung des BCL, Emeritierung.<ref>ebd., S. 266 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1990||Familientherapie-Konferenz in Paris: „Ethik und Kybernetik 2. Ordnung“.<ref>ebd., S. 286 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1994||Weltkongress f. Soziale Psychiatrie in Hamburg: „Abschied von Babylon“.<ref>ebd., S. 288 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1996||Konferenz in Heidelberg: „Die Schule neu erfinden“ mit Ernst von Glasersfeld.<ref>ebd., S. 292 f.</ref> <br />
|-<br />
| 2002||Tod am 2. Oktober in Pescadero, Kalifornien.<br />
|}<br />
<br />
== Vertiefung ausgewählter Themen ==<br />
Das Werk von Heinz von Foerster ist umfangreich und vielfältig. Einige Themen, die für das Verständnis des Menschen HvF und für die Entwicklung seiner Ideen interessant sind, sowie verschiedene Forschungs- und Entwicklungsprojekte sollen im Folgenden etwas vertieft dargestellt werden. <br />
<br />
=== Kindheit und Jugend - Herkunft und Einflüsse === <br />
Sein Vater, der Ingenieur Emil von Foerster, muss 3 Jahre nach der Geburt von Heinz in den ersten Weltkrieg ziehen und ist lange Jahre in Kriegsgefangenschaft.<ref>ebd., S. 72 ff.</ref> Somit wird er hauptsächlich von seine Mutter Lilith von Foerster erzogen, die in künstlerisch-intellektuellen Kreisen verkehrt (z. B. mit dem Maler Oskar Kokoschka oder dem Philosophen Rudolf Kassner). Ihre Mutter war Marie Lang, eine der ersten Frauenrechtlerinnen Europas, deren Gedankengut einen deutlichen Einfluss auf ihn hat.<br />
<br />
Ebenso hat in seiner Kindheit die Tante Grete Wiesenthal Einfluss auf seine Entwicklung, eine weltberühmte Tänzerin, deren Kostüme größtenteils seine Mutter entwirft. Er berichtet schwärmerisch über viele Stunden in den Garderoben und hinter der Bühne, wo er die „''unglaublich schönen Frauen''“<ref>ebd., S. 79.</ref> beobachtet. <br />
<br />
Über seinen Onkel Erwin Lang kommt er in Berührung mit der chinesischen Philosophie des Tao, die ihn fasziniert.<ref>ebd., S. 84 und 296 ff.</ref> <br />
<br />
Zusammen mit seinem Cousin Martin Lang beginnt er sich im Alter von 14 Jahren mit der Zauberei zu befassen. Sie bringen es bis zur Aufnahme in die IAO (internationale Artistenorganisation) mit einem Zauber-Diplom<ref>ebd., S. 92 ff.</ref> In dieser Zeit entwickelt er seine Kompetenzen, vor einem grossen Publikum wirkungsvoll aufzutreten, aber auch wichtige Grundätze des Konstruktivismus. Als Zauberer sind beide so erfolgreich, weil sie imstande sind, „''ein Ambiente, einen Kontext zu erzeugen; eine'' ''Welt, in der die Zuschauer mitspielen, diese Welt zu erzeugen.''“<ref>ebd., S. 95.</ref><br />
: '' „Wir haben es so gemacht, dass der Zuschauer sich eine Welt aufbaut, in dem das geschieht, was er gehofft hat, dass es geschehen würde. Das hat mich zu dem Satz gebracht: Der Hörer, nicht der Sprecher bestimmt die Bedeutung einer Aussage.“''<ref>ebd., S. 98.</ref> <br />
<br />
: '' „Das Wesentliche des Zauberns liegt darin, den Zuschauer zu überreden, eine Welt für sich zu konstruieren, in der Wunderbares passiert. So ist sozusagen meine frühe Assoziation mit der Zauberei direkt mit Konstruktivismus verknüpft.“ ''<ref>ebd., S. 99.</ref><br />
<br />
=== Studienzeit - Grundlagen und Arbeitsweise === <br />
Er studiert Physik an der Technischen Hochschule Wien. In dieser Zeit knüpft er Kontakt zum „Wiener Kreis“, in dem Philosophen, Logiker, Mathematiker, Historiker und andere eine eigene philosophische Haltung begründen. Hier erlebt er eine Zusammenarbeit von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fachrichtungen, die sich gegenseitig in ihrem Denken befruchten. Dieser anregende und kreative Austausch beeindruckt ihn so, dass er ihn in seiner weiteren Laufbahn als Forscher stets sucht und verwirklicht (siehe Macy-Konferenzen und Biological Computer Lab).<br />
<br />
=== Erste Forschungstätigkeit - Elektroakustik === <br />
Er wird Direktor des Forschungslabors der GEMA (Gesellschaft für elektroakustische und mechanische Apparate mbH, dem Pionierunternehmen auf dem Gebiet der Radar- und Funkmesstechnik). Hier forscht er bereits zum Thema Interaktion, mit dem er sich Zeit seines Lebens immer wieder in höchst unterschiedlichen Aspekten beschäftigt.<br />
Spätestens als 1939 der zweite Weltkrieg beginnt, wird alle Energie auf sogenannte kriegswichtige Themen ausgerichtet. Dazu sagt Heinz von Foerster: <br />
: '' „Die Firma GEMA war ja ein Rüstungsbetrieb; Kriegsindustrie. Die haben die Radare für die Deutschen gebaut. Und ich habe dort im Forschungslabor an Sachen geforscht, die einfach unerforschbar waren. Das habe ich zusammen mit den Leuten gemacht, die gesagt haben: ‚Wir müssen das boykottieren‘. Also haben wir das boykottiert, indem wir immer Forschungsprogramme gewählt haben, die eigentlich undurchführbar waren. Und da konnte ich eben weiterarbeiten, denn die Projekte haben sehr vielversprechend ausgeschaut. Wir haben sie auch so formuliert, dass sie vielversprechend ausgeschaut haben.<ref>ebd., S. 132.</ref>“<br />
Die Firma wird nach dem Beginn des Bombenkrieges von Berlin nach Schlesien (heute Polen) verlegt.<br />
<br />
=== Kriegsende, Neuanfang in Wien === <br />
Kurz vor Kriegsende flieht seine Frau Mai von Foerster mit den drei Söhnen mit einem der letzten Züge aus Schlesien zu ihrer Mutter in die Nähe von Heidelberg. HvF bleibt zunächst, später schlägt er sich auf höchst abenteuerlichen Wegen durch bis zu seiner Familie. Von dort geht es mit seiner Frau und 2 von 3 Söhnen weiter in die Gegend von Kufstein / Österreich, der 3. Sohn Johannes bleibt vorübergehend bei seiner Großmutter<ref>ebd., S. 129 ff.</ref>. <br />
<br />
Um seine Mutter und die Geschwister wieder zu sehen, geht er nach Wien, was zu dieser Zeit eine sehr mühselige Reise in eine besetzte und gefährliche Stadt ist. Dort bekommt er beim neu gegründeten Amerikanischen Radiosender „Rot-Weiss-Rot“ als Mitglied Nummer 7 eine Anstellung als Techniker und Rundfunkjournalist und wird zum Kulturchef des Senders<ref>ebd., S. 146 ff.</ref> Gleichzeitig hat er (verbotenerweise) eine 2 Arbeit, er baut die Telefonfirma Schrack-Ericcson wieder auf, die von den Besatzern geplündert wurde.<br />
<br />
Nachdem seine Frau mit den beiden Söhnen in Wien angekommen sind, versuchten sie ihr drittes Kind aus Deutschland einreisen zu lassen. Da es auf legalem Wege nicht möglich ist, holen sie es schließlich nach 4 Jahren Trennung illegal über die geschlossene Grenze<ref>ebd., S. 150 f.</ref> <br />
: '' „Zu fünft haben wir bei Tante Haserl, einer älteren Schwester meines Vaters, in einer winzigen Wohnung, in einem winzigen Kabinett gewohnt.“''<ref>ebd., S. 151.</ref><br />
<br />
=== Buchveröffentlichung: „Das Gedächtnis – eine quantenphysikalische Untersuchung“=== <br />
Neben seiner Arbeit verfasst er in Nachtschichten sein erstes Buch, darin vertritt er die später verworfene Theorie, dass Elementarbewusstseinsinhalte auf Molekülen gespeichert werden, deren Zerfall das Phänomen des Vergessens erklären könne<ref>ebd., S. 160.</ref>. Er verknüpft dabei Quantenphysik mit Physiologie. <br />
: '' „In'' ''meinem Vorwort habe ich geschrieben: ‚Die Zeit scheint gekommen, wo die Wege geistigen Forschens heterogenster Gebiete zu ihrem gemeinsamen Ursprung zusammenfinden.‘ Da bin ich sehr stolz, dass ich in einem kleinen Paragraphen, der meinem'' Gedächtnis ''vorangeht, sozusagen über die Vorteile der Interdisziplinarität geschrieben habe; schon im Jahre 1948."<ref>ebd., S. 152.</ref>“''<br />
<br />
=== Übersiedlung in die USA - Vorträge und Anstellung im Mikrowellenlabor === <br />
Sein Buch „Das Gedächtnis“ erregt Aufmerksamkeit beim Neurophysiologen Warren McCulloch, Direktor der Neuropsychiatrie der Universität Illinois in Chicago, der ihn 1949 zur Vorstellung seiner Theorie über Gedächtnis und Vergessen an seine Universität einlädt.<br />
<br />
Er bekommt daraufhin eine Einladung zur 6. [[Macy-Konferenzen|Macy-Konferenz]], auf der er über seine Thesen zum Gedächtnis spricht und eine grossen Anzahl Forscher aus verschiedensten Fachgebieten kennenlernt. Siehe Kapitel 2.7.<br />
<br />
''„McCulloch schickte ihn als Physiker an das physikalische Departement der Universität von Illinois in Champaign-Urbana, wo im ‚Department of Electrical Engineering‘ der Direktorposten des Mikrowellenlabors verwaist war. HvF bekam die Stelle und mit vielen Schwierigkeiten die Immigrationsbewilligung für sich sowie wenig später auch für seine Frau Mai und die drei Söhne.“ ''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 45.</ref><br />
<br />
In diesem Labor mit Namen Electron Tube Research Lab (Elektroröhrenlaboratorium) befasst man sich mit der drahtlosen Telegraphie mittels Mikrowellen und anderen Themen. HvF spezialisiert sich auf die Modulation von Licht mittels Mikrowellen zur Nachrichtenübermittlung<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019): ''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). ISBN 978-3-89670-557-0. S. 201 ff.</ref>. <br />
Zu den erfolgreichsten Projekten dieses Labors gehört auch eine Stoppuhr, mit der man ein Millionstel einer Millionstel Sekunde messen kann, zu dem Zeitpunkt die schnellste der Welt.<br />
<br />
=== Die [[Macy-Konferenzen]] === <br />
Ein Meilenstein im Werdegang von HvF ist die Einladung zur 6. Macy-Konferenz vom 24. bis 25. März 1949 in New York. Thema der Konferenz ist "Circular Causal and Feedback Mechanisms in Biological and Social Systems". Dieses jährlich stattfindende Treffen hochkarätiger Wissenschaftler zeichnet sich durch eine sehr lebendige und inspirierende Diskussionskultur und einer Vernetzung über Wissensgebiete hinweg aus. Vertreten sind Fachgebiete wie Mathematik, Informatik (John von Neumann, ein Vater der Computertechnologie), Anthropologie (Margaret Mead und [[Gregory Bateson]]), Kybernetik ([[Norbert Wiener]]), Physiologie, Psychologie, Psychoanalyse, Psychiatrie, Elektrotechnik, Medizin, Zoologie, Soziologie, Ethnologie, Anatomie, Neurologie, Verhaltensforschung, Mathematik, Radiobiologie, Biophysik, Philosophie, Ökonomie u. a.. Er hält dort seinen Vortrag über Gedächtnis und Vergessen. Er wird zum Herausgeber der Publikation der Konferenzakten bestimmt (angeblich, um seine schlechten Englischkenntnisse zu verbessern)<ref>American Society for Cybernetics, Washington USA, 2021. https://asc-cybernetics.org/foundations/history/MacySummary.htm Zugriff 3.12.2021</ref>. Diese Rolle behält er bis zur letzten Macy-Konferenz. <br />
<br />
: ''„In sehr kurzer Zeit war er von der äußersten Peripherie (dem Nachkriegs-Wien) ins Zentrum einer der bedeutendsten Wissenschafts-Bewegungen des 20. Jahrhunderts geraten.<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11 (1): 9-30. https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref>''“ <br />
<br />
Von 1949 bis 1953 nimmt er jedes Jahr an den Macy-Konferenzen teil. Dazu schreibt er: <br />
: „''Mein Geist, mein Spirit, meine Erfahrungen, meine Fähigkeiten und meine Technologie waren da, um diese Röhren zu bauen, aber mein Herz und'' ''meine Seele waren bei den Kybernetikern, den Macy-Leuten.“''<ref>ebd., S. 206.</ref><br />
<br />
=== Freisemester, Biologiestudium === <br />
1956 / 57 nutzt er zwei ihn zustehende Freisemester (sabaticals), um Teilgebiete der Biologie zu studieren. Das erste Semester verbringt er bei bei Warren McCulloch am berühmten Massachusetts Institute of Technologies (MIT) im Research Laboratory of Electronics. Thema dort ist zu dem Zeitpunkt künstliche Intelligenz. Das zweite Semester studiert er auf Empfehlung von [[Norbert Wiener]] bei Arturo Rosenblueth, einem Neurophysiologen, der sich zu der Zeit in Mexico City mit Kardiologie befasst. Foerster setzt sich dort mit kybernetischer Biologie auseinander, speziell mit der Arbeitsweise von Muskelfasern. <br />
: „''Während dieses Aufenthalts verfasste er unter anderem ein - dann unveröffentlicht gebliebenes - Manuskript, dessen Inhalt die Kybernetik der Muskelaktivität betraf.“''<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. ''Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften'' 11 (1): 9-30. <br />
<br />
https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref><br />
<br />
=== Biological Computer Lab, BCL === <br />
1958 gründet er sein eigenes Labor, das Biological Computer Lab, BCL. <br />
: „''In einer interdisziplinären Atmosphäre des Vertrauens wurden so technische Projekte verwirklicht, konnten aber auch grundsätzliche Fragen und Erklärungsmodelle diskutiert werden. Schwerpunkte dieser Diskussionen waren das Modell der Zirkularität, die Selbstorganisations- und Chaostheorie, die Funktionsweise der Wahrnehmung und neuronaler Netzwerke und selbstverständlich ganz grundsätzliche erkenntnistheoretische Fragen. HvF und sein BCL entwickelten sich so zu einem Zentrum, das mit den Argumentationen der führenden KybernetikerInnen vertraut war und zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Formulierung und Entwicklung der Kybernetik leistete.<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 49.</ref>“ '' <br />
<br />
Als Professor und Direktor der BCL ist er nun mit Forschung und Lehre betraut. Typisch für ihn ist sein Verständnis von Lehren.<br />
: „''Unterrichten nicht als einseitiges Dozieren von oben herab, sondern als ein gemeinsames Forschen, zu dem alle Beteiligten mit ihren Kompetenzen ihren Beitrag leisten. In den 68er-Jahren hatten seine Veranstaltungen großen Zulauf, weil er die StudentInnen und ihre Anliegen ernst nahm.<ref>ebd., S. 48.</ref>“ ''<br />
<br />
Die Bedeutung dieses Labors und die Reichweite seiner Wirkung wird vom Wissenschaftshistoriker Albert Müller so eingeschätzt: <br />
:„''Und ebenso motiviert mich der Umstand, daß das BCL in der Literatur zur Geschichte der Kybernetik, der Systemtheorie, der nun wieder neu debattierten Bionik, des parallelen Rechnens, der Neurophysiologie, der Bio-Logik, der künstlichen Intelligenz, des symbolischen Rechnens oder des Konstruktivismus als Denktradition - man könnte noch weitere Wissensgebiete von gegenwärtig großem Renommee aufzählen - nur sehr selten erwähnt wird, obwohl Mitarbeiter dieser Einrichtung, des BCL, als maßgeblich für die jeweilige Domäne in der Literatur zu diesen Wissensgebieten erscheinen. Ist das eine spezielle Vergeßlichkeit der history of science (die Vergeßlichkeit der science selbst ist ja weithin bekannt)?<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11 (1): 9-30. https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref>“ '' <br />
<br />
Die Wechselwirkung dieser gegenseitigen Beeinflussung der Forscher beschreibt Albert Müller in einem Beispiel: <br />
: „''[[Humberto Maturana]] kam also an das BCL und erarbeitete dort unter anderem einen wichtigen Artikel auf dem Weg zu seiner - heute weltweit bekannten - Theorie der [[Autopoiese (Autopoiesis)]]. Aber auch die erste Ausformulierung der nun auf den Begriff gebrachten Theorie der Autopoiesis erschien zuerst als interne Publikation des BCL. Schüler und Mitarbeiter Maturanas entwickelten ebenfalls Beziehungen zum BCL, und zentrale erste Publikationen - zum Beispiel jene von Francisco Varela wurden als BCL-Reports herausgegeben... Wahrscheinlich war es die Herausforderung durch den Impuls der chilenischen Gruppe, die es Heinz von Foerster ermöglichte, die Entwicklung seiner radikalen Version einer Kybernetik zweiter Ordnung (second order cybernetics) voranzutreiben. Dies soll nicht heißen, daß sich Foersters Konzepte aus denen Maturanas ableiten ließen, oder umgekehrt. Die Parallelen und die wechselseitige Stimulierung wurde auf einer Konferenz zu Cognitive Studies and Artificial Intelligence Research 1969 sichtbar. Foersters Beitrag kann als direkte Antwort auf jenen von Maturana gelesen werden - und vice versa<ref>ebd.</ref>.“ '' <br />
<br />
: „''Mehrere wichtige Konferenzen kamen im unmittelbaren Umfeld des BCL zustande. Thematisch kreisten sie um Probleme der Systemtheorie und speziell um den Bereich selbstorganisierender Systeme. Noch heute sind die Konferenzbände wie Self-Organizing Systems oder Principles of Self-Organization grundlegend für diesen Forschungsbereich.<ref>ebd.</ref>“ '' <br />
<br />
Dazu gehört das Erforschen vom Parallelrechnen der Nervennetze von Lebewesen im Gegensatz zu den seriellen Rechenoperationen in Computern (wie sie John von Neumann zu der Zeit baut). Ein "biologischer Computer" namens Numarete wird entwickelt, der die Funktionsweise des Auges von Lebewesen als Vorbild hat (bei dem gleichzeitig eine grosse Menge an Informationen berechnet werden im Zusammenspiel von Muskel-, Sinnes- und neuronalen Zellen). Ein weiterer Schritt auf diesem Gebiet ist der Bau eines Computers zur Analyse akustischer Signale.<br />
Bionik wird als Alternative zur 1956 formulierten Artificial Intelligence verstanden, die sich aber letztendlich ihr gegenüber durchsetzt.<br />
<br />
Das Biological Computer Lab wird 1976 geschlossen, weil die Finanzierung nicht mehr gewährleistet war. Mit seiner unkonventionellen Art des Denkens hat sich HvF im Universitätsbereich nicht nur Freunde gemacht. Er selbst sagt dazu: <br />
:''„Ich glaube, das ist meine Schuld gewesen. Ich glaube, ich habe die die Politik der Wissenschaft zu wenig verstanden. (...) Ich habe nicht daran gedacht: ‚Wie verkauft man das? Was muss man machen, dass es an die Öffentlichkeit kommt, dass es in die Zeitungen kommt, dass es die Institute wissen, die die Gelder hergeben?‘ Also in Public Relations habe ich völlig versagt.“''<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019):''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). <nowiki>ISBN 978-3-89670-557-0</nowiki>. 1. Auflage: 2002. S. 271.</ref>"<br />
Da sich das abgezeichnet hatte, lässt sich HvF zum 65. Geburtstag emeritieren.<br />
<br />
== Ausgewählte Aussagen ==<br />
=== Kybernetik, Zirkularität ===<br />
: „'' Am besten sprechen wir über das Steuern eines Bootes, da der Begriff Kybernetik, den Norbert Wiener prägte und im Jahre 1948 zum Titel seines Buches machte, auf das griechische Wort für Steuermann (kybernetes) zurückgeht, [...] Was macht ein Steuermann, der sein Schiff sicher in den Hafen hineinmanövrieren möchte? Er absolviert kein ein für allemal festgelegtes Programm, sondern er variiert dies permanent. Wenn das Boot vom Kurs und seinem Ziel nach links abweicht, weil der Wind so stark bläst, schätzt er diese Kursabweichung ein, so daß er weiterhin auf den Hafen zufährt. Er versucht, den Fehler zu korrigieren. Und vielleicht steuert er etwas zu stark gegen. Das Ergebnis ist womöglich eine Kursabweichung nach rechts – und die Notwendigkeit, erneut gegenzusteuern. In jedem Moment wird die Abweichung in Relation zu dem ins Auge gefassten Ziel, dem Telos, das zum Beispiel ein Hafen sein kann, korrigiert. Das Betätigen des Steuers, eine Ursache, erzeugt also eine Wirkung; das ist die Kurskorrektur. Und diese Wirkung wird wieder zu einer Ursache, denn man stellt eine neue Kursabweichung fest. Und diese erzeugt ihrerseits eine Wirkung, nämlich wiederum eine Kurskorrektur. Solche Steuerungsvorgänge sind ein wunderbares Beispiel zirkulärer Kausalität.''“<ref> ''' Foerster, Heinz von; Pörksen, Bernhard (2006) ''': Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. 7. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag. ISBN 13-3-89670-214-0. 1. Auflage: 1998. S. 107.</ref><br />
HvF beschreibt in seiner bekannt einfachen, aber sehr nachvollziehbaren Ausdrucksweise die [[Feedback-Control-Theorie]], die im Fachgebiet Kinästhetik eine zentrale Rolle beim Verständnis der Bewegungssteuerung bzw. allgemein der Verhaltenssteuerung von Lebewesen spielt.<br />
<br />
=== Hermeneutik des Hörens ===<br />
: „'' Der Hörer, nicht der Sprecher, bestimmt die Bedeutung einer Aussage. Gewöhnlich glaubt man, daß der Sprecher festlegt, was ein Satz bedeutet, und der Hörer verstehen muß, was der Sprecher gesagt hat. Aber das ist ein fundamentaler Irrtum. Der Hörer ist es, der die merkwürdigen Laute, die ich oder ein anderer mit Hilfe der eigenen Stimmlippen hervorrufen, interpretiert und ihnen einen bzw. seinen Sinn gibt. ''“<ref> ' ebd., S. 100.</ref><br />
<br />
=== Der Schüler als nichttriviale Maschine ===<br />
: „''Das Schreckliche mit den Kindern ist, so glauben viele, daß sie sich nicht auf eine voraussagbare Weise gebärden. Sie agieren noch nicht wie triviale Maschinen, die auf einen bestimmten Input immer ein und denselben Output erzeugen.''“<ref> ' ebd., S. 65.</ref><br />
Zur Erläuterung berichtet HvF von seinem Geschichtslehrer im Gymnasium, der auf die Frage „Was waren die Griechen für ein Volk?“ keine andere Antwort als „Ein heiteres Volk.“ akzeptierte. So schalte man Unberechenbarkeit und Kreativität aus.<br />
: „''Der Großteil unserer institutionalisierten Erziehungsbemühungen hat zum Ziel, unsere Kinder zu trivialisieren. ''“<ref> ' ebd., S. 65.</ref><br />
<br />
=== Ethischer Imperativ === <br />
: „''Ich habe einmal gesagt: ‚Handle stets so, daß die Anzahl der Möglichkeiten wächst.‘ Das ist mein ethischer Imperativ [...] Gemeint ist, daß man die Aktivitäten eines anderen nicht einschränken soll, sondern daß es gut wäre, sich auf eine Weise zu verhalten, die die Freiheit des anderen und der Gemeinschaft vergrößert. Denn je größer die Freiheit ist, desto größer sind die Wahlmöglichkeiten und desto eher ist auch die Chance gegeben, für die eigenen Handlungen Verantwortung zu übernehmen. Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Nur wer frei ist – und immer wieder anders agieren könnte –, kann verantwortlich handeln.''“<ref> ''' ebd., S. 36.</ref><br />
<br />
==Bedeutung für Kinästhetik==<br />
Zu diesem Thema hat eine Diskussion begonnen, bei der weiterhin Mitwirken erwünscht ist. Siehe Diskussionsseite [[Diskussion: Heinz von Foerster]] dieses Artikels.<br />
<br />
==Weiterführende Literatur und Medien==<br />
'''Maria Pruckner:''' 90 Jahre Heinz von Foerster | Relaunch 2021. <br />
https://www.youtube.com/watch?v=-OPdH8Pk6x4 (Zugriff: 07.02.2022).<br />
<br />
'''Nikola Bock und Jutta Schubert:''' Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners - Tanz mit der Welt. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=RNdTrdi5nG4 (Zugriff: 27.10.2021).<br />
<br />
'''Lucas Pawlik:''' Einführung in die Kybern-ethik Heinz von Foersters Teil I. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=PeE9eAoT6x8 (Zugriff: 09.12.2021).<br />
<br />
'''Lucas Pawlik:''' Einführung in die Kybern-ethik Heinz von Foersters Teil II. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=y9oRamZyq28<br />
(Zugriff: 09.12.2021).<br />
<br />
''' Universität Wien, Artikel aus der Zeitschrift für Geschichtswissenschaften: ''' Im Goldenen Hecht. Über Konstruktivismus und Geschichte. Ein Gespräch zwischen Heinz von Foerster, Albert Müller und Karl H. Müller <br><br />
https://www.univie.ac.at/heinz-von-foerster-archive/etexte/int.pdf (Zugriff: 11.08.2021).<br />
<br />
==Einzelnachweise==<br />
<br />
<references /></div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Heinz_von_Foerster&diff=4878
Heinz von Foerster
2023-12-19T06:53:35Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Hermeneutik des Hörens */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|in Bearbeitung|Lutz Zierbeck/Sabine Kaserer}}{| class="wikitable" <br />
<br><br />
<br />
'''''Zusammenfassung'':'''''<br>„Heinz von Foerster (1911-2002) spielte für die Entwicklung der Kybernetik eine entscheidende Rolle. Sein Labor, das "Biological Computer Lab" entwickelte sich zu einem kybernetischen Kompetenzzentrum, zu dem viele herausragende WissenschaftlerInnen einen engen Kontakt hatten, wo sie sich trafen und forschten. Bis ins hohe Alter blieb von Foerster ein Vordenker der Kybernetik<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 44.</ref>"'' <br><br />
<br />
HvF, wie er sich selber nannte, hat in seinem langen Leben in vielen Gebieten geforscht und gearbeitet. Sein Werk ist vielfältig und umfangreich, große Teile davon haben eine Bedeutung für Kinästhetik, vor allem seine kybernetischen Studien und seine Arbeiten zur Ethik und zum Lernen. <br><br />
<br />
Nach einer kurzen tabellarischen Aufzählung wichtiger Eckdaten und Ereignisse folgt die Vertiefung einiger der aufgeführten Themen, z. T. mit Literaturzitaten untermauert. Die Bedeutung seines Werkes für Kinästhetik wird im 3. Kapitel erläutert.<br> <br />
<br>Die Arbeit am Artikel ist noch nicht abgeschlossen! Wir laden zum Mitdenken, Mitdiskutieren und Mitschreiben ein! Siehe Diskussionsseite.<br />
<br />
== Tabellarischer Lebenslauf ==<br />
|-<br />
! Jahr !! Leben und Werk<br />
|-<br />
| 1911 || Geboren am 13. November in Wien. <br />
|-<br />
| ab 1930 || Studium der Physik an der Technischen Hochschule Wien. <br />
|-<br />
|-<br />
| 1938 || Erste Arbeitsstelle als Physiker im Forschungslabor und kurzzeitig auch als Vertreter bei der Firma E. Leybold´s Nachfolger, Vakuumpumpenfabrik in Köln.<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019): ''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). ISBN 978-3-89670-557-0. S. 116 ff.</ref> <br />
|-<br />
|-<br />
| 1939 || Lernt am Neujahrsabend die Schauspielerin Mai Stürmer kennen, sie heiraten wenige Monate später.<ref>ebd., S. 119 ff</ref><br />
<br />
|-<br />
|-<br />
| 1939 || Umzug nach Berlin, Direktor des Forschungslabors der GEMA (Gesellschaft für elektroakustische und mechanische Apparate mbH, dem Pionierunternehmen auf dem Gebiet der Radar- und Funkmesstechnik).<ref>ebd., S. 121 ff</ref> <br />
<br />
|-<br />
|-<br />
| 1944 || Er reicht seine Dissertation zum Thema Plasmaoszillationen an der Universität Breslau ein, wird aber nicht promoviert, da er keinen Ariernachweis vorlegen kann.<ref>ebd., S. 127 ff.</ref><br />
|-<br />
|-<br />
| 1945 || Neuanfang in Wien als Kulturchef des amerikanischen Radiosenders „Rot-Weiß-Rot“.<ref>ebd., S. 146 ff.</ref><br />
|-<br />
|-<br />
| 1948 || Veröffentlichung des Buches „Das Gedächtnis – eine quantenphysikalische Untersuchung“.<ref>ebd., S. 151 f</ref> <br />
|-<br />
|-<br />
| 1949 || Übersiedlung in die USA, Teilnahme an der 6. [[Macy-Konferenzen|Macy-Konferenz]], Direktor des Mikrowellenlabors der Universität Illinois.<ref>ebd., S. 153 ff.</ref> <br />
<br />
|-<br />
|1956 / 57||2 Freisemester (Sabbatical) Studium biologischer Themen.<ref>ebd., S. 206 ff.</ref> <br />
<br />
|-<br />
| 1958||Gründung seines eigenen Labors „Biological Computer Lab, BCL“.<ref>ebd., S. 211 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1959||„Selforganization Systems Conference“.<ref>ebd., S. 222 ff</ref> <br />
|-<br />
| 1960||„Principles of Selforganization Conference“.<ref>ebd., S. 227 ff</ref> <br />
|-<br />
| 1962||„Information Processing in the Nervous System“ Konferenz in Leiden, NL. Macht dort Bekanntschaft mit dem Biologen Humberto Maturana.<ref>ebd., S. 232 ff.</ref><br />
|-<br />
| 1968||Heuristics I und II.<ref>ebd., S. 241 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1969||Heuristics III, Zeit der Studentenrevolutionen. Verfasst einen Katalog mit StudentInnen zusammen.<ref>ebd., S. 244 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1970||Unterricht der „honours class ingeneering group“. Schreibt mit StudentInnen zusammen das „Ecological Source book“.<ref>ebd., S. 250 f.</ref> <br />
|-<br />
| 1973||„Om-Conference“.<ref>ebd., S. 271 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1974||Kurs für Studenten und gemeinsames Buch darüber: „Cybernetcs of Cybernetics“.<ref>ebd., S. 251 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1975||Baut sein Haus (größtenteils eigenhändig) auf dem Rattlesnake Hill in Pescadero, Kalifornien.<ref>ebd., S. 281 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1976||Schließung des BCL, Emeritierung.<ref>ebd., S. 266 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1990||Familientherapie-Konferenz in Paris: „Ethik und Kybernetik 2. Ordnung“.<ref>ebd., S. 286 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1994||Weltkongress f. Soziale Psychiatrie in Hamburg: „Abschied von Babylon“.<ref>ebd., S. 288 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1996||Konferenz in Heidelberg: „Die Schule neu erfinden“ mit Ernst von Glasersfeld.<ref>ebd., S. 292 f.</ref> <br />
|-<br />
| 2002||Tod am 2. Oktober in Pescadero, Kalifornien.<br />
|}<br />
<br />
== Vertiefung ausgewählter Themen ==<br />
Das Werk von Heinz von Foerster ist umfangreich und vielfältig. Einige Themen, die für das Verständnis des Menschen HvF und für die Entwicklung seiner Ideen interessant sind, sowie verschiedene Forschungs- und Entwicklungsprojekte sollen im Folgenden etwas vertieft dargestellt werden. <br />
<br />
=== Kindheit und Jugend - Herkunft und Einflüsse === <br />
Sein Vater, der Ingenieur Emil von Foerster, muss 3 Jahre nach der Geburt von Heinz in den ersten Weltkrieg ziehen und ist lange Jahre in Kriegsgefangenschaft.<ref>ebd., S. 72 ff.</ref> Somit wird er hauptsächlich von seine Mutter Lilith von Foerster erzogen, die in künstlerisch-intellektuellen Kreisen verkehrt (z. B. mit dem Maler Oskar Kokoschka oder dem Philosophen Rudolf Kassner). Ihre Mutter war Marie Lang, eine der ersten Frauenrechtlerinnen Europas, deren Gedankengut einen deutlichen Einfluss auf ihn hat.<br />
<br />
Ebenso hat in seiner Kindheit die Tante Grete Wiesenthal Einfluss auf seine Entwicklung, eine weltberühmte Tänzerin, deren Kostüme größtenteils seine Mutter entwirft. Er berichtet schwärmerisch über viele Stunden in den Garderoben und hinter der Bühne, wo er die „''unglaublich schönen Frauen''“<ref>ebd., S. 79.</ref> beobachtet. <br />
<br />
Über seinen Onkel Erwin Lang kommt er in Berührung mit der chinesischen Philosophie des Tao, die ihn fasziniert.<ref>ebd., S. 84 und 296 ff.</ref> <br />
<br />
Zusammen mit seinem Cousin Martin Lang beginnt er sich im Alter von 14 Jahren mit der Zauberei zu befassen. Sie bringen es bis zur Aufnahme in die IAO (internationale Artistenorganisation) mit einem Zauber-Diplom<ref>ebd., S. 92 ff.</ref> In dieser Zeit entwickelt er seine Kompetenzen, vor einem grossen Publikum wirkungsvoll aufzutreten, aber auch wichtige Grundätze des Konstruktivismus. Als Zauberer sind beide so erfolgreich, weil sie imstande sind, „''ein Ambiente, einen Kontext zu erzeugen; eine'' ''Welt, in der die Zuschauer mitspielen, diese Welt zu erzeugen.''“<ref>ebd., S. 95.</ref><br />
: '' „Wir haben es so gemacht, dass der Zuschauer sich eine Welt aufbaut, in dem das geschieht, was er gehofft hat, dass es geschehen würde. Das hat mich zu dem Satz gebracht: Der Hörer, nicht der Sprecher bestimmt die Bedeutung einer Aussage.“''<ref>ebd., S. 98.</ref> <br />
<br />
: '' „Das Wesentliche des Zauberns liegt darin, den Zuschauer zu überreden, eine Welt für sich zu konstruieren, in der Wunderbares passiert. So ist sozusagen meine frühe Assoziation mit der Zauberei direkt mit Konstruktivismus verknüpft.“ ''<ref>ebd., S. 99.</ref><br />
<br />
=== Studienzeit - Grundlagen und Arbeitsweise === <br />
Er studiert Physik an der Technischen Hochschule Wien. In dieser Zeit knüpft er Kontakt zum „Wiener Kreis“, in dem Philosophen, Logiker, Mathematiker, Historiker und andere eine eigene philosophische Haltung begründen. Hier erlebt er eine Zusammenarbeit von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fachrichtungen, die sich gegenseitig in ihrem Denken befruchten. Dieser anregende und kreative Austausch beeindruckt ihn so, dass er ihn in seiner weiteren Laufbahn als Forscher stets sucht und verwirklicht (siehe Macy-Konferenzen und Biological Computer Lab).<br />
<br />
=== Erste Forschungstätigkeit - Elektroakustik === <br />
Er wird Direktor des Forschungslabors der GEMA (Gesellschaft für elektroakustische und mechanische Apparate mbH, dem Pionierunternehmen auf dem Gebiet der Radar- und Funkmesstechnik). Hier forscht er bereits zum Thema Interaktion, mit dem er sich Zeit seines Lebens immer wieder in höchst unterschiedlichen Aspekten beschäftigt.<br />
Spätestens als 1939 der zweite Weltkrieg beginnt, wird alle Energie auf sogenannte kriegswichtige Themen ausgerichtet. Dazu sagt Heinz von Foerster: <br />
: '' „Die Firma GEMA war ja ein Rüstungsbetrieb; Kriegsindustrie. Die haben die Radare für die Deutschen gebaut. Und ich habe dort im Forschungslabor an Sachen geforscht, die einfach unerforschbar waren. Das habe ich zusammen mit den Leuten gemacht, die gesagt haben: ‚Wir müssen das boykottieren‘. Also haben wir das boykottiert, indem wir immer Forschungsprogramme gewählt haben, die eigentlich undurchführbar waren. Und da konnte ich eben weiterarbeiten, denn die Projekte haben sehr vielversprechend ausgeschaut. Wir haben sie auch so formuliert, dass sie vielversprechend ausgeschaut haben.<ref>ebd., S. 132.</ref>“<br />
Die Firma wird nach dem Beginn des Bombenkrieges von Berlin nach Schlesien (heute Polen) verlegt.<br />
<br />
=== Kriegsende, Neuanfang in Wien === <br />
Kurz vor Kriegsende flieht seine Frau Mai von Foerster mit den drei Söhnen mit einem der letzten Züge aus Schlesien zu ihrer Mutter in die Nähe von Heidelberg. HvF bleibt zunächst, später schlägt er sich auf höchst abenteuerlichen Wegen durch bis zu seiner Familie. Von dort geht es mit seiner Frau und 2 von 3 Söhnen weiter in die Gegend von Kufstein / Österreich, der 3. Sohn Johannes bleibt vorübergehend bei seiner Großmutter<ref>ebd., S. 129 ff.</ref>. <br />
<br />
Um seine Mutter und die Geschwister wieder zu sehen, geht er nach Wien, was zu dieser Zeit eine sehr mühselige Reise in eine besetzte und gefährliche Stadt ist. Dort bekommt er beim neu gegründeten Amerikanischen Radiosender „Rot-Weiss-Rot“ als Mitglied Nummer 7 eine Anstellung als Techniker und Rundfunkjournalist und wird zum Kulturchef des Senders<ref>ebd., S. 146 ff.</ref> Gleichzeitig hat er (verbotenerweise) eine 2 Arbeit, er baut die Telefonfirma Schrack-Ericcson wieder auf, die von den Besatzern geplündert wurde.<br />
<br />
Nachdem seine Frau mit den beiden Söhnen in Wien angekommen sind, versuchten sie ihr drittes Kind aus Deutschland einreisen zu lassen. Da es auf legalem Wege nicht möglich ist, holen sie es schließlich nach 4 Jahren Trennung illegal über die geschlossene Grenze<ref>ebd., S. 150 f.</ref> <br />
: '' „Zu fünft haben wir bei Tante Haserl, einer älteren Schwester meines Vaters, in einer winzigen Wohnung, in einem winzigen Kabinett gewohnt.“''<ref>ebd., S. 151.</ref><br />
<br />
=== Buchveröffentlichung: „Das Gedächtnis – eine quantenphysikalische Untersuchung“=== <br />
Neben seiner Arbeit verfasst er in Nachtschichten sein erstes Buch, darin vertritt er die später verworfene Theorie, dass Elementarbewusstseinsinhalte auf Molekülen gespeichert werden, deren Zerfall das Phänomen des Vergessens erklären könne<ref>ebd., S. 160.</ref>. Er verknüpft dabei Quantenphysik mit Physiologie. <br />
: '' „In'' ''meinem Vorwort habe ich geschrieben: ‚Die Zeit scheint gekommen, wo die Wege geistigen Forschens heterogenster Gebiete zu ihrem gemeinsamen Ursprung zusammenfinden.‘ Da bin ich sehr stolz, dass ich in einem kleinen Paragraphen, der meinem'' Gedächtnis ''vorangeht, sozusagen über die Vorteile der Interdisziplinarität geschrieben habe; schon im Jahre 1948."<ref>ebd., S. 152.</ref>“''<br />
<br />
=== Übersiedlung in die USA - Vorträge und Anstellung im Mikrowellenlabor === <br />
Sein Buch „Das Gedächtnis“ erregt Aufmerksamkeit beim Neurophysiologen Warren McCulloch, Direktor der Neuropsychiatrie der Universität Illinois in Chicago, der ihn 1949 zur Vorstellung seiner Theorie über Gedächtnis und Vergessen an seine Universität einlädt.<br />
<br />
Er bekommt daraufhin eine Einladung zur 6. [[Macy-Konferenzen|Macy-Konferenz]], auf der er über seine Thesen zum Gedächtnis spricht und eine grossen Anzahl Forscher aus verschiedensten Fachgebieten kennenlernt. Siehe Kapitel 2.7.<br />
<br />
''„McCulloch schickte ihn als Physiker an das physikalische Departement der Universität von Illinois in Champaign-Urbana, wo im ‚Department of Electrical Engineering‘ der Direktorposten des Mikrowellenlabors verwaist war. HvF bekam die Stelle und mit vielen Schwierigkeiten die Immigrationsbewilligung für sich sowie wenig später auch für seine Frau Mai und die drei Söhne.“ ''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 45.</ref><br />
<br />
In diesem Labor mit Namen Electron Tube Research Lab (Elektroröhrenlaboratorium) befasst man sich mit der drahtlosen Telegraphie mittels Mikrowellen und anderen Themen. HvF spezialisiert sich auf die Modulation von Licht mittels Mikrowellen zur Nachrichtenübermittlung<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019): ''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). ISBN 978-3-89670-557-0. S. 201 ff.</ref>. <br />
Zu den erfolgreichsten Projekten dieses Labors gehört auch eine Stoppuhr, mit der man ein Millionstel einer Millionstel Sekunde messen kann, zu dem Zeitpunkt die schnellste der Welt.<br />
<br />
=== Die [[Macy-Konferenzen]] === <br />
Ein Meilenstein im Werdegang von HvF ist die Einladung zur 6. Macy-Konferenz vom 24. bis 25. März 1949 in New York. Thema der Konferenz ist "Circular Causal and Feedback Mechanisms in Biological and Social Systems". Dieses jährlich stattfindende Treffen hochkarätiger Wissenschaftler zeichnet sich durch eine sehr lebendige und inspirierende Diskussionskultur und einer Vernetzung über Wissensgebiete hinweg aus. Vertreten sind Fachgebiete wie Mathematik, Informatik (John von Neumann, ein Vater der Computertechnologie), Anthropologie (Margaret Mead und [[Gregory Bateson]]), Kybernetik ([[Norbert Wiener]]), Physiologie, Psychologie, Psychoanalyse, Psychiatrie, Elektrotechnik, Medizin, Zoologie, Soziologie, Ethnologie, Anatomie, Neurologie, Verhaltensforschung, Mathematik, Radiobiologie, Biophysik, Philosophie, Ökonomie u. a.. Er hält dort seinen Vortrag über Gedächtnis und Vergessen. Er wird zum Herausgeber der Publikation der Konferenzakten bestimmt (angeblich, um seine schlechten Englischkenntnisse zu verbessern)<ref>American Society for Cybernetics, Washington USA, 2021. https://asc-cybernetics.org/foundations/history/MacySummary.htm Zugriff 3.12.2021</ref>. Diese Rolle behält er bis zur letzten Macy-Konferenz. <br />
<br />
: ''„In sehr kurzer Zeit war er von der äußersten Peripherie (dem Nachkriegs-Wien) ins Zentrum einer der bedeutendsten Wissenschafts-Bewegungen des 20. Jahrhunderts geraten.<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11 (1): 9-30. https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref>''“ <br />
<br />
Von 1949 bis 1953 nimmt er jedes Jahr an den Macy-Konferenzen teil. Dazu schreibt er: <br />
: „''Mein Geist, mein Spirit, meine Erfahrungen, meine Fähigkeiten und meine Technologie waren da, um diese Röhren zu bauen, aber mein Herz und'' ''meine Seele waren bei den Kybernetikern, den Macy-Leuten.“''<ref>ebd., S. 206.</ref><br />
<br />
=== Freisemester, Biologiestudium === <br />
1956 / 57 nutzt er zwei ihn zustehende Freisemester (sabaticals), um Teilgebiete der Biologie zu studieren. Das erste Semester verbringt er bei bei Warren McCulloch am berühmten Massachusetts Institute of Technologies (MIT) im Research Laboratory of Electronics. Thema dort ist zu dem Zeitpunkt künstliche Intelligenz. Das zweite Semester studiert er auf Empfehlung von [[Norbert Wiener]] bei Arturo Rosenblueth, einem Neurophysiologen, der sich zu der Zeit in Mexico City mit Kardiologie befasst. Foerster setzt sich dort mit kybernetischer Biologie auseinander, speziell mit der Arbeitsweise von Muskelfasern. <br />
