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Kinaesthetics-Online-Fachlexikon - Benutzerbeiträge [de]
2024-03-29T06:28:09Z
Benutzerbeiträge
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https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Diskussion:Hierarchie_der_Kompetenzen&diff=4931
Diskussion:Hierarchie der Kompetenzen
2024-01-10T16:30:14Z
<p>Dagmar Panzer: /* Gewichtsorganisation im Modell Grundpositionen - was ist beschrieben? */</p>
<hr />
<div>{{Diskussionsseiten|Hierarchie der Kompetenzen}}<br />
{{Infobox|Diskussion eröffnet|N. N./Stefan Marty-Teuber}}<br />
<br />
<br />
== Gewichtsorganisation im Modell Grundpositionen - was ist beschrieben? ==<br />
<br />
Liebe Andrea, <br />
vielen Dank für deinen Beitrag mit den sehr interessanten Überlegungen und für deinen Mut, diese hier im KOFL einzustellen. <br />
<br />
Bei der von dir zitierten Aussage, ''"Je höher der Körper im Raum kommt, desto weniger Auflagefläche nutzt er zur Gewichtsorganisation..."'', können wir deine Gedanken und Fragen gut nachvollziehen. <br />
<br />
Im Kinaesthetics Konzeptsystem findet sich dazu folgender Text:<br>''"Gewichtsabgabe: Das Gewicht der einzelnen Massen wird in jeder Position direkt oder indirekt auf die Unterstützungsfläche abgegeben. Ausgehend von der Rückenlage, ist in den höheren Grundpositionen eine Zunahme der indirekten Gewichtsabgabe bzw. der diesbezüglichen Komplexität beobachtbar."''<br />
Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020): Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 43.<br />
<br />
In der Beschreibung der Hierarchie der Kompetenzen, auf der Seite dieses Artikels, ist das folgende Zitat zu finden:<br>''"Je höher eine Position ist, desto anspruchsvoller wird die Gewichtsorganisation. Das heißt, je mehr Massen ihr Gewicht nicht selbst, sondern über eine andere Masse abgeben, desto anspruchsvoller wird es, das Gewicht so zu kontrollieren, dass man nicht das Gleichgewicht verliert und stürzt."''<br />
<br />
Beide Texte sprechen von einer zunehmenden Komplexität und dass die Organisation und Kontrolle des Gewichtes zunehmend differenziert und anspruchsvoller wird. In den modellhaften Beschreibungen finden sich keine expliziten Details, auch nicht in den Beschreibungen der einzelnen Grundpositionen.<br><br />
Soweit unsere Überlegungen. Wir finden das Thema auf jeden Fall diskussionswürdig und freuen uns auf weitere Beiträge. <br />
<br />
Dagmar Panzer und Sabine Kaserer<br><br />
--[[Benutzer:Dagmar Panzer|Dagmar Panzer]] ([[Benutzer Diskussion:Dagmar Panzer|Diskussion]]) 17:25, 10. Jan. 2024 (CET)<br />
<br />
== Gewichtsorganisation im Modell Grundpositionen ==<br />
<br />
--Andrea Kister, 16.12.2023<br />
<br />
Im Rahmen der Trainer 3 Ausbildung kam ich immer wieder ins stolpern, mit der Aussage: Je höher der Körper im Raum kommt, desto weniger Auflagefläche nutzt er zur Gewichtsorganisation.....In meiner Lerngruppe und auf Assistenzen diskutierte ich, und ja so einige gaben mir recht, das das Modell da nen kleinen Fehler hat. In meinen Augen müsste nach dieser Aussage der Einbeinstand mit dem Zweibeinstand getauscht werden.<br />
Ich versuch ,das ganze zu vermeiden, in dem ich es so nicht erwähne im Kurs, die Aussage trotzdem eine Relevanz hat.<br />
Gerne würde ich da euere Meinung dazu lesen- vielleicht mag der / die ein oder andere mit mir diskutieren.<br />
Desweitern würde ich gerne diese Möglichkeit des Austausches ausprobieren.<br />