: „''Während dieses Aufenthalts verfasste er unter anderem ein - dann unveröffentlicht gebliebenes - Manuskript, dessen Inhalt die Kybernetik der Muskelaktivität betraf.“''<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. ''Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften'' 11 (1): 9-30. <br />
<br />
https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref><br />
<br />
=== Biological Computer Lab, BCL === <br />
1958 gründet er sein eigenes Labor, das Biological Computer Lab, BCL. <br />
: „''In einer interdisziplinären Atmosphäre des Vertrauens wurden so technische Projekte verwirklicht, konnten aber auch grundsätzliche Fragen und Erklärungsmodelle diskutiert werden. Schwerpunkte dieser Diskussionen waren das Modell der Zirkularität, die Selbstorganisations- und Chaostheorie, die Funktionsweise der Wahrnehmung und neuronaler Netzwerke und selbstverständlich ganz grundsätzliche erkenntnistheoretische Fragen. HvF und sein BCL entwickelten sich so zu einem Zentrum, das mit den Argumentationen der führenden KybernetikerInnen vertraut war und zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Formulierung und Entwicklung der Kybernetik leistete.<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 49.</ref>“ '' <br />
<br />
Als Professor und Direktor der BCL ist er nun mit Forschung und Lehre betraut. Typisch für ihn ist sein Verständnis von Lehren.<br />
: „''Unterrichten nicht als einseitiges Dozieren von oben herab, sondern als ein gemeinsames Forschen, zu dem alle Beteiligten mit ihren Kompetenzen ihren Beitrag leisten. In den 68er-Jahren hatten seine Veranstaltungen großen Zulauf, weil er die StudentInnen und ihre Anliegen ernst nahm.<ref>ebd., S. 48.</ref>“ ''<br />
<br />
Die Bedeutung dieses Labors und die Reichweite seiner Wirkung wird vom Wissenschaftshistoriker Albert Müller so eingeschätzt: <br />
:„''Und ebenso motiviert mich der Umstand, daß das BCL in der Literatur zur Geschichte der Kybernetik, der Systemtheorie, der nun wieder neu debattierten Bionik, des parallelen Rechnens, der Neurophysiologie, der Bio-Logik, der künstlichen Intelligenz, des symbolischen Rechnens oder des Konstruktivismus als Denktradition - man könnte noch weitere Wissensgebiete von gegenwärtig großem Renommee aufzählen - nur sehr selten erwähnt wird, obwohl Mitarbeiter dieser Einrichtung, des BCL, als maßgeblich für die jeweilige Domäne in der Literatur zu diesen Wissensgebieten erscheinen. Ist das eine spezielle Vergeßlichkeit der history of science (die Vergeßlichkeit der science selbst ist ja weithin bekannt)?<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11 (1): 9-30. https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref>“ '' <br />
<br />
Die Wechselwirkung dieser gegenseitigen Beeinflussung der Forscher beschreibt Albert Müller in einem Beispiel: <br />
: „''[[Humberto Maturana]] kam also an das BCL und erarbeitete dort unter anderem einen wichtigen Artikel auf dem Weg zu seiner - heute weltweit bekannten - Theorie der [[Autopoiese (Autopoiesis)]]. Aber auch die erste Ausformulierung der nun auf den Begriff gebrachten Theorie der Autopoiesis erschien zuerst als interne Publikation des BCL. Schüler und Mitarbeiter Maturanas entwickelten ebenfalls Beziehungen zum BCL, und zentrale erste Publikationen - zum Beispiel jene von Francisco Varela wurden als BCL-Reports herausgegeben... Wahrscheinlich war es die Herausforderung durch den Impuls der chilenischen Gruppe, die es Heinz von Foerster ermöglichte, die Entwicklung seiner radikalen Version einer Kybernetik zweiter Ordnung (second order cybernetics) voranzutreiben. Dies soll nicht heißen, daß sich Foersters Konzepte aus denen Maturanas ableiten ließen, oder umgekehrt. Die Parallelen und die wechselseitige Stimulierung wurde auf einer Konferenz zu Cognitive Studies and Artificial Intelligence Research 1969 sichtbar. Foersters Beitrag kann als direkte Antwort auf jenen von Maturana gelesen werden - und vice versa<ref>ebd.</ref>.“ '' <br />
<br />
: „''Mehrere wichtige Konferenzen kamen im unmittelbaren Umfeld des BCL zustande. Thematisch kreisten sie um Probleme der Systemtheorie und speziell um den Bereich selbstorganisierender Systeme. Noch heute sind die Konferenzbände wie Self-Organizing Systems oder Principles of Self-Organization grundlegend für diesen Forschungsbereich.<ref>ebd.</ref>“ '' <br />
<br />
Dazu gehört das Erforschen vom Parallelrechnen der Nervennetze von Lebewesen im Gegensatz zu den seriellen Rechenoperationen in Computern (wie sie John von Neumann zu der Zeit baut). Ein "biologischer Computer" namens Numarete wird entwickelt, der die Funktionsweise des Auges von Lebewesen als Vorbild hat (bei dem gleichzeitig eine grosse Menge an Informationen berechnet werden im Zusammenspiel von Muskel-, Sinnes- und neuronalen Zellen). Ein weiterer Schritt auf diesem Gebiet ist der Bau eines Computers zur Analyse akustischer Signale.<br />
Bionik wird als Alternative zur 1956 formulierten Artificial Intelligence verstanden, die sich aber letztendlich ihr gegenüber durchsetzt.<br />
<br />
Das Biological Computer Lab wird 1976 geschlossen, weil die Finanzierung nicht mehr gewährleistet war. Mit seiner unkonventionellen Art des Denkens hat sich HvF im Universitätsbereich nicht nur Freunde gemacht. Er selbst sagt dazu: <br />
:''„Ich glaube, das ist meine Schuld gewesen. Ich glaube, ich habe die die Politik der Wissenschaft zu wenig verstanden. (...) Ich habe nicht daran gedacht: ‚Wie verkauft man das? Was muss man machen, dass es an die Öffentlichkeit kommt, dass es in die Zeitungen kommt, dass es die Institute wissen, die die Gelder hergeben?‘ Also in Public Relations habe ich völlig versagt.“''<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019):''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). <nowiki>ISBN 978-3-89670-557-0</nowiki>. 1. Auflage: 2002. S. 271.</ref>"<br />
Da sich das abgezeichnet hatte, lässt sich HvF zum 65. Geburtstag emeritieren.<br />
<br />
== Ausgewählte Aussagen ==<br />
=== Kybernetik, Zirkularität ===<br />
: „'' Am besten sprechen wir über das Steuern eines Bootes, da der Begriff Kybernetik, den Norbert Wiener prägte und im Jahre 1948 zum Titel seines Buches machte, auf das griechische Wort für Steuermann (kybernetes) zurückgeht, [...] Was macht ein Steuermann, der sein Schiff sicher in den Hafen hineinmanövrieren möchte? Er absolviert kein ein für allemal festgelegtes Programm, sondern er variiert dies permanent. Wenn das Boot vom Kurs und seinem Ziel nach links abweicht, weil der Wind so stark bläst, schätzt er diese Kursabweichung ein, so daß er weiterhin auf den Hafen zufährt. Er versucht, den Fehler zu korrigieren. Und vielleicht steuert er etwas zu stark gegen. Das Ergebnis ist womöglich eine Kursabweichung nach rechts – und die Notwendigkeit, erneut gegenzusteuern. In jedem Moment wird die Abweichung in Relation zu dem ins Auge gefassten Ziel, dem Telos, das zum Beispiel ein Hafen sein kann, korrigiert. Das Betätigen des Steuers, eine Ursache, erzeugt also eine Wirkung; das ist die Kurskorrektur. Und diese Wirkung wird wieder zu einer Ursache, denn man stellt eine neue Kursabweichung fest. Und diese erzeugt ihrerseits eine Wirkung, nämlich wiederum eine Kurskorrektur. Solche Steuerungsvorgänge sind ein wunderbares Beispiel zirkulärer Kausalität.''“<ref> ''' Foerster, Heinz von; Pörksen, Bernhard (2006) ''': Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. 7. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag. ISBN 13-3-89670-214-0. 1. Auflage: 1998. S. 107.</ref><br />
HvF beschreibt in seiner bekannt einfachen, aber sehr nachvollziehbaren Ausdrucksweise die [[Feedback-Control-Theorie]], die im Fachgebiet Kinästhetik eine zentrale Rolle beim Verständnis der Bewegungssteuerung bzw. allgemein der Verhaltenssteuerung von Lebewesen spielt.<br />
<br />
=== Hermeneutik des Hörens ===<br />
: „'' Der Hörer, nicht der Sprecher, bestimmt die Bedeutung einer Aussage. Gewöhnlich glaubt man, daß der Sprecher festlegt, was ein Satz bedeutet, und der Hörer verstehen muß, was der Sprecher gesagt hat. Aber das ist ein fundamentaler Irrtum. Der Hörer ist es, der die merkwürdigen Laute, die ich oder ein anderer mit Hilfe der eigenen Stimmlippen hervorrufen, interpretiert und ihnen einen bzw. seinen Sinn gibt. ''“<ref> ' ebd., S. 100.</ref><br />
<br />
=== Der Schüler als nichttriviale Maschine ===<br />
: „''Das Schreckliche mit den Kindern ist, so glauben viele, daß sie sich nicht auf eine voraussagbare Weise gebärden. Sie agieren noch nicht wie triviale Maschinen, die auf einen bestimmten Input immer ein und denselben Output erzeugen.''“<ref> ''' ebd., S. 65.</ref><br />
Zur Erläuterung berichtet HvF von seinem Geschichtslehrer im Gymnasium, der auf die Frage „Was waren die Griechen für ein Volk?“ keine andere Antwort als „Ein heiteres Volk.“ akzeptierte. So schalte man Unberechenbarkeit und Kreativität aus.<br />
: „''Der Großteil unserer institutionalisierten Erziehungsbemühungen hat zum Ziel, unsere Kinder zu trivialisieren. ''“<ref> ''' ebd., S. 65.</ref><br />
<br />
=== Ethischer Imperativ === <br />
: „''Ich habe einmal gesagt: ‚Handle stets so, daß die Anzahl der Möglichkeiten wächst.‘ Das ist mein ethischer Imperativ [...] Gemeint ist, daß man die Aktivitäten eines anderen nicht einschränken soll, sondern daß es gut wäre, sich auf eine Weise zu verhalten, die die Freiheit des anderen und der Gemeinschaft vergrößert. Denn je größer die Freiheit ist, desto größer sind die Wahlmöglichkeiten und desto eher ist auch die Chance gegeben, für die eigenen Handlungen Verantwortung zu übernehmen. Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Nur wer frei ist – und immer wieder anders agieren könnte –, kann verantwortlich handeln.''“<ref> ''' ebd., S. 36.</ref><br />
<br />
==Bedeutung für Kinästhetik==<br />
Zu diesem Thema hat eine Diskussion begonnen, bei der weiterhin Mitwirken erwünscht ist. Siehe Diskussionsseite [[Diskussion: Heinz von Foerster]] dieses Artikels.<br />
<br />
==Weiterführende Literatur und Medien==<br />
'''Maria Pruckner:''' 90 Jahre Heinz von Foerster | Relaunch 2021. <br />
https://www.youtube.com/watch?v=-OPdH8Pk6x4 (Zugriff: 07.02.2022).<br />
<br />
'''Nikola Bock und Jutta Schubert:''' Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners - Tanz mit der Welt. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=RNdTrdi5nG4 (Zugriff: 27.10.2021).<br />
<br />
'''Lucas Pawlik:''' Einführung in die Kybern-ethik Heinz von Foersters Teil I. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=PeE9eAoT6x8 (Zugriff: 09.12.2021).<br />
<br />
'''Lucas Pawlik:''' Einführung in die Kybern-ethik Heinz von Foersters Teil II. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=y9oRamZyq28<br />
(Zugriff: 09.12.2021).<br />
<br />
''' Universität Wien, Artikel aus der Zeitschrift für Geschichtswissenschaften: ''' Im Goldenen Hecht. Über Konstruktivismus und Geschichte. Ein Gespräch zwischen Heinz von Foerster, Albert Müller und Karl H. Müller <br><br />
https://www.univie.ac.at/heinz-von-foerster-archive/etexte/int.pdf (Zugriff: 11.08.2021).<br />
<br />
==Einzelnachweise==<br />
<br />
<references /></div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Heinz_von_Foerster&diff=4877
Heinz von Foerster
2023-12-19T06:51:12Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Hermeneutik des Hörens */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|in Bearbeitung|Lutz Zierbeck/Sabine Kaserer}}{| class="wikitable" <br />
<br><br />
<br />
'''''Zusammenfassung'':'''''<br>„Heinz von Foerster (1911-2002) spielte für die Entwicklung der Kybernetik eine entscheidende Rolle. Sein Labor, das "Biological Computer Lab" entwickelte sich zu einem kybernetischen Kompetenzzentrum, zu dem viele herausragende WissenschaftlerInnen einen engen Kontakt hatten, wo sie sich trafen und forschten. Bis ins hohe Alter blieb von Foerster ein Vordenker der Kybernetik<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 44.</ref>"'' <br><br />
<br />
HvF, wie er sich selber nannte, hat in seinem langen Leben in vielen Gebieten geforscht und gearbeitet. Sein Werk ist vielfältig und umfangreich, große Teile davon haben eine Bedeutung für Kinästhetik, vor allem seine kybernetischen Studien und seine Arbeiten zur Ethik und zum Lernen. <br><br />
<br />
Nach einer kurzen tabellarischen Aufzählung wichtiger Eckdaten und Ereignisse folgt die Vertiefung einiger der aufgeführten Themen, z. T. mit Literaturzitaten untermauert. Die Bedeutung seines Werkes für Kinästhetik wird im 3. Kapitel erläutert.<br> <br />
<br>Die Arbeit am Artikel ist noch nicht abgeschlossen! Wir laden zum Mitdenken, Mitdiskutieren und Mitschreiben ein! Siehe Diskussionsseite.<br />
<br />
== Tabellarischer Lebenslauf ==<br />
|-<br />
! Jahr !! Leben und Werk<br />
|-<br />
| 1911 || Geboren am 13. November in Wien. <br />
|-<br />
| ab 1930 || Studium der Physik an der Technischen Hochschule Wien. <br />
|-<br />
|-<br />
| 1938 || Erste Arbeitsstelle als Physiker im Forschungslabor und kurzzeitig auch als Vertreter bei der Firma E. Leybold´s Nachfolger, Vakuumpumpenfabrik in Köln.<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019): ''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). ISBN 978-3-89670-557-0. S. 116 ff.</ref> <br />
|-<br />
|-<br />
| 1939 || Lernt am Neujahrsabend die Schauspielerin Mai Stürmer kennen, sie heiraten wenige Monate später.<ref>ebd., S. 119 ff</ref><br />
<br />
|-<br />
|-<br />
| 1939 || Umzug nach Berlin, Direktor des Forschungslabors der GEMA (Gesellschaft für elektroakustische und mechanische Apparate mbH, dem Pionierunternehmen auf dem Gebiet der Radar- und Funkmesstechnik).<ref>ebd., S. 121 ff</ref> <br />
<br />
|-<br />
|-<br />
| 1944 || Er reicht seine Dissertation zum Thema Plasmaoszillationen an der Universität Breslau ein, wird aber nicht promoviert, da er keinen Ariernachweis vorlegen kann.<ref>ebd., S. 127 ff.</ref><br />
|-<br />
|-<br />
| 1945 || Neuanfang in Wien als Kulturchef des amerikanischen Radiosenders „Rot-Weiß-Rot“.<ref>ebd., S. 146 ff.</ref><br />
|-<br />
|-<br />
| 1948 || Veröffentlichung des Buches „Das Gedächtnis – eine quantenphysikalische Untersuchung“.<ref>ebd., S. 151 f</ref> <br />
|-<br />
|-<br />
| 1949 || Übersiedlung in die USA, Teilnahme an der 6. [[Macy-Konferenzen|Macy-Konferenz]], Direktor des Mikrowellenlabors der Universität Illinois.<ref>ebd., S. 153 ff.</ref> <br />
<br />
|-<br />
|1956 / 57||2 Freisemester (Sabbatical) Studium biologischer Themen.<ref>ebd., S. 206 ff.</ref> <br />
<br />
|-<br />
| 1958||Gründung seines eigenen Labors „Biological Computer Lab, BCL“.<ref>ebd., S. 211 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1959||„Selforganization Systems Conference“.<ref>ebd., S. 222 ff</ref> <br />
|-<br />
| 1960||„Principles of Selforganization Conference“.<ref>ebd., S. 227 ff</ref> <br />
|-<br />
| 1962||„Information Processing in the Nervous System“ Konferenz in Leiden, NL. Macht dort Bekanntschaft mit dem Biologen Humberto Maturana.<ref>ebd., S. 232 ff.</ref><br />
|-<br />
| 1968||Heuristics I und II.<ref>ebd., S. 241 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1969||Heuristics III, Zeit der Studentenrevolutionen. Verfasst einen Katalog mit StudentInnen zusammen.<ref>ebd., S. 244 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1970||Unterricht der „honours class ingeneering group“. Schreibt mit StudentInnen zusammen das „Ecological Source book“.<ref>ebd., S. 250 f.</ref> <br />
|-<br />
| 1973||„Om-Conference“.<ref>ebd., S. 271 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1974||Kurs für Studenten und gemeinsames Buch darüber: „Cybernetcs of Cybernetics“.<ref>ebd., S. 251 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1975||Baut sein Haus (größtenteils eigenhändig) auf dem Rattlesnake Hill in Pescadero, Kalifornien.<ref>ebd., S. 281 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1976||Schließung des BCL, Emeritierung.<ref>ebd., S. 266 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1990||Familientherapie-Konferenz in Paris: „Ethik und Kybernetik 2. Ordnung“.<ref>ebd., S. 286 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1994||Weltkongress f. Soziale Psychiatrie in Hamburg: „Abschied von Babylon“.<ref>ebd., S. 288 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1996||Konferenz in Heidelberg: „Die Schule neu erfinden“ mit Ernst von Glasersfeld.<ref>ebd., S. 292 f.</ref> <br />
|-<br />
| 2002||Tod am 2. Oktober in Pescadero, Kalifornien.<br />
|}<br />
<br />
== Vertiefung ausgewählter Themen ==<br />
Das Werk von Heinz von Foerster ist umfangreich und vielfältig. Einige Themen, die für das Verständnis des Menschen HvF und für die Entwicklung seiner Ideen interessant sind, sowie verschiedene Forschungs- und Entwicklungsprojekte sollen im Folgenden etwas vertieft dargestellt werden. <br />
<br />
=== Kindheit und Jugend - Herkunft und Einflüsse === <br />
Sein Vater, der Ingenieur Emil von Foerster, muss 3 Jahre nach der Geburt von Heinz in den ersten Weltkrieg ziehen und ist lange Jahre in Kriegsgefangenschaft.<ref>ebd., S. 72 ff.</ref> Somit wird er hauptsächlich von seine Mutter Lilith von Foerster erzogen, die in künstlerisch-intellektuellen Kreisen verkehrt (z. B. mit dem Maler Oskar Kokoschka oder dem Philosophen Rudolf Kassner). Ihre Mutter war Marie Lang, eine der ersten Frauenrechtlerinnen Europas, deren Gedankengut einen deutlichen Einfluss auf ihn hat.<br />
<br />
Ebenso hat in seiner Kindheit die Tante Grete Wiesenthal Einfluss auf seine Entwicklung, eine weltberühmte Tänzerin, deren Kostüme größtenteils seine Mutter entwirft. Er berichtet schwärmerisch über viele Stunden in den Garderoben und hinter der Bühne, wo er die „''unglaublich schönen Frauen''“<ref>ebd., S. 79.</ref> beobachtet. <br />
<br />
Über seinen Onkel Erwin Lang kommt er in Berührung mit der chinesischen Philosophie des Tao, die ihn fasziniert.<ref>ebd., S. 84 und 296 ff.</ref> <br />
<br />
Zusammen mit seinem Cousin Martin Lang beginnt er sich im Alter von 14 Jahren mit der Zauberei zu befassen. Sie bringen es bis zur Aufnahme in die IAO (internationale Artistenorganisation) mit einem Zauber-Diplom<ref>ebd., S. 92 ff.</ref> In dieser Zeit entwickelt er seine Kompetenzen, vor einem grossen Publikum wirkungsvoll aufzutreten, aber auch wichtige Grundätze des Konstruktivismus. Als Zauberer sind beide so erfolgreich, weil sie imstande sind, „''ein Ambiente, einen Kontext zu erzeugen; eine'' ''Welt, in der die Zuschauer mitspielen, diese Welt zu erzeugen.''“<ref>ebd., S. 95.</ref><br />
: '' „Wir haben es so gemacht, dass der Zuschauer sich eine Welt aufbaut, in dem das geschieht, was er gehofft hat, dass es geschehen würde. Das hat mich zu dem Satz gebracht: Der Hörer, nicht der Sprecher bestimmt die Bedeutung einer Aussage.“''<ref>ebd., S. 98.</ref> <br />
<br />
: '' „Das Wesentliche des Zauberns liegt darin, den Zuschauer zu überreden, eine Welt für sich zu konstruieren, in der Wunderbares passiert. So ist sozusagen meine frühe Assoziation mit der Zauberei direkt mit Konstruktivismus verknüpft.“ ''<ref>ebd., S. 99.</ref><br />
<br />
=== Studienzeit - Grundlagen und Arbeitsweise === <br />
Er studiert Physik an der Technischen Hochschule Wien. In dieser Zeit knüpft er Kontakt zum „Wiener Kreis“, in dem Philosophen, Logiker, Mathematiker, Historiker und andere eine eigene philosophische Haltung begründen. Hier erlebt er eine Zusammenarbeit von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fachrichtungen, die sich gegenseitig in ihrem Denken befruchten. Dieser anregende und kreative Austausch beeindruckt ihn so, dass er ihn in seiner weiteren Laufbahn als Forscher stets sucht und verwirklicht (siehe Macy-Konferenzen und Biological Computer Lab).<br />
<br />
=== Erste Forschungstätigkeit - Elektroakustik === <br />
Er wird Direktor des Forschungslabors der GEMA (Gesellschaft für elektroakustische und mechanische Apparate mbH, dem Pionierunternehmen auf dem Gebiet der Radar- und Funkmesstechnik). Hier forscht er bereits zum Thema Interaktion, mit dem er sich Zeit seines Lebens immer wieder in höchst unterschiedlichen Aspekten beschäftigt.<br />
Spätestens als 1939 der zweite Weltkrieg beginnt, wird alle Energie auf sogenannte kriegswichtige Themen ausgerichtet. Dazu sagt Heinz von Foerster: <br />
: '' „Die Firma GEMA war ja ein Rüstungsbetrieb; Kriegsindustrie. Die haben die Radare für die Deutschen gebaut. Und ich habe dort im Forschungslabor an Sachen geforscht, die einfach unerforschbar waren. Das habe ich zusammen mit den Leuten gemacht, die gesagt haben: ‚Wir müssen das boykottieren‘. Also haben wir das boykottiert, indem wir immer Forschungsprogramme gewählt haben, die eigentlich undurchführbar waren. Und da konnte ich eben weiterarbeiten, denn die Projekte haben sehr vielversprechend ausgeschaut. Wir haben sie auch so formuliert, dass sie vielversprechend ausgeschaut haben.<ref>ebd., S. 132.</ref>“<br />
Die Firma wird nach dem Beginn des Bombenkrieges von Berlin nach Schlesien (heute Polen) verlegt.<br />
<br />
=== Kriegsende, Neuanfang in Wien === <br />
Kurz vor Kriegsende flieht seine Frau Mai von Foerster mit den drei Söhnen mit einem der letzten Züge aus Schlesien zu ihrer Mutter in die Nähe von Heidelberg. HvF bleibt zunächst, später schlägt er sich auf höchst abenteuerlichen Wegen durch bis zu seiner Familie. Von dort geht es mit seiner Frau und 2 von 3 Söhnen weiter in die Gegend von Kufstein / Österreich, der 3. Sohn Johannes bleibt vorübergehend bei seiner Großmutter<ref>ebd., S. 129 ff.</ref>. <br />
<br />
Um seine Mutter und die Geschwister wieder zu sehen, geht er nach Wien, was zu dieser Zeit eine sehr mühselige Reise in eine besetzte und gefährliche Stadt ist. Dort bekommt er beim neu gegründeten Amerikanischen Radiosender „Rot-Weiss-Rot“ als Mitglied Nummer 7 eine Anstellung als Techniker und Rundfunkjournalist und wird zum Kulturchef des Senders<ref>ebd., S. 146 ff.</ref> Gleichzeitig hat er (verbotenerweise) eine 2 Arbeit, er baut die Telefonfirma Schrack-Ericcson wieder auf, die von den Besatzern geplündert wurde.<br />
<br />
Nachdem seine Frau mit den beiden Söhnen in Wien angekommen sind, versuchten sie ihr drittes Kind aus Deutschland einreisen zu lassen. Da es auf legalem Wege nicht möglich ist, holen sie es schließlich nach 4 Jahren Trennung illegal über die geschlossene Grenze<ref>ebd., S. 150 f.</ref> <br />
: '' „Zu fünft haben wir bei Tante Haserl, einer älteren Schwester meines Vaters, in einer winzigen Wohnung, in einem winzigen Kabinett gewohnt.“''<ref>ebd., S. 151.</ref><br />
<br />
=== Buchveröffentlichung: „Das Gedächtnis – eine quantenphysikalische Untersuchung“=== <br />
Neben seiner Arbeit verfasst er in Nachtschichten sein erstes Buch, darin vertritt er die später verworfene Theorie, dass Elementarbewusstseinsinhalte auf Molekülen gespeichert werden, deren Zerfall das Phänomen des Vergessens erklären könne<ref>ebd., S. 160.</ref>. Er verknüpft dabei Quantenphysik mit Physiologie. <br />
: '' „In'' ''meinem Vorwort habe ich geschrieben: ‚Die Zeit scheint gekommen, wo die Wege geistigen Forschens heterogenster Gebiete zu ihrem gemeinsamen Ursprung zusammenfinden.‘ Da bin ich sehr stolz, dass ich in einem kleinen Paragraphen, der meinem'' Gedächtnis ''vorangeht, sozusagen über die Vorteile der Interdisziplinarität geschrieben habe; schon im Jahre 1948."<ref>ebd., S. 152.</ref>“''<br />
<br />
=== Übersiedlung in die USA - Vorträge und Anstellung im Mikrowellenlabor === <br />
Sein Buch „Das Gedächtnis“ erregt Aufmerksamkeit beim Neurophysiologen Warren McCulloch, Direktor der Neuropsychiatrie der Universität Illinois in Chicago, der ihn 1949 zur Vorstellung seiner Theorie über Gedächtnis und Vergessen an seine Universität einlädt.<br />
<br />
Er bekommt daraufhin eine Einladung zur 6. [[Macy-Konferenzen|Macy-Konferenz]], auf der er über seine Thesen zum Gedächtnis spricht und eine grossen Anzahl Forscher aus verschiedensten Fachgebieten kennenlernt. Siehe Kapitel 2.7.<br />
<br />
''„McCulloch schickte ihn als Physiker an das physikalische Departement der Universität von Illinois in Champaign-Urbana, wo im ‚Department of Electrical Engineering‘ der Direktorposten des Mikrowellenlabors verwaist war. HvF bekam die Stelle und mit vielen Schwierigkeiten die Immigrationsbewilligung für sich sowie wenig später auch für seine Frau Mai und die drei Söhne.“ ''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 45.</ref><br />
<br />
In diesem Labor mit Namen Electron Tube Research Lab (Elektroröhrenlaboratorium) befasst man sich mit der drahtlosen Telegraphie mittels Mikrowellen und anderen Themen. HvF spezialisiert sich auf die Modulation von Licht mittels Mikrowellen zur Nachrichtenübermittlung<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019): ''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). ISBN 978-3-89670-557-0. S. 201 ff.</ref>. <br />
Zu den erfolgreichsten Projekten dieses Labors gehört auch eine Stoppuhr, mit der man ein Millionstel einer Millionstel Sekunde messen kann, zu dem Zeitpunkt die schnellste der Welt.<br />
<br />
=== Die [[Macy-Konferenzen]] === <br />
Ein Meilenstein im Werdegang von HvF ist die Einladung zur 6. Macy-Konferenz vom 24. bis 25. März 1949 in New York. Thema der Konferenz ist "Circular Causal and Feedback Mechanisms in Biological and Social Systems". Dieses jährlich stattfindende Treffen hochkarätiger Wissenschaftler zeichnet sich durch eine sehr lebendige und inspirierende Diskussionskultur und einer Vernetzung über Wissensgebiete hinweg aus. Vertreten sind Fachgebiete wie Mathematik, Informatik (John von Neumann, ein Vater der Computertechnologie), Anthropologie (Margaret Mead und [[Gregory Bateson]]), Kybernetik ([[Norbert Wiener]]), Physiologie, Psychologie, Psychoanalyse, Psychiatrie, Elektrotechnik, Medizin, Zoologie, Soziologie, Ethnologie, Anatomie, Neurologie, Verhaltensforschung, Mathematik, Radiobiologie, Biophysik, Philosophie, Ökonomie u. a.. Er hält dort seinen Vortrag über Gedächtnis und Vergessen. Er wird zum Herausgeber der Publikation der Konferenzakten bestimmt (angeblich, um seine schlechten Englischkenntnisse zu verbessern)<ref>American Society for Cybernetics, Washington USA, 2021. https://asc-cybernetics.org/foundations/history/MacySummary.htm Zugriff 3.12.2021</ref>. Diese Rolle behält er bis zur letzten Macy-Konferenz. <br />
<br />
: ''„In sehr kurzer Zeit war er von der äußersten Peripherie (dem Nachkriegs-Wien) ins Zentrum einer der bedeutendsten Wissenschafts-Bewegungen des 20. Jahrhunderts geraten.<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11 (1): 9-30. https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref>''“ <br />
<br />
Von 1949 bis 1953 nimmt er jedes Jahr an den Macy-Konferenzen teil. Dazu schreibt er: <br />
: „''Mein Geist, mein Spirit, meine Erfahrungen, meine Fähigkeiten und meine Technologie waren da, um diese Röhren zu bauen, aber mein Herz und'' ''meine Seele waren bei den Kybernetikern, den Macy-Leuten.“''<ref>ebd., S. 206.</ref><br />
<br />
=== Freisemester, Biologiestudium === <br />
1956 / 57 nutzt er zwei ihn zustehende Freisemester (sabaticals), um Teilgebiete der Biologie zu studieren. Das erste Semester verbringt er bei bei Warren McCulloch am berühmten Massachusetts Institute of Technologies (MIT) im Research Laboratory of Electronics. Thema dort ist zu dem Zeitpunkt künstliche Intelligenz. Das zweite Semester studiert er auf Empfehlung von [[Norbert Wiener]] bei Arturo Rosenblueth, einem Neurophysiologen, der sich zu der Zeit in Mexico City mit Kardiologie befasst. Foerster setzt sich dort mit kybernetischer Biologie auseinander, speziell mit der Arbeitsweise von Muskelfasern. <br />
: „''Während dieses Aufenthalts verfasste er unter anderem ein - dann unveröffentlicht gebliebenes - Manuskript, dessen Inhalt die Kybernetik der Muskelaktivität betraf.“''<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. ''Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften'' 11 (1): 9-30. <br />
<br />
https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref><br />
<br />
=== Biological Computer Lab, BCL === <br />
1958 gründet er sein eigenes Labor, das Biological Computer Lab, BCL. <br />
: „''In einer interdisziplinären Atmosphäre des Vertrauens wurden so technische Projekte verwirklicht, konnten aber auch grundsätzliche Fragen und Erklärungsmodelle diskutiert werden. Schwerpunkte dieser Diskussionen waren das Modell der Zirkularität, die Selbstorganisations- und Chaostheorie, die Funktionsweise der Wahrnehmung und neuronaler Netzwerke und selbstverständlich ganz grundsätzliche erkenntnistheoretische Fragen. HvF und sein BCL entwickelten sich so zu einem Zentrum, das mit den Argumentationen der führenden KybernetikerInnen vertraut war und zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Formulierung und Entwicklung der Kybernetik leistete.<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 49.</ref>“ '' <br />
<br />
Als Professor und Direktor der BCL ist er nun mit Forschung und Lehre betraut. Typisch für ihn ist sein Verständnis von Lehren.<br />
: „''Unterrichten nicht als einseitiges Dozieren von oben herab, sondern als ein gemeinsames Forschen, zu dem alle Beteiligten mit ihren Kompetenzen ihren Beitrag leisten. In den 68er-Jahren hatten seine Veranstaltungen großen Zulauf, weil er die StudentInnen und ihre Anliegen ernst nahm.<ref>ebd., S. 48.</ref>“ ''<br />
<br />
Die Bedeutung dieses Labors und die Reichweite seiner Wirkung wird vom Wissenschaftshistoriker Albert Müller so eingeschätzt: <br />
:„''Und ebenso motiviert mich der Umstand, daß das BCL in der Literatur zur Geschichte der Kybernetik, der Systemtheorie, der nun wieder neu debattierten Bionik, des parallelen Rechnens, der Neurophysiologie, der Bio-Logik, der künstlichen Intelligenz, des symbolischen Rechnens oder des Konstruktivismus als Denktradition - man könnte noch weitere Wissensgebiete von gegenwärtig großem Renommee aufzählen - nur sehr selten erwähnt wird, obwohl Mitarbeiter dieser Einrichtung, des BCL, als maßgeblich für die jeweilige Domäne in der Literatur zu diesen Wissensgebieten erscheinen. Ist das eine spezielle Vergeßlichkeit der history of science (die Vergeßlichkeit der science selbst ist ja weithin bekannt)?<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11 (1): 9-30. https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref>“ '' <br />
<br />
Die Wechselwirkung dieser gegenseitigen Beeinflussung der Forscher beschreibt Albert Müller in einem Beispiel: <br />
: „''[[Humberto Maturana]] kam also an das BCL und erarbeitete dort unter anderem einen wichtigen Artikel auf dem Weg zu seiner - heute weltweit bekannten - Theorie der [[Autopoiese (Autopoiesis)]]. Aber auch die erste Ausformulierung der nun auf den Begriff gebrachten Theorie der Autopoiesis erschien zuerst als interne Publikation des BCL. Schüler und Mitarbeiter Maturanas entwickelten ebenfalls Beziehungen zum BCL, und zentrale erste Publikationen - zum Beispiel jene von Francisco Varela wurden als BCL-Reports herausgegeben... Wahrscheinlich war es die Herausforderung durch den Impuls der chilenischen Gruppe, die es Heinz von Foerster ermöglichte, die Entwicklung seiner radikalen Version einer Kybernetik zweiter Ordnung (second order cybernetics) voranzutreiben. Dies soll nicht heißen, daß sich Foersters Konzepte aus denen Maturanas ableiten ließen, oder umgekehrt. Die Parallelen und die wechselseitige Stimulierung wurde auf einer Konferenz zu Cognitive Studies and Artificial Intelligence Research 1969 sichtbar. Foersters Beitrag kann als direkte Antwort auf jenen von Maturana gelesen werden - und vice versa<ref>ebd.</ref>.“ '' <br />
<br />
: „''Mehrere wichtige Konferenzen kamen im unmittelbaren Umfeld des BCL zustande. Thematisch kreisten sie um Probleme der Systemtheorie und speziell um den Bereich selbstorganisierender Systeme. Noch heute sind die Konferenzbände wie Self-Organizing Systems oder Principles of Self-Organization grundlegend für diesen Forschungsbereich.<ref>ebd.</ref>“ '' <br />
<br />
Dazu gehört das Erforschen vom Parallelrechnen der Nervennetze von Lebewesen im Gegensatz zu den seriellen Rechenoperationen in Computern (wie sie John von Neumann zu der Zeit baut). Ein "biologischer Computer" namens Numarete wird entwickelt, der die Funktionsweise des Auges von Lebewesen als Vorbild hat (bei dem gleichzeitig eine grosse Menge an Informationen berechnet werden im Zusammenspiel von Muskel-, Sinnes- und neuronalen Zellen). Ein weiterer Schritt auf diesem Gebiet ist der Bau eines Computers zur Analyse akustischer Signale.<br />
Bionik wird als Alternative zur 1956 formulierten Artificial Intelligence verstanden, die sich aber letztendlich ihr gegenüber durchsetzt.<br />
<br />
Das Biological Computer Lab wird 1976 geschlossen, weil die Finanzierung nicht mehr gewährleistet war. Mit seiner unkonventionellen Art des Denkens hat sich HvF im Universitätsbereich nicht nur Freunde gemacht. Er selbst sagt dazu: <br />
:''„Ich glaube, das ist meine Schuld gewesen. Ich glaube, ich habe die die Politik der Wissenschaft zu wenig verstanden. (...) Ich habe nicht daran gedacht: ‚Wie verkauft man das? Was muss man machen, dass es an die Öffentlichkeit kommt, dass es in die Zeitungen kommt, dass es die Institute wissen, die die Gelder hergeben?‘ Also in Public Relations habe ich völlig versagt.“''<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019):''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). <nowiki>ISBN 978-3-89670-557-0</nowiki>. 1. Auflage: 2002. S. 271.</ref>"<br />
Da sich das abgezeichnet hatte, lässt sich HvF zum 65. Geburtstag emeritieren.<br />
<br />
== Ausgewählte Aussagen ==<br />
=== Kybernetik, Zirkularität ===<br />
: „'' Am besten sprechen wir über das Steuern eines Bootes, da der Begriff Kybernetik, den Norbert Wiener prägte und im Jahre 1948 zum Titel seines Buches machte, auf das griechische Wort für Steuermann (kybernetes) zurückgeht, [...] Was macht ein Steuermann, der sein Schiff sicher in den Hafen hineinmanövrieren möchte? Er absolviert kein ein für allemal festgelegtes Programm, sondern er variiert dies permanent. Wenn das Boot vom Kurs und seinem Ziel nach links abweicht, weil der Wind so stark bläst, schätzt er diese Kursabweichung ein, so daß er weiterhin auf den Hafen zufährt. Er versucht, den Fehler zu korrigieren. Und vielleicht steuert er etwas zu stark gegen. Das Ergebnis ist womöglich eine Kursabweichung nach rechts – und die Notwendigkeit, erneut gegenzusteuern. In jedem Moment wird die Abweichung in Relation zu dem ins Auge gefassten Ziel, dem Telos, das zum Beispiel ein Hafen sein kann, korrigiert. Das Betätigen des Steuers, eine Ursache, erzeugt also eine Wirkung; das ist die Kurskorrektur. Und diese Wirkung wird wieder zu einer Ursache, denn man stellt eine neue Kursabweichung fest. Und diese erzeugt ihrerseits eine Wirkung, nämlich wiederum eine Kurskorrektur. Solche Steuerungsvorgänge sind ein wunderbares Beispiel zirkulärer Kausalität.''“<ref> ''' Foerster, Heinz von; Pörksen, Bernhard (2006) ''': Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. 7. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag. ISBN 13-3-89670-214-0. 1. Auflage: 1998. S. 107.</ref><br />
HvF beschreibt in seiner bekannt einfachen, aber sehr nachvollziehbaren Ausdrucksweise die [[Feedback-Control-Theorie]], die im Fachgebiet Kinästhetik eine zentrale Rolle beim Verständnis der Bewegungssteuerung bzw. allgemein der Verhaltenssteuerung von Lebewesen spielt.<br />
<br />
=== Hermeneutik des Hörens ===<br />
: „'' Der Hörer, nicht der Sprecher, bestimmt die Bedeutung einer Aussage. Gewöhnlich glaubt man, daß der Sprecher festlegt, was ein Satz bedeutet, und der Hörer verstehen muß, was der Sprecher gesagt hat. Aber das ist ein fundamentaler Irrtum. Der Hörer ist es, der die merkwürdigen Laute, die ich oder ein anderer mit Hilfe der eigenen Stimmlippen hervorrufen, interpretiert und ihnen einen bzw. seinen Sinn gibt. ''“<ref> '' ebd., S. 100.</ref><br />
<br />
=== Der Schüler als nichttriviale Maschine ===<br />
: „''Das Schreckliche mit den Kindern ist, so glauben viele, daß sie sich nicht auf eine voraussagbare Weise gebärden. Sie agieren noch nicht wie triviale Maschinen, die auf einen bestimmten Input immer ein und denselben Output erzeugen.''“<ref> ''' ebd., S. 65.</ref><br />
Zur Erläuterung berichtet HvF von seinem Geschichtslehrer im Gymnasium, der auf die Frage „Was waren die Griechen für ein Volk?“ keine andere Antwort als „Ein heiteres Volk.“ akzeptierte. So schalte man Unberechenbarkeit und Kreativität aus.<br />
: „''Der Großteil unserer institutionalisierten Erziehungsbemühungen hat zum Ziel, unsere Kinder zu trivialisieren. ''“<ref> ''' ebd., S. 65.</ref><br />
<br />
=== Ethischer Imperativ === <br />
: „''Ich habe einmal gesagt: ‚Handle stets so, daß die Anzahl der Möglichkeiten wächst.‘ Das ist mein ethischer Imperativ [...] Gemeint ist, daß man die Aktivitäten eines anderen nicht einschränken soll, sondern daß es gut wäre, sich auf eine Weise zu verhalten, die die Freiheit des anderen und der Gemeinschaft vergrößert. Denn je größer die Freiheit ist, desto größer sind die Wahlmöglichkeiten und desto eher ist auch die Chance gegeben, für die eigenen Handlungen Verantwortung zu übernehmen. Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Nur wer frei ist – und immer wieder anders agieren könnte –, kann verantwortlich handeln.''“<ref> ''' ebd., S. 36.</ref><br />
<br />
==Bedeutung für Kinästhetik==<br />
Zu diesem Thema hat eine Diskussion begonnen, bei der weiterhin Mitwirken erwünscht ist. Siehe Diskussionsseite [[Diskussion: Heinz von Foerster]] dieses Artikels.<br />
<br />
==Weiterführende Literatur und Medien==<br />
'''Maria Pruckner:''' 90 Jahre Heinz von Foerster | Relaunch 2021. <br />
https://www.youtube.com/watch?v=-OPdH8Pk6x4 (Zugriff: 07.02.2022).<br />
<br />
'''Nikola Bock und Jutta Schubert:''' Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners - Tanz mit der Welt. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=RNdTrdi5nG4 (Zugriff: 27.10.2021).<br />
<br />
'''Lucas Pawlik:''' Einführung in die Kybern-ethik Heinz von Foersters Teil I. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=PeE9eAoT6x8 (Zugriff: 09.12.2021).<br />
<br />
'''Lucas Pawlik:''' Einführung in die Kybern-ethik Heinz von Foersters Teil II. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=y9oRamZyq28<br />
(Zugriff: 09.12.2021).<br />
<br />
''' Universität Wien, Artikel aus der Zeitschrift für Geschichtswissenschaften: ''' Im Goldenen Hecht. Über Konstruktivismus und Geschichte. Ein Gespräch zwischen Heinz von Foerster, Albert Müller und Karl H. Müller <br><br />
https://www.univie.ac.at/heinz-von-foerster-archive/etexte/int.pdf (Zugriff: 11.08.2021).<br />
<br />
==Einzelnachweise==<br />
<br />
<references /></div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Heinz_von_Foerster&diff=4876
Heinz von Foerster
2023-12-19T06:50:47Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Kybernetik, Zirkularität */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|in Bearbeitung|Lutz Zierbeck/Sabine Kaserer}}{| class="wikitable" <br />
<br><br />
<br />
'''''Zusammenfassung'':'''''<br>„Heinz von Foerster (1911-2002) spielte für die Entwicklung der Kybernetik eine entscheidende Rolle. Sein Labor, das "Biological Computer Lab" entwickelte sich zu einem kybernetischen Kompetenzzentrum, zu dem viele herausragende WissenschaftlerInnen einen engen Kontakt hatten, wo sie sich trafen und forschten. Bis ins hohe Alter blieb von Foerster ein Vordenker der Kybernetik<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 44.</ref>"'' <br><br />
<br />
HvF, wie er sich selber nannte, hat in seinem langen Leben in vielen Gebieten geforscht und gearbeitet. Sein Werk ist vielfältig und umfangreich, große Teile davon haben eine Bedeutung für Kinästhetik, vor allem seine kybernetischen Studien und seine Arbeiten zur Ethik und zum Lernen. <br><br />
<br />
Nach einer kurzen tabellarischen Aufzählung wichtiger Eckdaten und Ereignisse folgt die Vertiefung einiger der aufgeführten Themen, z. T. mit Literaturzitaten untermauert. Die Bedeutung seines Werkes für Kinästhetik wird im 3. Kapitel erläutert.<br> <br />
<br>Die Arbeit am Artikel ist noch nicht abgeschlossen! Wir laden zum Mitdenken, Mitdiskutieren und Mitschreiben ein! Siehe Diskussionsseite.<br />
<br />
== Tabellarischer Lebenslauf ==<br />
|-<br />
! Jahr !! Leben und Werk<br />
|-<br />
| 1911 || Geboren am 13. November in Wien. <br />
|-<br />
| ab 1930 || Studium der Physik an der Technischen Hochschule Wien. <br />
|-<br />
|-<br />
| 1938 || Erste Arbeitsstelle als Physiker im Forschungslabor und kurzzeitig auch als Vertreter bei der Firma E. Leybold´s Nachfolger, Vakuumpumpenfabrik in Köln.<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019): ''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). ISBN 978-3-89670-557-0. S. 116 ff.</ref> <br />
|-<br />
|-<br />
| 1939 || Lernt am Neujahrsabend die Schauspielerin Mai Stürmer kennen, sie heiraten wenige Monate später.<ref>ebd., S. 119 ff</ref><br />
<br />
|-<br />
|-<br />
| 1939 || Umzug nach Berlin, Direktor des Forschungslabors der GEMA (Gesellschaft für elektroakustische und mechanische Apparate mbH, dem Pionierunternehmen auf dem Gebiet der Radar- und Funkmesstechnik).<ref>ebd., S. 121 ff</ref> <br />
<br />
|-<br />
|-<br />
| 1944 || Er reicht seine Dissertation zum Thema Plasmaoszillationen an der Universität Breslau ein, wird aber nicht promoviert, da er keinen Ariernachweis vorlegen kann.<ref>ebd., S. 127 ff.</ref><br />
|-<br />
|-<br />
| 1945 || Neuanfang in Wien als Kulturchef des amerikanischen Radiosenders „Rot-Weiß-Rot“.<ref>ebd., S. 146 ff.</ref><br />
|-<br />
|-<br />
| 1948 || Veröffentlichung des Buches „Das Gedächtnis – eine quantenphysikalische Untersuchung“.<ref>ebd., S. 151 f</ref> <br />
|-<br />
|-<br />
| 1949 || Übersiedlung in die USA, Teilnahme an der 6. [[Macy-Konferenzen|Macy-Konferenz]], Direktor des Mikrowellenlabors der Universität Illinois.<ref>ebd., S. 153 ff.</ref> <br />
<br />
|-<br />
|1956 / 57||2 Freisemester (Sabbatical) Studium biologischer Themen.<ref>ebd., S. 206 ff.</ref> <br />
<br />
|-<br />
| 1958||Gründung seines eigenen Labors „Biological Computer Lab, BCL“.<ref>ebd., S. 211 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1959||„Selforganization Systems Conference“.<ref>ebd., S. 222 ff</ref> <br />
|-<br />
| 1960||„Principles of Selforganization Conference“.<ref>ebd., S. 227 ff</ref> <br />
|-<br />
| 1962||„Information Processing in the Nervous System“ Konferenz in Leiden, NL. Macht dort Bekanntschaft mit dem Biologen Humberto Maturana.<ref>ebd., S. 232 ff.</ref><br />
|-<br />
| 1968||Heuristics I und II.<ref>ebd., S. 241 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1969||Heuristics III, Zeit der Studentenrevolutionen. Verfasst einen Katalog mit StudentInnen zusammen.<ref>ebd., S. 244 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1970||Unterricht der „honours class ingeneering group“. Schreibt mit StudentInnen zusammen das „Ecological Source book“.<ref>ebd., S. 250 f.</ref> <br />
|-<br />
| 1973||„Om-Conference“.<ref>ebd., S. 271 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1974||Kurs für Studenten und gemeinsames Buch darüber: „Cybernetcs of Cybernetics“.<ref>ebd., S. 251 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1975||Baut sein Haus (größtenteils eigenhändig) auf dem Rattlesnake Hill in Pescadero, Kalifornien.<ref>ebd., S. 281 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1976||Schließung des BCL, Emeritierung.<ref>ebd., S. 266 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1990||Familientherapie-Konferenz in Paris: „Ethik und Kybernetik 2. Ordnung“.<ref>ebd., S. 286 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1994||Weltkongress f. Soziale Psychiatrie in Hamburg: „Abschied von Babylon“.<ref>ebd., S. 288 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1996||Konferenz in Heidelberg: „Die Schule neu erfinden“ mit Ernst von Glasersfeld.<ref>ebd., S. 292 f.</ref> <br />
|-<br />
| 2002||Tod am 2. Oktober in Pescadero, Kalifornien.<br />
|}<br />
<br />
== Vertiefung ausgewählter Themen ==<br />
Das Werk von Heinz von Foerster ist umfangreich und vielfältig. Einige Themen, die für das Verständnis des Menschen HvF und für die Entwicklung seiner Ideen interessant sind, sowie verschiedene Forschungs- und Entwicklungsprojekte sollen im Folgenden etwas vertieft dargestellt werden. <br />
<br />
=== Kindheit und Jugend - Herkunft und Einflüsse === <br />
Sein Vater, der Ingenieur Emil von Foerster, muss 3 Jahre nach der Geburt von Heinz in den ersten Weltkrieg ziehen und ist lange Jahre in Kriegsgefangenschaft.<ref>ebd., S. 72 ff.</ref> Somit wird er hauptsächlich von seine Mutter Lilith von Foerster erzogen, die in künstlerisch-intellektuellen Kreisen verkehrt (z. B. mit dem Maler Oskar Kokoschka oder dem Philosophen Rudolf Kassner). Ihre Mutter war Marie Lang, eine der ersten Frauenrechtlerinnen Europas, deren Gedankengut einen deutlichen Einfluss auf ihn hat.<br />
<br />
Ebenso hat in seiner Kindheit die Tante Grete Wiesenthal Einfluss auf seine Entwicklung, eine weltberühmte Tänzerin, deren Kostüme größtenteils seine Mutter entwirft. Er berichtet schwärmerisch über viele Stunden in den Garderoben und hinter der Bühne, wo er die „''unglaublich schönen Frauen''“<ref>ebd., S. 79.</ref> beobachtet. <br />
<br />
Über seinen Onkel Erwin Lang kommt er in Berührung mit der chinesischen Philosophie des Tao, die ihn fasziniert.<ref>ebd., S. 84 und 296 ff.</ref> <br />
<br />
Zusammen mit seinem Cousin Martin Lang beginnt er sich im Alter von 14 Jahren mit der Zauberei zu befassen. Sie bringen es bis zur Aufnahme in die IAO (internationale Artistenorganisation) mit einem Zauber-Diplom<ref>ebd., S. 92 ff.</ref> In dieser Zeit entwickelt er seine Kompetenzen, vor einem grossen Publikum wirkungsvoll aufzutreten, aber auch wichtige Grundätze des Konstruktivismus. Als Zauberer sind beide so erfolgreich, weil sie imstande sind, „''ein Ambiente, einen Kontext zu erzeugen; eine'' ''Welt, in der die Zuschauer mitspielen, diese Welt zu erzeugen.''“<ref>ebd., S. 95.</ref><br />
: '' „Wir haben es so gemacht, dass der Zuschauer sich eine Welt aufbaut, in dem das geschieht, was er gehofft hat, dass es geschehen würde. Das hat mich zu dem Satz gebracht: Der Hörer, nicht der Sprecher bestimmt die Bedeutung einer Aussage.“''<ref>ebd., S. 98.</ref> <br />
<br />
: '' „Das Wesentliche des Zauberns liegt darin, den Zuschauer zu überreden, eine Welt für sich zu konstruieren, in der Wunderbares passiert. So ist sozusagen meine frühe Assoziation mit der Zauberei direkt mit Konstruktivismus verknüpft.“ ''<ref>ebd., S. 99.</ref><br />
<br />
=== Studienzeit - Grundlagen und Arbeitsweise === <br />
Er studiert Physik an der Technischen Hochschule Wien. In dieser Zeit knüpft er Kontakt zum „Wiener Kreis“, in dem Philosophen, Logiker, Mathematiker, Historiker und andere eine eigene philosophische Haltung begründen. Hier erlebt er eine Zusammenarbeit von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fachrichtungen, die sich gegenseitig in ihrem Denken befruchten. Dieser anregende und kreative Austausch beeindruckt ihn so, dass er ihn in seiner weiteren Laufbahn als Forscher stets sucht und verwirklicht (siehe Macy-Konferenzen und Biological Computer Lab).<br />
<br />
=== Erste Forschungstätigkeit - Elektroakustik === <br />
Er wird Direktor des Forschungslabors der GEMA (Gesellschaft für elektroakustische und mechanische Apparate mbH, dem Pionierunternehmen auf dem Gebiet der Radar- und Funkmesstechnik). Hier forscht er bereits zum Thema Interaktion, mit dem er sich Zeit seines Lebens immer wieder in höchst unterschiedlichen Aspekten beschäftigt.<br />
Spätestens als 1939 der zweite Weltkrieg beginnt, wird alle Energie auf sogenannte kriegswichtige Themen ausgerichtet. Dazu sagt Heinz von Foerster: <br />
: '' „Die Firma GEMA war ja ein Rüstungsbetrieb; Kriegsindustrie. Die haben die Radare für die Deutschen gebaut. Und ich habe dort im Forschungslabor an Sachen geforscht, die einfach unerforschbar waren. Das habe ich zusammen mit den Leuten gemacht, die gesagt haben: ‚Wir müssen das boykottieren‘. Also haben wir das boykottiert, indem wir immer Forschungsprogramme gewählt haben, die eigentlich undurchführbar waren. Und da konnte ich eben weiterarbeiten, denn die Projekte haben sehr vielversprechend ausgeschaut. Wir haben sie auch so formuliert, dass sie vielversprechend ausgeschaut haben.<ref>ebd., S. 132.</ref>“<br />
Die Firma wird nach dem Beginn des Bombenkrieges von Berlin nach Schlesien (heute Polen) verlegt.<br />
<br />
=== Kriegsende, Neuanfang in Wien === <br />
Kurz vor Kriegsende flieht seine Frau Mai von Foerster mit den drei Söhnen mit einem der letzten Züge aus Schlesien zu ihrer Mutter in die Nähe von Heidelberg. HvF bleibt zunächst, später schlägt er sich auf höchst abenteuerlichen Wegen durch bis zu seiner Familie. Von dort geht es mit seiner Frau und 2 von 3 Söhnen weiter in die Gegend von Kufstein / Österreich, der 3. Sohn Johannes bleibt vorübergehend bei seiner Großmutter<ref>ebd., S. 129 ff.</ref>. <br />
<br />
Um seine Mutter und die Geschwister wieder zu sehen, geht er nach Wien, was zu dieser Zeit eine sehr mühselige Reise in eine besetzte und gefährliche Stadt ist. Dort bekommt er beim neu gegründeten Amerikanischen Radiosender „Rot-Weiss-Rot“ als Mitglied Nummer 7 eine Anstellung als Techniker und Rundfunkjournalist und wird zum Kulturchef des Senders<ref>ebd., S. 146 ff.</ref> Gleichzeitig hat er (verbotenerweise) eine 2 Arbeit, er baut die Telefonfirma Schrack-Ericcson wieder auf, die von den Besatzern geplündert wurde.<br />
<br />
Nachdem seine Frau mit den beiden Söhnen in Wien angekommen sind, versuchten sie ihr drittes Kind aus Deutschland einreisen zu lassen. Da es auf legalem Wege nicht möglich ist, holen sie es schließlich nach 4 Jahren Trennung illegal über die geschlossene Grenze<ref>ebd., S. 150 f.</ref> <br />
: '' „Zu fünft haben wir bei Tante Haserl, einer älteren Schwester meines Vaters, in einer winzigen Wohnung, in einem winzigen Kabinett gewohnt.“''<ref>ebd., S. 151.</ref><br />
<br />
=== Buchveröffentlichung: „Das Gedächtnis – eine quantenphysikalische Untersuchung“=== <br />
Neben seiner Arbeit verfasst er in Nachtschichten sein erstes Buch, darin vertritt er die später verworfene Theorie, dass Elementarbewusstseinsinhalte auf Molekülen gespeichert werden, deren Zerfall das Phänomen des Vergessens erklären könne<ref>ebd., S. 160.</ref>. Er verknüpft dabei Quantenphysik mit Physiologie. <br />
: '' „In'' ''meinem Vorwort habe ich geschrieben: ‚Die Zeit scheint gekommen, wo die Wege geistigen Forschens heterogenster Gebiete zu ihrem gemeinsamen Ursprung zusammenfinden.‘ Da bin ich sehr stolz, dass ich in einem kleinen Paragraphen, der meinem'' Gedächtnis ''vorangeht, sozusagen über die Vorteile der Interdisziplinarität geschrieben habe; schon im Jahre 1948."<ref>ebd., S. 152.</ref>“''<br />
<br />
=== Übersiedlung in die USA - Vorträge und Anstellung im Mikrowellenlabor === <br />
Sein Buch „Das Gedächtnis“ erregt Aufmerksamkeit beim Neurophysiologen Warren McCulloch, Direktor der Neuropsychiatrie der Universität Illinois in Chicago, der ihn 1949 zur Vorstellung seiner Theorie über Gedächtnis und Vergessen an seine Universität einlädt.<br />
<br />
Er bekommt daraufhin eine Einladung zur 6. [[Macy-Konferenzen|Macy-Konferenz]], auf der er über seine Thesen zum Gedächtnis spricht und eine grossen Anzahl Forscher aus verschiedensten Fachgebieten kennenlernt. Siehe Kapitel 2.7.<br />
<br />
''„McCulloch schickte ihn als Physiker an das physikalische Departement der Universität von Illinois in Champaign-Urbana, wo im ‚Department of Electrical Engineering‘ der Direktorposten des Mikrowellenlabors verwaist war. HvF bekam die Stelle und mit vielen Schwierigkeiten die Immigrationsbewilligung für sich sowie wenig später auch für seine Frau Mai und die drei Söhne.“ ''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 45.</ref><br />
<br />
In diesem Labor mit Namen Electron Tube Research Lab (Elektroröhrenlaboratorium) befasst man sich mit der drahtlosen Telegraphie mittels Mikrowellen und anderen Themen. HvF spezialisiert sich auf die Modulation von Licht mittels Mikrowellen zur Nachrichtenübermittlung<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019): ''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). ISBN 978-3-89670-557-0. S. 201 ff.</ref>. <br />
Zu den erfolgreichsten Projekten dieses Labors gehört auch eine Stoppuhr, mit der man ein Millionstel einer Millionstel Sekunde messen kann, zu dem Zeitpunkt die schnellste der Welt.<br />
<br />
=== Die [[Macy-Konferenzen]] === <br />
Ein Meilenstein im Werdegang von HvF ist die Einladung zur 6. Macy-Konferenz vom 24. bis 25. März 1949 in New York. Thema der Konferenz ist "Circular Causal and Feedback Mechanisms in Biological and Social Systems". Dieses jährlich stattfindende Treffen hochkarätiger Wissenschaftler zeichnet sich durch eine sehr lebendige und inspirierende Diskussionskultur und einer Vernetzung über Wissensgebiete hinweg aus. Vertreten sind Fachgebiete wie Mathematik, Informatik (John von Neumann, ein Vater der Computertechnologie), Anthropologie (Margaret Mead und [[Gregory Bateson]]), Kybernetik ([[Norbert Wiener]]), Physiologie, Psychologie, Psychoanalyse, Psychiatrie, Elektrotechnik, Medizin, Zoologie, Soziologie, Ethnologie, Anatomie, Neurologie, Verhaltensforschung, Mathematik, Radiobiologie, Biophysik, Philosophie, Ökonomie u. a.. Er hält dort seinen Vortrag über Gedächtnis und Vergessen. Er wird zum Herausgeber der Publikation der Konferenzakten bestimmt (angeblich, um seine schlechten Englischkenntnisse zu verbessern)<ref>American Society for Cybernetics, Washington USA, 2021. https://asc-cybernetics.org/foundations/history/MacySummary.htm Zugriff 3.12.2021</ref>. Diese Rolle behält er bis zur letzten Macy-Konferenz. <br />
<br />
: ''„In sehr kurzer Zeit war er von der äußersten Peripherie (dem Nachkriegs-Wien) ins Zentrum einer der bedeutendsten Wissenschafts-Bewegungen des 20. Jahrhunderts geraten.<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11 (1): 9-30. https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref>''“ <br />
<br />
Von 1949 bis 1953 nimmt er jedes Jahr an den Macy-Konferenzen teil. Dazu schreibt er: <br />
: „''Mein Geist, mein Spirit, meine Erfahrungen, meine Fähigkeiten und meine Technologie waren da, um diese Röhren zu bauen, aber mein Herz und'' ''meine Seele waren bei den Kybernetikern, den Macy-Leuten.“''<ref>ebd., S. 206.</ref><br />
<br />
=== Freisemester, Biologiestudium === <br />
1956 / 57 nutzt er zwei ihn zustehende Freisemester (sabaticals), um Teilgebiete der Biologie zu studieren. Das erste Semester verbringt er bei bei Warren McCulloch am berühmten Massachusetts Institute of Technologies (MIT) im Research Laboratory of Electronics. Thema dort ist zu dem Zeitpunkt künstliche Intelligenz. Das zweite Semester studiert er auf Empfehlung von [[Norbert Wiener]] bei Arturo Rosenblueth, einem Neurophysiologen, der sich zu der Zeit in Mexico City mit Kardiologie befasst. Foerster setzt sich dort mit kybernetischer Biologie auseinander, speziell mit der Arbeitsweise von Muskelfasern. <br />
: „''Während dieses Aufenthalts verfasste er unter anderem ein - dann unveröffentlicht gebliebenes - Manuskript, dessen Inhalt die Kybernetik der Muskelaktivität betraf.“''<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. ''Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften'' 11 (1): 9-30. <br />
<br />
https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref><br />
<br />
=== Biological Computer Lab, BCL === <br />
1958 gründet er sein eigenes Labor, das Biological Computer Lab, BCL. <br />
: „''In einer interdisziplinären Atmosphäre des Vertrauens wurden so technische Projekte verwirklicht, konnten aber auch grundsätzliche Fragen und Erklärungsmodelle diskutiert werden. Schwerpunkte dieser Diskussionen waren das Modell der Zirkularität, die Selbstorganisations- und Chaostheorie, die Funktionsweise der Wahrnehmung und neuronaler Netzwerke und selbstverständlich ganz grundsätzliche erkenntnistheoretische Fragen. HvF und sein BCL entwickelten sich so zu einem Zentrum, das mit den Argumentationen der führenden KybernetikerInnen vertraut war und zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Formulierung und Entwicklung der Kybernetik leistete.<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 49.</ref>“ '' <br />
<br />
Als Professor und Direktor der BCL ist er nun mit Forschung und Lehre betraut. Typisch für ihn ist sein Verständnis von Lehren.<br />
: „''Unterrichten nicht als einseitiges Dozieren von oben herab, sondern als ein gemeinsames Forschen, zu dem alle Beteiligten mit ihren Kompetenzen ihren Beitrag leisten. In den 68er-Jahren hatten seine Veranstaltungen großen Zulauf, weil er die StudentInnen und ihre Anliegen ernst nahm.<ref>ebd., S. 48.</ref>“ ''<br />
<br />
Die Bedeutung dieses Labors und die Reichweite seiner Wirkung wird vom Wissenschaftshistoriker Albert Müller so eingeschätzt: <br />
:„''Und ebenso motiviert mich der Umstand, daß das BCL in der Literatur zur Geschichte der Kybernetik, der Systemtheorie, der nun wieder neu debattierten Bionik, des parallelen Rechnens, der Neurophysiologie, der Bio-Logik, der künstlichen Intelligenz, des symbolischen Rechnens oder des Konstruktivismus als Denktradition - man könnte noch weitere Wissensgebiete von gegenwärtig großem Renommee aufzählen - nur sehr selten erwähnt wird, obwohl Mitarbeiter dieser Einrichtung, des BCL, als maßgeblich für die jeweilige Domäne in der Literatur zu diesen Wissensgebieten erscheinen. Ist das eine spezielle Vergeßlichkeit der history of science (die Vergeßlichkeit der science selbst ist ja weithin bekannt)?<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11 (1): 9-30. https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref>“ '' <br />
<br />
Die Wechselwirkung dieser gegenseitigen Beeinflussung der Forscher beschreibt Albert Müller in einem Beispiel: <br />
: „''[[Humberto Maturana]] kam also an das BCL und erarbeitete dort unter anderem einen wichtigen Artikel auf dem Weg zu seiner - heute weltweit bekannten - Theorie der [[Autopoiese (Autopoiesis)]]. Aber auch die erste Ausformulierung der nun auf den Begriff gebrachten Theorie der Autopoiesis erschien zuerst als interne Publikation des BCL. Schüler und Mitarbeiter Maturanas entwickelten ebenfalls Beziehungen zum BCL, und zentrale erste Publikationen - zum Beispiel jene von Francisco Varela wurden als BCL-Reports herausgegeben... Wahrscheinlich war es die Herausforderung durch den Impuls der chilenischen Gruppe, die es Heinz von Foerster ermöglichte, die Entwicklung seiner radikalen Version einer Kybernetik zweiter Ordnung (second order cybernetics) voranzutreiben. Dies soll nicht heißen, daß sich Foersters Konzepte aus denen Maturanas ableiten ließen, oder umgekehrt. Die Parallelen und die wechselseitige Stimulierung wurde auf einer Konferenz zu Cognitive Studies and Artificial Intelligence Research 1969 sichtbar. Foersters Beitrag kann als direkte Antwort auf jenen von Maturana gelesen werden - und vice versa<ref>ebd.</ref>.“ '' <br />
<br />
: „''Mehrere wichtige Konferenzen kamen im unmittelbaren Umfeld des BCL zustande. Thematisch kreisten sie um Probleme der Systemtheorie und speziell um den Bereich selbstorganisierender Systeme. Noch heute sind die Konferenzbände wie Self-Organizing Systems oder Principles of Self-Organization grundlegend für diesen Forschungsbereich.<ref>ebd.</ref>“ '' <br />
<br />
Dazu gehört das Erforschen vom Parallelrechnen der Nervennetze von Lebewesen im Gegensatz zu den seriellen Rechenoperationen in Computern (wie sie John von Neumann zu der Zeit baut). Ein "biologischer Computer" namens Numarete wird entwickelt, der die Funktionsweise des Auges von Lebewesen als Vorbild hat (bei dem gleichzeitig eine grosse Menge an Informationen berechnet werden im Zusammenspiel von Muskel-, Sinnes- und neuronalen Zellen). Ein weiterer Schritt auf diesem Gebiet ist der Bau eines Computers zur Analyse akustischer Signale.<br />
Bionik wird als Alternative zur 1956 formulierten Artificial Intelligence verstanden, die sich aber letztendlich ihr gegenüber durchsetzt.<br />
<br />
Das Biological Computer Lab wird 1976 geschlossen, weil die Finanzierung nicht mehr gewährleistet war. Mit seiner unkonventionellen Art des Denkens hat sich HvF im Universitätsbereich nicht nur Freunde gemacht. Er selbst sagt dazu: <br />
:''„Ich glaube, das ist meine Schuld gewesen. Ich glaube, ich habe die die Politik der Wissenschaft zu wenig verstanden. (...) Ich habe nicht daran gedacht: ‚Wie verkauft man das? Was muss man machen, dass es an die Öffentlichkeit kommt, dass es in die Zeitungen kommt, dass es die Institute wissen, die die Gelder hergeben?‘ Also in Public Relations habe ich völlig versagt.“''<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019):''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). <nowiki>ISBN 978-3-89670-557-0</nowiki>. 1. Auflage: 2002. S. 271.</ref>"<br />
Da sich das abgezeichnet hatte, lässt sich HvF zum 65. Geburtstag emeritieren.<br />
<br />
== Ausgewählte Aussagen ==<br />
=== Kybernetik, Zirkularität ===<br />
: „'' Am besten sprechen wir über das Steuern eines Bootes, da der Begriff Kybernetik, den Norbert Wiener prägte und im Jahre 1948 zum Titel seines Buches machte, auf das griechische Wort für Steuermann (kybernetes) zurückgeht, [...] Was macht ein Steuermann, der sein Schiff sicher in den Hafen hineinmanövrieren möchte? Er absolviert kein ein für allemal festgelegtes Programm, sondern er variiert dies permanent. Wenn das Boot vom Kurs und seinem Ziel nach links abweicht, weil der Wind so stark bläst, schätzt er diese Kursabweichung ein, so daß er weiterhin auf den Hafen zufährt. Er versucht, den Fehler zu korrigieren. Und vielleicht steuert er etwas zu stark gegen. Das Ergebnis ist womöglich eine Kursabweichung nach rechts – und die Notwendigkeit, erneut gegenzusteuern. In jedem Moment wird die Abweichung in Relation zu dem ins Auge gefassten Ziel, dem Telos, das zum Beispiel ein Hafen sein kann, korrigiert. Das Betätigen des Steuers, eine Ursache, erzeugt also eine Wirkung; das ist die Kurskorrektur. Und diese Wirkung wird wieder zu einer Ursache, denn man stellt eine neue Kursabweichung fest. Und diese erzeugt ihrerseits eine Wirkung, nämlich wiederum eine Kurskorrektur. Solche Steuerungsvorgänge sind ein wunderbares Beispiel zirkulärer Kausalität.''“<ref> ''' Foerster, Heinz von; Pörksen, Bernhard (2006) ''': Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. 7. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag. ISBN 13-3-89670-214-0. 1. Auflage: 1998. S. 107.</ref><br />
HvF beschreibt in seiner bekannt einfachen, aber sehr nachvollziehbaren Ausdrucksweise die [[Feedback-Control-Theorie]], die im Fachgebiet Kinästhetik eine zentrale Rolle beim Verständnis der Bewegungssteuerung bzw. allgemein der Verhaltenssteuerung von Lebewesen spielt.<br />
<br />
=== Hermeneutik des Hörens ===<br />
: „'' Der Hörer, nicht der Sprecher, bestimmt die Bedeutung einer Aussage. Gewöhnlich glaubt man, daß der Sprecher festlegt, was ein Satz bedeutet, und der Hörer verstehen muß, was der Sprecher gesagt hat. Aber das ist ein fundamentaler Irrtum. Der Hörer ist es, der die merkwürdigen Laute, die ich oder ein anderer mit Hilfe der eigenen Stimmlippen hervorrufen, interpretiert und ihnen einen bzw. seinen Sinn gibt. ''“<ref> ''' ebd., S. 100.</ref><br />
<br />
=== Der Schüler als nichttriviale Maschine ===<br />
: „''Das Schreckliche mit den Kindern ist, so glauben viele, daß sie sich nicht auf eine voraussagbare Weise gebärden. Sie agieren noch nicht wie triviale Maschinen, die auf einen bestimmten Input immer ein und denselben Output erzeugen.''“<ref> ''' ebd., S. 65.</ref><br />
Zur Erläuterung berichtet HvF von seinem Geschichtslehrer im Gymnasium, der auf die Frage „Was waren die Griechen für ein Volk?“ keine andere Antwort als „Ein heiteres Volk.“ akzeptierte. So schalte man Unberechenbarkeit und Kreativität aus.<br />
: „''Der Großteil unserer institutionalisierten Erziehungsbemühungen hat zum Ziel, unsere Kinder zu trivialisieren. ''“<ref> ''' ebd., S. 65.</ref><br />
<br />
=== Ethischer Imperativ === <br />
: „''Ich habe einmal gesagt: ‚Handle stets so, daß die Anzahl der Möglichkeiten wächst.‘ Das ist mein ethischer Imperativ [...] Gemeint ist, daß man die Aktivitäten eines anderen nicht einschränken soll, sondern daß es gut wäre, sich auf eine Weise zu verhalten, die die Freiheit des anderen und der Gemeinschaft vergrößert. Denn je größer die Freiheit ist, desto größer sind die Wahlmöglichkeiten und desto eher ist auch die Chance gegeben, für die eigenen Handlungen Verantwortung zu übernehmen. Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Nur wer frei ist – und immer wieder anders agieren könnte –, kann verantwortlich handeln.''“<ref> ''' ebd., S. 36.</ref><br />
<br />
==Bedeutung für Kinästhetik==<br />
Zu diesem Thema hat eine Diskussion begonnen, bei der weiterhin Mitwirken erwünscht ist. Siehe Diskussionsseite [[Diskussion: Heinz von Foerster]] dieses Artikels.<br />
<br />
==Weiterführende Literatur und Medien==<br />
'''Maria Pruckner:''' 90 Jahre Heinz von Foerster | Relaunch 2021. <br />
https://www.youtube.com/watch?v=-OPdH8Pk6x4 (Zugriff: 07.02.2022).<br />
<br />
'''Nikola Bock und Jutta Schubert:''' Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners - Tanz mit der Welt. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=RNdTrdi5nG4 (Zugriff: 27.10.2021).<br />
<br />
'''Lucas Pawlik:''' Einführung in die Kybern-ethik Heinz von Foersters Teil I. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=PeE9eAoT6x8 (Zugriff: 09.12.2021).<br />
<br />
'''Lucas Pawlik:''' Einführung in die Kybern-ethik Heinz von Foersters Teil II. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=y9oRamZyq28<br />
(Zugriff: 09.12.2021).<br />
<br />
''' Universität Wien, Artikel aus der Zeitschrift für Geschichtswissenschaften: ''' Im Goldenen Hecht. Über Konstruktivismus und Geschichte. Ein Gespräch zwischen Heinz von Foerster, Albert Müller und Karl H. Müller <br><br />
https://www.univie.ac.at/heinz-von-foerster-archive/etexte/int.pdf (Zugriff: 11.08.2021).<br />
<br />
==Einzelnachweise==<br />
<br />
<references /></div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Heinz_von_Foerster&diff=4875
Heinz von Foerster
2023-12-19T06:49:34Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Kybernetik, Zirkularität */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|in Bearbeitung|Lutz Zierbeck/Sabine Kaserer}}{| class="wikitable" <br />
<br><br />
<br />
'''''Zusammenfassung'':'''''<br>„Heinz von Foerster (1911-2002) spielte für die Entwicklung der Kybernetik eine entscheidende Rolle. Sein Labor, das "Biological Computer Lab" entwickelte sich zu einem kybernetischen Kompetenzzentrum, zu dem viele herausragende WissenschaftlerInnen einen engen Kontakt hatten, wo sie sich trafen und forschten. Bis ins hohe Alter blieb von Foerster ein Vordenker der Kybernetik<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 44.</ref>"'' <br><br />
<br />
HvF, wie er sich selber nannte, hat in seinem langen Leben in vielen Gebieten geforscht und gearbeitet. Sein Werk ist vielfältig und umfangreich, große Teile davon haben eine Bedeutung für Kinästhetik, vor allem seine kybernetischen Studien und seine Arbeiten zur Ethik und zum Lernen. <br><br />
<br />
Nach einer kurzen tabellarischen Aufzählung wichtiger Eckdaten und Ereignisse folgt die Vertiefung einiger der aufgeführten Themen, z. T. mit Literaturzitaten untermauert. Die Bedeutung seines Werkes für Kinästhetik wird im 3. Kapitel erläutert.<br> <br />
<br>Die Arbeit am Artikel ist noch nicht abgeschlossen! Wir laden zum Mitdenken, Mitdiskutieren und Mitschreiben ein! Siehe Diskussionsseite.<br />
<br />
== Tabellarischer Lebenslauf ==<br />
|-<br />
! Jahr !! Leben und Werk<br />
|-<br />
| 1911 || Geboren am 13. November in Wien. <br />
|-<br />
| ab 1930 || Studium der Physik an der Technischen Hochschule Wien. <br />
|-<br />
|-<br />
| 1938 || Erste Arbeitsstelle als Physiker im Forschungslabor und kurzzeitig auch als Vertreter bei der Firma E. Leybold´s Nachfolger, Vakuumpumpenfabrik in Köln.<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019): ''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). ISBN 978-3-89670-557-0. S. 116 ff.</ref> <br />
|-<br />
|-<br />
| 1939 || Lernt am Neujahrsabend die Schauspielerin Mai Stürmer kennen, sie heiraten wenige Monate später.<ref>ebd., S. 119 ff</ref><br />
<br />
|-<br />
|-<br />
| 1939 || Umzug nach Berlin, Direktor des Forschungslabors der GEMA (Gesellschaft für elektroakustische und mechanische Apparate mbH, dem Pionierunternehmen auf dem Gebiet der Radar- und Funkmesstechnik).<ref>ebd., S. 121 ff</ref> <br />
<br />
|-<br />
|-<br />
| 1944 || Er reicht seine Dissertation zum Thema Plasmaoszillationen an der Universität Breslau ein, wird aber nicht promoviert, da er keinen Ariernachweis vorlegen kann.<ref>ebd., S. 127 ff.</ref><br />
|-<br />
|-<br />
| 1945 || Neuanfang in Wien als Kulturchef des amerikanischen Radiosenders „Rot-Weiß-Rot“.<ref>ebd., S. 146 ff.</ref><br />
|-<br />
|-<br />
| 1948 || Veröffentlichung des Buches „Das Gedächtnis – eine quantenphysikalische Untersuchung“.<ref>ebd., S. 151 f</ref> <br />
|-<br />
|-<br />
| 1949 || Übersiedlung in die USA, Teilnahme an der 6. [[Macy-Konferenzen|Macy-Konferenz]], Direktor des Mikrowellenlabors der Universität Illinois.<ref>ebd., S. 153 ff.</ref> <br />
<br />
|-<br />
|1956 / 57||2 Freisemester (Sabbatical) Studium biologischer Themen.<ref>ebd., S. 206 ff.</ref> <br />
<br />
|-<br />
| 1958||Gründung seines eigenen Labors „Biological Computer Lab, BCL“.<ref>ebd., S. 211 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1959||„Selforganization Systems Conference“.<ref>ebd., S. 222 ff</ref> <br />
|-<br />
| 1960||„Principles of Selforganization Conference“.<ref>ebd., S. 227 ff</ref> <br />
|-<br />
| 1962||„Information Processing in the Nervous System“ Konferenz in Leiden, NL. Macht dort Bekanntschaft mit dem Biologen Humberto Maturana.<ref>ebd., S. 232 ff.</ref><br />
|-<br />
| 1968||Heuristics I und II.<ref>ebd., S. 241 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1969||Heuristics III, Zeit der Studentenrevolutionen. Verfasst einen Katalog mit StudentInnen zusammen.<ref>ebd., S. 244 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1970||Unterricht der „honours class ingeneering group“. Schreibt mit StudentInnen zusammen das „Ecological Source book“.<ref>ebd., S. 250 f.</ref> <br />
|-<br />
| 1973||„Om-Conference“.<ref>ebd., S. 271 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1974||Kurs für Studenten und gemeinsames Buch darüber: „Cybernetcs of Cybernetics“.<ref>ebd., S. 251 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1975||Baut sein Haus (größtenteils eigenhändig) auf dem Rattlesnake Hill in Pescadero, Kalifornien.<ref>ebd., S. 281 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1976||Schließung des BCL, Emeritierung.<ref>ebd., S. 266 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1990||Familientherapie-Konferenz in Paris: „Ethik und Kybernetik 2. Ordnung“.<ref>ebd., S. 286 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1994||Weltkongress f. Soziale Psychiatrie in Hamburg: „Abschied von Babylon“.<ref>ebd., S. 288 ff.</ref> <br />
|-<br />
| 1996||Konferenz in Heidelberg: „Die Schule neu erfinden“ mit Ernst von Glasersfeld.<ref>ebd., S. 292 f.</ref> <br />
|-<br />
| 2002||Tod am 2. Oktober in Pescadero, Kalifornien.<br />
|}<br />
<br />
== Vertiefung ausgewählter Themen ==<br />
Das Werk von Heinz von Foerster ist umfangreich und vielfältig. Einige Themen, die für das Verständnis des Menschen HvF und für die Entwicklung seiner Ideen interessant sind, sowie verschiedene Forschungs- und Entwicklungsprojekte sollen im Folgenden etwas vertieft dargestellt werden. <br />
<br />
=== Kindheit und Jugend - Herkunft und Einflüsse === <br />
Sein Vater, der Ingenieur Emil von Foerster, muss 3 Jahre nach der Geburt von Heinz in den ersten Weltkrieg ziehen und ist lange Jahre in Kriegsgefangenschaft.<ref>ebd., S. 72 ff.</ref> Somit wird er hauptsächlich von seine Mutter Lilith von Foerster erzogen, die in künstlerisch-intellektuellen Kreisen verkehrt (z. B. mit dem Maler Oskar Kokoschka oder dem Philosophen Rudolf Kassner). Ihre Mutter war Marie Lang, eine der ersten Frauenrechtlerinnen Europas, deren Gedankengut einen deutlichen Einfluss auf ihn hat.<br />
<br />
Ebenso hat in seiner Kindheit die Tante Grete Wiesenthal Einfluss auf seine Entwicklung, eine weltberühmte Tänzerin, deren Kostüme größtenteils seine Mutter entwirft. Er berichtet schwärmerisch über viele Stunden in den Garderoben und hinter der Bühne, wo er die „''unglaublich schönen Frauen''“<ref>ebd., S. 79.</ref> beobachtet. <br />
<br />
Über seinen Onkel Erwin Lang kommt er in Berührung mit der chinesischen Philosophie des Tao, die ihn fasziniert.<ref>ebd., S. 84 und 296 ff.</ref> <br />
<br />
Zusammen mit seinem Cousin Martin Lang beginnt er sich im Alter von 14 Jahren mit der Zauberei zu befassen. Sie bringen es bis zur Aufnahme in die IAO (internationale Artistenorganisation) mit einem Zauber-Diplom<ref>ebd., S. 92 ff.</ref> In dieser Zeit entwickelt er seine Kompetenzen, vor einem grossen Publikum wirkungsvoll aufzutreten, aber auch wichtige Grundätze des Konstruktivismus. Als Zauberer sind beide so erfolgreich, weil sie imstande sind, „''ein Ambiente, einen Kontext zu erzeugen; eine'' ''Welt, in der die Zuschauer mitspielen, diese Welt zu erzeugen.''“<ref>ebd., S. 95.</ref><br />
: '' „Wir haben es so gemacht, dass der Zuschauer sich eine Welt aufbaut, in dem das geschieht, was er gehofft hat, dass es geschehen würde. Das hat mich zu dem Satz gebracht: Der Hörer, nicht der Sprecher bestimmt die Bedeutung einer Aussage.“''<ref>ebd., S. 98.</ref> <br />
<br />
: '' „Das Wesentliche des Zauberns liegt darin, den Zuschauer zu überreden, eine Welt für sich zu konstruieren, in der Wunderbares passiert. So ist sozusagen meine frühe Assoziation mit der Zauberei direkt mit Konstruktivismus verknüpft.“ ''<ref>ebd., S. 99.</ref><br />
<br />
=== Studienzeit - Grundlagen und Arbeitsweise === <br />
Er studiert Physik an der Technischen Hochschule Wien. In dieser Zeit knüpft er Kontakt zum „Wiener Kreis“, in dem Philosophen, Logiker, Mathematiker, Historiker und andere eine eigene philosophische Haltung begründen. Hier erlebt er eine Zusammenarbeit von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fachrichtungen, die sich gegenseitig in ihrem Denken befruchten. Dieser anregende und kreative Austausch beeindruckt ihn so, dass er ihn in seiner weiteren Laufbahn als Forscher stets sucht und verwirklicht (siehe Macy-Konferenzen und Biological Computer Lab).<br />
<br />
=== Erste Forschungstätigkeit - Elektroakustik === <br />
Er wird Direktor des Forschungslabors der GEMA (Gesellschaft für elektroakustische und mechanische Apparate mbH, dem Pionierunternehmen auf dem Gebiet der Radar- und Funkmesstechnik). Hier forscht er bereits zum Thema Interaktion, mit dem er sich Zeit seines Lebens immer wieder in höchst unterschiedlichen Aspekten beschäftigt.<br />
Spätestens als 1939 der zweite Weltkrieg beginnt, wird alle Energie auf sogenannte kriegswichtige Themen ausgerichtet. Dazu sagt Heinz von Foerster: <br />
: '' „Die Firma GEMA war ja ein Rüstungsbetrieb; Kriegsindustrie. Die haben die Radare für die Deutschen gebaut. Und ich habe dort im Forschungslabor an Sachen geforscht, die einfach unerforschbar waren. Das habe ich zusammen mit den Leuten gemacht, die gesagt haben: ‚Wir müssen das boykottieren‘. Also haben wir das boykottiert, indem wir immer Forschungsprogramme gewählt haben, die eigentlich undurchführbar waren. Und da konnte ich eben weiterarbeiten, denn die Projekte haben sehr vielversprechend ausgeschaut. Wir haben sie auch so formuliert, dass sie vielversprechend ausgeschaut haben.<ref>ebd., S. 132.</ref>“<br />
Die Firma wird nach dem Beginn des Bombenkrieges von Berlin nach Schlesien (heute Polen) verlegt.<br />
<br />
=== Kriegsende, Neuanfang in Wien === <br />
Kurz vor Kriegsende flieht seine Frau Mai von Foerster mit den drei Söhnen mit einem der letzten Züge aus Schlesien zu ihrer Mutter in die Nähe von Heidelberg. HvF bleibt zunächst, später schlägt er sich auf höchst abenteuerlichen Wegen durch bis zu seiner Familie. Von dort geht es mit seiner Frau und 2 von 3 Söhnen weiter in die Gegend von Kufstein / Österreich, der 3. Sohn Johannes bleibt vorübergehend bei seiner Großmutter<ref>ebd., S. 129 ff.</ref>. <br />
<br />
Um seine Mutter und die Geschwister wieder zu sehen, geht er nach Wien, was zu dieser Zeit eine sehr mühselige Reise in eine besetzte und gefährliche Stadt ist. Dort bekommt er beim neu gegründeten Amerikanischen Radiosender „Rot-Weiss-Rot“ als Mitglied Nummer 7 eine Anstellung als Techniker und Rundfunkjournalist und wird zum Kulturchef des Senders<ref>ebd., S. 146 ff.</ref> Gleichzeitig hat er (verbotenerweise) eine 2 Arbeit, er baut die Telefonfirma Schrack-Ericcson wieder auf, die von den Besatzern geplündert wurde.<br />
<br />
Nachdem seine Frau mit den beiden Söhnen in Wien angekommen sind, versuchten sie ihr drittes Kind aus Deutschland einreisen zu lassen. Da es auf legalem Wege nicht möglich ist, holen sie es schließlich nach 4 Jahren Trennung illegal über die geschlossene Grenze<ref>ebd., S. 150 f.</ref> <br />
: '' „Zu fünft haben wir bei Tante Haserl, einer älteren Schwester meines Vaters, in einer winzigen Wohnung, in einem winzigen Kabinett gewohnt.“''<ref>ebd., S. 151.</ref><br />
<br />
=== Buchveröffentlichung: „Das Gedächtnis – eine quantenphysikalische Untersuchung“=== <br />
Neben seiner Arbeit verfasst er in Nachtschichten sein erstes Buch, darin vertritt er die später verworfene Theorie, dass Elementarbewusstseinsinhalte auf Molekülen gespeichert werden, deren Zerfall das Phänomen des Vergessens erklären könne<ref>ebd., S. 160.</ref>. Er verknüpft dabei Quantenphysik mit Physiologie. <br />
: '' „In'' ''meinem Vorwort habe ich geschrieben: ‚Die Zeit scheint gekommen, wo die Wege geistigen Forschens heterogenster Gebiete zu ihrem gemeinsamen Ursprung zusammenfinden.‘ Da bin ich sehr stolz, dass ich in einem kleinen Paragraphen, der meinem'' Gedächtnis ''vorangeht, sozusagen über die Vorteile der Interdisziplinarität geschrieben habe; schon im Jahre 1948."<ref>ebd., S. 152.</ref>“''<br />