Danke, freue mich auf Antworten oder neue Ideen.....<br />
<br />
== Grundkompetenzen oder grundlegende Kompetenzen ==<br />
<br />
--[[Benutzer:Stefan Marty-Teuber|Stefan Marty-Teuber]] ([[Benutzer Diskussion:Stefan Marty-Teuber|Diskussion]]) 16:10, 1. Jun. 2021 (CEST)<br />
<br />
Marlène Richner hat am 02.05.2021 auf der TrainerInnen-Plattform/KinNetwork nach einer Definition dieser Begriffe gefragt. Für mich ergibt sich eine Definition aus dem Modell bzw. Instrument der Hierarchie der Kompetenzen. Auf jeden Fall ist die Idee der grundlegenden Kompetenzen oder Grundkompetenzen im engsten Zusammenhang mit diesem Modell um das Jahr 2000 entwickelt worden. Vor ein paar Jahren wurde dieses Thema an einer AusbilderInnen-Klausur beleuchtet. Wer alles an dieser fachlichen Entwicklung beteiligt war, lässt sich schwer sagen, weil die Idee theoretisch und praktisch schlagend war und sich sehr schnell etablierte. <br />
<br />
Aus dem Modell der Hierarchie der Kompetenzen abgeleitet, lassen sich Grundkompetenzen/grundlegende Kompetenzen als Teilaspekte der Bewegungskompetenz definieren, die jeder Grundposition und jedem Positionswechsel zugrunde liegen sowie in jeder Grundposition und bei jedem Positionswechsel ihre spezifische konkrete Ausprägung haben. Weil sich beim Weg aus der Rückenlage ins Stehen die Massen immer mehr von der Unterstützungsfläche lösen und es immer anspruchsvoller wird, die Balance zu halten und nicht zurückzuplumpsen (wie es bei Kleinkindern beobachtbar ist), wird von einer hierarchischen Stufung dieser Kompetenzen bzw. ihrer Ausprägungen gesprochen. Konkrete Beispiele für Grundkompetenzen/grundlegende Kompetenzen sind die Gewichtsabgabe und -verlagerung über die knöchernen Strukturen des Körpers oder die Unterstützung der Bewegung der zentralen Massen durch die Extremitäten. Nach meiner Meinung kann man sich bei dieser Frage durchaus am Konzeptsystem orientieren.<br />
<br />
An der gleichen AusbilderInnen-Klausur hat sich aber gezeigt, dass auch ein Verständnis der grundlegenden Kompetenzen existiert und vertreten wird, das nicht ebenso direkt mit der Hierarchie der Kompetenzen verbunden ist. Dabei geht es um Teilaspekte der Bewegungskompetenz, die Aktivitäten zugrunde liegen. Als Beispiel wurde die Grundkompetenz angeführt, sich im Sitzen mit dem Arm abstützen und die Bewegung des Brustkorbes unterstützen zu können. Der Begriff ist somit in dieser alternativen Definition konkreter gedacht.<br />
<br />
Weil die Begriffe noch in Diskussion sind, finden sich vorläufig zugehörige Texte im KOFL auf den Diskussionsseiten. Dass übrigens ein Fachbegriff unterschiedlich definiert werden kann, ist nicht ungewöhnlich; auch in anderen Wissenschaften geht es oft Jahrzehnte, bis sich eine allgemein akzeptierte Lehrmeinung zu einem neuen Fachbegriff herausbildet.<br />
<br />
Ich hoffe, dass mein Versuch, den aktuellen Stand der Diskussion abzubilden, zu weiteren Diskussionen anregt.</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Diskussion:Hierarchie_der_Kompetenzen&diff=4930
Diskussion:Hierarchie der Kompetenzen
2024-01-10T16:29:27Z
<p>Dagmar Panzer: /* Gewichtsorganisation im Modell Grundpositionen - was ist beschrieben? */</p>
<hr />
<div>{{Diskussionsseiten|Hierarchie der Kompetenzen}}<br />
{{Infobox|Diskussion eröffnet|N. N./Stefan Marty-Teuber}}<br />
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== Gewichtsorganisation im Modell Grundpositionen - was ist beschrieben? ==<br />
<br />
Liebe Andrea, <br />