<br />
=== Übersiedlung in die USA - Vorträge und Anstellung im Mikrowellenlabor === <br />
Sein Buch „Das Gedächtnis“ erregt Aufmerksamkeit beim Neurophysiologen Warren McCulloch, Direktor der Neuropsychiatrie der Universität Illinois in Chicago, der ihn 1949 zur Vorstellung seiner Theorie über Gedächtnis und Vergessen an seine Universität einlädt.<br />
<br />
Er bekommt daraufhin eine Einladung zur 6. [[Macy-Konferenzen|Macy-Konferenz]], auf der er über seine Thesen zum Gedächtnis spricht und eine grossen Anzahl Forscher aus verschiedensten Fachgebieten kennenlernt. Siehe Kapitel 2.7.<br />
<br />
''„McCulloch schickte ihn als Physiker an das physikalische Departement der Universität von Illinois in Champaign-Urbana, wo im ‚Department of Electrical Engineering‘ der Direktorposten des Mikrowellenlabors verwaist war. HvF bekam die Stelle und mit vielen Schwierigkeiten die Immigrationsbewilligung für sich sowie wenig später auch für seine Frau Mai und die drei Söhne.“ ''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 45.</ref><br />
<br />
In diesem Labor mit Namen Electron Tube Research Lab (Elektroröhrenlaboratorium) befasst man sich mit der drahtlosen Telegraphie mittels Mikrowellen und anderen Themen. HvF spezialisiert sich auf die Modulation von Licht mittels Mikrowellen zur Nachrichtenübermittlung<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019): ''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). ISBN 978-3-89670-557-0. S. 201 ff.</ref>. <br />
Zu den erfolgreichsten Projekten dieses Labors gehört auch eine Stoppuhr, mit der man ein Millionstel einer Millionstel Sekunde messen kann, zu dem Zeitpunkt die schnellste der Welt.<br />
<br />
=== Die [[Macy-Konferenzen]] === <br />
Ein Meilenstein im Werdegang von HvF ist die Einladung zur 6. Macy-Konferenz vom 24. bis 25. März 1949 in New York. Thema der Konferenz ist "Circular Causal and Feedback Mechanisms in Biological and Social Systems". Dieses jährlich stattfindende Treffen hochkarätiger Wissenschaftler zeichnet sich durch eine sehr lebendige und inspirierende Diskussionskultur und einer Vernetzung über Wissensgebiete hinweg aus. Vertreten sind Fachgebiete wie Mathematik, Informatik (John von Neumann, ein Vater der Computertechnologie), Anthropologie (Margaret Mead und [[Gregory Bateson]]), Kybernetik ([[Norbert Wiener]]), Physiologie, Psychologie, Psychoanalyse, Psychiatrie, Elektrotechnik, Medizin, Zoologie, Soziologie, Ethnologie, Anatomie, Neurologie, Verhaltensforschung, Mathematik, Radiobiologie, Biophysik, Philosophie, Ökonomie u. a.. Er hält dort seinen Vortrag über Gedächtnis und Vergessen. Er wird zum Herausgeber der Publikation der Konferenzakten bestimmt (angeblich, um seine schlechten Englischkenntnisse zu verbessern)<ref>American Society for Cybernetics, Washington USA, 2021. https://asc-cybernetics.org/foundations/history/MacySummary.htm Zugriff 3.12.2021</ref>. Diese Rolle behält er bis zur letzten Macy-Konferenz. <br />
<br />
: ''„In sehr kurzer Zeit war er von der äußersten Peripherie (dem Nachkriegs-Wien) ins Zentrum einer der bedeutendsten Wissenschafts-Bewegungen des 20. Jahrhunderts geraten.<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11 (1): 9-30. https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref>''“ <br />
<br />
Von 1949 bis 1953 nimmt er jedes Jahr an den Macy-Konferenzen teil. Dazu schreibt er: <br />
: „''Mein Geist, mein Spirit, meine Erfahrungen, meine Fähigkeiten und meine Technologie waren da, um diese Röhren zu bauen, aber mein Herz und'' ''meine Seele waren bei den Kybernetikern, den Macy-Leuten.“''<ref>ebd., S. 206.</ref><br />
<br />
=== Freisemester, Biologiestudium === <br />
1956 / 57 nutzt er zwei ihn zustehende Freisemester (sabaticals), um Teilgebiete der Biologie zu studieren. Das erste Semester verbringt er bei bei Warren McCulloch am berühmten Massachusetts Institute of Technologies (MIT) im Research Laboratory of Electronics. Thema dort ist zu dem Zeitpunkt künstliche Intelligenz. Das zweite Semester studiert er auf Empfehlung von [[Norbert Wiener]] bei Arturo Rosenblueth, einem Neurophysiologen, der sich zu der Zeit in Mexico City mit Kardiologie befasst. Foerster setzt sich dort mit kybernetischer Biologie auseinander, speziell mit der Arbeitsweise von Muskelfasern. <br />
: „''Während dieses Aufenthalts verfasste er unter anderem ein - dann unveröffentlicht gebliebenes - Manuskript, dessen Inhalt die Kybernetik der Muskelaktivität betraf.“''<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. ''Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften'' 11 (1): 9-30. <br />
<br />
https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref><br />
<br />
=== Biological Computer Lab, BCL === <br />
1958 gründet er sein eigenes Labor, das Biological Computer Lab, BCL. <br />
: „''In einer interdisziplinären Atmosphäre des Vertrauens wurden so technische Projekte verwirklicht, konnten aber auch grundsätzliche Fragen und Erklärungsmodelle diskutiert werden. Schwerpunkte dieser Diskussionen waren das Modell der Zirkularität, die Selbstorganisations- und Chaostheorie, die Funktionsweise der Wahrnehmung und neuronaler Netzwerke und selbstverständlich ganz grundsätzliche erkenntnistheoretische Fragen. HvF und sein BCL entwickelten sich so zu einem Zentrum, das mit den Argumentationen der führenden KybernetikerInnen vertraut war und zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Formulierung und Entwicklung der Kybernetik leistete.<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association), ISBN: 978-3-906888-02-6. (verlag lebensqualität). S. 49.</ref>“ '' <br />
<br />
Als Professor und Direktor der BCL ist er nun mit Forschung und Lehre betraut. Typisch für ihn ist sein Verständnis von Lehren.<br />
: „''Unterrichten nicht als einseitiges Dozieren von oben herab, sondern als ein gemeinsames Forschen, zu dem alle Beteiligten mit ihren Kompetenzen ihren Beitrag leisten. In den 68er-Jahren hatten seine Veranstaltungen großen Zulauf, weil er die StudentInnen und ihre Anliegen ernst nahm.<ref>ebd., S. 48.</ref>“ ''<br />
<br />
Die Bedeutung dieses Labors und die Reichweite seiner Wirkung wird vom Wissenschaftshistoriker Albert Müller so eingeschätzt: <br />
:„''Und ebenso motiviert mich der Umstand, daß das BCL in der Literatur zur Geschichte der Kybernetik, der Systemtheorie, der nun wieder neu debattierten Bionik, des parallelen Rechnens, der Neurophysiologie, der Bio-Logik, der künstlichen Intelligenz, des symbolischen Rechnens oder des Konstruktivismus als Denktradition - man könnte noch weitere Wissensgebiete von gegenwärtig großem Renommee aufzählen - nur sehr selten erwähnt wird, obwohl Mitarbeiter dieser Einrichtung, des BCL, als maßgeblich für die jeweilige Domäne in der Literatur zu diesen Wissensgebieten erscheinen. Ist das eine spezielle Vergeßlichkeit der history of science (die Vergeßlichkeit der science selbst ist ja weithin bekannt)?<ref>'''Müller, Albert (2000):''' Eine kurze Geschichte des BCL. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11 (1): 9-30. https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html (Zugriff 16.1.2022)</ref>“ '' <br />
<br />
Die Wechselwirkung dieser gegenseitigen Beeinflussung der Forscher beschreibt Albert Müller in einem Beispiel: <br />
: „''[[Humberto Maturana]] kam also an das BCL und erarbeitete dort unter anderem einen wichtigen Artikel auf dem Weg zu seiner - heute weltweit bekannten - Theorie der [[Autopoiese (Autopoiesis)]]. Aber auch die erste Ausformulierung der nun auf den Begriff gebrachten Theorie der Autopoiesis erschien zuerst als interne Publikation des BCL. Schüler und Mitarbeiter Maturanas entwickelten ebenfalls Beziehungen zum BCL, und zentrale erste Publikationen - zum Beispiel jene von Francisco Varela wurden als BCL-Reports herausgegeben... Wahrscheinlich war es die Herausforderung durch den Impuls der chilenischen Gruppe, die es Heinz von Foerster ermöglichte, die Entwicklung seiner radikalen Version einer Kybernetik zweiter Ordnung (second order cybernetics) voranzutreiben. Dies soll nicht heißen, daß sich Foersters Konzepte aus denen Maturanas ableiten ließen, oder umgekehrt. Die Parallelen und die wechselseitige Stimulierung wurde auf einer Konferenz zu Cognitive Studies and Artificial Intelligence Research 1969 sichtbar. Foersters Beitrag kann als direkte Antwort auf jenen von Maturana gelesen werden - und vice versa<ref>ebd.</ref>.“ '' <br />
<br />
: „''Mehrere wichtige Konferenzen kamen im unmittelbaren Umfeld des BCL zustande. Thematisch kreisten sie um Probleme der Systemtheorie und speziell um den Bereich selbstorganisierender Systeme. Noch heute sind die Konferenzbände wie Self-Organizing Systems oder Principles of Self-Organization grundlegend für diesen Forschungsbereich.<ref>ebd.</ref>“ '' <br />
<br />
Dazu gehört das Erforschen vom Parallelrechnen der Nervennetze von Lebewesen im Gegensatz zu den seriellen Rechenoperationen in Computern (wie sie John von Neumann zu der Zeit baut). Ein "biologischer Computer" namens Numarete wird entwickelt, der die Funktionsweise des Auges von Lebewesen als Vorbild hat (bei dem gleichzeitig eine grosse Menge an Informationen berechnet werden im Zusammenspiel von Muskel-, Sinnes- und neuronalen Zellen). Ein weiterer Schritt auf diesem Gebiet ist der Bau eines Computers zur Analyse akustischer Signale.<br />
Bionik wird als Alternative zur 1956 formulierten Artificial Intelligence verstanden, die sich aber letztendlich ihr gegenüber durchsetzt.<br />
<br />
Das Biological Computer Lab wird 1976 geschlossen, weil die Finanzierung nicht mehr gewährleistet war. Mit seiner unkonventionellen Art des Denkens hat sich HvF im Universitätsbereich nicht nur Freunde gemacht. Er selbst sagt dazu: <br />
:''„Ich glaube, das ist meine Schuld gewesen. Ich glaube, ich habe die die Politik der Wissenschaft zu wenig verstanden. (...) Ich habe nicht daran gedacht: ‚Wie verkauft man das? Was muss man machen, dass es an die Öffentlichkeit kommt, dass es in die Zeitungen kommt, dass es die Institute wissen, die die Gelder hergeben?‘ Also in Public Relations habe ich völlig versagt.“''<ref>'''Foerster, Heinz von; Bröcker, Monika (2019):''' Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Unter Mitarbeit von Georg Ivanovas. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Philosophie, Systemtheorie, Gesellschaft). <nowiki>ISBN 978-3-89670-557-0</nowiki>. 1. Auflage: 2002. S. 271.</ref>"<br />
Da sich das abgezeichnet hatte, lässt sich HvF zum 65. Geburtstag emeritieren.<br />
<br />
== Ausgewählte Aussagen ==<br />
=== Kybernetik, Zirkularität ===<br />
: „'' Am besten sprechen wir über das Steuern eines Bootes, da der Begriff Kybernetik, den Norbert Wiener prägte und im Jahre 1948 zum Titel seines Buches machte, auf das griechische Wort für Steuermann (kybernetes) zurückgeht, [...] Was macht ein Steuermann, der sein Schiff sicher in den Hafen hineinmanövrieren möchte? Er absolviert kein ein für allemal festgelegtes Programm, sondern er variiert dies permanent. Wenn das Boot vom Kurs und seinem Ziel nach links abweicht, weil der Wind so stark bläst, schätzt er diese Kursabweichung ein, so daß er weiterhin auf den Hafen zufährt. Er versucht, den Fehler zu korrigieren. Und vielleicht steuert er etwas zu stark gegen. Das Ergebnis ist womöglich eine Kursabweichung nach rechts – und die Notwendigkeit, erneut gegenzusteuern. In jedem Moment wird die Abweichung in Relation zu dem ins Auge gefassten Ziel, dem Telos, das zum Beispiel ein Hafen sein kann, korrigiert. Das Betätigen des Steuers, eine Ursache, erzeugt also eine Wirkung; das ist die Kurskorrektur. Und diese Wirkung wird wieder zu einer Ursache, denn man stellt eine neue Kursabweichung fest. Und diese erzeugt ihrerseits eine Wirkung, nämlich wiederum eine Kurskorrektur. Solche Steuerungsvorgänge sind ein wunderbares Beispiel zirkulärer Kausalität.''“<ref> '' Foerster, Heinz von; Pörksen, Bernhard (2006) '': Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. 7. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag. ISBN 13-3-89670-214-0. 1. Auflage: 1998. S. 107.</ref><br />
HvF beschreibt in seiner bekannt einfachen, aber sehr nachvollziehbaren Ausdrucksweise die [[Feedback-Control-Theorie]], die im Fachgebiet Kinästhetik eine zentrale Rolle beim Verständnis der Bewegungssteuerung bzw. allgemein der Verhaltenssteuerung von Lebewesen spielt.<br />
<br />
=== Hermeneutik des Hörens ===<br />
: „'' Der Hörer, nicht der Sprecher, bestimmt die Bedeutung einer Aussage. Gewöhnlich glaubt man, daß der Sprecher festlegt, was ein Satz bedeutet, und der Hörer verstehen muß, was der Sprecher gesagt hat. Aber das ist ein fundamentaler Irrtum. Der Hörer ist es, der die merkwürdigen Laute, die ich oder ein anderer mit Hilfe der eigenen Stimmlippen hervorrufen, interpretiert und ihnen einen bzw. seinen Sinn gibt. ''“<ref> ''' ebd., S. 100.</ref><br />
<br />
=== Der Schüler als nichttriviale Maschine ===<br />
: „''Das Schreckliche mit den Kindern ist, so glauben viele, daß sie sich nicht auf eine voraussagbare Weise gebärden. Sie agieren noch nicht wie triviale Maschinen, die auf einen bestimmten Input immer ein und denselben Output erzeugen.''“<ref> ''' ebd., S. 65.</ref><br />
Zur Erläuterung berichtet HvF von seinem Geschichtslehrer im Gymnasium, der auf die Frage „Was waren die Griechen für ein Volk?“ keine andere Antwort als „Ein heiteres Volk.“ akzeptierte. So schalte man Unberechenbarkeit und Kreativität aus.<br />
: „''Der Großteil unserer institutionalisierten Erziehungsbemühungen hat zum Ziel, unsere Kinder zu trivialisieren. ''“<ref> ''' ebd., S. 65.</ref><br />
<br />
=== Ethischer Imperativ === <br />
: „''Ich habe einmal gesagt: ‚Handle stets so, daß die Anzahl der Möglichkeiten wächst.‘ Das ist mein ethischer Imperativ [...] Gemeint ist, daß man die Aktivitäten eines anderen nicht einschränken soll, sondern daß es gut wäre, sich auf eine Weise zu verhalten, die die Freiheit des anderen und der Gemeinschaft vergrößert. Denn je größer die Freiheit ist, desto größer sind die Wahlmöglichkeiten und desto eher ist auch die Chance gegeben, für die eigenen Handlungen Verantwortung zu übernehmen. Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Nur wer frei ist – und immer wieder anders agieren könnte –, kann verantwortlich handeln.''“<ref> ''' ebd., S. 36.</ref><br />
<br />
==Bedeutung für Kinästhetik==<br />
Zu diesem Thema hat eine Diskussion begonnen, bei der weiterhin Mitwirken erwünscht ist. Siehe Diskussionsseite [[Diskussion: Heinz von Foerster]] dieses Artikels.<br />
<br />
==Weiterführende Literatur und Medien==<br />
'''Maria Pruckner:''' 90 Jahre Heinz von Foerster | Relaunch 2021. <br />
https://www.youtube.com/watch?v=-OPdH8Pk6x4 (Zugriff: 07.02.2022).<br />
<br />
'''Nikola Bock und Jutta Schubert:''' Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners - Tanz mit der Welt. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=RNdTrdi5nG4 (Zugriff: 27.10.2021).<br />
<br />
'''Lucas Pawlik:''' Einführung in die Kybern-ethik Heinz von Foersters Teil I. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=PeE9eAoT6x8 (Zugriff: 09.12.2021).<br />
<br />
'''Lucas Pawlik:''' Einführung in die Kybern-ethik Heinz von Foersters Teil II. Heinz von Förster.<br />
https://www.youtube.com/watch?v=y9oRamZyq28<br />
(Zugriff: 09.12.2021).<br />
<br />
''' Universität Wien, Artikel aus der Zeitschrift für Geschichtswissenschaften: ''' Im Goldenen Hecht. Über Konstruktivismus und Geschichte. Ein Gespräch zwischen Heinz von Foerster, Albert Müller und Karl H. Müller <br><br />
https://www.univie.ac.at/heinz-von-foerster-archive/etexte/int.pdf (Zugriff: 11.08.2021).<br />
<br />
==Einzelnachweise==<br />
<br />
<references /></div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Knochen_und_Muskeln&diff=4874
Knochen und Muskeln
2023-12-18T11:02:18Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Weiterführende Literatur */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|vorläufig abgeschlossen|Lutz Zierbeck/Joachim Reif}}<br />
<br />
<br />
'''''Zusammenfassung:'''''<br><br />
Dieser Artikel behandelt die aktuelle Verwendung des kinästhetischen Fachbegriffes „Knochen und Muskeln“ in ausgewählter Fachliteratur. Ebenso wird die Geschichte des Fachbegriffes mit Literaturzitaten dargestellt. Auf Erfahrungsberichte, die die Verwendung des Begriffes in der Praxis illustrieren, wird verwiesen. Abschließend werden die begrifflichen Aspekte des Themas dargestellt.<br />
<br />
== Aktuelle Verwendung des Fachbegriffs == <br />
[[Datei:Knochen-und-Muskeln.png|mini|rechts]]<br />
=== „Knochen und Muskeln“ in „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
==== Die Einbettung von „Knochen und Muskeln“ im Konzept „Funktionale Anatomie“ ====<br />
Im Buch „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ bezeichnet die Unterscheidung von Knochen und Muskeln das erste Unterthema des zweiten Konzepts „Funktionale Anatomie“. Damit wird ein in der [[1.-Person-Methode]] subjektiv erfahrbares Grundmuster im menschlichen Körper benannt, das in einem funktionalen Zusammenspiel von stabilen und instabilen Eigenschaften des Körpers besteht. Dabei wird darauf hingewiesen, dass die Form die Funktion und umgekehrt die Funktion die Form beeinflusst<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2018):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 19.</ref>. Die Struktur der Knochen und Muskeln beeinflusst somit die menschlichen Bewegungsmöglichkeiten in alltäglichen Aktivitäten und umgekehrt beeinflussen die lebenslangen Bewegungsgewohnheiten, die Art und Weise, wie wir die Knochen und Muskeln im Alltag nutzen, ihre Struktur. Die Unterscheidung zwischen Knochen und Muskeln dient in [[Bewegungserfahrung|Bewegungserfahrungen]] zur Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung.<br />
<br />
==== Die Knochen und ihre Eigenschaften und Funktionen ====<br />
Die in der Bewegung leicht erfahrbaren und wahrnehmbaren Eigenschaften der Knochen werden mit den Worten „hart, stabil und robust“ <ref>ebd., S. 20</ref> charakterisiert. In funktionaler Hinsicht bilden die Knochen ein formgebendes Gerüst des Körpers und ermöglichen Stabilität und Halt. Sie tragen das Körpergewicht oder leiten es zu einer Unterstützungsfläche weiter. <br />
<br />
==== Die Muskeln und ihre Eigenschaften und Funktionen ====<br />
Muskeln werden als weich und instabil erfahrbar im entspannten Zustand und als veränderbar durch Anspannung und Entspannung beschrieben. Ihre Funktionen sind die Erhaltung oder Veränderung der Stellung der Knochen zueinander, damit es möglich wird, das Körpergewicht über Knochen abzuleiten. Die Eigenschaft der Veränderbarkeit und Beweglichkeit nimmt ab, wenn Muskeln Gewicht tragen, weil sie dann angespannt, hart und stabil werden<ref>ebd., S. 20</ref>. Es liegt nahe, dass dieser Umstand eine bedeutende Auswirkung auf die Qualität der Bewegung hat.<br />
<br />
==== Das funktional angepasste Zusammenspiel von Knochen und Muskeln ====<br />
Aus dem Blickwinkel von „Knochen und Muskeln“ zeigt sich die Qualität der Bewegung darin, dass die Muskeln hauptsächlich das Abgeben und Weiterleiten des Körpergewichts über die Knochen unterstützen und sonst möglichst entspannt und beweglich bleiben<ref>ebd., S. 20</ref>.<br />
<br />
==== Vorder- und Rückseiten ====<br />
Im zweiten Konzept „Funktionale Anatomie“ wird im abschließenden Unterthema „Orientierung“ die erfahrbare Unterscheidung der Vorder- und Rückseiten thematisiert. Die funktionalen Rückseiten werden u. a. als „knochig“ charakterisiert und als Seiten, bei denen „Knochen ziemlich direkt und großflächig unter der Haut“ <ref>ebd., S. 28</ref> liegen. Andererseits wird zwischen Beuge- und Streckmuskeln bezüglich ihrer Anordnung und ihrer Eigenschaften unterschieden. Die Streckmuskeln sind hauptsächlich auf den funktionalen Rückseiten zu finden. In funktionaler Hinsicht sind sie besser dazu geeignet, Gewicht zu tragen oder abzugeben. Die Beugemuskeln liegen hauptsächlich auf den funktionalen Vorderseiten. Sie sind in funktionaler Hinsicht eher dazu geeignet, Gewicht auf Rückseiten zu leiten und die Anpassung der Gewichtsorganisation zu gestalten<ref>ebd., S. 28</ref>. <br />
<br />
==== Die Bedeutung der Knochen oder Muskeln bei weiteren Konzeptthemen ====<br />
Knochen oder Muskeln werden in anderen Konzepten unterschiedlich thematisiert. Es fällt auf, dass sich die Unterscheidung „Massen und Zwischenräumen“ textlich deutlich als Unterbau von folgenden Konzeptthemen fortsetzt, weniger aber „Knochen und Muskeln“. Hingegen tauchen die beiden Begriffe in der gemeinsprachlichen bzw. physiologischen Bedeutung in unterschiedlichen Zusammenhängen auf.<br />
<br />
Im ersten Konzept „Interaktion“ werden im zweiten Unterthema „Bewegungselemente“ u. a. Knochen und Muskeln unter dem Stichwort des inneren Raums als formgebend für den Bewegungsraum im Körper genannt, die Menge der eingesetzten Muskelkraft als Kriterium der inneren Anstrengung<ref>ebd., S. 14</ref>. <br />
<br />
Im Konzept „Funktionale Anatomie“, wird im Unterthema „Massen und Zwischenräume“ auf die Knochenstrukturen der zentralen Massen verwiesen, die Hohlräume für die inneren Organe bilden, und desgleichen darauf, dass Muskeln ein Kennzeichen für Zwischenräume sind<ref>ebd., S. 21</ref>. <br />
<br />
Im gleichen Konzept sind im Unterthema „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“ zur Erläuterung Grafiken aller menschlichen Knochen eingefügt, die bei der Identifizierung dieser Bewegungsebenen helfen. <br />
<br />
Auch auf die Muskeln wird verschiedentlich Bezug genommen: In der Einleitung zum dritten Konzept „Menschliche Bewegung“ wird die Bedeutung des Begriffs Bewegung in der Kinästhetik erläutert und dabei „die andauernde aktive Muskelarbeit zur Gewichtsorganisation der Körperteile“ <ref>ebd., S. 31</ref> genannt, dies neben den unwillkürlichen und willkürlichen Bewegungen. Das Zusammenspiel von „Knochen und Muskeln“ spielt bei der Gewichtsorganisation eine zentrale Rolle (vgl. oben).<br />
<br />
=== „Knochen und Muskeln“ in „Kinaesthetics Infant Handling“ ===<br />
In diesem Standardwerk von Lenny Maietta (1950–2018) und Frank Hatch (*1940), in dem das Kind und seine Entwicklung ins Zentrum gestellt wird, werden Knochen und Muskeln mehrfach thematisiert. So im Kapitel 3.5 „Theorien zur Gesundheitsentwicklung“, wo im Unterkapitel 3.5.1.1 „Metabolische Felder“<ref>'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2004):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. Bern [u. a.]: H. Huber. ISBN 3-456-83310-5. S. 44 ff.</ref> diesbezügliche Theorien von Erich Blechschmidt (1904–1992) zur embryonalen Entwicklung dargestellt werden. <br />
Nicht nur die Eigenschaften und Aufgaben von Knochen und Muskeln werden im Kapitel 4.4 „Funktionelle Anatomie“, Unterkapitel 4.4.1 „Muskeln und Knochen“ in weitgehender Übereinstimmung mit den oben dargestellten Inhalten aufgeführt. Der Fokus des Zusammenspiels der beiden Strukturen wird durch den Hinweis auf das „Skelett-Muskel-System“<ref>ebd., S. 86</ref> deutlich und durch die Aussage illustriert: „Muskeln und Knochen gewährleisten im Zusammenspiel unsere Bewegungsmöglichkeiten.“<ref>ebd., S. 87</ref> Im Zusammenhang mit erwachsenen Menschen wird auch vom „Knochen-Muskel-Apparat"<ref>ebd., S. 87</ref> gesprochen, ein weiterer Beleg für die Verwendung und Bedeutung des entsprechenden kinästhetischen Fachbegriffs.<br />
<br />
=== Kommentare, Auswertung und offene Fragen ===<br />
Der Umgang mit der eigenen Anatomie ist höchst individuell und steht in einer Wechselwirkung mit der Kompetenz, sein Körpergewicht in der Schwerkraft organisieren zu können. Um diese Kompetenz genauer zu verstehen, wird die Achtung auf das Zusammenspiel von verschiedenen Körperteilen oder -strukturen gelenkt. Ein einfach erfahrbares Beispiel dafür ist das Zusammenspiel zwischen den stabilen Knochen und den instabilen Muskeln. Vereinfacht ausgedrückt sind Knochen aufgrund ihrer Stabilität (Eigenschaft) gut geeignet, Gewicht auf eine Unterstützungsfläche abzugeben (Funktion). Muskeln sind aufgrund ihrer Instabilität im Sinne der Veränderlichkeit (Eigenschaft) gut geeignet, den Körper oder Teile davon in Bewegung zu versetzen (Funktion). Sie können auch Gewicht tragen oder festhalten, indem sie ihre Spannung erhöhen. Je mehr Gewicht durch die Muskulatur getragen und nicht über Knochen auf die Unterstützungsfläche abgegeben wird, desto höher ist die Spannung der Muskulatur. Dies wirkt sich gemäß den Forschungen von Weber und Fechner einschränkend auf eine differenzierte Wahrnehmung der eigenen Muskelspannung aus und somit auf die Beweglichkeit aus. Diese Zusammenhänge intuitiv und auch kognitiv zu verstehen und gezielt wahrnehmen und anpassen zu können, ist ein wichtiger Schritt, um die eigene Bewegungskompetenz bewusst weiterzuentwickeln.<br />
Im Kontext der Unterstützung eines Menschen mit Bewegungseinschränkungen spielt die Beobachtung und Wahrnehmung der Gewichtsorganisation eine wichtige Rolle. Traditionell wird Hilfe bei Aktivitäten wie z. B. beim Aufstehen vom Stuhl oder Bett so gestaltet, dass die helfende Person Gewicht der sitzenden Person übernimmt und mit ihrem eigenen Körper „trägt“. Die Folgen für die unterstützende Person können dabei in Richtung Überlastung gehen. Die Folgen für die unterstützte Person können in Richtung Kompetenzeinschränkung gehen, weil durch diese Art der Unterstützung die Möglichkeiten zum Üben und dadurch Aufrechterhalten oder Entwickeln ihrer Kompetenzen wegfallen. <br />
Die Selbst- und Außenwahrnehmung des Zusammenspiels von Knochen und Muskeln bei beiden Beteiligten in dieser Hilfestellung kann Möglichkeiten finden helfen, wie das Gewicht mehr über Knochen geleitet werden kann. So besteht für die unterstützte Person die Chance, dass sie auch bei einer Schwäche der Muskulatur lernt, ihr eigenes Körpergewicht selber zu organisieren. <br />
Im Kontext der Entwicklung der persönlichen Bewegungskompetenz im Alltag nimmt das Zusammenspiel von „Knochen und Muskeln“ ebenso eine wichtige Rolle ein. Konkret verhilft die Achtung auf die eigene Gewichtsorganisation z. B. bei längeren sitzenden Tätigkeiten zu einer bewussten und funktional angepassten Gestaltung dieser Aktivität.<br />
<br />
== Geschichte des Fachbegriffs ==<br />
<br />
=== Knochen und Muskeln im 16. Kinästhetik-Bulletin von 1990 ===<br />
==== Einleitung ====<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 werden im Kapitel 4 „Grundprinzipien“ die Themen aufgeführt, die in der Kinästhetik benützt werden „um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben“<ref>'''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 12</ref>. Es handelt sich um die erste Beschreibung von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. So werden zu diesem Zeitpunkt nur schon die einzelnen Prinzipien – die heutigen Konzepte, soweit sie vorhanden sind – in einer anderen Reihenfolge vorgestellt und tragen teilweise andere Namen als heute.<br />
<br />
==== Beuge- und Streckmuskeln ====<br />
Ein erster Bezug zum heutigen Konzeptsystem (vgl. oben „Vorder- und Rückseiten“) findet sich im Unterkapitel 4.2 „Orientierung im Körper“. Hier werden die Unterschiede zwischen vorne und hinten am Körper durch die Muskelfunktionen erläutert: Vorne liegen die Beugemuskeln, die die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt wahrnehmen, hinten die Streckmuskeln, die verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht sind<ref>ebd., S. 15–16</ref>.<br />
<br />
==== Die Beziehung zwischen Muskeln und Skelett ====<br />
Das vierte Grundprinzip wird mit „Anatomische Grundlagen“ überschrieben und stellt einige Themen des heutigen zweiten Konzepts „Funktionale Anatomie“ dar. Im ersten Unterkapitel „Bewegungsapparat“ wird ausgeführt, in welcher Beziehung Muskeln und Skelett stehen: „Das Muskelsystem und das Skelett sind die beiden Systeme, welche in erster Linie an den Bewegungen des Menschen beteiligt sind. Das Skelett, das heisst die Knochen, sind die harten ‚starken‘ Teile in unserem Körper. Ihre hauptsächliche Aufgabe ist es, unser Gewicht zu tragen.<br />
Die Muskeln sind der weiche, ,fleischige‘ Teil des Bewegungsapparates. Im Gegensatz zur gängigen Vorstellung sind sie nicht gebaut, um ‚stark‘ und hart zu sein. Ihre Qualität ist die Flexibilität. Sie haben die Aufgabe, die Knochen so zu bewegen und in Position zueinander zu bringen, dass wir bestimmte Tätigkeiten ausführen können. Voraussetzung dazu ist, dass die Muskelspannung zwischen rückwärtiger und vorderseitiger Muskulatur ausgeglichen ist.“<ref>ebd., S. 19</ref> Ganz ähnlich wie heute werden Eigenschaften und Funktionen unterschieden; die Leitbegriffe sind allerdings unterschiedlich: Das übergeordnete Thema ist der Bewegungsapparat bzw. die Beziehung zwischen Muskeln und Skelett. Das Skelett wird textlich aber bereits mit Knochen gleichgesetzt.<br />
<br />
==== Bewegungsebenen ====<br />
Im 16. Kinästhetik-Bulletin ist das Thema „Haltungs- und Transportbewegung“, das erste Unterthema des heutigen dritten Konzeptes „Menschliche Bewegung“, der abschließende Teil des vierten Grundprinzips „Anatomische Grundlagen“. Daher wird im Kapitel 4.4.3 die Anatomie der Knochen bzw. Gelenke mit den Begriffen „Bewegung in einer Richtung“ und „Bewegung in viele Richtungen“ <ref>ebd., S. 21 f.</ref> unterschieden. Sie werden einzeln aufgelistet und als Haltungs- oder Transportbewegungsebenen bezeichnet. Im Gegensatz zu heute werden sie direkt mit den Haltungs- und Transportbewegungen verbunden.<br />
<br />
==== Funktionen ====<br />
Im fünften Grundprinzip „Funktionen“ wird im Kapitel 4.5.2 “7 Grundpositionen“ die Aufgabe von Knochen und Muskeln kurz zusammengefasst: „Die Knochen tragen das Gewicht, die Muskeln bewegen die Knochen.“ <ref>ebd., S. 23</ref> Weiter heißt es: „Die 7 Grundpositionen können ohne grosse Muskelanstrengung gehalten werden. D. h. die Knochen tragen das Gewicht, welches wiederum durch die grossen Massen (Punkt 4.4.2.) in Richtung Boden fällt. Dadurch haben die Muskeln freien Spielraum, um mit der Umgebung in Beziehung zu treten.“<ref>ebd., S. 23</ref> Im Folgenden wird mehrfach im Zusammenhang mit den verschiedenen Grundpositionen auf die Aufgabe der Knochen verwiesen, Gewicht zu tragen. Dies geschieht ebenfalls im Kapitel 4.5.3. „Fortbewegung“<ref>ebd., S. 25</ref>.<br />
<br />
==== Entwicklungsbewegung ====<br />
Im Kapitel 4.5.4 „Entwicklungsbewegung“ wird die Forschungsarbeit des Humanembryologen Erich Blechschmidt erwähnt und auf seine Theorien zur embryonalen Entwicklung von Knochen und Muskeln hingewiesen<ref>ebd., S. 26</ref>.<br />
<br />
==== Anwendungen ====<br />
Im Kapitel 5 „Anwendungen“, Unterkapitel 5.1 „Kinästhetik in der Rehabilitation (Physiotherapie, Ergotherapie)“ wird das differenzierte Kennenlernen der Knochen und Gelenke im eigenen Körper in einer funktionellen Art und Weise als Lernsituation im Unterschied zu einer Behandlungssituation beschrieben. <br />
Anhand eines konkreten Patientenbeispiels wird aufgezeigt, wie die Perspektive „Knochen tragen das Gewicht“ als Blickwinkel genutzt werden kann, um die Anstrengung bei der Bewegung zu reduzieren<ref>ebd., S. 35</ref>. <br />
<br />
Kapitel 5.3 „Kinästhetik in der Krankenpflege“ wird unter der Überschrift „Information statt Anstrengung“ <ref>ebd., S. 47</ref>das Bewegen und Umlagern von PatientInnen durch Krankenschwestern und PflegerInnen thematisiert. Dabei spielt neben dem gemeinsamen Tun von Pflegenden und PatientInnen die Perspektive „Gewicht über Knochen leiten“ eine wichtige Rolle, um mit minimaler Anstrengung zum Ziel zu kommen.<br />
<br />
=== Das erste Auftreten des Begriffspaars „Knochen und Muskeln“ ===<br />
„Kinästhetik. Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Krankenpflege“ war 1992 die erste Veröffentlichung in Buchform über Kinästhetik. Hier wird zum ersten Mal „Knochen und Muskeln“ im Sinne eines kinästhetischen Fachbegriffes verwendet<ref>'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny; Schmidt, Suzanne (1992)''': Kinästhetik. Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Krankenpflege. 1. Auflage. Eschborn: Deutscher Verband für Pflegeberufe. ISBN 3-927944-02-5. S. 39.</ref>. Neben der Beschreibung der unterschiedlichen Eigenschaften und Aufgaben für die Bewegung wird das Zusammenspiel beider Strukturen thematisiert: „Durch die Funktion der Muskeln wird das Skelett derart organisiert, dass es das Gewicht tragen kann. Muskeln selbst können nur wenig Gewicht tragen.“<ref>ebd., S. 39</ref><br />
Seitdem lässt sich das Thema des Zusammenspiels von Knochen und Muskeln in vielen Veröffentlichungen wiederfinden und ist hilfreich zum Formulieren von Blickwinkeln zur differenzierten Beobachtung und Variation von Bewegung.<br />
<br />
== Erfahrungsberichte ==<br />
* '''Fürniß, Silke (2017):''' Die Reise in meinen Körper. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2017, Nr. 3. &nbsp;S. 28–33.<br><br />
Die Autorin beschreibt ihren Prozess der Auseinandersetzung mit der eigenen Anatomie während der Ausbildung zur Kinaesthetics-Trainerin Stufe 1. Dabei entstand ein Kunstwerk auf Papier, das die Erfahrungen mit der genauen Beobachtung des Körpers und einiger seiner Funktionen festhält. Es trägt den Titel „22 Stunden Ich“. <br>Zum Artikel:<br />
[[Medium:Fürniss, Die Reise in meinen Körper.pdf|Die Reise in meinen Körper]]<br />
<br />
* '''Höppner, Gundula; Lilienkamp, Michael (2007):''' Vom Für zum Mit. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2007, Nr. 4. <br>S. 10–15.<br />
In einem Erfahrungsbericht über die Implementierung von Kinästhetik in einer großen Einrichtung für Menschen mit Mehrfachbehinderungen wird das Zusammenspiel von Knochen und Muskeln in einer konkreten Situation geschildert. Eine Mitarbeiterin entdeckt während eines Aufbaukurses das Thema für sich und nutzt es, um mit einer Bewohnerin einen Lernprozess zur Kompetenzentwicklung im Bereich Gewichtsorganisation zu entwickeln. <br>Zum Artikel: [[Medium:Höppner, Lilienkamp, Vom Für zum Mit.pdf|Vom Für zum Mit]]<br />
<br />
== Weiterführende Literatur ==<br />
* '''Enke, Axel (2023):''' Knochen. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2023, Nr. 1. &nbsp;S. 48 - 54.<br><br />
* '''Enke, Axel (2023):''' Gelenke - das Verbindende. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2023, Nr. 2. &nbsp;S. 50 - 55.<br><br />
Der dritte Artikel "Muskeln" ist zur Zeit (Dezember 2023) noch nicht erschienen. <br />
<br />
Axel Enke setzt sich in einer dreiteiligen Artikelserie mit dem hochkomplexen Bewegungssystem auseinander, das erheblich spannender ist als ein simples Zusammenspiel von Knochen und Muskeln. Er zeigt auf, dass viele Akteure innerhalb des Körpers in einem zirkulär geregelten Prozess gemeinsam das wahrnehmbare Verlagern von Gewicht bewerkstelligen und leitet daraus Metaphern ab für die zwischenmenschliche Interaktion. <br>Zum Artikel 1:<br />
[[Medium:Lq-2023-1-Knochen.pdf|Knochen]] <br>Zum Artikel 2:<br />
[[Medium:Lq-2023-2-Gelenke - das Verbindende.pdf|Gelenke - das Verbindende]]<br />
<br />
* '''Graham, John (2007):''' Das Gerüst des Menschen. In: lebensqualität. Das Journal für Kinaesthetics. 2007, Nr. 3. S.&nbsp;22-24.<br>Zum Artikel: [[Medium:Lq-2007-3-Das Gerüst des Menschen.pdf|Lq-2007-3-Das Gerüst des Menschen]]<br />
<br />
* '''Todd, Mabel Elsworth (1937):''' The Thinking Body. Reprint. New York: Dance Horizons. ISBN 0-8712-7014-5<br />
* '''Todd, Mabel Elsworth (2017):''' Der Körper denkt mit. 4. unveränderte Auflage. Bern: Hogrefe. ISBN 978-3456858159<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Massen und Zwischenräume]]<br /><br />
[[Stabil und instabil]]<br /><br />
<br />
== Zum Begriff ==<br />
=== Bedeutungsüberblick ===<br />
==== Die Bedeutungen der Begriffe nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ ====<br />
Nach dem Duden Online-Wörterbuch hat '''Knochen''' folgende Bedeutungen: <br><br />
Die Erstbedeutung lautet „a. harter, hauptsächlich aus Kalk bestehender Teil des Skeletts b. Knochen von Schlachttieren c. Knochensubstanz“. Synonyme sind „Gerippe, Skelett; (gehoben) Gebeine; (süddeutsch, österreichisch, schweizerisch) Beine; (salopp) Gräten; (Anatomie) Os“.<br />
<br />
Angeführt werden zusätzlich drei weitere umgangssprachliche Bedeutungen.<br />
<br />
Nach dem Duden Online-Wörterbuch hat '''Muskel''' folgende Bedeutungen:<br><br />
In der Bedeutungsübersicht wird „[an den Knochen angewachsener] Teil des menschlichen und tierischen Körpers, der aus von Bindegewebe umhüllten Fasern besteht und der Bewegung von Gliedmaßen und Körperteilen dient“ angegeben.<br />
<br />
Beide Begriffe werden als kinästhetische Fachbegriffe in ihrer gemeinsprachlichen Erstbedeutung verwendet.<br />
<br />
==== Die Verwendung als kinästhetischer Fachbegriff ==== <br />
„Knochen und Muskeln“ ist seit 1992 ein kinästhetischer Fachbegriff. Im Konzeptsystem bezeichnet er das erste Unterthema des Konzeptes der funktionalen Anatomie. Das Begriffspaar betrifft eine spezifische subjektiv erfahrbare Unterscheidung, die zur Sensibilisierung und Fokussierung der Bewegungswahrnehmung sowie zur Analyse von alltäglichen Aktivitäten benutzt wird. Diese Unterscheidung beruht auf den gegensätzlichen Eigenschaften von Knochen (stabil) und Muskeln (veränderlich) und ihren entsprechenden Grundfunktionen des Tragens bzw. Weiterleiten des Gewichts der Körperteile (Knochen) und der Veränderung der Beziehung der Knochen untereinander (Muskeln). Dieses Zusammenspiel ist von grundlegender Bedeutung für die Organisation des Körpergewichts in der Schwerkraft.<br />
<br />
Als kinästhetischer Fachbegriff wird „Knochen und Muskeln“ ausgehend von den gemeinsprachlichen bzw. anatomischen Bedeutungen spezifisch definiert verwendet.<br />
<br />
=== Herkunft ===<br />
Nach dem Duden Herkunftswörterbuch ist das Wort '''Knochen''' seit dem 14. Jahrhundert bezeugt und hat das geläufige „Bein“ im Sinne von „Knochen“ verdrängt. Mittelhochdeutsch ''knoche'' „drücken, pressen“ u. a. wurden aus einem ursprünglich lautmalenden Verb ''knochen'', das mit „knacken“ verwandt ist (vgl. englisch ''to knock''), gebildet. Knochen sind also ursprünglich das, womit man anstößt oder gegen etwas schlägt.<br />
<br />
Ableitungen sind „Knöchel“, „knöchern“, „verknöchern“, „verknöchert“ und „knochig“.<br />
<br />
Nach dem Duden Herkunftswörterbuch ist das Wort '''Muskel''' seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts bezeugt und bezeichnet die fleischigen Teile des tierischen oder menschlichen Körpers, die durch An- und Entspannung Bewegung ermöglichen. Das Wort ist aus lateinisch ''musculus'' „Muskel“ entlehnt, ursprünglich eine Verkleinerungsbildung „Mäuschen“ zu lateinisch ''mus'' „Maus“. Die Bedeutungsübertragung beruht vielleicht auf dem Vergleich eines unter der Haut zuckenden Muskels mit den Bewegungen eines Mäuschens und findet sich z. B. auch in griechisch ''mys'' „Maus, Muskel“ oder in umgangssprachlicher Verwendung. <br />
<br />
Ableitungen sind „muskulös“, „Muskulatur“ und der medizinische Fachbegriff „muskulär“.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Konzeptsystem]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Knochen_und_Muskeln&diff=4873
Knochen und Muskeln
2023-12-18T11:00:33Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Weiterführende Literatur */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|vorläufig abgeschlossen|Lutz Zierbeck/Joachim Reif}}<br />
<br />
<br />
'''''Zusammenfassung:'''''<br><br />
Dieser Artikel behandelt die aktuelle Verwendung des kinästhetischen Fachbegriffes „Knochen und Muskeln“ in ausgewählter Fachliteratur. Ebenso wird die Geschichte des Fachbegriffes mit Literaturzitaten dargestellt. Auf Erfahrungsberichte, die die Verwendung des Begriffes in der Praxis illustrieren, wird verwiesen. Abschließend werden die begrifflichen Aspekte des Themas dargestellt.<br />
<br />
== Aktuelle Verwendung des Fachbegriffs == <br />
[[Datei:Knochen-und-Muskeln.png|mini|rechts]]<br />
=== „Knochen und Muskeln“ in „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
==== Die Einbettung von „Knochen und Muskeln“ im Konzept „Funktionale Anatomie“ ====<br />
Im Buch „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ bezeichnet die Unterscheidung von Knochen und Muskeln das erste Unterthema des zweiten Konzepts „Funktionale Anatomie“. Damit wird ein in der [[1.-Person-Methode]] subjektiv erfahrbares Grundmuster im menschlichen Körper benannt, das in einem funktionalen Zusammenspiel von stabilen und instabilen Eigenschaften des Körpers besteht. Dabei wird darauf hingewiesen, dass die Form die Funktion und umgekehrt die Funktion die Form beeinflusst<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2018):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 19.</ref>. Die Struktur der Knochen und Muskeln beeinflusst somit die menschlichen Bewegungsmöglichkeiten in alltäglichen Aktivitäten und umgekehrt beeinflussen die lebenslangen Bewegungsgewohnheiten, die Art und Weise, wie wir die Knochen und Muskeln im Alltag nutzen, ihre Struktur. Die Unterscheidung zwischen Knochen und Muskeln dient in [[Bewegungserfahrung|Bewegungserfahrungen]] zur Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung.<br />
<br />
==== Die Knochen und ihre Eigenschaften und Funktionen ====<br />
Die in der Bewegung leicht erfahrbaren und wahrnehmbaren Eigenschaften der Knochen werden mit den Worten „hart, stabil und robust“ <ref>ebd., S. 20</ref> charakterisiert. In funktionaler Hinsicht bilden die Knochen ein formgebendes Gerüst des Körpers und ermöglichen Stabilität und Halt. Sie tragen das Körpergewicht oder leiten es zu einer Unterstützungsfläche weiter. <br />
<br />
==== Die Muskeln und ihre Eigenschaften und Funktionen ====<br />
Muskeln werden als weich und instabil erfahrbar im entspannten Zustand und als veränderbar durch Anspannung und Entspannung beschrieben. Ihre Funktionen sind die Erhaltung oder Veränderung der Stellung der Knochen zueinander, damit es möglich wird, das Körpergewicht über Knochen abzuleiten. Die Eigenschaft der Veränderbarkeit und Beweglichkeit nimmt ab, wenn Muskeln Gewicht tragen, weil sie dann angespannt, hart und stabil werden<ref>ebd., S. 20</ref>. Es liegt nahe, dass dieser Umstand eine bedeutende Auswirkung auf die Qualität der Bewegung hat.<br />
<br />
==== Das funktional angepasste Zusammenspiel von Knochen und Muskeln ====<br />
Aus dem Blickwinkel von „Knochen und Muskeln“ zeigt sich die Qualität der Bewegung darin, dass die Muskeln hauptsächlich das Abgeben und Weiterleiten des Körpergewichts über die Knochen unterstützen und sonst möglichst entspannt und beweglich bleiben<ref>ebd., S. 20</ref>.<br />
<br />
==== Vorder- und Rückseiten ====<br />
Im zweiten Konzept „Funktionale Anatomie“ wird im abschließenden Unterthema „Orientierung“ die erfahrbare Unterscheidung der Vorder- und Rückseiten thematisiert. Die funktionalen Rückseiten werden u. a. als „knochig“ charakterisiert und als Seiten, bei denen „Knochen ziemlich direkt und großflächig unter der Haut“ <ref>ebd., S. 28</ref> liegen. Andererseits wird zwischen Beuge- und Streckmuskeln bezüglich ihrer Anordnung und ihrer Eigenschaften unterschieden. Die Streckmuskeln sind hauptsächlich auf den funktionalen Rückseiten zu finden. In funktionaler Hinsicht sind sie besser dazu geeignet, Gewicht zu tragen oder abzugeben. Die Beugemuskeln liegen hauptsächlich auf den funktionalen Vorderseiten. Sie sind in funktionaler Hinsicht eher dazu geeignet, Gewicht auf Rückseiten zu leiten und die Anpassung der Gewichtsorganisation zu gestalten<ref>ebd., S. 28</ref>. <br />
<br />
==== Die Bedeutung der Knochen oder Muskeln bei weiteren Konzeptthemen ====<br />
Knochen oder Muskeln werden in anderen Konzepten unterschiedlich thematisiert. Es fällt auf, dass sich die Unterscheidung „Massen und Zwischenräumen“ textlich deutlich als Unterbau von folgenden Konzeptthemen fortsetzt, weniger aber „Knochen und Muskeln“. Hingegen tauchen die beiden Begriffe in der gemeinsprachlichen bzw. physiologischen Bedeutung in unterschiedlichen Zusammenhängen auf.<br />
<br />
Im ersten Konzept „Interaktion“ werden im zweiten Unterthema „Bewegungselemente“ u. a. Knochen und Muskeln unter dem Stichwort des inneren Raums als formgebend für den Bewegungsraum im Körper genannt, die Menge der eingesetzten Muskelkraft als Kriterium der inneren Anstrengung<ref>ebd., S. 14</ref>. <br />
<br />
Im Konzept „Funktionale Anatomie“, wird im Unterthema „Massen und Zwischenräume“ auf die Knochenstrukturen der zentralen Massen verwiesen, die Hohlräume für die inneren Organe bilden, und desgleichen darauf, dass Muskeln ein Kennzeichen für Zwischenräume sind<ref>ebd., S. 21</ref>. <br />
<br />
Im gleichen Konzept sind im Unterthema „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“ zur Erläuterung Grafiken aller menschlichen Knochen eingefügt, die bei der Identifizierung dieser Bewegungsebenen helfen. <br />
<br />
Auch auf die Muskeln wird verschiedentlich Bezug genommen: In der Einleitung zum dritten Konzept „Menschliche Bewegung“ wird die Bedeutung des Begriffs Bewegung in der Kinästhetik erläutert und dabei „die andauernde aktive Muskelarbeit zur Gewichtsorganisation der Körperteile“ <ref>ebd., S. 31</ref> genannt, dies neben den unwillkürlichen und willkürlichen Bewegungen. Das Zusammenspiel von „Knochen und Muskeln“ spielt bei der Gewichtsorganisation eine zentrale Rolle (vgl. oben).<br />
<br />
=== „Knochen und Muskeln“ in „Kinaesthetics Infant Handling“ ===<br />
In diesem Standardwerk von Lenny Maietta (1950–2018) und Frank Hatch (*1940), in dem das Kind und seine Entwicklung ins Zentrum gestellt wird, werden Knochen und Muskeln mehrfach thematisiert. So im Kapitel 3.5 „Theorien zur Gesundheitsentwicklung“, wo im Unterkapitel 3.5.1.1 „Metabolische Felder“<ref>'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2004):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. Bern [u. a.]: H. Huber. ISBN 3-456-83310-5. S. 44 ff.</ref> diesbezügliche Theorien von Erich Blechschmidt (1904–1992) zur embryonalen Entwicklung dargestellt werden. <br />
Nicht nur die Eigenschaften und Aufgaben von Knochen und Muskeln werden im Kapitel 4.4 „Funktionelle Anatomie“, Unterkapitel 4.4.1 „Muskeln und Knochen“ in weitgehender Übereinstimmung mit den oben dargestellten Inhalten aufgeführt. Der Fokus des Zusammenspiels der beiden Strukturen wird durch den Hinweis auf das „Skelett-Muskel-System“<ref>ebd., S. 86</ref> deutlich und durch die Aussage illustriert: „Muskeln und Knochen gewährleisten im Zusammenspiel unsere Bewegungsmöglichkeiten.“<ref>ebd., S. 87</ref> Im Zusammenhang mit erwachsenen Menschen wird auch vom „Knochen-Muskel-Apparat"<ref>ebd., S. 87</ref> gesprochen, ein weiterer Beleg für die Verwendung und Bedeutung des entsprechenden kinästhetischen Fachbegriffs.<br />
<br />
=== Kommentare, Auswertung und offene Fragen ===<br />
Der Umgang mit der eigenen Anatomie ist höchst individuell und steht in einer Wechselwirkung mit der Kompetenz, sein Körpergewicht in der Schwerkraft organisieren zu können. Um diese Kompetenz genauer zu verstehen, wird die Achtung auf das Zusammenspiel von verschiedenen Körperteilen oder -strukturen gelenkt. Ein einfach erfahrbares Beispiel dafür ist das Zusammenspiel zwischen den stabilen Knochen und den instabilen Muskeln. Vereinfacht ausgedrückt sind Knochen aufgrund ihrer Stabilität (Eigenschaft) gut geeignet, Gewicht auf eine Unterstützungsfläche abzugeben (Funktion). Muskeln sind aufgrund ihrer Instabilität im Sinne der Veränderlichkeit (Eigenschaft) gut geeignet, den Körper oder Teile davon in Bewegung zu versetzen (Funktion). Sie können auch Gewicht tragen oder festhalten, indem sie ihre Spannung erhöhen. Je mehr Gewicht durch die Muskulatur getragen und nicht über Knochen auf die Unterstützungsfläche abgegeben wird, desto höher ist die Spannung der Muskulatur. Dies wirkt sich gemäß den Forschungen von Weber und Fechner einschränkend auf eine differenzierte Wahrnehmung der eigenen Muskelspannung aus und somit auf die Beweglichkeit aus. Diese Zusammenhänge intuitiv und auch kognitiv zu verstehen und gezielt wahrnehmen und anpassen zu können, ist ein wichtiger Schritt, um die eigene Bewegungskompetenz bewusst weiterzuentwickeln.<br />
Im Kontext der Unterstützung eines Menschen mit Bewegungseinschränkungen spielt die Beobachtung und Wahrnehmung der Gewichtsorganisation eine wichtige Rolle. Traditionell wird Hilfe bei Aktivitäten wie z. B. beim Aufstehen vom Stuhl oder Bett so gestaltet, dass die helfende Person Gewicht der sitzenden Person übernimmt und mit ihrem eigenen Körper „trägt“. Die Folgen für die unterstützende Person können dabei in Richtung Überlastung gehen. Die Folgen für die unterstützte Person können in Richtung Kompetenzeinschränkung gehen, weil durch diese Art der Unterstützung die Möglichkeiten zum Üben und dadurch Aufrechterhalten oder Entwickeln ihrer Kompetenzen wegfallen. <br />
Die Selbst- und Außenwahrnehmung des Zusammenspiels von Knochen und Muskeln bei beiden Beteiligten in dieser Hilfestellung kann Möglichkeiten finden helfen, wie das Gewicht mehr über Knochen geleitet werden kann. So besteht für die unterstützte Person die Chance, dass sie auch bei einer Schwäche der Muskulatur lernt, ihr eigenes Körpergewicht selber zu organisieren. <br />
Im Kontext der Entwicklung der persönlichen Bewegungskompetenz im Alltag nimmt das Zusammenspiel von „Knochen und Muskeln“ ebenso eine wichtige Rolle ein. Konkret verhilft die Achtung auf die eigene Gewichtsorganisation z. B. bei längeren sitzenden Tätigkeiten zu einer bewussten und funktional angepassten Gestaltung dieser Aktivität.<br />
<br />
== Geschichte des Fachbegriffs ==<br />
<br />
=== Knochen und Muskeln im 16. Kinästhetik-Bulletin von 1990 ===<br />
==== Einleitung ====<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 werden im Kapitel 4 „Grundprinzipien“ die Themen aufgeführt, die in der Kinästhetik benützt werden „um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben“<ref>'''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 12</ref>. Es handelt sich um die erste Beschreibung von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. So werden zu diesem Zeitpunkt nur schon die einzelnen Prinzipien – die heutigen Konzepte, soweit sie vorhanden sind – in einer anderen Reihenfolge vorgestellt und tragen teilweise andere Namen als heute.<br />
<br />
==== Beuge- und Streckmuskeln ====<br />
Ein erster Bezug zum heutigen Konzeptsystem (vgl. oben „Vorder- und Rückseiten“) findet sich im Unterkapitel 4.2 „Orientierung im Körper“. Hier werden die Unterschiede zwischen vorne und hinten am Körper durch die Muskelfunktionen erläutert: Vorne liegen die Beugemuskeln, die die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt wahrnehmen, hinten die Streckmuskeln, die verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht sind<ref>ebd., S. 15–16</ref>.<br />
<br />
==== Die Beziehung zwischen Muskeln und Skelett ====<br />
Das vierte Grundprinzip wird mit „Anatomische Grundlagen“ überschrieben und stellt einige Themen des heutigen zweiten Konzepts „Funktionale Anatomie“ dar. Im ersten Unterkapitel „Bewegungsapparat“ wird ausgeführt, in welcher Beziehung Muskeln und Skelett stehen: „Das Muskelsystem und das Skelett sind die beiden Systeme, welche in erster Linie an den Bewegungen des Menschen beteiligt sind. Das Skelett, das heisst die Knochen, sind die harten ‚starken‘ Teile in unserem Körper. Ihre hauptsächliche Aufgabe ist es, unser Gewicht zu tragen.<br />
Die Muskeln sind der weiche, ,fleischige‘ Teil des Bewegungsapparates. Im Gegensatz zur gängigen Vorstellung sind sie nicht gebaut, um ‚stark‘ und hart zu sein. Ihre Qualität ist die Flexibilität. Sie haben die Aufgabe, die Knochen so zu bewegen und in Position zueinander zu bringen, dass wir bestimmte Tätigkeiten ausführen können. Voraussetzung dazu ist, dass die Muskelspannung zwischen rückwärtiger und vorderseitiger Muskulatur ausgeglichen ist.“<ref>ebd., S. 19</ref> Ganz ähnlich wie heute werden Eigenschaften und Funktionen unterschieden; die Leitbegriffe sind allerdings unterschiedlich: Das übergeordnete Thema ist der Bewegungsapparat bzw. die Beziehung zwischen Muskeln und Skelett. Das Skelett wird textlich aber bereits mit Knochen gleichgesetzt.<br />
<br />
==== Bewegungsebenen ====<br />
Im 16. Kinästhetik-Bulletin ist das Thema „Haltungs- und Transportbewegung“, das erste Unterthema des heutigen dritten Konzeptes „Menschliche Bewegung“, der abschließende Teil des vierten Grundprinzips „Anatomische Grundlagen“. Daher wird im Kapitel 4.4.3 die Anatomie der Knochen bzw. Gelenke mit den Begriffen „Bewegung in einer Richtung“ und „Bewegung in viele Richtungen“ <ref>ebd., S. 21 f.</ref> unterschieden. Sie werden einzeln aufgelistet und als Haltungs- oder Transportbewegungsebenen bezeichnet. Im Gegensatz zu heute werden sie direkt mit den Haltungs- und Transportbewegungen verbunden.<br />
<br />
==== Funktionen ====<br />
Im fünften Grundprinzip „Funktionen“ wird im Kapitel 4.5.2 “7 Grundpositionen“ die Aufgabe von Knochen und Muskeln kurz zusammengefasst: „Die Knochen tragen das Gewicht, die Muskeln bewegen die Knochen.“ <ref>ebd., S. 23</ref> Weiter heißt es: „Die 7 Grundpositionen können ohne grosse Muskelanstrengung gehalten werden. D. h. die Knochen tragen das Gewicht, welches wiederum durch die grossen Massen (Punkt 4.4.2.) in Richtung Boden fällt. Dadurch haben die Muskeln freien Spielraum, um mit der Umgebung in Beziehung zu treten.“<ref>ebd., S. 23</ref> Im Folgenden wird mehrfach im Zusammenhang mit den verschiedenen Grundpositionen auf die Aufgabe der Knochen verwiesen, Gewicht zu tragen. Dies geschieht ebenfalls im Kapitel 4.5.3. „Fortbewegung“<ref>ebd., S. 25</ref>.<br />
<br />
==== Entwicklungsbewegung ====<br />
Im Kapitel 4.5.4 „Entwicklungsbewegung“ wird die Forschungsarbeit des Humanembryologen Erich Blechschmidt erwähnt und auf seine Theorien zur embryonalen Entwicklung von Knochen und Muskeln hingewiesen<ref>ebd., S. 26</ref>.<br />
<br />
==== Anwendungen ====<br />
Im Kapitel 5 „Anwendungen“, Unterkapitel 5.1 „Kinästhetik in der Rehabilitation (Physiotherapie, Ergotherapie)“ wird das differenzierte Kennenlernen der Knochen und Gelenke im eigenen Körper in einer funktionellen Art und Weise als Lernsituation im Unterschied zu einer Behandlungssituation beschrieben. <br />
Anhand eines konkreten Patientenbeispiels wird aufgezeigt, wie die Perspektive „Knochen tragen das Gewicht“ als Blickwinkel genutzt werden kann, um die Anstrengung bei der Bewegung zu reduzieren<ref>ebd., S. 35</ref>. <br />
<br />
Kapitel 5.3 „Kinästhetik in der Krankenpflege“ wird unter der Überschrift „Information statt Anstrengung“ <ref>ebd., S. 47</ref>das Bewegen und Umlagern von PatientInnen durch Krankenschwestern und PflegerInnen thematisiert. Dabei spielt neben dem gemeinsamen Tun von Pflegenden und PatientInnen die Perspektive „Gewicht über Knochen leiten“ eine wichtige Rolle, um mit minimaler Anstrengung zum Ziel zu kommen.<br />
<br />
=== Das erste Auftreten des Begriffspaars „Knochen und Muskeln“ ===<br />
„Kinästhetik. Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Krankenpflege“ war 1992 die erste Veröffentlichung in Buchform über Kinästhetik. Hier wird zum ersten Mal „Knochen und Muskeln“ im Sinne eines kinästhetischen Fachbegriffes verwendet<ref>'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny; Schmidt, Suzanne (1992)''': Kinästhetik. Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Krankenpflege. 1. Auflage. Eschborn: Deutscher Verband für Pflegeberufe. ISBN 3-927944-02-5. S. 39.</ref>. Neben der Beschreibung der unterschiedlichen Eigenschaften und Aufgaben für die Bewegung wird das Zusammenspiel beider Strukturen thematisiert: „Durch die Funktion der Muskeln wird das Skelett derart organisiert, dass es das Gewicht tragen kann. Muskeln selbst können nur wenig Gewicht tragen.“<ref>ebd., S. 39</ref><br />
Seitdem lässt sich das Thema des Zusammenspiels von Knochen und Muskeln in vielen Veröffentlichungen wiederfinden und ist hilfreich zum Formulieren von Blickwinkeln zur differenzierten Beobachtung und Variation von Bewegung.<br />
<br />
== Erfahrungsberichte ==<br />
* '''Fürniß, Silke (2017):''' Die Reise in meinen Körper. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2017, Nr. 3. &nbsp;S. 28–33.<br><br />
Die Autorin beschreibt ihren Prozess der Auseinandersetzung mit der eigenen Anatomie während der Ausbildung zur Kinaesthetics-Trainerin Stufe 1. Dabei entstand ein Kunstwerk auf Papier, das die Erfahrungen mit der genauen Beobachtung des Körpers und einiger seiner Funktionen festhält. Es trägt den Titel „22 Stunden Ich“. <br>Zum Artikel:<br />
[[Medium:Fürniss, Die Reise in meinen Körper.pdf|Die Reise in meinen Körper]]<br />
<br />
* '''Höppner, Gundula; Lilienkamp, Michael (2007):''' Vom Für zum Mit. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2007, Nr. 4. <br>S. 10–15.<br />
In einem Erfahrungsbericht über die Implementierung von Kinästhetik in einer großen Einrichtung für Menschen mit Mehrfachbehinderungen wird das Zusammenspiel von Knochen und Muskeln in einer konkreten Situation geschildert. Eine Mitarbeiterin entdeckt während eines Aufbaukurses das Thema für sich und nutzt es, um mit einer Bewohnerin einen Lernprozess zur Kompetenzentwicklung im Bereich Gewichtsorganisation zu entwickeln. <br>Zum Artikel: [[Medium:Höppner, Lilienkamp, Vom Für zum Mit.pdf|Vom Für zum Mit]]<br />
<br />
== Weiterführende Literatur ==<br />
* '''Enke, Axel (2023):''' Knochen. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2023, Nr. 1. &nbsp;S. 48 - 54.<br><br />
* '''Enke, Axel (2023):''' Gelenke - das Verbindende. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2023, Nr. 2. &nbsp;S. 50 - 55.<br><br />
Der dritte Artikel "Muskeln" ist zur Zeit (Dezember 2023) noch nicht erschienen. <br />
<br />
Axel Enke setzt sich in einer dreiteiligen Artikelserie mit dem hochkomplexen Bewegungssystem auseinander, das erheblich spannender ist als ein simples Zusammenspiel von Knochen und Muskeln. Er zeigt auf, dass viele Akteure innerhalb des Körpers in einem zirkulär geregelten Prozess gemeinsam das wahrnehmbare Verlagern von Gewicht bewerkstelligen und leitet daraus Metaphern ab für die zwischenmenschliche Interaktion. <br>Zum Artikel 1:<br />
[[Medium:Lq-2023-1-Knochen.pdf|Knochen]] <br>Zum Artikel 2:<br />
[[Medium:Lq-2023-2-Gelenke - das Verbindende.pdf|Gelenke - das Verbindende]]<br />
<br />
* '''Graham, John (2007):''' Das Gerüst des Menschen. In: lebensqualität. Das Journal für Kinaesthetics. 2007, Nr. 3. S.&nbsp;22-24.<br>Zum Artikel: [[Medium:Lq-2007-3-Das Gerüst des Menschen.pdf|Lq-2007-3-Das Gerüst des Menschen]]<br />
* '''Todd, Mabel Elsworth (1937):''' The Thinking Body. Reprint. New York: Dance Horizons. ISBN 0-8712-7014-5<br />
* '''Todd, Mabel Elsworth (2017):''' Der Körper denkt mit. 4. unveränderte Auflage. Bern: Hogrefe. ISBN 978-3456858159<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Massen und Zwischenräume]]<br /><br />
[[Stabil und instabil]]<br /><br />
<br />
== Zum Begriff ==<br />
=== Bedeutungsüberblick ===<br />
==== Die Bedeutungen der Begriffe nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ ====<br />
Nach dem Duden Online-Wörterbuch hat '''Knochen''' folgende Bedeutungen: <br><br />
Die Erstbedeutung lautet „a. harter, hauptsächlich aus Kalk bestehender Teil des Skeletts b. Knochen von Schlachttieren c. Knochensubstanz“. Synonyme sind „Gerippe, Skelett; (gehoben) Gebeine; (süddeutsch, österreichisch, schweizerisch) Beine; (salopp) Gräten; (Anatomie) Os“.<br />
<br />
Angeführt werden zusätzlich drei weitere umgangssprachliche Bedeutungen.<br />
<br />
Nach dem Duden Online-Wörterbuch hat '''Muskel''' folgende Bedeutungen:<br><br />
In der Bedeutungsübersicht wird „[an den Knochen angewachsener] Teil des menschlichen und tierischen Körpers, der aus von Bindegewebe umhüllten Fasern besteht und der Bewegung von Gliedmaßen und Körperteilen dient“ angegeben.<br />
<br />
Beide Begriffe werden als kinästhetische Fachbegriffe in ihrer gemeinsprachlichen Erstbedeutung verwendet.<br />
<br />
==== Die Verwendung als kinästhetischer Fachbegriff ==== <br />
„Knochen und Muskeln“ ist seit 1992 ein kinästhetischer Fachbegriff. Im Konzeptsystem bezeichnet er das erste Unterthema des Konzeptes der funktionalen Anatomie. Das Begriffspaar betrifft eine spezifische subjektiv erfahrbare Unterscheidung, die zur Sensibilisierung und Fokussierung der Bewegungswahrnehmung sowie zur Analyse von alltäglichen Aktivitäten benutzt wird. Diese Unterscheidung beruht auf den gegensätzlichen Eigenschaften von Knochen (stabil) und Muskeln (veränderlich) und ihren entsprechenden Grundfunktionen des Tragens bzw. Weiterleiten des Gewichts der Körperteile (Knochen) und der Veränderung der Beziehung der Knochen untereinander (Muskeln). Dieses Zusammenspiel ist von grundlegender Bedeutung für die Organisation des Körpergewichts in der Schwerkraft.<br />
<br />
Als kinästhetischer Fachbegriff wird „Knochen und Muskeln“ ausgehend von den gemeinsprachlichen bzw. anatomischen Bedeutungen spezifisch definiert verwendet.<br />
<br />
=== Herkunft ===<br />
Nach dem Duden Herkunftswörterbuch ist das Wort '''Knochen''' seit dem 14. Jahrhundert bezeugt und hat das geläufige „Bein“ im Sinne von „Knochen“ verdrängt. Mittelhochdeutsch ''knoche'' „drücken, pressen“ u. a. wurden aus einem ursprünglich lautmalenden Verb ''knochen'', das mit „knacken“ verwandt ist (vgl. englisch ''to knock''), gebildet. Knochen sind also ursprünglich das, womit man anstößt oder gegen etwas schlägt.<br />
<br />
Ableitungen sind „Knöchel“, „knöchern“, „verknöchern“, „verknöchert“ und „knochig“.<br />
<br />
Nach dem Duden Herkunftswörterbuch ist das Wort '''Muskel''' seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts bezeugt und bezeichnet die fleischigen Teile des tierischen oder menschlichen Körpers, die durch An- und Entspannung Bewegung ermöglichen. Das Wort ist aus lateinisch ''musculus'' „Muskel“ entlehnt, ursprünglich eine Verkleinerungsbildung „Mäuschen“ zu lateinisch ''mus'' „Maus“. Die Bedeutungsübertragung beruht vielleicht auf dem Vergleich eines unter der Haut zuckenden Muskels mit den Bewegungen eines Mäuschens und findet sich z. B. auch in griechisch ''mys'' „Maus, Muskel“ oder in umgangssprachlicher Verwendung. <br />
<br />
Ableitungen sind „muskulös“, „Muskulatur“ und der medizinische Fachbegriff „muskulär“.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Konzeptsystem]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Datei:Lq-2007-3-Das_Ger%C3%BCst_des_Menschen.pdf&diff=4872
Datei:Lq-2007-3-Das Gerüst des Menschen.pdf
2023-12-18T10:55:39Z
<p>Lutz Zierbeck: </p>
<hr />
<div></div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Knochen_und_Muskeln&diff=4871
Knochen und Muskeln
2023-12-18T10:47:14Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Weiterführende Literatur */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|vorläufig abgeschlossen|Lutz Zierbeck/Joachim Reif}}<br />
<br />
<br />
'''''Zusammenfassung:'''''<br><br />
Dieser Artikel behandelt die aktuelle Verwendung des kinästhetischen Fachbegriffes „Knochen und Muskeln“ in ausgewählter Fachliteratur. Ebenso wird die Geschichte des Fachbegriffes mit Literaturzitaten dargestellt. Auf Erfahrungsberichte, die die Verwendung des Begriffes in der Praxis illustrieren, wird verwiesen. Abschließend werden die begrifflichen Aspekte des Themas dargestellt.<br />
<br />
== Aktuelle Verwendung des Fachbegriffs == <br />
[[Datei:Knochen-und-Muskeln.png|mini|rechts]]<br />
=== „Knochen und Muskeln“ in „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
==== Die Einbettung von „Knochen und Muskeln“ im Konzept „Funktionale Anatomie“ ====<br />
Im Buch „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ bezeichnet die Unterscheidung von Knochen und Muskeln das erste Unterthema des zweiten Konzepts „Funktionale Anatomie“. Damit wird ein in der [[1.-Person-Methode]] subjektiv erfahrbares Grundmuster im menschlichen Körper benannt, das in einem funktionalen Zusammenspiel von stabilen und instabilen Eigenschaften des Körpers besteht. Dabei wird darauf hingewiesen, dass die Form die Funktion und umgekehrt die Funktion die Form beeinflusst<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2018):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 19.</ref>. Die Struktur der Knochen und Muskeln beeinflusst somit die menschlichen Bewegungsmöglichkeiten in alltäglichen Aktivitäten und umgekehrt beeinflussen die lebenslangen Bewegungsgewohnheiten, die Art und Weise, wie wir die Knochen und Muskeln im Alltag nutzen, ihre Struktur. Die Unterscheidung zwischen Knochen und Muskeln dient in [[Bewegungserfahrung|Bewegungserfahrungen]] zur Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung.<br />
<br />
==== Die Knochen und ihre Eigenschaften und Funktionen ====<br />
Die in der Bewegung leicht erfahrbaren und wahrnehmbaren Eigenschaften der Knochen werden mit den Worten „hart, stabil und robust“ <ref>ebd., S. 20</ref> charakterisiert. In funktionaler Hinsicht bilden die Knochen ein formgebendes Gerüst des Körpers und ermöglichen Stabilität und Halt. Sie tragen das Körpergewicht oder leiten es zu einer Unterstützungsfläche weiter. <br />
<br />
==== Die Muskeln und ihre Eigenschaften und Funktionen ====<br />
Muskeln werden als weich und instabil erfahrbar im entspannten Zustand und als veränderbar durch Anspannung und Entspannung beschrieben. Ihre Funktionen sind die Erhaltung oder Veränderung der Stellung der Knochen zueinander, damit es möglich wird, das Körpergewicht über Knochen abzuleiten. Die Eigenschaft der Veränderbarkeit und Beweglichkeit nimmt ab, wenn Muskeln Gewicht tragen, weil sie dann angespannt, hart und stabil werden<ref>ebd., S. 20</ref>. Es liegt nahe, dass dieser Umstand eine bedeutende Auswirkung auf die Qualität der Bewegung hat.<br />
<br />
==== Das funktional angepasste Zusammenspiel von Knochen und Muskeln ====<br />
Aus dem Blickwinkel von „Knochen und Muskeln“ zeigt sich die Qualität der Bewegung darin, dass die Muskeln hauptsächlich das Abgeben und Weiterleiten des Körpergewichts über die Knochen unterstützen und sonst möglichst entspannt und beweglich bleiben<ref>ebd., S. 20</ref>.<br />
<br />
==== Vorder- und Rückseiten ====<br />
Im zweiten Konzept „Funktionale Anatomie“ wird im abschließenden Unterthema „Orientierung“ die erfahrbare Unterscheidung der Vorder- und Rückseiten thematisiert. Die funktionalen Rückseiten werden u. a. als „knochig“ charakterisiert und als Seiten, bei denen „Knochen ziemlich direkt und großflächig unter der Haut“ <ref>ebd., S. 28</ref> liegen. Andererseits wird zwischen Beuge- und Streckmuskeln bezüglich ihrer Anordnung und ihrer Eigenschaften unterschieden. Die Streckmuskeln sind hauptsächlich auf den funktionalen Rückseiten zu finden. In funktionaler Hinsicht sind sie besser dazu geeignet, Gewicht zu tragen oder abzugeben. Die Beugemuskeln liegen hauptsächlich auf den funktionalen Vorderseiten. Sie sind in funktionaler Hinsicht eher dazu geeignet, Gewicht auf Rückseiten zu leiten und die Anpassung der Gewichtsorganisation zu gestalten<ref>ebd., S. 28</ref>. <br />
<br />
==== Die Bedeutung der Knochen oder Muskeln bei weiteren Konzeptthemen ====<br />
Knochen oder Muskeln werden in anderen Konzepten unterschiedlich thematisiert. Es fällt auf, dass sich die Unterscheidung „Massen und Zwischenräumen“ textlich deutlich als Unterbau von folgenden Konzeptthemen fortsetzt, weniger aber „Knochen und Muskeln“. Hingegen tauchen die beiden Begriffe in der gemeinsprachlichen bzw. physiologischen Bedeutung in unterschiedlichen Zusammenhängen auf.<br />
<br />
Im ersten Konzept „Interaktion“ werden im zweiten Unterthema „Bewegungselemente“ u. a. Knochen und Muskeln unter dem Stichwort des inneren Raums als formgebend für den Bewegungsraum im Körper genannt, die Menge der eingesetzten Muskelkraft als Kriterium der inneren Anstrengung<ref>ebd., S. 14</ref>. <br />
<br />
Im Konzept „Funktionale Anatomie“, wird im Unterthema „Massen und Zwischenräume“ auf die Knochenstrukturen der zentralen Massen verwiesen, die Hohlräume für die inneren Organe bilden, und desgleichen darauf, dass Muskeln ein Kennzeichen für Zwischenräume sind<ref>ebd., S. 21</ref>. <br />
<br />
Im gleichen Konzept sind im Unterthema „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“ zur Erläuterung Grafiken aller menschlichen Knochen eingefügt, die bei der Identifizierung dieser Bewegungsebenen helfen. <br />
<br />
Auch auf die Muskeln wird verschiedentlich Bezug genommen: In der Einleitung zum dritten Konzept „Menschliche Bewegung“ wird die Bedeutung des Begriffs Bewegung in der Kinästhetik erläutert und dabei „die andauernde aktive Muskelarbeit zur Gewichtsorganisation der Körperteile“ <ref>ebd., S. 31</ref> genannt, dies neben den unwillkürlichen und willkürlichen Bewegungen. Das Zusammenspiel von „Knochen und Muskeln“ spielt bei der Gewichtsorganisation eine zentrale Rolle (vgl. oben).<br />
<br />
=== „Knochen und Muskeln“ in „Kinaesthetics Infant Handling“ ===<br />
In diesem Standardwerk von Lenny Maietta (1950–2018) und Frank Hatch (*1940), in dem das Kind und seine Entwicklung ins Zentrum gestellt wird, werden Knochen und Muskeln mehrfach thematisiert. So im Kapitel 3.5 „Theorien zur Gesundheitsentwicklung“, wo im Unterkapitel 3.5.1.1 „Metabolische Felder“<ref>'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2004):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. Bern [u. a.]: H. Huber. ISBN 3-456-83310-5. S. 44 ff.</ref> diesbezügliche Theorien von Erich Blechschmidt (1904–1992) zur embryonalen Entwicklung dargestellt werden. <br />
Nicht nur die Eigenschaften und Aufgaben von Knochen und Muskeln werden im Kapitel 4.4 „Funktionelle Anatomie“, Unterkapitel 4.4.1 „Muskeln und Knochen“ in weitgehender Übereinstimmung mit den oben dargestellten Inhalten aufgeführt. Der Fokus des Zusammenspiels der beiden Strukturen wird durch den Hinweis auf das „Skelett-Muskel-System“<ref>ebd., S. 86</ref> deutlich und durch die Aussage illustriert: „Muskeln und Knochen gewährleisten im Zusammenspiel unsere Bewegungsmöglichkeiten.“<ref>ebd., S. 87</ref> Im Zusammenhang mit erwachsenen Menschen wird auch vom „Knochen-Muskel-Apparat"<ref>ebd., S. 87</ref> gesprochen, ein weiterer Beleg für die Verwendung und Bedeutung des entsprechenden kinästhetischen Fachbegriffs.<br />
<br />
=== Kommentare, Auswertung und offene Fragen ===<br />
Der Umgang mit der eigenen Anatomie ist höchst individuell und steht in einer Wechselwirkung mit der Kompetenz, sein Körpergewicht in der Schwerkraft organisieren zu können. Um diese Kompetenz genauer zu verstehen, wird die Achtung auf das Zusammenspiel von verschiedenen Körperteilen oder -strukturen gelenkt. Ein einfach erfahrbares Beispiel dafür ist das Zusammenspiel zwischen den stabilen Knochen und den instabilen Muskeln. Vereinfacht ausgedrückt sind Knochen aufgrund ihrer Stabilität (Eigenschaft) gut geeignet, Gewicht auf eine Unterstützungsfläche abzugeben (Funktion). Muskeln sind aufgrund ihrer Instabilität im Sinne der Veränderlichkeit (Eigenschaft) gut geeignet, den Körper oder Teile davon in Bewegung zu versetzen (Funktion). Sie können auch Gewicht tragen oder festhalten, indem sie ihre Spannung erhöhen. Je mehr Gewicht durch die Muskulatur getragen und nicht über Knochen auf die Unterstützungsfläche abgegeben wird, desto höher ist die Spannung der Muskulatur. Dies wirkt sich gemäß den Forschungen von Weber und Fechner einschränkend auf eine differenzierte Wahrnehmung der eigenen Muskelspannung aus und somit auf die Beweglichkeit aus. Diese Zusammenhänge intuitiv und auch kognitiv zu verstehen und gezielt wahrnehmen und anpassen zu können, ist ein wichtiger Schritt, um die eigene Bewegungskompetenz bewusst weiterzuentwickeln.<br />
Im Kontext der Unterstützung eines Menschen mit Bewegungseinschränkungen spielt die Beobachtung und Wahrnehmung der Gewichtsorganisation eine wichtige Rolle. Traditionell wird Hilfe bei Aktivitäten wie z. B. beim Aufstehen vom Stuhl oder Bett so gestaltet, dass die helfende Person Gewicht der sitzenden Person übernimmt und mit ihrem eigenen Körper „trägt“. Die Folgen für die unterstützende Person können dabei in Richtung Überlastung gehen. Die Folgen für die unterstützte Person können in Richtung Kompetenzeinschränkung gehen, weil durch diese Art der Unterstützung die Möglichkeiten zum Üben und dadurch Aufrechterhalten oder Entwickeln ihrer Kompetenzen wegfallen. <br />
Die Selbst- und Außenwahrnehmung des Zusammenspiels von Knochen und Muskeln bei beiden Beteiligten in dieser Hilfestellung kann Möglichkeiten finden helfen, wie das Gewicht mehr über Knochen geleitet werden kann. So besteht für die unterstützte Person die Chance, dass sie auch bei einer Schwäche der Muskulatur lernt, ihr eigenes Körpergewicht selber zu organisieren. <br />
Im Kontext der Entwicklung der persönlichen Bewegungskompetenz im Alltag nimmt das Zusammenspiel von „Knochen und Muskeln“ ebenso eine wichtige Rolle ein. Konkret verhilft die Achtung auf die eigene Gewichtsorganisation z. B. bei längeren sitzenden Tätigkeiten zu einer bewussten und funktional angepassten Gestaltung dieser Aktivität.<br />
<br />
== Geschichte des Fachbegriffs ==<br />
<br />
=== Knochen und Muskeln im 16. Kinästhetik-Bulletin von 1990 ===<br />
==== Einleitung ====<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 werden im Kapitel 4 „Grundprinzipien“ die Themen aufgeführt, die in der Kinästhetik benützt werden „um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben“<ref>'''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 12</ref>. Es handelt sich um die erste Beschreibung von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. So werden zu diesem Zeitpunkt nur schon die einzelnen Prinzipien – die heutigen Konzepte, soweit sie vorhanden sind – in einer anderen Reihenfolge vorgestellt und tragen teilweise andere Namen als heute.<br />
<br />
==== Beuge- und Streckmuskeln ====<br />
Ein erster Bezug zum heutigen Konzeptsystem (vgl. oben „Vorder- und Rückseiten“) findet sich im Unterkapitel 4.2 „Orientierung im Körper“. Hier werden die Unterschiede zwischen vorne und hinten am Körper durch die Muskelfunktionen erläutert: Vorne liegen die Beugemuskeln, die die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt wahrnehmen, hinten die Streckmuskeln, die verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht sind<ref>ebd., S. 15–16</ref>.<br />
<br />
==== Die Beziehung zwischen Muskeln und Skelett ====<br />
Das vierte Grundprinzip wird mit „Anatomische Grundlagen“ überschrieben und stellt einige Themen des heutigen zweiten Konzepts „Funktionale Anatomie“ dar. Im ersten Unterkapitel „Bewegungsapparat“ wird ausgeführt, in welcher Beziehung Muskeln und Skelett stehen: „Das Muskelsystem und das Skelett sind die beiden Systeme, welche in erster Linie an den Bewegungen des Menschen beteiligt sind. Das Skelett, das heisst die Knochen, sind die harten ‚starken‘ Teile in unserem Körper. Ihre hauptsächliche Aufgabe ist es, unser Gewicht zu tragen.<br />
Die Muskeln sind der weiche, ,fleischige‘ Teil des Bewegungsapparates. Im Gegensatz zur gängigen Vorstellung sind sie nicht gebaut, um ‚stark‘ und hart zu sein. Ihre Qualität ist die Flexibilität. Sie haben die Aufgabe, die Knochen so zu bewegen und in Position zueinander zu bringen, dass wir bestimmte Tätigkeiten ausführen können. Voraussetzung dazu ist, dass die Muskelspannung zwischen rückwärtiger und vorderseitiger Muskulatur ausgeglichen ist.“<ref>ebd., S. 19</ref> Ganz ähnlich wie heute werden Eigenschaften und Funktionen unterschieden; die Leitbegriffe sind allerdings unterschiedlich: Das übergeordnete Thema ist der Bewegungsapparat bzw. die Beziehung zwischen Muskeln und Skelett. Das Skelett wird textlich aber bereits mit Knochen gleichgesetzt.<br />
<br />
==== Bewegungsebenen ====<br />
Im 16. Kinästhetik-Bulletin ist das Thema „Haltungs- und Transportbewegung“, das erste Unterthema des heutigen dritten Konzeptes „Menschliche Bewegung“, der abschließende Teil des vierten Grundprinzips „Anatomische Grundlagen“. Daher wird im Kapitel 4.4.3 die Anatomie der Knochen bzw. Gelenke mit den Begriffen „Bewegung in einer Richtung“ und „Bewegung in viele Richtungen“ <ref>ebd., S. 21 f.</ref> unterschieden. Sie werden einzeln aufgelistet und als Haltungs- oder Transportbewegungsebenen bezeichnet. Im Gegensatz zu heute werden sie direkt mit den Haltungs- und Transportbewegungen verbunden.<br />
<br />
==== Funktionen ====<br />
Im fünften Grundprinzip „Funktionen“ wird im Kapitel 4.5.2 “7 Grundpositionen“ die Aufgabe von Knochen und Muskeln kurz zusammengefasst: „Die Knochen tragen das Gewicht, die Muskeln bewegen die Knochen.“ <ref>ebd., S. 23</ref> Weiter heißt es: „Die 7 Grundpositionen können ohne grosse Muskelanstrengung gehalten werden. D. h. die Knochen tragen das Gewicht, welches wiederum durch die grossen Massen (Punkt 4.4.2.) in Richtung Boden fällt. Dadurch haben die Muskeln freien Spielraum, um mit der Umgebung in Beziehung zu treten.“<ref>ebd., S. 23</ref> Im Folgenden wird mehrfach im Zusammenhang mit den verschiedenen Grundpositionen auf die Aufgabe der Knochen verwiesen, Gewicht zu tragen. Dies geschieht ebenfalls im Kapitel 4.5.3. „Fortbewegung“<ref>ebd., S. 25</ref>.<br />
<br />
==== Entwicklungsbewegung ====<br />
Im Kapitel 4.5.4 „Entwicklungsbewegung“ wird die Forschungsarbeit des Humanembryologen Erich Blechschmidt erwähnt und auf seine Theorien zur embryonalen Entwicklung von Knochen und Muskeln hingewiesen<ref>ebd., S. 26</ref>.<br />
<br />
==== Anwendungen ====<br />
Im Kapitel 5 „Anwendungen“, Unterkapitel 5.1 „Kinästhetik in der Rehabilitation (Physiotherapie, Ergotherapie)“ wird das differenzierte Kennenlernen der Knochen und Gelenke im eigenen Körper in einer funktionellen Art und Weise als Lernsituation im Unterschied zu einer Behandlungssituation beschrieben. <br />
Anhand eines konkreten Patientenbeispiels wird aufgezeigt, wie die Perspektive „Knochen tragen das Gewicht“ als Blickwinkel genutzt werden kann, um die Anstrengung bei der Bewegung zu reduzieren<ref>ebd., S. 35</ref>. <br />
<br />
Kapitel 5.3 „Kinästhetik in der Krankenpflege“ wird unter der Überschrift „Information statt Anstrengung“ <ref>ebd., S. 47</ref>das Bewegen und Umlagern von PatientInnen durch Krankenschwestern und PflegerInnen thematisiert. Dabei spielt neben dem gemeinsamen Tun von Pflegenden und PatientInnen die Perspektive „Gewicht über Knochen leiten“ eine wichtige Rolle, um mit minimaler Anstrengung zum Ziel zu kommen.<br />
<br />
=== Das erste Auftreten des Begriffspaars „Knochen und Muskeln“ ===<br />