vielen Dank für deinen Beitrag mit den sehr interessanten Überlegungen und für deinen Mut, diese hier im KOFL einzustellen. <br />
<br />
Bei der von dir zitierten Aussage, ''"Je höher der Körper im Raum kommt, desto weniger Auflagefläche nutzt er zur Gewichtsorganisation..."'', können wir deine Gedanken und Fragen gut nachvollziehen. <br />
<br />
Im Kinaesthetics Konzeptsystem findet sich dazu folgender Text:<br>''"Gewichtsabgabe: Das Gewicht der einzelnen Massen wird in jeder Position direkt oder indirekt auf die Unterstützungsfläche abgegeben. Ausgehend von der Rückenlage, ist in den höheren Grundpositionen eine Zunahme der indirekten Gewichtsabgabe bzw. der diesbezüglichen Komplexität beobachtbar."''<br />
Quelle: European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020): Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 43.<br />
<br />
In der Beschreibung der Hierarchie der Kompetenzen, auf der Seite dieses Artikels, ist das folgende Zitat zu finden:<br>''"Je höher eine Position ist, desto anspruchsvoller wird die Gewichtsorganisation. Das heißt, je mehr Massen ihr Gewicht nicht selbst, sondern über eine andere Masse abgeben, desto anspruchsvoller wird es, das Gewicht so zu kontrollieren, dass man nicht das Gleichgewicht verliert und stürzt."''<br />
<br />
Beide Texte sprechen von einer zunehmenden Komplexität und dass die Organisation und Kontrolle des Gewichtes zunehmend differenziert und anspruchsvoller wird.<br><br />
In den modellhaften Beschreibungen finden sich keine expliziten Details, auch nicht in den Beschreibungen der einzelnen Grundpositionen.<br><br />
Soweit unsere Überlegungen. Wir finden das Thema auf jeden Fall diskussionswürdig und freuen uns auf weitere Beiträge. <br />
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Dagmar Panzer und Sabine Kaserer<br><br />
--[[Benutzer:Dagmar Panzer|Dagmar Panzer]] ([[Benutzer Diskussion:Dagmar Panzer|Diskussion]]) 17:25, 10. Jan. 2024 (CET)<br />
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== Gewichtsorganisation im Modell Grundpositionen ==<br />
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--Andrea Kister, 16.12.2023<br />
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Im Rahmen der Trainer 3 Ausbildung kam ich immer wieder ins stolpern, mit der Aussage: Je höher der Körper im Raum kommt, desto weniger Auflagefläche nutzt er zur Gewichtsorganisation.....In meiner Lerngruppe und auf Assistenzen diskutierte ich, und ja so einige gaben mir recht, das das Modell da nen kleinen Fehler hat. In meinen Augen müsste nach dieser Aussage der Einbeinstand mit dem Zweibeinstand getauscht werden.<br />
Ich versuch ,das ganze zu vermeiden, in dem ich es so nicht erwähne im Kurs, die Aussage trotzdem eine Relevanz hat.<br />
Gerne würde ich da euere Meinung dazu lesen- vielleicht mag der / die ein oder andere mit mir diskutieren.<br />
Desweitern würde ich gerne diese Möglichkeit des Austausches ausprobieren.<br />
Danke, freue mich auf Antworten oder neue Ideen.....<br />
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== Grundkompetenzen oder grundlegende Kompetenzen ==<br />
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--[[Benutzer:Stefan Marty-Teuber|Stefan Marty-Teuber]] ([[Benutzer Diskussion:Stefan Marty-Teuber|Diskussion]]) 16:10, 1. Jun. 2021 (CEST)<br />