„Kinästhetik. Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Krankenpflege“ war 1992 die erste Veröffentlichung in Buchform über Kinästhetik. Hier wird zum ersten Mal „Knochen und Muskeln“ im Sinne eines kinästhetischen Fachbegriffes verwendet<ref>'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny; Schmidt, Suzanne (1992)''': Kinästhetik. Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Krankenpflege. 1. Auflage. Eschborn: Deutscher Verband für Pflegeberufe. ISBN 3-927944-02-5. S. 39.</ref>. Neben der Beschreibung der unterschiedlichen Eigenschaften und Aufgaben für die Bewegung wird das Zusammenspiel beider Strukturen thematisiert: „Durch die Funktion der Muskeln wird das Skelett derart organisiert, dass es das Gewicht tragen kann. Muskeln selbst können nur wenig Gewicht tragen.“<ref>ebd., S. 39</ref><br />
Seitdem lässt sich das Thema des Zusammenspiels von Knochen und Muskeln in vielen Veröffentlichungen wiederfinden und ist hilfreich zum Formulieren von Blickwinkeln zur differenzierten Beobachtung und Variation von Bewegung.<br />
<br />
== Erfahrungsberichte ==<br />
* '''Fürniß, Silke (2017):''' Die Reise in meinen Körper. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2017, Nr. 3. &nbsp;S. 28–33.<br><br />
Die Autorin beschreibt ihren Prozess der Auseinandersetzung mit der eigenen Anatomie während der Ausbildung zur Kinaesthetics-Trainerin Stufe 1. Dabei entstand ein Kunstwerk auf Papier, das die Erfahrungen mit der genauen Beobachtung des Körpers und einiger seiner Funktionen festhält. Es trägt den Titel „22 Stunden Ich“. <br>Zum Artikel:<br />
[[Medium:Fürniss, Die Reise in meinen Körper.pdf|Die Reise in meinen Körper]]<br />
<br />
* '''Höppner, Gundula; Lilienkamp, Michael (2007):''' Vom Für zum Mit. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2007, Nr. 4. <br>S. 10–15.<br />
In einem Erfahrungsbericht über die Implementierung von Kinästhetik in einer großen Einrichtung für Menschen mit Mehrfachbehinderungen wird das Zusammenspiel von Knochen und Muskeln in einer konkreten Situation geschildert. Eine Mitarbeiterin entdeckt während eines Aufbaukurses das Thema für sich und nutzt es, um mit einer Bewohnerin einen Lernprozess zur Kompetenzentwicklung im Bereich Gewichtsorganisation zu entwickeln. <br>Zum Artikel: [[Medium:Höppner, Lilienkamp, Vom Für zum Mit.pdf|Vom Für zum Mit]]<br />
<br />
== Weiterführende Literatur ==<br />
* '''Enke, Axel (2023):''' Knochen. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2023, Nr. 1. &nbsp;S. 48 - 54.<br><br />
* '''Enke, Axel (2023):''' Gelenke - das Verbindende. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2023, Nr. 2. &nbsp;S. 50 - 55.<br><br />
Der dritte Artikel "Muskeln" ist zur Zeit (Dezember 2023) noch nicht erschienen. <br />
<br />
Axel Enke setzt sich in einer dreiteiligen Artikelserie mit dem hochkomplexen Bewegungssystem auseinander, das erheblich spannender ist als ein simples Zusammenspiel von Knochen und Muskeln. Er zeigt auf, dass viele Akteure innerhalb des Körpers in einem zirkulär geregelten Prozess gemeinsam das wahrnehmbare Verlagern von Gewicht bewerkstelligen und leitet daraus Metaphern ab für die zwischenmenschliche Interaktion. <br>Zum Artikel 1:<br />
[[Medium:Lq-2023-1-Knochen.pdf|Knochen]] <br>Zum Artikel 2:<br />
[[Medium:Lq-2023-2-Gelenke - das Verbindende.pdf|Gelenke - das Verbindende]]<br />
<br />
* '''Graham, John (2007):''' Das Gerüst des Menschen. In: lebensqualität. Das Journal für Kinaesthetics. 2007, Nr. 3. S.&nbsp;22-24.<br />
* '''Todd, Mabel Elsworth (1937):''' The Thinking Body. Reprint. New York: Dance Horizons. ISBN 0-8712-7014-5<br />
* '''Todd, Mabel Elsworth (2017):''' Der Körper denkt mit. 4. unveränderte Auflage. Bern: Hogrefe. ISBN 978-3456858159<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Massen und Zwischenräume]]<br /><br />
[[Stabil und instabil]]<br /><br />
<br />
== Zum Begriff ==<br />
=== Bedeutungsüberblick ===<br />
==== Die Bedeutungen der Begriffe nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ ====<br />
Nach dem Duden Online-Wörterbuch hat '''Knochen''' folgende Bedeutungen: <br><br />
Die Erstbedeutung lautet „a. harter, hauptsächlich aus Kalk bestehender Teil des Skeletts b. Knochen von Schlachttieren c. Knochensubstanz“. Synonyme sind „Gerippe, Skelett; (gehoben) Gebeine; (süddeutsch, österreichisch, schweizerisch) Beine; (salopp) Gräten; (Anatomie) Os“.<br />
<br />
Angeführt werden zusätzlich drei weitere umgangssprachliche Bedeutungen.<br />
<br />
Nach dem Duden Online-Wörterbuch hat '''Muskel''' folgende Bedeutungen:<br><br />
In der Bedeutungsübersicht wird „[an den Knochen angewachsener] Teil des menschlichen und tierischen Körpers, der aus von Bindegewebe umhüllten Fasern besteht und der Bewegung von Gliedmaßen und Körperteilen dient“ angegeben.<br />
<br />
Beide Begriffe werden als kinästhetische Fachbegriffe in ihrer gemeinsprachlichen Erstbedeutung verwendet.<br />
<br />
==== Die Verwendung als kinästhetischer Fachbegriff ==== <br />
„Knochen und Muskeln“ ist seit 1992 ein kinästhetischer Fachbegriff. Im Konzeptsystem bezeichnet er das erste Unterthema des Konzeptes der funktionalen Anatomie. Das Begriffspaar betrifft eine spezifische subjektiv erfahrbare Unterscheidung, die zur Sensibilisierung und Fokussierung der Bewegungswahrnehmung sowie zur Analyse von alltäglichen Aktivitäten benutzt wird. Diese Unterscheidung beruht auf den gegensätzlichen Eigenschaften von Knochen (stabil) und Muskeln (veränderlich) und ihren entsprechenden Grundfunktionen des Tragens bzw. Weiterleiten des Gewichts der Körperteile (Knochen) und der Veränderung der Beziehung der Knochen untereinander (Muskeln). Dieses Zusammenspiel ist von grundlegender Bedeutung für die Organisation des Körpergewichts in der Schwerkraft.<br />
<br />
Als kinästhetischer Fachbegriff wird „Knochen und Muskeln“ ausgehend von den gemeinsprachlichen bzw. anatomischen Bedeutungen spezifisch definiert verwendet.<br />
<br />
=== Herkunft ===<br />
Nach dem Duden Herkunftswörterbuch ist das Wort '''Knochen''' seit dem 14. Jahrhundert bezeugt und hat das geläufige „Bein“ im Sinne von „Knochen“ verdrängt. Mittelhochdeutsch ''knoche'' „drücken, pressen“ u. a. wurden aus einem ursprünglich lautmalenden Verb ''knochen'', das mit „knacken“ verwandt ist (vgl. englisch ''to knock''), gebildet. Knochen sind also ursprünglich das, womit man anstößt oder gegen etwas schlägt.<br />
<br />
Ableitungen sind „Knöchel“, „knöchern“, „verknöchern“, „verknöchert“ und „knochig“.<br />
<br />
Nach dem Duden Herkunftswörterbuch ist das Wort '''Muskel''' seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts bezeugt und bezeichnet die fleischigen Teile des tierischen oder menschlichen Körpers, die durch An- und Entspannung Bewegung ermöglichen. Das Wort ist aus lateinisch ''musculus'' „Muskel“ entlehnt, ursprünglich eine Verkleinerungsbildung „Mäuschen“ zu lateinisch ''mus'' „Maus“. Die Bedeutungsübertragung beruht vielleicht auf dem Vergleich eines unter der Haut zuckenden Muskels mit den Bewegungen eines Mäuschens und findet sich z. B. auch in griechisch ''mys'' „Maus, Muskel“ oder in umgangssprachlicher Verwendung. <br />
<br />
Ableitungen sind „muskulös“, „Muskulatur“ und der medizinische Fachbegriff „muskulär“.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Konzeptsystem]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Knochen_und_Muskeln&diff=4870
Knochen und Muskeln
2023-12-18T10:45:57Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Erfahrungsberichte */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|vorläufig abgeschlossen|Lutz Zierbeck/Joachim Reif}}<br />
<br />
<br />
'''''Zusammenfassung:'''''<br><br />
Dieser Artikel behandelt die aktuelle Verwendung des kinästhetischen Fachbegriffes „Knochen und Muskeln“ in ausgewählter Fachliteratur. Ebenso wird die Geschichte des Fachbegriffes mit Literaturzitaten dargestellt. Auf Erfahrungsberichte, die die Verwendung des Begriffes in der Praxis illustrieren, wird verwiesen. Abschließend werden die begrifflichen Aspekte des Themas dargestellt.<br />
<br />
== Aktuelle Verwendung des Fachbegriffs == <br />
[[Datei:Knochen-und-Muskeln.png|mini|rechts]]<br />
=== „Knochen und Muskeln“ in „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
==== Die Einbettung von „Knochen und Muskeln“ im Konzept „Funktionale Anatomie“ ====<br />
Im Buch „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ bezeichnet die Unterscheidung von Knochen und Muskeln das erste Unterthema des zweiten Konzepts „Funktionale Anatomie“. Damit wird ein in der [[1.-Person-Methode]] subjektiv erfahrbares Grundmuster im menschlichen Körper benannt, das in einem funktionalen Zusammenspiel von stabilen und instabilen Eigenschaften des Körpers besteht. Dabei wird darauf hingewiesen, dass die Form die Funktion und umgekehrt die Funktion die Form beeinflusst<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2018):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 19.</ref>. Die Struktur der Knochen und Muskeln beeinflusst somit die menschlichen Bewegungsmöglichkeiten in alltäglichen Aktivitäten und umgekehrt beeinflussen die lebenslangen Bewegungsgewohnheiten, die Art und Weise, wie wir die Knochen und Muskeln im Alltag nutzen, ihre Struktur. Die Unterscheidung zwischen Knochen und Muskeln dient in [[Bewegungserfahrung|Bewegungserfahrungen]] zur Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung.<br />
<br />
==== Die Knochen und ihre Eigenschaften und Funktionen ====<br />
Die in der Bewegung leicht erfahrbaren und wahrnehmbaren Eigenschaften der Knochen werden mit den Worten „hart, stabil und robust“ <ref>ebd., S. 20</ref> charakterisiert. In funktionaler Hinsicht bilden die Knochen ein formgebendes Gerüst des Körpers und ermöglichen Stabilität und Halt. Sie tragen das Körpergewicht oder leiten es zu einer Unterstützungsfläche weiter. <br />
<br />
==== Die Muskeln und ihre Eigenschaften und Funktionen ====<br />
Muskeln werden als weich und instabil erfahrbar im entspannten Zustand und als veränderbar durch Anspannung und Entspannung beschrieben. Ihre Funktionen sind die Erhaltung oder Veränderung der Stellung der Knochen zueinander, damit es möglich wird, das Körpergewicht über Knochen abzuleiten. Die Eigenschaft der Veränderbarkeit und Beweglichkeit nimmt ab, wenn Muskeln Gewicht tragen, weil sie dann angespannt, hart und stabil werden<ref>ebd., S. 20</ref>. Es liegt nahe, dass dieser Umstand eine bedeutende Auswirkung auf die Qualität der Bewegung hat.<br />
<br />
==== Das funktional angepasste Zusammenspiel von Knochen und Muskeln ====<br />
Aus dem Blickwinkel von „Knochen und Muskeln“ zeigt sich die Qualität der Bewegung darin, dass die Muskeln hauptsächlich das Abgeben und Weiterleiten des Körpergewichts über die Knochen unterstützen und sonst möglichst entspannt und beweglich bleiben<ref>ebd., S. 20</ref>.<br />
<br />
==== Vorder- und Rückseiten ====<br />
Im zweiten Konzept „Funktionale Anatomie“ wird im abschließenden Unterthema „Orientierung“ die erfahrbare Unterscheidung der Vorder- und Rückseiten thematisiert. Die funktionalen Rückseiten werden u. a. als „knochig“ charakterisiert und als Seiten, bei denen „Knochen ziemlich direkt und großflächig unter der Haut“ <ref>ebd., S. 28</ref> liegen. Andererseits wird zwischen Beuge- und Streckmuskeln bezüglich ihrer Anordnung und ihrer Eigenschaften unterschieden. Die Streckmuskeln sind hauptsächlich auf den funktionalen Rückseiten zu finden. In funktionaler Hinsicht sind sie besser dazu geeignet, Gewicht zu tragen oder abzugeben. Die Beugemuskeln liegen hauptsächlich auf den funktionalen Vorderseiten. Sie sind in funktionaler Hinsicht eher dazu geeignet, Gewicht auf Rückseiten zu leiten und die Anpassung der Gewichtsorganisation zu gestalten<ref>ebd., S. 28</ref>. <br />
<br />
==== Die Bedeutung der Knochen oder Muskeln bei weiteren Konzeptthemen ====<br />
Knochen oder Muskeln werden in anderen Konzepten unterschiedlich thematisiert. Es fällt auf, dass sich die Unterscheidung „Massen und Zwischenräumen“ textlich deutlich als Unterbau von folgenden Konzeptthemen fortsetzt, weniger aber „Knochen und Muskeln“. Hingegen tauchen die beiden Begriffe in der gemeinsprachlichen bzw. physiologischen Bedeutung in unterschiedlichen Zusammenhängen auf.<br />
<br />
Im ersten Konzept „Interaktion“ werden im zweiten Unterthema „Bewegungselemente“ u. a. Knochen und Muskeln unter dem Stichwort des inneren Raums als formgebend für den Bewegungsraum im Körper genannt, die Menge der eingesetzten Muskelkraft als Kriterium der inneren Anstrengung<ref>ebd., S. 14</ref>. <br />
<br />
Im Konzept „Funktionale Anatomie“, wird im Unterthema „Massen und Zwischenräume“ auf die Knochenstrukturen der zentralen Massen verwiesen, die Hohlräume für die inneren Organe bilden, und desgleichen darauf, dass Muskeln ein Kennzeichen für Zwischenräume sind<ref>ebd., S. 21</ref>. <br />
<br />
Im gleichen Konzept sind im Unterthema „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“ zur Erläuterung Grafiken aller menschlichen Knochen eingefügt, die bei der Identifizierung dieser Bewegungsebenen helfen. <br />
<br />
Auch auf die Muskeln wird verschiedentlich Bezug genommen: In der Einleitung zum dritten Konzept „Menschliche Bewegung“ wird die Bedeutung des Begriffs Bewegung in der Kinästhetik erläutert und dabei „die andauernde aktive Muskelarbeit zur Gewichtsorganisation der Körperteile“ <ref>ebd., S. 31</ref> genannt, dies neben den unwillkürlichen und willkürlichen Bewegungen. Das Zusammenspiel von „Knochen und Muskeln“ spielt bei der Gewichtsorganisation eine zentrale Rolle (vgl. oben).<br />
<br />
=== „Knochen und Muskeln“ in „Kinaesthetics Infant Handling“ ===<br />
In diesem Standardwerk von Lenny Maietta (1950–2018) und Frank Hatch (*1940), in dem das Kind und seine Entwicklung ins Zentrum gestellt wird, werden Knochen und Muskeln mehrfach thematisiert. So im Kapitel 3.5 „Theorien zur Gesundheitsentwicklung“, wo im Unterkapitel 3.5.1.1 „Metabolische Felder“<ref>'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2004):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. Bern [u. a.]: H. Huber. ISBN 3-456-83310-5. S. 44 ff.</ref> diesbezügliche Theorien von Erich Blechschmidt (1904–1992) zur embryonalen Entwicklung dargestellt werden. <br />
Nicht nur die Eigenschaften und Aufgaben von Knochen und Muskeln werden im Kapitel 4.4 „Funktionelle Anatomie“, Unterkapitel 4.4.1 „Muskeln und Knochen“ in weitgehender Übereinstimmung mit den oben dargestellten Inhalten aufgeführt. Der Fokus des Zusammenspiels der beiden Strukturen wird durch den Hinweis auf das „Skelett-Muskel-System“<ref>ebd., S. 86</ref> deutlich und durch die Aussage illustriert: „Muskeln und Knochen gewährleisten im Zusammenspiel unsere Bewegungsmöglichkeiten.“<ref>ebd., S. 87</ref> Im Zusammenhang mit erwachsenen Menschen wird auch vom „Knochen-Muskel-Apparat"<ref>ebd., S. 87</ref> gesprochen, ein weiterer Beleg für die Verwendung und Bedeutung des entsprechenden kinästhetischen Fachbegriffs.<br />
<br />
=== Kommentare, Auswertung und offene Fragen ===<br />
Der Umgang mit der eigenen Anatomie ist höchst individuell und steht in einer Wechselwirkung mit der Kompetenz, sein Körpergewicht in der Schwerkraft organisieren zu können. Um diese Kompetenz genauer zu verstehen, wird die Achtung auf das Zusammenspiel von verschiedenen Körperteilen oder -strukturen gelenkt. Ein einfach erfahrbares Beispiel dafür ist das Zusammenspiel zwischen den stabilen Knochen und den instabilen Muskeln. Vereinfacht ausgedrückt sind Knochen aufgrund ihrer Stabilität (Eigenschaft) gut geeignet, Gewicht auf eine Unterstützungsfläche abzugeben (Funktion). Muskeln sind aufgrund ihrer Instabilität im Sinne der Veränderlichkeit (Eigenschaft) gut geeignet, den Körper oder Teile davon in Bewegung zu versetzen (Funktion). Sie können auch Gewicht tragen oder festhalten, indem sie ihre Spannung erhöhen. Je mehr Gewicht durch die Muskulatur getragen und nicht über Knochen auf die Unterstützungsfläche abgegeben wird, desto höher ist die Spannung der Muskulatur. Dies wirkt sich gemäß den Forschungen von Weber und Fechner einschränkend auf eine differenzierte Wahrnehmung der eigenen Muskelspannung aus und somit auf die Beweglichkeit aus. Diese Zusammenhänge intuitiv und auch kognitiv zu verstehen und gezielt wahrnehmen und anpassen zu können, ist ein wichtiger Schritt, um die eigene Bewegungskompetenz bewusst weiterzuentwickeln.<br />
Im Kontext der Unterstützung eines Menschen mit Bewegungseinschränkungen spielt die Beobachtung und Wahrnehmung der Gewichtsorganisation eine wichtige Rolle. Traditionell wird Hilfe bei Aktivitäten wie z. B. beim Aufstehen vom Stuhl oder Bett so gestaltet, dass die helfende Person Gewicht der sitzenden Person übernimmt und mit ihrem eigenen Körper „trägt“. Die Folgen für die unterstützende Person können dabei in Richtung Überlastung gehen. Die Folgen für die unterstützte Person können in Richtung Kompetenzeinschränkung gehen, weil durch diese Art der Unterstützung die Möglichkeiten zum Üben und dadurch Aufrechterhalten oder Entwickeln ihrer Kompetenzen wegfallen. <br />
Die Selbst- und Außenwahrnehmung des Zusammenspiels von Knochen und Muskeln bei beiden Beteiligten in dieser Hilfestellung kann Möglichkeiten finden helfen, wie das Gewicht mehr über Knochen geleitet werden kann. So besteht für die unterstützte Person die Chance, dass sie auch bei einer Schwäche der Muskulatur lernt, ihr eigenes Körpergewicht selber zu organisieren. <br />
Im Kontext der Entwicklung der persönlichen Bewegungskompetenz im Alltag nimmt das Zusammenspiel von „Knochen und Muskeln“ ebenso eine wichtige Rolle ein. Konkret verhilft die Achtung auf die eigene Gewichtsorganisation z. B. bei längeren sitzenden Tätigkeiten zu einer bewussten und funktional angepassten Gestaltung dieser Aktivität.<br />
<br />
== Geschichte des Fachbegriffs ==<br />
<br />
=== Knochen und Muskeln im 16. Kinästhetik-Bulletin von 1990 ===<br />
==== Einleitung ====<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 werden im Kapitel 4 „Grundprinzipien“ die Themen aufgeführt, die in der Kinästhetik benützt werden „um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben“<ref>'''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 12</ref>. Es handelt sich um die erste Beschreibung von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. So werden zu diesem Zeitpunkt nur schon die einzelnen Prinzipien – die heutigen Konzepte, soweit sie vorhanden sind – in einer anderen Reihenfolge vorgestellt und tragen teilweise andere Namen als heute.<br />
<br />
==== Beuge- und Streckmuskeln ====<br />
Ein erster Bezug zum heutigen Konzeptsystem (vgl. oben „Vorder- und Rückseiten“) findet sich im Unterkapitel 4.2 „Orientierung im Körper“. Hier werden die Unterschiede zwischen vorne und hinten am Körper durch die Muskelfunktionen erläutert: Vorne liegen die Beugemuskeln, die die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt wahrnehmen, hinten die Streckmuskeln, die verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht sind<ref>ebd., S. 15–16</ref>.<br />
<br />
==== Die Beziehung zwischen Muskeln und Skelett ====<br />
Das vierte Grundprinzip wird mit „Anatomische Grundlagen“ überschrieben und stellt einige Themen des heutigen zweiten Konzepts „Funktionale Anatomie“ dar. Im ersten Unterkapitel „Bewegungsapparat“ wird ausgeführt, in welcher Beziehung Muskeln und Skelett stehen: „Das Muskelsystem und das Skelett sind die beiden Systeme, welche in erster Linie an den Bewegungen des Menschen beteiligt sind. Das Skelett, das heisst die Knochen, sind die harten ‚starken‘ Teile in unserem Körper. Ihre hauptsächliche Aufgabe ist es, unser Gewicht zu tragen.<br />
Die Muskeln sind der weiche, ,fleischige‘ Teil des Bewegungsapparates. Im Gegensatz zur gängigen Vorstellung sind sie nicht gebaut, um ‚stark‘ und hart zu sein. Ihre Qualität ist die Flexibilität. Sie haben die Aufgabe, die Knochen so zu bewegen und in Position zueinander zu bringen, dass wir bestimmte Tätigkeiten ausführen können. Voraussetzung dazu ist, dass die Muskelspannung zwischen rückwärtiger und vorderseitiger Muskulatur ausgeglichen ist.“<ref>ebd., S. 19</ref> Ganz ähnlich wie heute werden Eigenschaften und Funktionen unterschieden; die Leitbegriffe sind allerdings unterschiedlich: Das übergeordnete Thema ist der Bewegungsapparat bzw. die Beziehung zwischen Muskeln und Skelett. Das Skelett wird textlich aber bereits mit Knochen gleichgesetzt.<br />
<br />
==== Bewegungsebenen ====<br />
Im 16. Kinästhetik-Bulletin ist das Thema „Haltungs- und Transportbewegung“, das erste Unterthema des heutigen dritten Konzeptes „Menschliche Bewegung“, der abschließende Teil des vierten Grundprinzips „Anatomische Grundlagen“. Daher wird im Kapitel 4.4.3 die Anatomie der Knochen bzw. Gelenke mit den Begriffen „Bewegung in einer Richtung“ und „Bewegung in viele Richtungen“ <ref>ebd., S. 21 f.</ref> unterschieden. Sie werden einzeln aufgelistet und als Haltungs- oder Transportbewegungsebenen bezeichnet. Im Gegensatz zu heute werden sie direkt mit den Haltungs- und Transportbewegungen verbunden.<br />
<br />
==== Funktionen ====<br />
Im fünften Grundprinzip „Funktionen“ wird im Kapitel 4.5.2 “7 Grundpositionen“ die Aufgabe von Knochen und Muskeln kurz zusammengefasst: „Die Knochen tragen das Gewicht, die Muskeln bewegen die Knochen.“ <ref>ebd., S. 23</ref> Weiter heißt es: „Die 7 Grundpositionen können ohne grosse Muskelanstrengung gehalten werden. D. h. die Knochen tragen das Gewicht, welches wiederum durch die grossen Massen (Punkt 4.4.2.) in Richtung Boden fällt. Dadurch haben die Muskeln freien Spielraum, um mit der Umgebung in Beziehung zu treten.“<ref>ebd., S. 23</ref> Im Folgenden wird mehrfach im Zusammenhang mit den verschiedenen Grundpositionen auf die Aufgabe der Knochen verwiesen, Gewicht zu tragen. Dies geschieht ebenfalls im Kapitel 4.5.3. „Fortbewegung“<ref>ebd., S. 25</ref>.<br />
<br />
==== Entwicklungsbewegung ====<br />
Im Kapitel 4.5.4 „Entwicklungsbewegung“ wird die Forschungsarbeit des Humanembryologen Erich Blechschmidt erwähnt und auf seine Theorien zur embryonalen Entwicklung von Knochen und Muskeln hingewiesen<ref>ebd., S. 26</ref>.<br />
<br />
==== Anwendungen ====<br />
Im Kapitel 5 „Anwendungen“, Unterkapitel 5.1 „Kinästhetik in der Rehabilitation (Physiotherapie, Ergotherapie)“ wird das differenzierte Kennenlernen der Knochen und Gelenke im eigenen Körper in einer funktionellen Art und Weise als Lernsituation im Unterschied zu einer Behandlungssituation beschrieben. <br />
Anhand eines konkreten Patientenbeispiels wird aufgezeigt, wie die Perspektive „Knochen tragen das Gewicht“ als Blickwinkel genutzt werden kann, um die Anstrengung bei der Bewegung zu reduzieren<ref>ebd., S. 35</ref>. <br />
<br />
Kapitel 5.3 „Kinästhetik in der Krankenpflege“ wird unter der Überschrift „Information statt Anstrengung“ <ref>ebd., S. 47</ref>das Bewegen und Umlagern von PatientInnen durch Krankenschwestern und PflegerInnen thematisiert. Dabei spielt neben dem gemeinsamen Tun von Pflegenden und PatientInnen die Perspektive „Gewicht über Knochen leiten“ eine wichtige Rolle, um mit minimaler Anstrengung zum Ziel zu kommen.<br />
<br />
=== Das erste Auftreten des Begriffspaars „Knochen und Muskeln“ ===<br />
„Kinästhetik. Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Krankenpflege“ war 1992 die erste Veröffentlichung in Buchform über Kinästhetik. Hier wird zum ersten Mal „Knochen und Muskeln“ im Sinne eines kinästhetischen Fachbegriffes verwendet<ref>'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny; Schmidt, Suzanne (1992)''': Kinästhetik. Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Krankenpflege. 1. Auflage. Eschborn: Deutscher Verband für Pflegeberufe. ISBN 3-927944-02-5. S. 39.</ref>. Neben der Beschreibung der unterschiedlichen Eigenschaften und Aufgaben für die Bewegung wird das Zusammenspiel beider Strukturen thematisiert: „Durch die Funktion der Muskeln wird das Skelett derart organisiert, dass es das Gewicht tragen kann. Muskeln selbst können nur wenig Gewicht tragen.“<ref>ebd., S. 39</ref><br />
Seitdem lässt sich das Thema des Zusammenspiels von Knochen und Muskeln in vielen Veröffentlichungen wiederfinden und ist hilfreich zum Formulieren von Blickwinkeln zur differenzierten Beobachtung und Variation von Bewegung.<br />
<br />
== Erfahrungsberichte ==<br />
* '''Fürniß, Silke (2017):''' Die Reise in meinen Körper. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2017, Nr. 3. &nbsp;S. 28–33.<br><br />
Die Autorin beschreibt ihren Prozess der Auseinandersetzung mit der eigenen Anatomie während der Ausbildung zur Kinaesthetics-Trainerin Stufe 1. Dabei entstand ein Kunstwerk auf Papier, das die Erfahrungen mit der genauen Beobachtung des Körpers und einiger seiner Funktionen festhält. Es trägt den Titel „22 Stunden Ich“. <br>Zum Artikel:<br />
[[Medium:Fürniss, Die Reise in meinen Körper.pdf|Die Reise in meinen Körper]]<br />
<br />
* '''Höppner, Gundula; Lilienkamp, Michael (2007):''' Vom Für zum Mit. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2007, Nr. 4. <br>S. 10–15.<br />
In einem Erfahrungsbericht über die Implementierung von Kinästhetik in einer großen Einrichtung für Menschen mit Mehrfachbehinderungen wird das Zusammenspiel von Knochen und Muskeln in einer konkreten Situation geschildert. Eine Mitarbeiterin entdeckt während eines Aufbaukurses das Thema für sich und nutzt es, um mit einer Bewohnerin einen Lernprozess zur Kompetenzentwicklung im Bereich Gewichtsorganisation zu entwickeln. <br>Zum Artikel: [[Medium:Höppner, Lilienkamp, Vom Für zum Mit.pdf|Vom Für zum Mit]]<br />
<br />
== Weiterführende Literatur ==<br />
* '''Graham, John (2007):''' Das Gerüst des Menschen. In: lebensqualität. Das Journal für Kinaesthetics. 2007, Nr. 3. S.&nbsp;22-24.<br />
* '''Todd, Mabel Elsworth (1937):''' The Thinking Body. Reprint. New York: Dance Horizons. ISBN 0-8712-7014-5<br />
* '''Todd, Mabel Elsworth (2017):''' Der Körper denkt mit. 4. unveränderte Auflage. Bern: Hogrefe. ISBN 978-3456858159<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Massen und Zwischenräume]]<br /><br />
[[Stabil und instabil]]<br /><br />
<br />
== Zum Begriff ==<br />
=== Bedeutungsüberblick ===<br />
==== Die Bedeutungen der Begriffe nach dem „Duden Online-Wörterbuch“ ====<br />
Nach dem Duden Online-Wörterbuch hat '''Knochen''' folgende Bedeutungen: <br><br />
Die Erstbedeutung lautet „a. harter, hauptsächlich aus Kalk bestehender Teil des Skeletts b. Knochen von Schlachttieren c. Knochensubstanz“. Synonyme sind „Gerippe, Skelett; (gehoben) Gebeine; (süddeutsch, österreichisch, schweizerisch) Beine; (salopp) Gräten; (Anatomie) Os“.<br />
<br />
Angeführt werden zusätzlich drei weitere umgangssprachliche Bedeutungen.<br />
<br />
Nach dem Duden Online-Wörterbuch hat '''Muskel''' folgende Bedeutungen:<br><br />
In der Bedeutungsübersicht wird „[an den Knochen angewachsener] Teil des menschlichen und tierischen Körpers, der aus von Bindegewebe umhüllten Fasern besteht und der Bewegung von Gliedmaßen und Körperteilen dient“ angegeben.<br />
<br />
Beide Begriffe werden als kinästhetische Fachbegriffe in ihrer gemeinsprachlichen Erstbedeutung verwendet.<br />
<br />
==== Die Verwendung als kinästhetischer Fachbegriff ==== <br />
„Knochen und Muskeln“ ist seit 1992 ein kinästhetischer Fachbegriff. Im Konzeptsystem bezeichnet er das erste Unterthema des Konzeptes der funktionalen Anatomie. Das Begriffspaar betrifft eine spezifische subjektiv erfahrbare Unterscheidung, die zur Sensibilisierung und Fokussierung der Bewegungswahrnehmung sowie zur Analyse von alltäglichen Aktivitäten benutzt wird. Diese Unterscheidung beruht auf den gegensätzlichen Eigenschaften von Knochen (stabil) und Muskeln (veränderlich) und ihren entsprechenden Grundfunktionen des Tragens bzw. Weiterleiten des Gewichts der Körperteile (Knochen) und der Veränderung der Beziehung der Knochen untereinander (Muskeln). Dieses Zusammenspiel ist von grundlegender Bedeutung für die Organisation des Körpergewichts in der Schwerkraft.<br />
<br />
Als kinästhetischer Fachbegriff wird „Knochen und Muskeln“ ausgehend von den gemeinsprachlichen bzw. anatomischen Bedeutungen spezifisch definiert verwendet.<br />
<br />
=== Herkunft ===<br />
Nach dem Duden Herkunftswörterbuch ist das Wort '''Knochen''' seit dem 14. Jahrhundert bezeugt und hat das geläufige „Bein“ im Sinne von „Knochen“ verdrängt. Mittelhochdeutsch ''knoche'' „drücken, pressen“ u. a. wurden aus einem ursprünglich lautmalenden Verb ''knochen'', das mit „knacken“ verwandt ist (vgl. englisch ''to knock''), gebildet. Knochen sind also ursprünglich das, womit man anstößt oder gegen etwas schlägt.<br />
<br />
Ableitungen sind „Knöchel“, „knöchern“, „verknöchern“, „verknöchert“ und „knochig“.<br />
<br />
Nach dem Duden Herkunftswörterbuch ist das Wort '''Muskel''' seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts bezeugt und bezeichnet die fleischigen Teile des tierischen oder menschlichen Körpers, die durch An- und Entspannung Bewegung ermöglichen. Das Wort ist aus lateinisch ''musculus'' „Muskel“ entlehnt, ursprünglich eine Verkleinerungsbildung „Mäuschen“ zu lateinisch ''mus'' „Maus“. Die Bedeutungsübertragung beruht vielleicht auf dem Vergleich eines unter der Haut zuckenden Muskels mit den Bewegungen eines Mäuschens und findet sich z. B. auch in griechisch ''mys'' „Maus, Muskel“ oder in umgangssprachlicher Verwendung. <br />
<br />
Ableitungen sind „muskulös“, „Muskulatur“ und der medizinische Fachbegriff „muskulär“.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Konzeptsystem]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Kybernetik_(Begriff)&diff=4869
Kybernetik (Begriff)
2023-12-18T10:41:36Z
<p>Lutz Zierbeck: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einem einschlägigen Zitat zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Kybernetik. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität“.<br />
<br />
== Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet“ überschrieben.<br />
<br />
: '''''"Die Herkunft vieler Wörter bietet oft überraschende Geschichten und Zusammenhänge, die weit in die indo-europäische Sprachgeschichte zurückreichen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der European Kinaesthetics Association (EKA) und Altphilologe/Indogermanist erzählt Stefan Marty-Teuber von den Wurzeln von Wörtern, über die er bei seiner Tätigkeit stolpert.'''''<br />
<br />
: '''''Cybernetics.''''' ''Die junge Wissenschaft der Kybernetik ist eine zentrale theoretische Grundlage von Kinaesthetics. Das Kunstwort ‚cybernetics’ ist wie ‚mathematics’ (Mathematik), ‚physics’ (Physik) oder auch [[Kinaesthetics (Begriff)|Kinaesthetics]] ein Plural, der im Englischen mit dem Singular des Verbs konstruiert wird (cybernetics is beautiful). Es wurde vom amerikanischen Mathematiker N. Wiener (1894–1964) vorgeschlagen. Wie er im gleichnamigen Buch von 1948 schreibt, schien den PionierInnen der Kybernetik dieser Begriff treffend ihr gemeinsames Interesse an Steuerungs- und Regelungsvorgängen sowie an der Nachrichtentheorie zu bezeichnen. Sie hatten ihn bewusst aus dem griechischen Wort ‚kybernétes’ (Steuermann) im Sinne einer ‚Steuermannskunst, -wissenschaft’ gebildet. Der Begriff gefiel ihnen auch darum, weil der schottische Physiker J. C. Maxwell 1868 die früheste bedeutende Beschreibung der Rückkoppelungsmechanismen von ‚governors’ (Fliehkraftregler) verfasst hatte und deren Bezeichnung über das lateinische Wort ‚gubernator’ (Steuermann) auf den griechischen ‚kybernétes’ zurückgeht. Als letzten Grund für die Begriffswahl nennt N. Wiener die Tatsache, dass die Steuerungsmaschinen von Schiffen zu den ersten und am besten entwickelten [[Feedback-Control-Theorie|Feedback]]-Mechanismen gehören.''<br />
<br />
: '''''Ein Schiff steuern.''''' '' Mit großer Wahrscheinlichkeit kannten die Wissenschafter, die bei der Taufe der Kybernetik mitredeten, die griechische Wortfamilie von ‚kybernao’ (ein Schiff steuern) aus ihrer gymnasialen Ausbildungszeit, genauer aufgrund ihrer Lektüre der ‚Ilias’ und der ‚Odyssee’. Diese beiden Epen werden dem blinden Sänger Homer (8. Jahrhundert. v. Chr.) zugeschrieben, gehören zu den frühesten Zeugnissen der europäischen Literatur und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zur höheren Schulbildung. Und die ‚Odyssee’ berichtet ja hauptsächlich davon, wie es Odysseus zehn Jahre lang nicht gelingt, über das Meer seine geliebte Penelope und die Heimatinsel Ithaka anzusteuern. Vielleicht erinnerten sich die Taufpaten der Kybernetik sogar daran, dass der Steuermann Palinurus im römischen Epos ‚Aeneis’ auf Veranlassung des erzürnten Neptuns als Opfer für alle anderen mit seinem Steuerruder in die Tiefe entrissen wird. Vielleicht auch daran, dass Philosophen, Politiker und Redner die Wirksamkeit der übertragenen Verwendung – z. B. ‚den Staat sicher durch alle Stürme steuern’ u. Ä. - entdeckten und dieses Bild immer wieder gebrauchten.''<br />
<br />
: '''''Isolierte Wurzel.''''' ''Die Fähigkeit, ein Schiff bauen und sicher über ein Gewässer steuern oder gar segeln zu können, war eine zentrale Triebfeder der gesamten kulturellen Entwicklung der Menschheit. Von wem erlernten die alten Griechen diese Fähigkeit? Wenn wir den sprachlichen Wurzeln nach- gehen, stellen wir fest, dass ein eindeutiger Beleg einer Verwandtschaft in einer anderen indoeuropäischen Sprache fehlt. In dieser großen Sprachfamilie, die sich von der Westküste des heutigen Europas bis nach Indien erstreckte, verwendete niemand ein Wort, das auf dieselbe Wurzel zurückgeht. Das legt die Vermutung nahe, dass die Griechen die Steuermannskunst von Menschen lernten, die keine indo-europäische Sprache sprachen. Wer es war, ist meines Wissens unbekannt.''<br />
<br />
: '''''Schiff ahoi!''''' '' Umso klarer sind die Verhältnisse bei den Römern: Sie lernten es von den Griechen und sagten darum ‚gubernare’ (ein Schiff steuern) für ‚kybernao’ oder ‚gubernator’ für ‚kybernétes’. Sie sind es auch, die die steile Karriere der übertragenen Verwendung in der Politik nach Kräften unterstützten. Wie erfolgreich sie waren, zeigt sich heute darin, dass in außerordentlich vielen Sprachen ex-lateinische Wörter verwendet werden, die direkt mit deutsch ‚Gouverneur’, ‚Gouvernement’ oder ‚Gouvernante’ verwandt sind und anzeigen, wer das Steuerruder (tatsächlich) in den Händen hält. Müsste man den PolitikerInnen vor diesem Hintergrund vielleicht vermehrt ‚Schiff ahoi!’ zurufen, um sie an den Ursprung der Verantwortung zu erinnern, die sie tragen?''<br />
<br />
: '''''Der ‚kybernétes’ segelt weiter.''''' '' Wie erfolgreich ‚cybernetics’ ist, zeigt sich übrigens nicht nur darin, dass diese Wissenschaft längst nicht zu Ende gedacht ist, sondern auch in sprachlicher Hinsicht. Man braucht nur ‚cyber’ zu googeln und erhält vorgeführt, dass es der navigationskundige homerische ‚kybernétes’ dank der Kybernetik unter anderem geschafft hat, im Cybernet mit geheimnisvollen Wesen, die Cyborgs heißen, Cyberlearning zu praktizieren und so klammheimlich weiterzusegeln. Ich kann ihm da nur zurufen: Schiff ahoi!"''<br />
<br />
Quelle: Marty-Teuber, Stefan (2011): Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet. In: Lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. Nr. 2 (2011), S. 42. Siebnen: verlag lebensqualität. <br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
'''Wiener, Norbert (2001):''' Futurum exactum. Ausgewählte Schriften zur Kybernetik und Kommunikationstheorie. Übersetzt von C. Kassung. Herausgegeben von Bernhard Dotzler. Wien, New York: Springer. ISBN 978-3-211-83467-1. <br />
Originalausgabe der Beiträge von Norbert Wiener: Norbert Wiener. Collected Works with Commentaries. © MIT Press 1976 and 1985. <br />
<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Lernmodell&diff=4868
Lernmodell
2023-12-18T10:40:11Z
<p>Lutz Zierbeck: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Joachim Reif}}<br />
<br />
'''''Zusammenfassung:<br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus dem einschlägigen Zitat zum Thema „Lernmodell“ aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“. Der Artikel beschreibt den Aufbau und die einzelnen Schritte des Lernmodells als methodischer Grundlage.<br />
<br />
== Das Lernmodell in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Im zweiten Kapitel „Methoden und Instrumente“ bildet der Text das zweite Unterkapitel mit dem Titel „Das Lernmodell“. Im vorausgehenden ersten Unterkapitel wird die Kinaesthetics-[[Lernphase]] beschrieben, nachfolgend der [[Lernzyklus]] und die [[Lernspirale]] als zwei konkrete Ausprägungen des Lernmodells.<br />
<br />
: ''„Aufbauend auf den Annahmen von Kinaesthetics bezüglich Lernen gibt das Kinaesthetics-'''Lernmodell''' unterschiedlichen Lernprozessen eine Struktur, die sie besonders effektiv und nachhaltig macht. Es bildet die Grundlage für die meisten Methoden und Instrumente von Kinaesthetics. Eine zentrale Rolle spielt dabei, dass [[Lernen]] als ein zirkulärer oder spiralförmiger, aktiver und letztlich interaktiver Prozess verstanden wird. Deshalb finden sich in den Methoden und Instrumenten im Großen und im Kleinen immer wieder [[Zirkularität|zirkuläre]] Strukturen und Möglichkeiten zur [[Interaktion]] und zum gemeinsamen Lernen mit anderen Menschen. Das Lernmodell umfasst die folgenden, aufeinander aufbauenden Schritte:<br />
<br />
: '''''Schritt 1:''''' ''Wo stehe ich in Bezug auf das Thema?<br>Der erste Schritt dient einerseits der Bestimmung der persönlichen Ausgangslage bezüglich des Lernthemas durch die eigene, aktive Erfahrung. Dies kann die Ebene der Bewegungswahrnehmung, des kognitiven Verständnisses oder der eigenen Annahmen betreffen. Die Standortbestimmung gewährleistet den Anschluss des Lernthemas an die eigenen Voraussetzungen. Andererseits geht es darum, das Thema einzugrenzen und seine Bedeutung und Relevanz in einen definierten Kontext oder Rahmen zu stellen.''<br />
<br />
: '''''Schritt 2:''''' ''Was kann ich in Bezug auf das Thema wahrnehmen?<br>Im zweiten Schritt verschafft man sich ein möglichst differenziertes Bild des Lernthemas. Es wird aus der individuellen Innenperspektive mit genau definierten Betrachtungswinkeln (z. B. mit den Blickwinkeln des Konzeptsystems) analysiert, erforscht und beschrieben. Diese Analyse erfolgt dadurch, dass man sich allein und zusammen mit PartnerInnen aktiv mit dem Thema auseinandersetzt (z. B. mittels [[Bewegungserfahrung|Bewegungserfahrungen]]) und es sowohl für sich allein als auch gemeinsam reflektiert.''<br />
<br />
: '''''Schritt 3:''''' ''Wie kann ich meine [[Wahrnehmung]] zugunsten der Entwicklung von mehr Möglichkeiten nutzen?<br>Im dritten Schritt geht es um das Nutzen und Anwenden, Verknüpfen und Integrieren der Schwerpunkte des zweiten Schrittes mit dem Ziel, den persönlichen Handlungsspielraum zu erweitern. Es wird erforscht, wie auf der Grundlage des zweiten Schrittes mehr Gestaltungsmöglichkeiten bezüglich des Themas entstehen können. Dies erfolgt dadurch, dass man unter bestimmten Blickwinkeln die entdeckten Problemstellungen variiert und besonders auf die zugrunde liegenden Muster und Kompetenzen achtet.<br />
<br />
: '''''Schritt 4:''''' ''Wo stehe ich jetzt, was nehme ich mit?<br>Im letzten Schritt wird die persönliche Standortbestimmung des ersten Schrittes wieder aufgenommen, um einen Vergleich anzustellen und aus den [[Unterschied|Unterschieden]] die eigenen Lernfortschritte oder offenen Fragen abzuleiten. Im Zentrum steht die systematische Evaluation und Einordnung der eigenen Lernprozesse. Dazu gehört auch die Bestimmung derjenigen Aspekte des Themas, die eine besondere Bedeutung für das eigene Leben haben und auf die man künftig besonders achten möchte.“<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 16–17.<br />
<br />
== Erfahrungsberichte ==<br />
* '''Siemann, Sabine (2014):''' Mit einem Juchzen belohnt. Entdeckendes Lernen mit einem Jungen im Wachkoma In: lebensqualität. Das Journal für Kinaesthetics. 2007, Nr. 1. S. 12–13.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Lernspirale]]<br><br />
[[Lernzyklus]]<br><br />
<br />
<br />
<br />
[[Kategorie:Lernen/Methodische Großformen]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Lernphase&diff=4867
Lernphase
2023-12-18T10:37:50Z
<p>Lutz Zierbeck: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Lutz Zierbeck}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel wurde mit Fachliteratur angelegt. Im Buch "Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ wird erläutert, wie eine typische Gestaltung von Grund- und Aufbaukursen aussieht und begründet, warum diese Gestaltung für das Lernen mit Kinästhetik hilfreich ist.<br />
<br />
== Die Lernphase in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen und Trainerbildungen verwendet wird. Im zweiten Kapitel „Methoden und Instrumente“ bildet der Text das einleitende Unterkapitel mit dem Titel „Die Lernphase“. Im nachfolgenden zweiten Unterkapitel wird das [[Lernmodell]] beschrieben.<br />
<br />
<br />
[[Datei:Kinaesthetics Lernphase sw 2017.jpg|600px|rahmenlos|zentriert]] <br><br />
<br />
: ''„Die Grund-, Aufbau- und Peer-Tutoring-Kurse von Kinaesthetics werden als Basiskurse bezeichnet. Sie werden in der Regel als ‚Lernphasen‘ gestaltet und nicht als Kurse von mehreren aufeinanderfolgenden Tagen. Sie erstrecken sich über einen Zeitraum von einigen Monaten, so dass die Gesamtlernzeit aus der Lernzeit an den einzelnen Kurstagen und aus der Lernzeit der ‚Lernetappen‘ besteht. Dadurch soll gewährleistet werden, dass die TeilnehmerIn eines solchen Bildungsangebots ihre Erfahrungen, die sie an den Kurstagen macht, mit ihrer konkreten Herausforderungen im Alltag verknüpft (vgl. Grafik).''<br />
<br />
: ''Inhaltlich folgen die Kurstage dem Kinaesthetics-Konzeptsystem, wie es z. B. im runden Konzept-Raster dargestellt wird. Beginnend mit dem Konzept [[Interaktion]] und seinen Unterthemen beschäftigen sich die TeilnehmerInnen mit ihren Erfahrungen und Erkenntnissen unter den jeweiligen Blickwinkeln der sechs Konzepte von Kinaesthetics.''<br />
<br />
: ''Es hat sich gezeigt, dass KursteilnehmerInnen ihr Lernen viel nachhaltiger und besser in das eigene Verhalten integrieren, wenn sie mit geeigneten Hilfsmitteln darin unterstützt werden, das Gelernte zwischen den Kurstagen in ihrem Alltag gezielt anzuwenden, zu erweitern und sich darüber mit anderen auszutauschen. Solche Lernetappen ermöglichen es den TeilnehmerInnen, ihre individuellen Lernthemen in der konkreten Umsetzung im Alltag zu entdecken und an ihnen zu arbeiten. Der Austausch und das gemeinsame Lernen mit anderen TeilnehmerInnen kann in verschiedenen Lernpartnerschaften stattfinden, z. B. in Lerngruppen oder in Praxisanleitungen durch Peer-TutorInnen oder TrainerInnen.''<br />
<br />
: ''Dadurch können an einem folgenden Kurstag die Erfahrungen, Erkenntnisse und offenen Fragen der vorausgehenden Lernetappe reflektiert und ausgewertet werden. Zugleich kann im weiteren Verlauf der Lernphase an die persönlichen Lernthemen des beruflichen oder privaten Alltags angeknüpft werden.''<br />
<br />
: ''Eine Kinaesthetics-Lernphase schließt im Ganzen einen Kreis, indem sie bestimmte Ein-/Ausstiegsfragen und -erfahrungen umfasst. Durch diese zirkuläre Anlage können die TeilnehmerInnen ihren gesamten Lernprozess am Ende der Lernphase reflektieren, ihren Kompetenzzuwachs mithilfe des Instrumentes der [[Bildungsfelder]] differenziert evaluieren und dokumentieren und so die Lernphase bewusst abschließen.''<br />
<br />
: ''Andererseits umfasst der Abschluss auch die Planung des sich anschließenden Regelbetriebs des beruflichen oder privaten Alltags. Um die Nachhaltigkeit der Lernphase und das Weiterlernen in der Kinästhetik zu gewährleisten, haben sich Übungsgruppen, Praxisanleitungen u. a. m. bewährt.“<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 14–15.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Lernumgebung]]<br />
<br />
[[Kategorie:Lernen/Methodische Großformen]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Lernspirale&diff=4866
Lernspirale
2023-12-18T10:29:38Z
<p>Lutz Zierbeck: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Lutz Zierbeck}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einem einschlägigen Zitat zum Thema „Lernspirale“ aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“. Diese Methode wird in Kinästhetik-Aufbaukursen und in den Trainerbildungen vermittelt und ermöglicht einen strukturierten Lernprozess zur Kompetenzentwicklung. <br />
<br />
== Die Lernspirale in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Im zweiten Kapitel „Methoden und Instrumente“ beschreibt der Text unter dem zweiten Unterkapitel „Das [[Lernmodell]]“ dessen zweite konkrete Ausprägung unter dem Titel „Die Lernspirale“. Bei dieser bildet eine reale Problemstellung den Ausgangspunkt des Vorgehens. Vorausgehend wird der [[Lernzyklus]] als erste konkrete Ausprägung des Lernmodells beschrieben.<br />
<br />
[[Datei:Lernspirale-color DE.jpg|mini|rechts]]<br />
: ''„Die ‚Lernspirale‘ ist eine Methode, die Sie anwenden lernen, um konkrete Problemstellungen aus Ihrem beruflichen oder privaten Alltag mit Kinaesthetics zu bearbeiten. Sie geht von der Erfahrung der Situation im Tun aus und kann in der Form einer Spirale über die Schritte des Reflektierens, Variierens, Entscheidens und erneuten Tuns beliebig fortgesetzt werden.''<br />
<br />
: ''Die Lernspirale durchbricht das gängige Muster, dass beim Auftreten eines Problems geradlinig nach seiner Lösung und Behebung gesucht wird. Ihr Motto heißt: Es geht nicht darum, das Problem zu lösen, sondern sich vom Problem zu lösen.''<br />
<br />
: ''Die Analyse und Reflexion der Situation aus der Innenperspektive Ihrer [[Bewegungserfahrung|Bewegungserfahrungen]], die Beschäftigung mit vielen möglichen Varianten und die Auswertung Ihrer Erfahrungen lenken Ihre Aufmerksamkeit weg von der Suche nach Lösungen. Mit diesem Vorgehen achten Sie vielmehr auf das Lern- und Entwicklungspotenzial der Situation und loten es differenziert und in aller Breite aus. Der spiralförmige Aufbau der Methode führt dazu, dass Sie die „Lösungen“ des Problems stets wieder mit demselben Vorgehen der Entwicklung der Situation anpassen können. Dadurch wird eine nachhaltige Bearbeitung von Problemstellungen möglich.''<br />
<br />
: ''Die Lernspirale ist besonders geeignet für das gemeinsame Lernen in kleinen Gruppen oder im Team. Im Folgenden werden die Teile der Lernspirale genauer beschrieben.''<br />
<br />
: '''''Tun'''''<br>''Die Ausgangslage bildet ein zu bestimmender Ausschnitt einer konkreten Praxissituation, die für Sie in einem bestimmten Kontext von Bedeutung ist. In einem Kinaesthetics-Kurs spielen Sie die Situation entweder im Kursraum durch oder gehen in konkrete Praxissituationen und führen die betreffenden Aktivitäten real aus.''<br />
<br />
: ''Lenken Sie dabei Ihre Aufmerksamkeit auf die Informationen, die Sie über Ihre Bewegungswahrnehmung erhalten. Diese Erfahrung bildet Ihren persönlichen Bezugspunkt für die nächsten drei Schritte der Methode.<br />
<br />
: '''''Reflektieren'''''<br>''Sie reflektieren die Erfahrung der Ausgangslage, indem Sie mit eigenen Bewegungserfahrungen die Aktivitäten der Situation nachvollziehen. Wenn mehrere Personen in die Situation einbezogen sind, begeben Sie sich in alle Rollen. Es ist sinnvoll die Zahl der Aktivitäten, die Sie analysieren wollen, zu beschränken. Zudem lohnt es sich, auf die Schlüsselstellen der Situation zu achten, wo es ‚klemmt‘ oder spannend wird, und besonders die damit verbundenen Aktivitäten zu untersuchen. Verwenden Sie für Ihre Einzel- und Partnererfahrungen die verschiedenen Blickwinkel des Kinaesthetics-Konzeptsystems. Dokumentieren Sie Ihre Erfahrungen z. B. mit dem [[Konzept-Raster]] und achten Sie dabei darauf, Ihre Beobachtungen und nicht die Bewertung derselben zu beschreiben. Überlegen Sie sich, welche Blickwinkel des Konzeptssystems Ihnen für die Situation besonders bedeutsam erscheinen.''<br />
<br />
: ''Dieser Teil der Lernspirale ermöglicht es Ihnen, aus der Bewegungs- und Innenperspektive die ausgewählten Aktivitäten der Praxissituation differenziert zu analysieren und Konzeptblickwinkel zu finden, die für die Schlüsselstellen bedeutsam sind.<br />
<br />
: '''''Variieren'''''<br>''Im nächsten Schritt gilt es – ohne sich an der Lösung des Problems zu orientieren – die Aktivitäten der Schlüsselstellen, die Sie beim Reflektieren untersucht haben, in Bewegungserfahrungen möglichst breit zu variieren. Sie benutzen dazu die auf der Grundlage der Reflexion ausgewählte Blickwinkel des Konzeptsystems, um die [[Unterschied|Unterschiede]] in der Gestaltung der Aktivität präzise wahrnehmen, beschreiben und vergleichen zu können. Gehen Sie feinen, kleinen Unterschieden nach, suchen Sie aber auch nach ungewöhnlichen oder „verrückten“ Varianten. Nicht selten zeigt sich in ihnen die zugrunde liegende Problematik in aller Schärfe oder es tut sich überraschenderweise ein gangbarer Weg auf. Gleichzeitig besteht für Sie die Möglichkeit, die eigene Kreativität in der Bewegung auf diese Weise spielerisch zu entwickeln.<br />
<br />
: ''Achten Sie besonders darauf, auf welchen Kompetenzen die betreffenden Aktivitäten grundsätzlich aufbauen und mit welchen Variationen sich diese Kompetenzen auf unterschiedlich anspruchsvollen Ebenen entwickeln und erweitern lassen.''<br />
<br />
: ''In diesem Teil erarbeiten Sie sich ein breites und tiefes Verständnis, auf welchen Kompetenzen die Praxissituation beruht, und eine Vielzahl von kleinen und großen Handlungsalternativen, um Lern- und Entwicklungsprozesse in der betreffenden Situation zu unterstützen.<br />
<br />
: '''''Entscheiden'''''<br>''Sie werten die Erfahrungen und Erkenntnisse der vorausgegangenen zwei Schritte aus. Sie überlegen sich, welche Blickwinkel in der betreffenden Situation ein Lernpotenzial bieten, das an Sie und die beteiligten Personen angepasst ist. Sie entscheiden sich, was Sie aufgrund Ihrer Auswertung das nächste Mal in die betreffende Situation integrieren und worauf Sie besonders achten wollen.<br />
<br />
: '''''Tun'''''<br>''Auf der Grundlage des letzten Schrittes gestalten Sie die reale Praxissituation erneut oder spielen sie mit anderen TeilnehmerInnen durch. Dadurch gewinnen Sie einerseits einen neuen Bezugspunkt für die Fortsetzung der Lernspirale. Andererseits kann ähnlich wie im Lernzyklus der Kompetenzgewinn als eine Erfahrung des [[Unterschied|Unterschiedes]] zwischen dem ersten und dem zweiten Tun fassbar gemacht werden. Dieser Lernzuwachs kann mit den [[Bildungsfelder|Bildungsfeldern]] ausgewertet und systematisch dokumentiert werden.“<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 22–25.<br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* '''Wikipedia:''' Lernspirale. https://de.wikipedia.org/wiki/Lernspirale (Zugriff: 29.11.2019).<br />
* '''Wikipedia:''' Erfahrungsbasierter Lernzyklus. [https://de.wikipedia.org/wiki/Erfahrungsbasiertes_Lernen#Erfahrungsbasierter_Lernzyklus Erfahrungsbasiertes Lernen: Erfahrungsbasierter Lernzyklus] (Zugriff: 10.12.2020).<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Lernmodell]]<br />
<br />
[[Lernumgebung]]<br />
<br />
[[Kategorie:Lernen/Methodische Großformen]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Spastik&diff=4865
Spastik
2023-12-18T10:13:01Z
<p>Lutz Zierbeck: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Lutz Zierbeck, Rosmarie Suter/Stefan Marty-Teuber}}<br />
<br />
'''''Zusammenfassung:'''''<br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt, der Text wird in den Trainerbildungen der EKA verwendet. Er stellt der in Medizin und Pflege üblichen pathophysiologische Sichtweise auf das spezifische Verhaltensphänomen „Spastik“ bzw. „Hohe Körperspannung“ eine kybernetische Sichtweise gegenüber. Diese verschiedenen Betrachtungsweisen bieten unterschiedliche Denk- und Handlungsansätze im Umgang mit diesen Phänomenen.<br />
<br />
<br />
==''„Einleitung ''==<br />
: ''Im Bereich von Pflege, Betreuung und Therapie ist das Phänomen Spastik immer wieder zu beobachten. Bezüglich des Verhaltens der betroffenen Menschen fällt auf, dass sie insgesamt bei der Durchführung von alltäglichen Aktivitäten beeinträchtigt sind. Sie benötigen z. B. mehr Zeit dafür, bewegen sich insgesamt mit sehr hoher Körperspannung und haben Mühe mit gezielten, koordinierten und differenzierten Aktivitäten. Desgleichen sind auch plötzliche, unwillkürliche zuckende Bewegungen beobachtbar. Nicht selten berichten betroffene Menschen besonders bei akuten Krämpfen von Schmerzen. <br />
: ''Allerdings können auch ‚gesunde‘ Menschen in eine unkontrollierbar hohe Spannung geraten, die sie im Moment kaum regulieren können. Ihre Bewegungen sehen dann vielleicht ebenso abrupt, verlangsamt oder undifferenziert aus. Hohe Körperspannung ist kein rein pathologisches Phänomen; vielmehr ist es eine grundlegende Kompetenz, die eigene Körperspannung in unterschiedlichen Situationen des Alltags regulieren und gegebenenfalls auch stark erhöhen zu können. So stellt sich die Frage, was dies für den Umgang mit Spastik in Pflege und Betreuung bedeuten kann. <br />
: ''In diesem Bereich sind die Annahmen zum Phänomen Spastik und zum Umgang mit ihm in der Regel durch eine pathophysiologische Sichtweise bzw. durch ein Behandlungsparadigma<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 51 ff.</ref> geprägt. Im Folgenden sollen dieses Verständnis und die kybernetische Sichtweise, die Kinaesthetics zugrunde liegt, einander gegenübergestellt und die Bedeutung für den Umgang mit betroffenen Menschen beleuchtet werden. ''<br />
<br />
==''Pathophysiologische Sichtweise ''==<br />
:''Pathophysiologie wird im Duden als die ‚Lehre von den Krankheitsvorgängen und Funktionsstörungen (in einem Organ)‘ definiert. Aus dieser Sicht wird Spastik bzw. Spastizität als Folge einer Erkrankung oder Verletzung verstanden. Das gängige pathophysiologische Verständnis wird in der folgenden einschlägigen Definition deutlich:<br />
<br />
:'' Symptomat.de (Medizin-Lexikon)<br> ‚Unter einer Spastik bzw. Spastizität versteht man keine eigenständige Krankheit, sondern ein Symptom einer Erkrankung beziehungsweise Verletzung des Zentralen Nervensystems. Dabei spielt immer eine Schädigung des Gehirns oder des Rückenmarks eine Rolle.‘<ref>'''MedLexi (2019):''' Spastik. Was ist Spastik? https://medlexi.de/Spastik (Zugriff: 11.10.2019).</ref> <br />
:'' Das Interesse dieser Sichtweise liegt bei kausalen Zusammenhängen, d. h. bei den Ursachen des Phänomens (Erkrankung oder Verletzung des Zentralnervensystems usw.) und den Folgen, die sich zwangsläufig aus ihnen ergeben (Muskelkontraktion, Symptome einer Spastik). Hinter diesem Verständnis steht ein lineares, mechanisches Denken. Es gilt, mit einer klinischen Diagnose die aktuelle ursächliche neurologische Erkrankung – und durchaus auch frühere mögliche Ursachen – genau zu analysieren. Da sie im Fall der Spastik als nicht ‚reparabel‘ bzw. heilbar gilt, wird man versuchen, die verschiedenen Symptome von außen zu behandeln, um den Zustand des betroffenen Menschen der ‚Normalität‘ anzunähern. Aufgrund der Diagnose werden die möglichen Veränderungschancen bestimmt und das dafür geeignete Behandlungsschema festgelegt und definiert, damit sich bestimmte Wirkungen einstellen können. Dies kann medikamentöse und motorische Therapien, operative Eingriffe, aber auch Maßnahmen der Pflege und Betreuung wie z. B. Lagerungs-Richtlinien umfassen. Die diagnostisch bestimmten Ursachen und mögliche Folgeerscheinungen gelten als zentrale Begründung für den Umgang mit diesem Menschen. <br />
<br />
:'' Grundsätzlich wird hier die lineare Idee verfolgt, mit all diesen Maßnahmen von außen bestimmte Wirkungen beim betroffenen Menschen zu erreichen. Wenig bis keine Bedeutung hat der Grundgedanke, ihn individuell zu befähigen, mit seiner aktuellen Kompetenz selbst entscheidenden Einfluss auf seine Gesundheitsentwicklung zu nehmen.<br />
<br />
== ''Kybernetische Sichtweise ''==<br />
=== ''Die kybernetische Beschreibung der Selbstregulation'' ===<br />
==== ''Menschliches Verhalten'' ====<br />
: ''Eine kybernetische Sichtweise des Phänomens der Spastik lässt andere Schlüsse zu. Die Kybernetik betrachtet den Menschen als ein komplexes System, das beständig sein Verhalten in zirkulären Rückkopplungsschleifen neu erzeugt. Dabei ist das Gehirn nicht ein übergeordnetes Steuerungs-Organ, das unterstützt durch die Wahrnehmung der Motorik Befehle zur Ausführung erteilt und so die Bewegung und das Verhalten steuert. Vielmehr bestimmt der Mensch auf der Grundlage der steten Rückkopplung von Nerven-, Bewegungs- und Wahrnehmungssystem in jedem Augenblick neu, wie er sein Verhalten im jeweiligen Moment gestaltet<ref>ebd., S. 43 ff.</ref>. Dieses Verhalten ist also immer seine aktuelle bestmögliche Anpassung an innere und äußere Gegebenheiten. <br />
: ''Mit den ständigen Anpassungen entwickelt der Mensch einerseits eine Vielfalt von nutzbaren Anpassungsmöglichkeiten, die ihm für die alltäglichen Herausforderungen zur Verfügung stehen. Diese sich stets entwickelnde Anpassungskompetenz ist absolut lebensnotwendig und spielt für seine [[Gesundheitsentwicklung]] eine zentrale Rolle. Andererseits bilden sich individuelle Verhaltensmuster heraus, und der Mensch lernt, gewisse Handlungen immer wieder ähnlich zu gestalten und die große Vielfalt an möglichen Anpassungen in ähnlichen Situationen zu begrenzen. Auch diese Begrenzung ist eine Lebensnotwendigkeit und unterstützt die Handlungsfähigkeit eines Menschen. Beides zusammen, die Vielfalt und die Begrenzung, bildet die Grundlage für [[Viabilität|viables]] Handeln, d. h. dafür, im jeweiligen Moment ein passendes Verhalten zu finden<ref>ebd., S. 33.</ref>. <br />
: ''Das Verständnis der folgenden Theorien kann helfen, neue Perspektiven einzunehmen im Umgang mit Menschen, die ein spezifisches Verhaltensphänomen zeigen.<br />
<br />
==== ''[[Feedback-Control-Theorie|Feedback-Kontroll-Theorie]]: Fortlaufende Fehlerkorrektur'' ====<br />
: ''Alle Bewegungs- und Verhaltensmuster des Menschen sind erlernt und entwickeln sich ein Leben lang bei der Durchführung der alltäglichen Aktivitäten. Wie erwähnt ist das menschliche Verhalten das Resultat eines inneren Steuerungsprozesses, der als ein permanent laufender zirkulärer Rückkopplungsprozess zwischen dem Wahrnehmungs-, Nerven- und Bewegungssystem beschrieben werden kann. Dabei werden beständig ‚Fehler‘ korrigiert, wobei jede Korrektur zur nächsten Korrektur führt<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 20 ff.</ref>. <br />
: ''Hierzu ein konkretes Beispiel: Ein Mensch hat die Absicht, eine Mütze aufzusetzen. Allein schon beim Ausstrecken des Armes, dessen Gewichtsabgabe in der Schwerkraft organisiert werden muss, finden Anpassungen im ganzen Körper statt. Dabei wird eine Flut von Reizen über die verschiedenen Sinnessysteme (und insbesondere über das kinästhetische Sinnessystem) wahrgenommen und im Zentralnervensystem verarbeitet. Dieses vergleicht fortlaufend den aktuellen Moment des Handelns mit der Absicht: Ist die Hand auf dem richtigen Weg zur Mütze, wie weit ist sie im Moment davon entfernt? Jede Abweichung von der Absicht wird fortlaufend korrigiert, indem z. B. die Richtung der Hand, das Tempo der Armbewegung oder die Ausgleichsbewegung im Becken angepasst wird. Diese vielfältigen Anpassungen der Bewegung werden fortlaufend wahrgenommen und ihre Abweichung berechnet. <br />
: ''Die Steuerung der Bewegung bzw. des Verhaltens ist ein größtenteils unbewusstes, hochkomplexes Geschehen in unendlich vielen Rückkopplungsschleifen, bei dem jede Anpassung wieder Anlass für die nächste Anpassung ist. Man könnte auch sagen: Die Steuerung liegt im Steuerungsprozess selbst. Es ist dieses Grundprinzip der Selbstregulation, das es unmöglich macht, die Bewegung eines anderen Menschen von außen direkt zu steuern. Im Bereich der Pflege und Betreuung wird allerdings oft von der gegenteiligen Annahme ausgegangen, und man versucht z. B., Menschen zu bewegen, statt sie in ihrer eigenen Bewegung zu unterstützen.<br />
<br />
==== ''Die Rolle von Feedback-Prozessen bei der Entwicklung einer Spastik'' ====<br />
: ''Liegt beispielsweise nach einem Schlaganfall eine organische Beeinträchtigung des Zentralnervensystems eines Menschen vor, bewirkt dies eine massive Störung im Selbstregulations-Prozess, weil er nicht mehr in gewohnter Weise abläuft. Betroffen ist insbesondere die fortlaufende differenzierte Berechnung der Abweichung bzw. der Fehlerkorrektur. Dies bedeutet für das Nervensystem, dass die fortlaufenden differenzierten Signale der Bewegungswahrnehmung sozusagen wegfallen, die für den Abgleich mit der Absicht der Bewegung von entscheidender Bedeutung sind. Das Bewegungssystem passt sich mit einer größeren Korrektur an, um diese mangelnden Signale zu kompensieren, was vom Nervensystem als eine größere Abweichung von der Absicht berechnet wird, was wiederum mit einer noch größeren Korrektur ausgeglichen werden muss usw. <br />
: ''So entsteht ein Teufelskreis (‚positive Rückkoppelung‘): Je weniger differenziert z. B. ein Arm bewegt wird, desto weniger differenziert ist die Bewegungswahrnehmung durch die entsprechenden Rezeptoren des Armes. Um diesen ‚Fehler‘ zu korrigieren, wird unter Umständen die Spannung im Arm erhöht und die Bewegung verlangsamt. Dies erweist sich vielleicht erst einmal als hilfreich, um überhaupt noch alltägliche Aktivitäten bewältigen zu können, kann sich aber zu einem Verhaltensmuster entwickeln. Ein Beispiel: Um sich von der Rückenlage in die Seitenlage oder ins Sitzen bewegen zu können, muss der Arm zwingend mitgenommen werden. Das funktioniert vielleicht bei einem betroffenen Menschen nur, wenn er die Spannung im Arm übermäßig erhöht. Erlebt er dies als hilfreich und sinnvoll zur Erreichung der Absicht, kann er daraus das Muster einer undifferenzierten, ständig hoch bleibenden Spannung lernen. <br />
: ''Eine Spastik im Arm wird bei dieser Sichtweise als erlernte Regulationsmöglichkeit, als eine erworbene Kompetenz betrachtet, bei der aber ein gewisses Spektrum an Möglichkeiten von Verhalten vorerst nicht mehr nutzbar ist. <br />
: ''Es ist wichtig zu verstehen, dass der veränderte stetige Rückkopplungsprozess zwischen Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem eine zentralere Rolle spielt als die ‚Ursache‘ des Schlaganfalls. Eine Störung oder Veränderung in einem dieser beteiligten Systeme hat immer eine Auswirkung auf die anderen Systeme und den ganzen Prozess. Desgleichen ist der gesamte Organismus davon betroffen und mitbeteiligt, auch wenn von außen vielleicht nur der ‚spastische‘ Arm auffällt. Wie ein Mensch unter solchen veränderten Bedingungen seine Bewegung konkret steuert, ist ganz individuell und nicht vorhersehbar. Menschen sind keine ‚trivialen Maschinen‘, wie [[Heinz von Foerster]] sagt, die auf einen bestimmten Input immer denselben Output liefern<ref>ebd., S. 51 f.</ref>. Eine Schädigung im Zentralnervensystem hat immer spezifische individuelle Auswirkungen, die in der Steuerung des (Bewegungs-)Verhaltens zum Ausdruck kommen und in hohem Maß von der individuellen Lerngeschichte des betroffenen Menschen abhängig sind. <br />
: ''Zusammenfassend sind aus kybernetischer Sicht spastische Bewegungsmuster die bestmögliche Antwort auf ein Ereignis und der derzeitige Stand eines permanenten Steuerungs- und Lernprozesses. Das Hauptinteresse liegt beim individuellen Lernprozess des einzelnen Betroffenen und bei seinem Lernpotenzial, seinen Möglichkeiten, selbst Einfluss auf die veränderten Bedingungen zu nehmen. Die Herausforderung für Pflege, Betreuung und Therapie besteht darin, Menschen mit einer Spastik in der weiteren Entwicklung ihrer Selbststeuerungs-Kompetenz gezielt zu unterstützen. Kinaesthetics spricht in diesem Zusammenhang von einem [[Lernparadigma|Lern]]- oder [[Entwicklungsparadigma]]<ref>ebd., S. 59 ff.</ref>.<br />
<br />
=== ''Spastik und die Forschungen von Weber und Fechner'' ===<br />
: ''In den Forschungen von [[Weber und Fechner]] finden wir eine weitere Erklärung für das Phänomen Spastik. Ernst Heinrich Weber und Gustav Theodor Fechner waren um 1850 die Begründer der Psychophysik. Sie untersuchten die menschliche [[Wahrnehmung]] und befassten sich u. a. mit der Wahrnehmungsschwelle. Eine zentrale Forschungsfrage war, ab wann und wie differenziert ein Sinnesreiz überhaupt wahrgenommen wird. Sinneszellen können einen Reiz dann erkennen, wenn ein [[Unterschied]] wahrnehmbar ist. Wird in einem dunklen Raum ein Streichholz angezündet, erscheint die Flamme sehr hell, weil der Unterschied zur Dunkelheit gross ist. Weber und Fechner entdeckten einen interessanten Zusammenhang, der bei allen Sinnessystemen zu finden ist: Je intensiver der Reiz ist, umso höher ist die Schwelle, um einen Unterschied wahrnehmen zu können. So ist das Bemerken eines Unterschiedes über das kinästhetische Sinnessystem abhängig von der Muskelspannung. Ein Beispiel: trägt jemand einen Sack mit 5 kg Gewicht auf den Schultern, wird er merken, wenn ein zusätzliches Gewicht von 500 Gramm dazu kommt. Ist der Sack aber 25 kg schwer, werden 500 Gramm nicht auffallen. Je höher also die Spannung im Körper, desto weniger differenziert werden Veränderungen der Muskelspannung in der Bewegung wahrgenommen, was wiederum einen direkten Einfluss auf die Steuerung der Bewegung hat. <br />
: ''Für das Thema Hohe Körperspannung/Spastik ist dieses Verständnis bedeutsam. Die anhaltende hohe Spannung führt zu einer wenig differenzierten Eigenwahrnehmung. Dies wirkt sich somit auf den zirkulären Steuerungsprozess aus. Die Anpassungsbewegungen werden ungenauer, dadurch steigt die Spannung weiter und die Wahrnehmungsfähigkeit nimmt noch mehr ab. Deshalb ist es wichtig, dass Menschen mit hoher Körperspannung unterstützt werden, diese Spannung bei der Durchführung aller alltäglichen Aktivitäten bestmöglich zu regulieren. Sie können dadurch feiner unterscheiden und sich feiner anpassen lernen.<br />
<br />
== ''Bedeutung des Lernparadigmas für das Phänomen Spastik ''==<br />
=== ''Gestaltung der Lernumgebung statt Behandlung'' ===<br />
: ''Gemäß dem Lern- oder Entwicklungsparadigma betrachtet Kinästhetik Spastik als momentanen Stand eines fortlaufenden Anpassungs- und Lernprozesses. Die individuelle Wahrnehmung und die persönliche Selbststeuerungs-Kompetenz hat eine zentrale Bedeutung für die Lernprozesse, mit denen das alltägliche Leben gemeistert wird. Deshalb fokussiert Kinästhetik nicht das Erscheinungsbild an und für sich (z. B. den ‚spastischen Arm‘), sondern unterstützt Betroffene, aus einer Innenperspektive die Dynamik des gesamten Phänomens zu untersuchen und zu entwickeln. Die Lernprozesse bestehen weniger aus kognitivem Verstehen, sondern entstehen bei einem achtsamen und gezielten Unterstützen bei allen Alltagsaktivitäten. Sie bestehen vor allem aus differenzierten [[Bewegungserfahrung|Bewegungserfahrungen]] und der Erfahrung der daraus resultierenden Anpassungen oder [[Fehler|Fehlerkorrekturen]]. Typisch für diese Sichtweise ist die Frage nach den spezifischen Kompetenzen, die jemand in seinem Verhalten zeigt. Nicht das, was ‚fehlt‘ oder nicht geht, steht im Zentrum, sondern das, was jemand kann, bzw. das gemeinsame Entdecken des Entwicklungspotenzials. Die äußere Hilfestellung besteht in der bewussten Gestaltung einer individuellen [[Lernumgebung]], nicht in der Behandlung oder Therapie des Betroffenen bzw. seiner Spastik. <br />
: ''Mögliche Fragen, die sich daraus ergeben: <br />
: ''* Wie differenziert kann der betroffene Mensch seine eigene Bewegung wahrnehmen und was unterstützt ihn, mehr und feinere Unterschiede wahrzunehmen? <br />
: ''* Auf welchem Stand befinden sich die [[grundlegenden Kompetenzen]] in seiner Bewegung und wie kann er in der Weiterentwicklung dieser Kompetenzen unterstützt werden? <br />
: ''* Wie kann er lernen, z. B. seine Spannung differenzierter an die Herausforderungen der alltäglichen Aktivitäten anzupassen? <br />
: ''* Wie kann er lernen, z. B. eine größere Vielfalt in seinen Bewegungsmustern zu entwickeln und sein Anpassungspotenzial zu erweitern? <br />
: ''* Wie können Absprachen zwischen Pflege- und Betreuungspersonen, TherapeutInnen und Angehörigen getroffen werden, um gemeinsam mit dem betroffenen Menschen eine Lernumgebung für alle Beteiligten zu gestalten?<br />
<br />
== ''Kinästhetik-Instrumente ''==<br />
: ''Kinästhetik bietet konkrete Werkzeuge und Instrumente für die Bearbeitung solcher Fragen. Zentral sind die Kinästhetik-Konzepte, die als Blickwinkel dienen, um die Aufmerksamkeit auf unterschiedliche, erfahrbare Aspekte der eigenen Bewegung zu lenken. Gemeinsam mit dem betroffenen Menschen können die individuellen Verhaltensmuster dementsprechend erkundet und erweitert werden. <br />
: ''* Das Phänomen der Spastik als solches kann aus einer Erfahrungsperspektive untersucht werden. <br />
: ''* Der betroffenen Person können spezifische Fragen gestellt werden, damit sie ihre Aufmerksamkeit auf einzelne erfahrbare Aspekte ihrer Bewegung lenken kann. <br />
: ''* Die unterstützende Person kann sich aus der Perspektive der einzelnen Konzepte fragen, was sie während der Interaktion mit einer betroffenen Person in sich merken und anpassen kann. <br />
: ''*Lernrelevante Blickwinkel können definiert werden. <br />
: ''Als Instrument für diesen Prozess bietet sich die [[Lernspirale]] an. Dabei können alle Beteiligten in einem gemeinsamen Forschungs- und Lernprozess ihre Bewegungskompetenz weiter entwickeln. <br />
: ''Je häufiger eine betroffene Person erfährt, dass sie erfolgreiche Anpassungen in ihrer Bewegung finden kann, desto mehr kann sie aktiv daran arbeiten, das Spektrum ihrer Möglichkeiten zu erweitern. Durch ein dem einzelnen Menschen individuell angepasstes differenziertes Unterstützungsangebot bekommt dieser die Chance, alle seine Alltagsaktivitäten zum Entwickeln seiner Kompetenzen nutzen. Die Qualität der Unterstützung hat einen entscheidenden Einfluss, ob und wie ein Mensch mit hoher Spannung lernt, sein Potential in der Bewegung zu erweitern. Dazu helfen die Sichtweise des Lernparadigmas und eine geschulte [[Bewegungskompetenz]].“''<br />
<br />
== Erfahrungsberichte ==<br />
* '''Schünemann, Robert:''' Muster können verändert werden. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2014, Nr. 2. S.16–21.<br><br />
<br />
Eine junge Frau mit langjähriger hoher Körperspannung auf einer Körperseite lernt durch die Schulung der Bewegungswahrnehmung mehr Möglichkeiten in sich selber zu finden. <br><br />
Zum Artikel: <br />
[[Datei:Lq-2014-2-Schünemann.pdf|mini]]<br />
* '''Hoser, Susanne:''' Alltagsbewältigung im Rollstuhl. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2015, Nr. 3. S. 28–32.<br><br />
Die Autorin interviewt zwei "erfahrene Tetraplegiker", die in Kursen Techniken, Tipps und Tricks für das alltägliche Leben mit Rollstuhl und Spastik weitergeben. Grenzen sind da, um infrage gestellt zu werden; so kann ein hohes Maß an Autonomie erreicht werden.<br><br />
Zum Artikel: <br />
[[Datei:Lq-2015-3-Hoser.pdf|mini]]<br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* '''Wikipedia:''' Spastik. https://de.wikipedia.org/wiki/Spastik (Zugriff: 31.3.2022).<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Absicht]]<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Social_Tracking&diff=4861
Social Tracking
2023-12-18T09:45:32Z
<p>Lutz Zierbeck: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Lutz Zierbeck}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Social Tracking („Soziales Folgen“). Damit ist das Phänomen gemeint, dass sich Menschen in Interaktionen mit ihrer Bewegung fortlaufend wechselseitig folgen bzw. sich aneinander anpassen. Der Verhaltenskybernetiker K. U. Smith unterschied zwischen drei Grundformen (linear-imitative, series-linked, parallel-linked). In der Kinästhetik setzen sich diese in den drei Interaktionsformen (gleichzeitig-gemeinsame, schrittweise und einseitige Form) des Konzeptsystems fort. Die ersten Zitate stammen aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“. Danach folgen Zitate aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“, dem 16. Kinästheti-Bulletin von 1990 und aus „Psychology – An Introduction to Behavior Science“ von K. U. und M. F. Smith (1973).<br />
<br />
== „Social Tracking“ in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Das Zitat ist in das vierte Kapitel „Theoretische Grundlagen von Kinaesthetics“ eingebettet. Die vorausgehenden Unterkapitel sind „Geschlossenheit und Individualität der Wahrnehmung“ und „Autonomie der Verhaltenssteuerung“. Das Zitat ist der Text des sechsten und letzten Unterkapitels „‚Social Tracking‘ (soziales Folgen)“.<br />
[[Datei:Mann_mit_kind.png|mini|rechts|''Das wechselseitige Folgen in Bewegungsinteraktionen prägt die Entwicklung und die Lernprozesse der InteraktionspartnerInnen in einem besonders hohen Maße.'']]<br />
: ''„In den vorangegangenen Kapiteln wurde die Annahme beschrieben, dass Menschen ihre Wahrnehmung und ihr Verhalten autonom von innen heraus erzeugen und steuern. Dies bedeutet nicht, dass sie unabhängig von anderen Menschen lernen und sich entwickeln. Menschen sind soziale Wesen. Nach ihrer Geburt ist ihre Entwicklung maßgeblich von anderen Menschen abhängig. Entsprechend prägen die [[Interaktion|Interaktionen]] mit den Bezugspersonen die Entwicklung des Menschen und seine Lernprozesse in einem hohen Maß. Diesen wechselseitigen Lern- und Anpassungsprozess kann man besonders eindrücklich bei den Interaktionen zwischen einem Kleinkind und seinen Eltern oder Bezugspersonen beobachten. Er setzt sich aber während des ganzen Lebens fort. Menschen lernen besonders intensiv und effektiv durch Interaktionen mit anderen Menschen; sie sind ein Leben lang ein wichtiger Faktor unserer Entwicklung.''<br />
<br />
: ''Dieses Phänomen wird in Kinaesthetics als '''‚Social Tracking‘''' (soziales Folgen) bezeichnet. Es spielt sich in vielen Formen oft unbewusst ab. Ein Beispiel dafür ist die Situation, dass viele Menschen einem anderen, der bei Rot über den Fußgängerübergang geht, fast unwillkürlich folgen wollen.''<br />
<br />
: '''''‚Social Tracking‘''' meint, dass Menschen mit der eigenen Bewegung auf die Bewegung und das Verhalten anderer Menschen reagieren und sich anpassen. Die Art und Weise unseres Verhaltens beeinflusst dabei das Verhalten der anderen an der [[Interaktion]] beteiligten Person(en) und umgekehrt. Kinaesthetics interessiert sich in diesem Zusammenhang besonders für die Frage, welche Faktoren in einer Interaktion die Entwicklung und Lernprozesse der Beteiligten fördern oder hemmen und welche Rolle dabei Berührung und Bewegung spielen.“''<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „Die Herkunft des Wortes ‚lernen‘ und die Idee des Folgens“:<br />
: ''„Interessanterweise zeigt sich in der Herkunft des deutschen Wortes ‚lernen‘ ein enger Zusammenhang zur Bedeutung des Folgens. Das Wort gehört mit ‚lehren‘ und ‚List‘ zur Wortgruppe ‚leisten‘, was ursprünglich ‚einer Spur folgen, nachspüren‘ bedeutete. In der gotischen Sprache bedeutete ‚lais‘ „ich weiß‘, ursprünglich ‚ich habe nachgespürt, bin gefolgt‘.“''<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „Wolfskinder“:<br />
: ''„Ein sehr seltener und dramatischer Beleg für die Bedeutung von Lernen durch soziales Folgen sind die beiden 1920 in Indien gefundenen Wolfskinder. Sie wuchsen in den ersten Lebensjahren unter Wölfen auf und hatten sich diesen in ihrem (Bewegungs-)Verhalten weitgehend angepasst. So liefen sie z. B. auf allen Vieren, hatten eine erstaunlich wolfsähnliche Mimik und formten entsprechende Laute. Bei dem Versuch, sie zu zivilisieren, starben beide in der ‚menschlichen Gefangenschaft‘. Man hatte sie einsperren müssen, da sie immer wieder versucht hatten, in den Dschungel zu entfliehen.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 48.<br />
<br />
== „Social Tracking“ in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“, und zwar aus dem vierten Kapitel „K. U. Smith: Die Verhaltenskybernetik“. Es ist eingebettet in das fünfte Unterkapitel „Unermüdlicher Forscherdrang“. Vorausgehend wird als erstes Thema seine zweite Einführung in die Psychologie von 1973 thematisiert. Das Zitat ist der Text des zweiten Themas „‚Social Tracking‘ (Soziales Folgen)“.<br />
: ''„Das Buch des folgenden Jahres, „Industrial Social Cybernetics“ (Industrielle Sozialkybernetik, Smith 1974<ref>'''Smith, Karl U. (1974): ''' Industrial Social Cybernetics. Madison: Behavioral Cybernetics Laboratory, University of Wisconsin. Ohne ISBN.</ref>), befasste sich insbesondere mit den verschiedenen Formen, Modalitäten und Wirkungen des „'''Social Tracking'''“ (soziales Folgen).''<br />
<br />
: ''Schon in der ‚Psychology‘ (Smith; Foltz Smith 1973<ref>'''Smith, Karl U.; Smith, Margaret F. (1973):''' Psychology. An Introduction to Behavior Science. Boston: Little, Brown and Company. Ohne ISBN.</ref>, S. 37 f.) hatte er diesem Begriff eine Buchseite gewidmet und die Imitation als die offensichtlichste Manifestation des ‚'''Social Tracking''' ‘ bezeichnet – ein bereits in der Antike zentrales Thema der Pädagogik, das in den 1960er-Jahren besonders durch A. Bandura (*1925) unter dem Stichwort ‚Lernen am Modell‘ zu neuer Aktualität gefunden hatte. Smith versteht darunter grundsätzlich die Tatsache, dass ‚Tracking‘- oder Folge-Prozesse ein wesentliches Merkmal der Interaktion von zwei oder mehreren Menschen sind. Wenn wir jemandem begegnen, folgen wir mit unserem ganzen Körper, unseren Augen und Ohren dem Verhalten des Gegenübers. In der kybernetischen Sprache von Smith ausgedrückt: Die Feedback-Prozesse der einen InteraktionspartnerIn bilden eine Quelle der Feedback-Prozesse der anderen InteraktionspartnerIn und umgekehrt bzw. und so weiter. Und zweifelsohne stellt die zwischenmenschliche Interaktion eine wichtige Quelle der Entwicklung, des Lernens und der Verhaltensänderung dar (vgl. Infobox S. 41). Smith unterscheidet zwischen drei Grundformen des ‚Social Tracking‘ bzw. der Interaktion (Smith 1974, Kapitel 2.3<ref>'''Smith, Karl U. (1974): ''' Industrial Social Cybernetics. Madison: Behavioral Cybernetics Laboratory, University of Wisconsin. Ohne ISBN.</ref>):<br>1. linear- oder quasi-imitatorisch (‚linear-, quasi-imitative‘),<br>2. seriell verknüpft, Schritt-für-Schritt (‚series-linked‘) und<br>3. parallel verknüpft, gleichzeitig-gemeinsam (‚parallel-linked‘).''<br />
<br />
: ''Diese Formen bilden somit die Grundlage der Unterscheidung der Interaktionsformen in der Kinästhetik (EKA 2020a, S. 16<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0.</ref>; vgl. auch EKA 2020b, S. 48<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7.</ref>).''<br />
<br />