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Marlène Richner hat am 02.05.2021 auf der TrainerInnen-Plattform/KinNetwork nach einer Definition dieser Begriffe gefragt. Für mich ergibt sich eine Definition aus dem Modell bzw. Instrument der Hierarchie der Kompetenzen. Auf jeden Fall ist die Idee der grundlegenden Kompetenzen oder Grundkompetenzen im engsten Zusammenhang mit diesem Modell um das Jahr 2000 entwickelt worden. Vor ein paar Jahren wurde dieses Thema an einer AusbilderInnen-Klausur beleuchtet. Wer alles an dieser fachlichen Entwicklung beteiligt war, lässt sich schwer sagen, weil die Idee theoretisch und praktisch schlagend war und sich sehr schnell etablierte. <br />
<br />
Aus dem Modell der Hierarchie der Kompetenzen abgeleitet, lassen sich Grundkompetenzen/grundlegende Kompetenzen als Teilaspekte der Bewegungskompetenz definieren, die jeder Grundposition und jedem Positionswechsel zugrunde liegen sowie in jeder Grundposition und bei jedem Positionswechsel ihre spezifische konkrete Ausprägung haben. Weil sich beim Weg aus der Rückenlage ins Stehen die Massen immer mehr von der Unterstützungsfläche lösen und es immer anspruchsvoller wird, die Balance zu halten und nicht zurückzuplumpsen (wie es bei Kleinkindern beobachtbar ist), wird von einer hierarchischen Stufung dieser Kompetenzen bzw. ihrer Ausprägungen gesprochen. Konkrete Beispiele für Grundkompetenzen/grundlegende Kompetenzen sind die Gewichtsabgabe und -verlagerung über die knöchernen Strukturen des Körpers oder die Unterstützung der Bewegung der zentralen Massen durch die Extremitäten. Nach meiner Meinung kann man sich bei dieser Frage durchaus am Konzeptsystem orientieren.<br />
<br />
An der gleichen AusbilderInnen-Klausur hat sich aber gezeigt, dass auch ein Verständnis der grundlegenden Kompetenzen existiert und vertreten wird, das nicht ebenso direkt mit der Hierarchie der Kompetenzen verbunden ist. Dabei geht es um Teilaspekte der Bewegungskompetenz, die Aktivitäten zugrunde liegen. Als Beispiel wurde die Grundkompetenz angeführt, sich im Sitzen mit dem Arm abstützen und die Bewegung des Brustkorbes unterstützen zu können. Der Begriff ist somit in dieser alternativen Definition konkreter gedacht.<br />
<br />
Weil die Begriffe noch in Diskussion sind, finden sich vorläufig zugehörige Texte im KOFL auf den Diskussionsseiten. Dass übrigens ein Fachbegriff unterschiedlich definiert werden kann, ist nicht ungewöhnlich; auch in anderen Wissenschaften geht es oft Jahrzehnte, bis sich eine allgemein akzeptierte Lehrmeinung zu einem neuen Fachbegriff herausbildet.<br />
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Ich hoffe, dass mein Versuch, den aktuellen Stand der Diskussion abzubilden, zu weiteren Diskussionen anregt.</div>
Dagmar Panzer
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Diskussion:Hierarchie der Kompetenzen
2024-01-10T16:26:24Z
<p>Dagmar Panzer: </p>
<hr />
<div>{{Diskussionsseiten|Hierarchie der Kompetenzen}}<br />
{{Infobox|Diskussion eröffnet|N. N./Stefan Marty-Teuber}}<br />
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== Gewichtsorganisation im Modell Grundpositionen - was ist beschrieben? ==<br />
<br />
Liebe Andrea, <br />
vielen Dank für deinen Beitrag mit den sehr interessanten Überlegungen und für deinen Mut, diese hier im KOFL einzustellen. <br />
<br />
Bei der von dir zitierten Aussage, ''"Je höher der Körper im Raum kommt, desto weniger Auflagefläche nutzt er zur Gewichtsorganisation..."'', können wir deine Gedanken und Fragen gut nachvollziehen. <br />
<br />
Im Kinaesthetics Konzeptsystem findet sich dazu folgender Text:<br>''"Gewichtsabgabe: Das Gewicht der einzelnen Massen wird in jeder Position direkt oder indirekt auf die Unterstützungsfläche abgegeben. Ausgehend von der Rückenlage, ist in den höheren Grundpositionen eine Zunahme der indirekten Gewichtsabgabe bzw. der diesbezüglichen Komplexität beobachtbar."''<br />
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Quelle: Kinaestehics Konzeptsystem<br />
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In der Beschreibung der Hierarchie der Kompetenzen, auf der Seite dieses Artikels, ist das folgende Zitat zu finden:<br>''"Je höher eine Position ist, desto anspruchsvoller wird die Gewichtsorganisation. Das heißt, je mehr Massen ihr Gewicht nicht selbst, sondern über eine andere Masse abgeben, desto anspruchsvoller wird es, das Gewicht so zu kontrollieren, dass man nicht das Gleichgewicht verliert und stürzt."''<br />
Quelle: KOFL<br />
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Beide Texte sprechen von einer zunehmenden Komplexität und dass die Organisation und Kontrolle des Gewichtes zunehmend differenziert und anspruchsvoller wird.<br><br />
In den modellhaften Beschreibungen finden sich keine expliziten Details, auch nicht in den Beschreibungen der einzelnen Grundpositionen.<br><br />
Soweit unsere Überlegungen. Wir finden das Thema auf jeden Fall diskussionswürdig und freuen uns auf weitere Beiträge. <br />
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Dagmar Panzer und Sabine Kaserer<br><br />
--[[Benutzer:Dagmar Panzer|Dagmar Panzer]] ([[Benutzer Diskussion:Dagmar Panzer|Diskussion]]) 17:25, 10. Jan. 2024 (CET)<br />
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== Gewichtsorganisation im Modell Grundpositionen ==<br />
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--Andrea Kister, 16.12.2023<br />
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Im Rahmen der Trainer 3 Ausbildung kam ich immer wieder ins stolpern, mit der Aussage: Je höher der Körper im Raum kommt, desto weniger Auflagefläche nutzt er zur Gewichtsorganisation.....In meiner Lerngruppe und auf Assistenzen diskutierte ich, und ja so einige gaben mir recht, das das Modell da nen kleinen Fehler hat. In meinen Augen müsste nach dieser Aussage der Einbeinstand mit dem Zweibeinstand getauscht werden.<br />
Ich versuch ,das ganze zu vermeiden, in dem ich es so nicht erwähne im Kurs, die Aussage trotzdem eine Relevanz hat.<br />
Gerne würde ich da euere Meinung dazu lesen- vielleicht mag der / die ein oder andere mit mir diskutieren.<br />
Desweitern würde ich gerne diese Möglichkeit des Austausches ausprobieren.<br />
Danke, freue mich auf Antworten oder neue Ideen.....<br />
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== Grundkompetenzen oder grundlegende Kompetenzen ==<br />
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--[[Benutzer:Stefan Marty-Teuber|Stefan Marty-Teuber]] ([[Benutzer Diskussion:Stefan Marty-Teuber|Diskussion]]) 16:10, 1. Jun. 2021 (CEST)<br />
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Marlène Richner hat am 02.05.2021 auf der TrainerInnen-Plattform/KinNetwork nach einer Definition dieser Begriffe gefragt. Für mich ergibt sich eine Definition aus dem Modell bzw. Instrument der Hierarchie der Kompetenzen. Auf jeden Fall ist die Idee der grundlegenden Kompetenzen oder Grundkompetenzen im engsten Zusammenhang mit diesem Modell um das Jahr 2000 entwickelt worden. Vor ein paar Jahren wurde dieses Thema an einer AusbilderInnen-Klausur beleuchtet. Wer alles an dieser fachlichen Entwicklung beteiligt war, lässt sich schwer sagen, weil die Idee theoretisch und praktisch schlagend war und sich sehr schnell etablierte. <br />