: ''Im weiteren Verlauf des Buches differenziert er mit wissenschaftlicher Akribie zwischen verschiedensten Formen und Modalitäten des ‚'''Social Tracking''' ‘, stützt sie mit experimentellen Resultaten und stellt sie in einen größeren Kontext.“''<br />
<br />
Text und Abbildungen der zugehörigen Infobox „'''Social Tracking'''“:<br />
[[Datei:Abb 3 Behav Science Social Tracking Mutter Kind.png|mini|rechts]]<br />
: '''''„Die Grundidee des ‚Social Tracking‘'''''<br>''Das Verhalten der Mutter bzw. des Kindes (gestrichelte Pfeile) wird als Quelle für die Feedback-Prozesse des Kindes bzw. der Mutter dargestellt, d. h. für die fortlaufenden Anpassungen an das Verhalten des Gegenübers (ausgezogene Pfeile). (Abbildung: nach Smith, Karl U. 1972: Cybernetic Foundations of Behavioral Science. Motorphonetic Theory of Speech and Language: The Experimental Foundations of Linguistic and Speech Cybernetics, Behavioral Cybernetics Laboratory, Fig. 7)“''<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
[[Datei:Abb 4 Infraschool Social Tracking Mutter Kind -physiologisch.png|mini|rechts]]<br />
: '''''„‚Social Tracking‘ und physiologische Prozesse'''''<br>''Die Abbildung stellt die wechselseitigen Einflüsse des ‚Social Tracking‘ auf die physiologischen Prozesse der InteraktionspartnerInnen dar. Die ‚Reaktionen‘ der InteraktionspartnerInnen haben nach Smith demnach nicht die Natur von Reflexen. (Abbildung: nach Smith; Schiamberg 1973, Fig. 53<ref>'''Smith, Karl U.; Schiamberg, Larry (1973): ''' The Human social Yoke: A Parents Guide to Early Childhood Eduction. The Infraschool. Madison: University of Wisconsin. Ohne ISBN.</ref>)“''<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 40–41.<br />
<br />
== (Social) Tracking im 16. Kinästhetik-Bulletin von 1990 ==<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 werden im Kapitel 4 „Grundprinzipien“<ref>'''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 12–34.</ref> die Themen aufgeführt, die später als Konzepte benannt wurden – allerdings z. T. in einer anderen Reihenfolge und mit anderen Bezeichnungen.<br />
<br />
Auf das Kapitel „4.5. Funktionen“ folgt das Kapitel „4.6. Beziehungsaspekte“<ref>ebd., S. 28–34</ref>. Das erste Unterkapitel nach einer kurzen Einleitung ist das nachfolgende Zitat zum Thema dieses Artikels. An dieses schließen sich die weiteren Unterkapitel „Lernen durch Differenzierung“, „Zeit, Raum und Anstrengung in der Interaktion“, „Hängen, Sitzen, Verstreben“, „Unterstützung“ und „Human Factoring“ an. <br />
: ''„'''4.6.1. Tracking (Prozesse von Führen und Folgen) '''<br />
: ''Untersuchungen in der Verhaltenskybernetik haben ergeben, dass Menschen, vom Baby bis zum älteren Menschen lernen und Erfahrungen machen, indem sie einander folgen. Folgen bedeutet, dass zwei oder mehrere Personen aktiv an einem [[Interaktion|Interaktionsprozess]] beteiligt sind, indem sie ihr sensorisches System auf die Art und Weise aneinander anpassen, dass das Fühlen, Empfangen und Beantworten von Informationen der einen das Fühlen, Empfangen und Beantworten von Informationen der anderen regulieren. <br />
<br />
: ''Drei hauptsächliche Arten von Tracking sind erkannt worden,<br />
: ''1. Unilaterales Tracking<br>kommt vor, wenn der Führende, d.h. die aktive Person einer [[Interaktion]], präsentiert, was zu lernen ist, ohne dabei zu beachten, ob die Lernenden verstehen, was gemeint ist, oder ohne auf ihre Reaktionen zu achten.<br />
: ''2. Wechselseitiges Tracking<br>findet hauptsächlich im Gespräch statt. Eine Person gibt taktile, verbale oder visuelle Signale, die andere antwortet darauf. Diese Form des Zusammenspiels ergibt einen Dialog. So zu lernen und kommunizieren ist effektiver als unilaterales Tracking. Zwischen Wahrnehmen und Folgen, Information und Antwort gibt es eine Zeitverzögerung. Diese kann eine erhebliche Quelle von Missverständnissen im wechselseitigen Tracking sein.<br />
: ''3. Gleichzeitig-gemeinsames Tracking<br>scheint uns die beste Art zu sein, um Informationen zu vermitteln und gemeinsam zu kommunizieren. Es bedeutet, dass Lehrer und Lernende einander gemeinsam (simultan) folgen. Solch eine Art von simultaner [[Interaktion]] kann nur durch Berührung stattfinden, weil der taktile Sinn Information schneller als alle anderen Sinne übermittelt. Berührung ist deshalb der direkteste Kontakt, um sich mit der Bewegung eines andern Menschen zu verbinden. Durch Berührung kann man am Experiment oder Lernen des Andern sehr nahe teilhaben.<br />
<br />
: ''Es ist wichtig zu sehen, dass der Akt der Berührung an sich noch keine gleichzeitig-gemeinsame [[Interaktion]] ausmacht. Es ist möglich, durch Berührung unilaterales, wechselseitiges oder gleichzeitig-gemeinsames Tracking zu vollziehen. Aber nur wenn der Lehrer (Trainer) sein Tempo, Gebrauch des Raumes und die Kraftanstrengung dem Lernenden optimal anpasst, ist der Lernprozess ein gleichzeitig-gemeinsamer. <br />
<br />
: ''Das Ziel von Kinästhetik-Lektionen ist, '''soziale Trackingmuster''' zu entdecken und zu identifizieren. Wenn diese Trackingmuster auf der physischen Ebene erlebt und erkannt werden, können sie auf abstraktere Ebenen transferiert werden. <br />
<br />
: ''Die meisten Menschen haben viele unilaterale und wechselseitige Trackingmuster, dabei sind in diesen [[Interaktion|Interaktionen]] die Rollen des Lernenden (Folgenden) und des Lehrenden (Führers) meistens festgelegt. In einem gleichzeitig-gemeinsamen Austausch haben der Führer und der Folgende die gleiche Bedeutung. Der Führende folgt dem Geführten und der Geführte folgt dem Führenden. Beide werden ein System, und ihre [[Interaktion]] ist so synchron, dass nicht mehr zu unterscheiden ist, wer jetzt der Führende und wer der Folgende ist. <br />
<br />
: ''Eltern und Babys brauchen, lange bevor sie die Sprache benützen können, den Körper als Kommunikationsmittel. Durch Berührung und Bewegung passen sie sich einander immer wieder an. Wenn die erwachsene Person fähig ist, sich den Bewegungsmustern des Babys anzupassen, entsteht für das Baby eine optimale Lern- und Erfahrungssituation, aber nicht nur für das Baby, auch für die Mutter oder den Vater.<br />
<br />
: ''Genau wie Menschen einander folgen, folgen einzelne Teile im Körper einander. Wenn wir uns harmonisch, frei und ohne Kraftanstrengung bewegen wollen, ist es wichtig, dass alle Teile gleichzeitig und im gleichen Tempo an einer Bewegung beteiligt sind. Ebenfalls wichtig ist, dass die Richtung der Bewegung der einzelnen Teile stimmt, damit wir uns nicht in unserem Tun und Handeln hindern, nämlich dann, wenn wir uns gleichzeitig in zwei oder mehrere nicht übereinstimmende Richtungen bewegen wollen.“''<ref>ebd., S. 28–30.</ref><br />
<br />
== „Social Tracking“ in „Psychology – An Introduction to Behavior Science“ von K. U. und M. F. Smith (1973) ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Psychlogie – Eine Einführung in die Verhaltenswissenschaft“ (1973) von Karl U. und Margaret F. Smith. Es ist eingebettet in das zweite Kapitel „Das sich verhaltende System“ des ersten Teils „Einführung“. Vorausgehend werden verschiedene Arten von Feedback (dynamisches Bewegungsfeedback, Feedback durch Werkzeuggebrauch, affektives, kognitives und soziales Feedback) beschrieben. Das Zitat ist der Text des anschließenden Unterkapitels „Soziales Folgen“.<br />
: ''„Soziale Interaktionen beinhalten, was wir soziales Folgen ('''social tracking''') nennen, d. h. das feedback-kontrollierte Verfolgen (following) eines sozialen Zieles. Die offensichtlichste Erscheinungsform des sozialen Folgens ist die Imitation. Wenn wir das Verhalten einer anderen Person imitieren, folgen wir der Bewegung ihres Reaktionssystems, indem wir ähnliche Bewegungen mit unserem eigenen, ähnlichen Reaktionssystem ausführen. In einigen Fällen kann ein Imitator einem komplizierten Bewegungsmuster, das von einer anderen Person ausgeführt wird, fast so direkt folgen, wie er einem einfachen visuellen Ziel folgt. Eine Leistung, genannt Schattensprechen (speech shadowing), ist ein gutes Beispiel (Cherry, 1966). Eine Tonbandaufnahme einer Prosapassage wird durch Kopfhörer einem Hörer vorgespielt, der angewiesen wird, was er hört, mit einer gedämpften Stimme oder Flüstern unmittelbar zu wiederholen. Dies stellt sich sogar für Stotterer als einfache Aufgabe heraus. Der Schattensprecher neigt dazu, die Passage in losgelösten, unregelmäßigen Ausdrücken mit einer leeren, emotionslosen Stimme zu wiederholen. Seine Leistung ist fehlerfrei, doch er erinnert sich nur wenig oder an gar nichts von dem, was er gesagt hat.''<br />
<br />
: '''''Soziales Folgen''' beinhaltet nicht immer eine positive Imitation einer anderen Person. Imitation ist eine direkte Verfolgung eines Zielverhaltens, jedoch kann eine Person auch das Verhalten eines anderen negieren oder ausgleichen. Ein sehr junges Kind folgt seiner Mutter im Haus oft in einer positiven Weise, indem es ihr nachläuft, doch manchmal folgt es ihr in einer ausgleichenden Art. Sie möchte vielleicht, dass es etwas macht, dass es nicht machen will. Sie macht einen Schritt vorwärts und es weicht zurück. Sie nimmt seine Hand und zieht, und es wirkt entgegen. Es folgt immer noch ihren Bewegungen, jedoch in einer negativen oder ausgleichenden Art. Zusätzlich zum positiven Verfolgen und negativen Ausgleichen kann das soziale Folgen eine Art von kooperativer Interaktion enthalten. Die Bewegungen von zwei Menschen in einem Gesellschaftstanz liefern viele Beispiele von imitativen, ausgleichenden, koordinativen und zahlreiche Arten von ergänzenden Interaktionen.''<br />
<br />
: ''In diesem Buch werden wir vom '''sozialen Folgen''' in anderen Zusammenhängen sprechen, besonders in Kapitel 13 über die soziale Entwicklung des Individuums. Da soziales Folgen eine fundamentale Art der Reaktion auf Mitglieder der eigenen Spezies ist, reguliert es die Entwicklung von sozial relevantem Verhalten junger Menschen. Kinder können andere Menschen nachmachen oder ihnen folgen, ohne mit ihnen sozial zu interagieren, jedoch lernen sie in gegenseitigen Reaktionen mit sozialem Feedback leichter. Ein Kind entwickelt Fertigkeiten, wie z. B. das Sprechen, indem es den Reaktionsmustern der Erwachsenen folgt oder sie wiedergibt. Erwachsene fördern diesen Prozess, indem sie ihre eigenen Bewegungen verlangsamen oder vereinfachen, sodass das Kind ihnen genauer folgen kann. Jedes Individuum in einem solchen Austausch liefert eine Quelle des sozialen Feedbacks für das andere.''<br />
<br />
: ''Ein Beispiel für eine einfache Demonstration von '''sozialem Folgen''': Halten Sie Ihre Fingerspitzen an die einer anderen Person und sagen Sie ihr, sie solle Ihre Bewegungen flüssig folgen, ohne den Kontakt zu unterbrechen. Wir nennen dies Fingertanzen. Die Idee wurde von den populären Medien aufgegriffen und als Test für die Kompatibilität zwischen den Geschlechtern beschrieben. Obwohl man dieser Anwendung gegenüber skeptisch sein kann, liefert die Beobachtung des Fingertanzes einige interessante Einblicke in die soziale Feedback-Kontrolle des Verhaltens. Wenn Sie diesen Tanz mit einer anderen Person versuchen, werden Sie entdecken, dass sie Ihrer Bewegung flüssig folgen kann, ohne vorherige Übung und sogar mit geschlossenen Augen. Wenn der Verfolger jedoch versucht, Ihren Bewegungen visuell zu folgen, ohne Ihre Finger zu berühren, wird seine Leistung uneinheitlich und ruckartig sein. Zweihändiges Fingertanzen kann mit taktiler Kontrolle ziemlich exakt ausgeführt werden, doch mit visueller Kontrolle ist es nahezu unmöglich. Die Fähigkeit, flüssige, sozial koordinierte Bewegungen auf der Basis von taktilem Feedback auszuführen, ist essenziell für viele intime Verhalten, so wie z. B. Tanzen, sexuelle Interaktion und viele Eltern-Kind-Verhaltensweisen. Visuell kontrollierte Interaktionen sind typischerweise nicht so flüssig und exakt wie solche mit taktiler Kontrolle.''<br />
<br />
: ''Mit taktiler Kontrolle meinen wir nicht nur die oberflächliche Berührung, sondern auch die Kontrolle durch die Bewegungsmechanismen, die die durchgeführten Bewegungen wahrnehmen. Wir werden die Rezeptormechanismen, die in der Feedbackkontrolle eine Rolle spielen, in Kapitel 3 und 4 diskutieren und widmen den Rest dieses Kapitels den Effektoren und den neuralen Mechanismen. Diejenigen von Ihnen, die kein Hintergrundwissen in Biologie haben, werden den folgenden Teil vielleicht schwierig finden und die Signifikanz von Teilen des Stoffes wird Ihnen vielleicht für den Moment entgehen. In späteren Kapiteln, wenn wir uns auf einige der regulativen Mechanismen, die hier beschrieben werden, beziehen, werden Sie vielleicht die relevanten Abschnitte nochmals lesen wollen.“''<br>(Übersetzung: Lukas Marty)<br />
<br />
Quelle: '''Smith, Karl U.; Smith, Margaret F. (1973):''' Psychology. An Introduction to Behavior Science. Boston: Little, Brown and Company. Ohne ISBN. S. 37–38.<br />
<br />
== Kommentare, Auswertung und offene Fragen ==<br />
<br />
== Erfahrungsberichte ==<br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 200: „5.1.3. Das Erlernen von Bewegung“, S. 207–210: „5.2.2. Studien über das Social Tracking“, S. 210–213: „5.2.3. Social Tracking-Fähigkeiten beim Kind“.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[Feedback-Control-Theorie]]<br />
* [[Interaktion]]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie: Kybernetische Grundlagen]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Bildungsfelder&diff=4849
Bildungsfelder
2023-12-14T18:06:26Z
<p>Lutz Zierbeck: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Lutz Zierbeck}}<br />
<br />
'''''Zusammenfassung:<br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus zwei einschlägigen Zitaten zum Thema „Bildungfelder“ aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ und dem Buch „Kinästhetik - Konzeptsystem“. Der Artikel zeigt die Bedeutung und Struktur der Bildungsfelder als Werkzeug der Selbstevaluation.<br />
<br />
== Die Bildungsfelder in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“==<br />
[[Datei:Bildungsfelder ohne Kreis RE col.jpg|mini|rechts]]<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Im zweiten Kapitel „Methoden und Instrumente“ bildet der Text das dritten Unterkapitel „Instrumente“:<br />
: '''''„2.3. Instrumente'''''<br />
: ''Die '''Bildungsfelder''' und das Konzept-Raster sind zwei Kinaesthetics-Instrumente, die im Lernzyklus bzw. in der Lernspirale zur Dokumentation verwendet werden. Sie können aber auch außerhalb von diesen beiden Methoden vielfältig eingesetzt werden. Die Bildungsfelder erlauben die systematische Evaluation und Zuordnung des Lernzuwachses, das Konzept-Raster eine systematische Analyse mit den Blickwinkeln des Kinaesthetics-Konzeptsystems.'' <br />
<br />
: '''''2.3.1.Die Bildungsfelder'''''<br />
: ''Die Metapher der '''Bildungsfelder''' gibt die Bereiche wieder, in denen ein Lern- und Verstehenszuwachs im Rahmen eines Kinaesthetics-Bildungsanlasses angestrebt wird. Da Lernen ein eigenaktiver und eigenverantwortlicher Prozess ist, bestimmen letztlich die Lernenden, auf welchem Feld sie welche konkreten ‚Bildungsfrüchte‘ ernten. Sie ordnen also ihre individuellen Lernerfolge, Erkenntnisse oder auch offenen Fragen selbst den Bildungsfeldern zu.''<br />
<br />
: ''Die Anordnung der '''Bildungsfelder''' ergibt sich aus ihrer Stellung im Kinaesthetics-Curriculum. Sie zeigen je in die Richtung eines sogenannten Rahmenelementes von Kinaesthetics. Sie bilden ein erstes Dreieck, bei dem die Bewegung und Bewegungswahrnehmung im Vordergrund steht (eigene Bewegung, Handling, Organisation), und ein zweites, bei dem es mehr um die Ebene des Verständnisses geht (Grundwissen, Konzeptverständnis, [[Lernumgebung]]).''<br />
<br />
: ''Im Folgenden werden die Themen der einzelnen Bildungsfelder aus der Ich-Perspektive in Stichworten und Fragen umrissen.''<br />
<br />
: '''''Eigene Bewegung'''''<br>''Meine eigene [[Bewegungskompetenz]]: Wie differenziert und umfassend kann ich meine Bewegung wahrnehmen, steuern und an die Herausforderungen des Alltags anpassen?''<br />
<br />
: '''''Grundwissen'''''<br>''Meine Annahmen und Theorien in der Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Theorien: Wie zusammenhängend und umfassend kann ich die Theorien und Annahmen, die Kinaesthetics zugrunde liegen, in meine Annahmen und Theorien integrieren und verständlich erklären? Wo hilft mir die Theorie, meine Erfahrungen zu verstehen?''<br />
<br />
: '''''Handling'''''<br>''Meine Bewegungskompetenz im Kontakt mit einem anderen Menschen: Wie fein und präzise kann ich meine Bewegung an die Bewegung eines anderen Menschen und an die gemeinsame Absicht anpassen?''<br />
<br />
: '''''Konzeptverständnis'''''<br>''Mein Verständnis des Inhaltes der Konzepte: Wie zusammenhängend und umfassend kann ich die Inhalte der Kinaesthetics-Konzepte verinnerlichen und verständlich erklären?''<br />
<br />
: '''''Organisation'''''<br>''Meine Bewegungskompetenz im Kontakt mit einer Gruppe von Menschen: Wie fein und präzise kann ich mein Verhalten an das Verhalten einer Gruppe (Angehörige, KollegInnen, Vorgesetzte, Institutionen) anpassen sowie produktiv in die Gruppe und ihre organisatorischen Abläufe integrieren?''<br />
<br />
: '''''Lernumgebung'''''<br>''Mein bewusstes Gestalten von Lernumgebungen für mich und andere: Wie gezielt und reflektiert kann ich für mich und andere Lernumgebungen mit der Methodik und Didaktik von Kinaesthetics gestalten und an den Verlauf des Lernprozesses anpassen?“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 26–28.<br />
<br />
== Die Bildungsfelder in „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ==<br />
Das zweite Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics - Konzeptsystem“, das als Arbeitsunterlage in Kinästhetik-Grund- und Aufbaukursen verwendet wird. Im Anhang werden „Die Bildungsfelder“ wie folgt beschrieben: <br />
: ''„Im Mittelpunkt des Kinaesthetics-Curriculums stehen die '''Bildungsfelder'''. Ein Kinaesthetics-Bildungsanlass ist immer auch ein Selbstevaluationsprozess: Es geht darum, die eigenen Erfahrungen zu evaluieren und zu verstehen. Dabei knüpft jeder Mensch auf unterschiedliche Art und Weise einen bestimmten Lerninhalt an seinen Erfahrungshintergrund an. Die einzelne TeilnehmerIn eines Kinaesthetics-Bildungsanlasses wertet deshalb selbst aus, was und in welchen Bildungsfeldern sie im Rahmen eines bestimmten Themas gelernt hat.''<br />
: ''Aus diesen Gründen sind die '''Bildungsfelder''' ein wichtiges Instrument für die Einschätzung und Einordnung des eigenen Lernens. Nachfolgend eine kurze Beschreibung der Bildungsfelder (aus der Perspektive einer TeilnehmerIn):''<br />
<br />
: '''''Konzeptverständnis'''''<br>''Mein Verständnis der Inhalte der Konzepte.''<br />
<br />
: '''''Handling'''''<br>''Meine Bewegungskompetenz im Kontakt mit einem anderen Menschen.''<br />
<br />
: '''''Grundwissen'''''<br>''Meine Annahmen und Theorien in der Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Theorien.''<br />
<br />
: '''''Eigene Bewegung'''''<br>''Meine eigene Bewegungskompetenz.''<br />
<br />
: '''''Lernumgebung'''''<br>''Mein bewusstes Gestalten von Lernsituationen für mich und andere.''<br />
<br />
: '''''Organisation'''''<br>''Meine Bewegungskompetenz im Kontakt mit einer Gruppe von Menschen.''<br />
<br />
<br />
: '''''Erfahren – analysieren – dokumentieren'''''<br>''Eine besondere Stellung im Curriculum kommt dem Erfahren, Analysieren und Dokumentieren zu. Diese Tätigkeiten bilden die Grundlage der Selbstevaluation und erlauben es, die persönlichen Theorien und Annahmen mit den Theorien und Annahmen von Kinaesthetics in Verbindung zu bringen.“''<br />
<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 59.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Lernzyklus]]<br><br />
[[Lernumgebung]]<br />
<br />
[[Kategorie:Lernen/Dokumentationswerkzeuge]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Bildungsfelder&diff=4848
Bildungsfelder
2023-12-14T17:59:47Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Die Bildungsfelder in „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Lutz Zierbeck}}<br />
<br />
'''''Zusammenfassung:<br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus zwei einschlägigen Zitaten zum Thema „Bildungfelder“ aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ und dem Buch „Kinästhetik - Konzeptsystem“. Der Artikel zeigt die Bedeutung und Struktur der Bildungsfelder als Werkzeug der Selbstevaluation.<br />
<br />
== Die Bildungsfelder in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“==<br />
[[Datei:Bildungsfelder ohne Kreis RE col.jpg|mini|rechts]]<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Im zweiten Kapitel „Methoden und Instrumente“ bildet der Text das dritten Unterkapitel „Instrumente“:<br />
: '''''„2.3. Instrumente'''''<br />
: ''Die Bildungsfelder und das Konzept-Raster sind zwei Kinaesthetics-Instrumente, die im Lernzyklus bzw. in der Lernspirale zur Dokumentation verwendet werden. Sie können aber auch außerhalb von diesen beiden Methoden vielfältig eingesetzt werden. Die Bildungsfelder erlauben die systematische Evaluation und Zuordnung des Lernzuwachses, das Konzept-Raster eine systematische Analyse mit den Blickwinkeln des Kinaesthetics-Konzeptsystems.'' <br />
<br />
: '''''2.3.1.Die Bildungsfelder'''''<br />
: ''Die Metapher der Bildungsfelder gibt die Bereiche wieder, in denen ein Lern- und Verstehenszuwachs im Rahmen eines Kinaesthetics-Bildungsanlasses angestrebt wird. Da Lernen ein eigenaktiver und eigenverantwortlicher Prozess ist, bestimmen letztlich die Lernenden, auf welchem Feld sie welche konkreten ‚Bildungsfrüchte‘ ernten. Sie ordnen also ihre individuellen Lernerfolge, Erkenntnisse oder auch offenen Fragen selbst den Bildungsfeldern zu.''<br />
<br />
: ''Die Anordnung der Bildungsfelder ergibt sich aus ihrer Stellung im Kinaesthetics-Curriculum. Sie zeigen je in die Richtung eines sogenannten Rahmenelementes von Kinaesthetics. Sie bilden ein erstes Dreieck, bei dem die Bewegung und Bewegungswahrnehmung im Vordergrund steht (eigene Bewegung, Handling, Organisation), und ein zweites, bei dem es mehr um die Ebene des Verständnisses geht (Grundwissen, Konzeptverständnis, [[Lernumgebung]]).''<br />
<br />
: ''Im Folgenden werden die Themen der einzelnen Bildungsfelder aus der Ich-Perspektive in Stichworten und Fragen umrissen.''<br />
<br />
: '''''Eigene Bewegung'''''<br>''Meine eigene [[Bewegungskompetenz]]: Wie differenziert und umfassend kann ich meine Bewegung wahrnehmen, steuern und an die Herausforderungen des Alltags anpassen?''<br />
<br />
: '''''Grundwissen'''''<br>''Meine Annahmen und Theorien in der Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Theorien: Wie zusammenhängend und umfassend kann ich die Theorien und Annahmen, die Kinaesthetics zugrunde liegen, in meine Annahmen und Theorien integrieren und verständlich erklären? Wo hilft mir die Theorie, meine Erfahrungen zu verstehen?''<br />
<br />
: '''''Handling'''''<br>''Meine Bewegungskompetenz im Kontakt mit einem anderen Menschen: Wie fein und präzise kann ich meine Bewegung an die Bewegung eines anderen Menschen und an die gemeinsame Absicht anpassen?''<br />
<br />
: '''''Konzeptverständnis'''''<br>''Mein Verständnis des Inhaltes der Konzepte: Wie zusammenhängend und umfassend kann ich die Inhalte der Kinaesthetics-Konzepte verinnerlichen und verständlich erklären?''<br />
<br />
: '''''Organisation'''''<br>''Meine Bewegungskompetenz im Kontakt mit einer Gruppe von Menschen: Wie fein und präzise kann ich mein Verhalten an das Verhalten einer Gruppe (Angehörige, KollegInnen, Vorgesetzte, Institutionen) anpassen sowie produktiv in die Gruppe und ihre organisatorischen Abläufe integrieren?''<br />
<br />
: '''''Lernumgebung'''''<br>''Mein bewusstes Gestalten von Lernumgebungen für mich und andere: Wie gezielt und reflektiert kann ich für mich und andere Lernumgebungen mit der Methodik und Didaktik von Kinaesthetics gestalten und an den Verlauf des Lernprozesses anpassen?“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 26–28.<br />
<br />
== Die Bildungsfelder in „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ==<br />
Das zweite Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics - Konzeptsystem“, das als Arbeitsunterlage in Kinästhetik-Grund- und Aufbaukursen verwendet wird. Im Anhang werden „Die Bildungsfelder“ wie folgt beschrieben: <br />
: ''„Im Mittelpunkt des Kinaesthetics-Curriculums stehen die Bildungsfelder. Ein Kinaesthetics-Bildungsanlass ist immer auch ein Selbstevaluationsprozess: Es geht darum, die eigenen Erfahrungen zu evaluieren und zu verstehen. Dabei knüpft jeder Mensch auf unterschiedliche Art und Weise einen bestimmten Lerninhalt an seinen Erfahrungshintergrund an. Die einzelne TeilnehmerIn eines Kinaesthetics-Bildungsanlasses wertet deshalb selbst aus, was und in welchen Bildungsfeldern sie im Rahmen eines bestimmten Themas gelernt hat.''<br />
: ''Aus diesen Gründen sind die Bildungsfelder ein wichtiges Instrument für die Einschätzung und Einordnung des eigenen Lernens. Nachfolgend eine kurze Beschreibung der Bildungsfelder (aus der Perspektive einer TeilnehmerIn):''<br />
<br />
: '''''Konzeptverständnis'''''<br>''Mein Verständnis der Inhalte der Konzepte.''<br />
<br />
: '''''Handling'''''<br>''Meine Bewegungskompetenz im Kontakt mit einem anderen Menschen.''<br />
<br />
: '''''Grundwissen'''''<br>''Meine Annahmen und Theorien in der Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Theorien.''<br />
<br />
: '''''Eigene Bewegung'''''<br>''Meine eigene Bewegungskompetenz.''<br />
<br />
: '''''Lernumgebung'''''<br>''Mein bewusstes Gestalten von Lernsituationen für mich und andere.''<br />
<br />
: '''''Organisation'''''<br>''Meine Bewegungskompetenz im Kontakt mit einer Gruppe von Menschen.''<br />
<br />
<br />
: '''''Erfahren – analysieren – dokumentieren'''''<br>''Eine besondere Stellung im Curriculum kommt dem Erfahren, Analysieren und Dokumentieren zu. Diese Tätigkeiten bilden die Grundlage der Selbstevaluation und erlauben es, die persönlichen Theorien und Annahmen mit den Theorien und Annahmen von Kinaesthetics in Verbindung zu bringen.“''<br />
<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 59.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Lernzyklus]]<br><br />
[[Lernumgebung]]<br />
<br />
[[Kategorie:Lernen/Dokumentationswerkzeuge]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Bildungsfelder&diff=4847
Bildungsfelder
2023-12-14T17:57:28Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Die Bildungsfelder in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Lutz Zierbeck}}<br />
<br />
'''''Zusammenfassung:<br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus zwei einschlägigen Zitaten zum Thema „Bildungfelder“ aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ und dem Buch „Kinästhetik - Konzeptsystem“. Der Artikel zeigt die Bedeutung und Struktur der Bildungsfelder als Werkzeug der Selbstevaluation.<br />
<br />
== Die Bildungsfelder in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“==<br />
[[Datei:Bildungsfelder ohne Kreis RE col.jpg|mini|rechts]]<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Im zweiten Kapitel „Methoden und Instrumente“ bildet der Text das dritten Unterkapitel „Instrumente“:<br />
: '''''„2.3. Instrumente'''''<br />
: ''Die Bildungsfelder und das Konzept-Raster sind zwei Kinaesthetics-Instrumente, die im Lernzyklus bzw. in der Lernspirale zur Dokumentation verwendet werden. Sie können aber auch außerhalb von diesen beiden Methoden vielfältig eingesetzt werden. Die Bildungsfelder erlauben die systematische Evaluation und Zuordnung des Lernzuwachses, das Konzept-Raster eine systematische Analyse mit den Blickwinkeln des Kinaesthetics-Konzeptsystems.'' <br />
<br />
: '''''2.3.1.Die Bildungsfelder'''''<br />
: ''Die Metapher der Bildungsfelder gibt die Bereiche wieder, in denen ein Lern- und Verstehenszuwachs im Rahmen eines Kinaesthetics-Bildungsanlasses angestrebt wird. Da Lernen ein eigenaktiver und eigenverantwortlicher Prozess ist, bestimmen letztlich die Lernenden, auf welchem Feld sie welche konkreten ‚Bildungsfrüchte‘ ernten. Sie ordnen also ihre individuellen Lernerfolge, Erkenntnisse oder auch offenen Fragen selbst den Bildungsfeldern zu.''<br />
<br />
: ''Die Anordnung der Bildungsfelder ergibt sich aus ihrer Stellung im Kinaesthetics-Curriculum. Sie zeigen je in die Richtung eines sogenannten Rahmenelementes von Kinaesthetics. Sie bilden ein erstes Dreieck, bei dem die Bewegung und Bewegungswahrnehmung im Vordergrund steht (eigene Bewegung, Handling, Organisation), und ein zweites, bei dem es mehr um die Ebene des Verständnisses geht (Grundwissen, Konzeptverständnis, [[Lernumgebung]]).''<br />
<br />
: ''Im Folgenden werden die Themen der einzelnen Bildungsfelder aus der Ich-Perspektive in Stichworten und Fragen umrissen.''<br />
<br />
: '''''Eigene Bewegung'''''<br>''Meine eigene [[Bewegungskompetenz]]: Wie differenziert und umfassend kann ich meine Bewegung wahrnehmen, steuern und an die Herausforderungen des Alltags anpassen?''<br />
<br />
: '''''Grundwissen'''''<br>''Meine Annahmen und Theorien in der Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Theorien: Wie zusammenhängend und umfassend kann ich die Theorien und Annahmen, die Kinaesthetics zugrunde liegen, in meine Annahmen und Theorien integrieren und verständlich erklären? Wo hilft mir die Theorie, meine Erfahrungen zu verstehen?''<br />
<br />
: '''''Handling'''''<br>''Meine Bewegungskompetenz im Kontakt mit einem anderen Menschen: Wie fein und präzise kann ich meine Bewegung an die Bewegung eines anderen Menschen und an die gemeinsame Absicht anpassen?''<br />
<br />
: '''''Konzeptverständnis'''''<br>''Mein Verständnis des Inhaltes der Konzepte: Wie zusammenhängend und umfassend kann ich die Inhalte der Kinaesthetics-Konzepte verinnerlichen und verständlich erklären?''<br />
<br />
: '''''Organisation'''''<br>''Meine Bewegungskompetenz im Kontakt mit einer Gruppe von Menschen: Wie fein und präzise kann ich mein Verhalten an das Verhalten einer Gruppe (Angehörige, KollegInnen, Vorgesetzte, Institutionen) anpassen sowie produktiv in die Gruppe und ihre organisatorischen Abläufe integrieren?''<br />
<br />
: '''''Lernumgebung'''''<br>''Mein bewusstes Gestalten von Lernumgebungen für mich und andere: Wie gezielt und reflektiert kann ich für mich und andere Lernumgebungen mit der Methodik und Didaktik von Kinaesthetics gestalten und an den Verlauf des Lernprozesses anpassen?“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 26–28.<br />
<br />
== Die Bildungsfelder in „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ==<br />
Das zweite Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics - Konzeptsystem“, das als Arbeitsunterlage in Kinästhetik-Grund- und Aufbaukursen verwendet wird. Im Anhang werden „Die Bildungsfelder“ wie folgt beschrieben: <br />
: ''„Im Mittelpunkt des Kinaesthetics-Curriculums stehen die Bildungsfelder. Ein Kinaesthetics-Bildungsanlass ist immer auch ein Selbstevaluationsprozess: Es geht darum, die eigenen Erfahrungen zu evaluieren und zu verstehen. Dabei knüpft jeder Mensch auf unterschiedliche Art und Weise einen bestimmten Lerninhalt an seinen Erfahrungshintergrund an. Die einzelne TeilnehmerIn eines Kinaesthetics-Bildungsanlasses wertet deshalb selbst aus, was und in welchen Bildungsfeldern sie im Rahmen eines bestimmten Themas gelernt hat.''<br />
: ''Aus diesen Gründen sind die Bildungsfelder ein wichtiges Instrument für die Einschätzung und Einordnung des eigenen Lernens. Nachfolgend eine kurze Beschreibung der Bildungsfelder (aus der Perspektive einer TeilnehmerIn):''<br />
<br />
: '''''Konzeptverständnis'''''<br>''Mein Verständnis der Inhalte der Konzepte.''<br />
<br />
: '''''Handling'''''<br>''Meine Bewegungskompetenz im Kontakt mit einem anderen Menschen.''<br />
<br />
: '''''Grundwissen'''''<br>''Meine Annahmen und Theorien in der Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Theorien.''<br />
<br />
: '''''Eigene Bewegung'''''<br>''Meine eigene Bewegungskompetenz.''<br />
<br />
: '''''Lernumgebung'''''<br>''Mein bewusstes Gestalten von Lernsituationen für mich und andere.''<br />
<br />
: '''''Organisation'''''<br>''Meine Bewegungskompetenz im Kontakt mit einer Gruppe von Menschen.''<br />
<br />
<br />
: '''''Erfahren – analysieren – dokumentieren'''''<br>''Eine besondere Stellung im Curriculum kommt dem Erfahren, Analysieren und Dokumentieren zu. Diese Tätigkeiten bilden die Grundlage der Selbstevaluation und erlauben es, die persönlichen Theorien und Annahmen mit den Theorien und Annahmen von Kinaesthetics in Verbindung zu bringen.''<br />
<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 59.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Lernzyklus]]<br><br />
[[Lernumgebung]]<br />
<br />
[[Kategorie:Lernen/Dokumentationswerkzeuge]]</div>
Lutz Zierbeck
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Bildungsfelder&diff=4846
Bildungsfelder
2023-12-14T17:56:24Z
<p>Lutz Zierbeck: /* Die Bildungsfelder in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Lutz Zierbeck}}<br />
<br />
'''''Zusammenfassung:<br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus zwei einschlägigen Zitaten zum Thema „Bildungfelder“ aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ und dem Buch „Kinästhetik - Konzeptsystem“. Der Artikel zeigt die Bedeutung und Struktur der Bildungsfelder als Werkzeug der Selbstevaluation.<br />
<br />
== Die Bildungsfelder in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“==<br />
[[Datei:Bildungsfelder ohne Kreis RE col.jpg|mini|rechts]]<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird. Im zweiten Kapitel „Methoden und Instrumente“ bildet der Text das dritten Unterkapitel „Instrumente“:<br />
: '''''2.3. Instrumente'''''<br />
: ''Die Bildungsfelder und das Konzept-Raster sind zwei Kinaesthetics-Instrumente, die im Lernzyklus bzw. in der Lernspirale zur Dokumentation verwendet werden. Sie können aber auch außerhalb von diesen beiden Methoden vielfältig eingesetzt werden. Die Bildungsfelder erlauben die systematische Evaluation und Zuordnung des Lernzuwachses, das Konzept-Raster eine systematische Analyse mit den Blickwinkeln des Kinaesthetics-Konzeptsystems.'' <br />
<br />
: '''''2.3.1.Die Bildungsfelder'''''<br />
: ''Die Metapher der Bildungsfelder gibt die Bereiche wieder, in denen ein Lern- und Verstehenszuwachs im Rahmen eines Kinaesthetics-Bildungsanlasses angestrebt wird. Da Lernen ein eigenaktiver und eigenverantwortlicher Prozess ist, bestimmen letztlich die Lernenden, auf welchem Feld sie welche konkreten ‚Bildungsfrüchte‘ ernten. Sie ordnen also ihre individuellen Lernerfolge, Erkenntnisse oder auch offenen Fragen selbst den Bildungsfeldern zu.''<br />
<br />
: ''Die Anordnung der Bildungsfelder ergibt sich aus ihrer Stellung im Kinaesthetics-Curriculum. Sie zeigen je in die Richtung eines sogenannten Rahmenelementes von Kinaesthetics. Sie bilden ein erstes Dreieck, bei dem die Bewegung und Bewegungswahrnehmung im Vordergrund steht (eigene Bewegung, Handling, Organisation), und ein zweites, bei dem es mehr um die Ebene des Verständnisses geht (Grundwissen, Konzeptverständnis, [[Lernumgebung]]).''<br />
<br />
: ''Im Folgenden werden die Themen der einzelnen Bildungsfelder aus der Ich-Perspektive in Stichworten und Fragen umrissen.''<br />
<br />
: '''''Eigene Bewegung'''''<br>''Meine eigene [[Bewegungskompetenz]]: Wie differenziert und umfassend kann ich meine Bewegung wahrnehmen, steuern und an die Herausforderungen des Alltags anpassen?''<br />
<br />
: '''''Grundwissen'''''<br>''Meine Annahmen und Theorien in der Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Theorien: Wie zusammenhängend und umfassend kann ich die Theorien und Annahmen, die Kinaesthetics zugrunde liegen, in meine Annahmen und Theorien integrieren und verständlich erklären? Wo hilft mir die Theorie, meine Erfahrungen zu verstehen?''<br />
<br />
: '''''Handling'''''<br>''Meine Bewegungskompetenz im Kontakt mit einem anderen Menschen: Wie fein und präzise kann ich meine Bewegung an die Bewegung eines anderen Menschen und an die gemeinsame Absicht anpassen?''<br />
<br />
: '''''Konzeptverständnis'''''<br>''Mein Verständnis des Inhaltes der Konzepte: Wie zusammenhängend und umfassend kann ich die Inhalte der Kinaesthetics-Konzepte verinnerlichen und verständlich erklären?''<br />
<br />
: '''''Organisation'''''<br>''Meine Bewegungskompetenz im Kontakt mit einer Gruppe von Menschen: Wie fein und präzise kann ich mein Verhalten an das Verhalten einer Gruppe (Angehörige, KollegInnen, Vorgesetzte, Institutionen) anpassen sowie produktiv in die Gruppe und ihre organisatorischen Abläufe integrieren?''<br />
<br />
: '''''Lernumgebung'''''<br>''Mein bewusstes Gestalten von Lernumgebungen für mich und andere: Wie gezielt und reflektiert kann ich für mich und andere Lernumgebungen mit der Methodik und Didaktik von Kinaesthetics gestalten und an den Verlauf des Lernprozesses anpassen?“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 26–28.<br />
<br />
== Die Bildungsfelder in „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ==<br />
Das zweite Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics - Konzeptsystem“, das als Arbeitsunterlage in Kinästhetik-Grund- und Aufbaukursen verwendet wird. Im Anhang werden „Die Bildungsfelder“ wie folgt beschrieben: <br />
: ''„Im Mittelpunkt des Kinaesthetics-Curriculums stehen die Bildungsfelder. Ein Kinaesthetics-Bildungsanlass ist immer auch ein Selbstevaluationsprozess: Es geht darum, die eigenen Erfahrungen zu evaluieren und zu verstehen. Dabei knüpft jeder Mensch auf unterschiedliche Art und Weise einen bestimmten Lerninhalt an seinen Erfahrungshintergrund an. Die einzelne TeilnehmerIn eines Kinaesthetics-Bildungsanlasses wertet deshalb selbst aus, was und in welchen Bildungsfeldern sie im Rahmen eines bestimmten Themas gelernt hat.''<br />
: ''Aus diesen Gründen sind die Bildungsfelder ein wichtiges Instrument für die Einschätzung und Einordnung des eigenen Lernens. Nachfolgend eine kurze Beschreibung der Bildungsfelder (aus der Perspektive einer TeilnehmerIn):''<br />
<br />
: '''''Konzeptverständnis'''''<br>''Mein Verständnis der Inhalte der Konzepte.''<br />
<br />
: '''''Handling'''''<br>''Meine Bewegungskompetenz im Kontakt mit einem anderen Menschen.''<br />
<br />
: '''''Grundwissen'''''<br>''Meine Annahmen und Theorien in der Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Theorien.''<br />
<br />
: '''''Eigene Bewegung'''''<br>''Meine eigene Bewegungskompetenz.''<br />
<br />
: '''''Lernumgebung'''''<br>''Mein bewusstes Gestalten von Lernsituationen für mich und andere.''<br />
<br />
: '''''Organisation'''''<br>''Meine Bewegungskompetenz im Kontakt mit einer Gruppe von Menschen.''<br />
<br />
<br />
: '''''Erfahren – analysieren – dokumentieren'''''<br>''Eine besondere Stellung im Curriculum kommt dem Erfahren, Analysieren und Dokumentieren zu. Diese Tätigkeiten bilden die Grundlage der Selbstevaluation und erlauben es, die persönlichen Theorien und Annahmen mit den Theorien und Annahmen von Kinaesthetics in Verbindung zu bringen.''<br />
<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 59.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
[[Lernzyklus]]<br><br />
[[Lernumgebung]]<br />
<br />
[[Kategorie:Lernen/Dokumentationswerkzeuge]]</div>
Lutz Zierbeck