<br />
Aus dem Modell der Hierarchie der Kompetenzen abgeleitet, lassen sich Grundkompetenzen/grundlegende Kompetenzen als Teilaspekte der Bewegungskompetenz definieren, die jeder Grundposition und jedem Positionswechsel zugrunde liegen sowie in jeder Grundposition und bei jedem Positionswechsel ihre spezifische konkrete Ausprägung haben. Weil sich beim Weg aus der Rückenlage ins Stehen die Massen immer mehr von der Unterstützungsfläche lösen und es immer anspruchsvoller wird, die Balance zu halten und nicht zurückzuplumpsen (wie es bei Kleinkindern beobachtbar ist), wird von einer hierarchischen Stufung dieser Kompetenzen bzw. ihrer Ausprägungen gesprochen. Konkrete Beispiele für Grundkompetenzen/grundlegende Kompetenzen sind die Gewichtsabgabe und -verlagerung über die knöchernen Strukturen des Körpers oder die Unterstützung der Bewegung der zentralen Massen durch die Extremitäten. Nach meiner Meinung kann man sich bei dieser Frage durchaus am Konzeptsystem orientieren.<br />
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An der gleichen AusbilderInnen-Klausur hat sich aber gezeigt, dass auch ein Verständnis der grundlegenden Kompetenzen existiert und vertreten wird, das nicht ebenso direkt mit der Hierarchie der Kompetenzen verbunden ist. Dabei geht es um Teilaspekte der Bewegungskompetenz, die Aktivitäten zugrunde liegen. Als Beispiel wurde die Grundkompetenz angeführt, sich im Sitzen mit dem Arm abstützen und die Bewegung des Brustkorbes unterstützen zu können. Der Begriff ist somit in dieser alternativen Definition konkreter gedacht.<br />
<br />
Weil die Begriffe noch in Diskussion sind, finden sich vorläufig zugehörige Texte im KOFL auf den Diskussionsseiten. Dass übrigens ein Fachbegriff unterschiedlich definiert werden kann, ist nicht ungewöhnlich; auch in anderen Wissenschaften geht es oft Jahrzehnte, bis sich eine allgemein akzeptierte Lehrmeinung zu einem neuen Fachbegriff herausbildet.<br />
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Ich hoffe, dass mein Versuch, den aktuellen Stand der Diskussion abzubilden, zu weiteren Diskussionen anregt.</div>
Dagmar Panzer
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Diskussion:Hierarchie der Kompetenzen
2024-01-10T16:25:12Z
<p>Dagmar Panzer: </p>
<hr />
<div>{{Diskussionsseiten|Hierarchie der Kompetenzen}}<br />
{{Infobox|Diskussion eröffnet|N. N./Stefan Marty-Teuber}}<br />
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== Gewichtsorganisation im Modell Grundpositionen - was ist beschrieben? ==<br />
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Liebe Andrea, <br />
vielen Dank für deinen Beitrag mit den sehr interessanten Überlegungen und für deinen Mut, diese hier im KOFL einzustellen. <br />
<br />
Bei der von dir zitierten Aussage, ''"Je höher der Körper im Raum kommt, desto weniger Auflagefläche nutzt er zur Gewichtsorganisation..."'', können wir deine Gedanken und Fragen gut nachvollziehen. <br />
<br />
Im Kinaesthetics Konzeptsystem findet sich dazu folgender Text:<br>''"Gewichtsabgabe: Das Gewicht der einzelnen Massen wird in jeder Position direkt oder indirekt auf die Unterstützungsfläche abgegeben. Ausgehend von der Rückenlage, ist in den höheren Grundpositionen eine Zunahme der indirekten Gewichtsabgabe bzw. der diesbezüglichen Komplexität beobachtbar."''<br />
<br />
Quelle: Kinaestehics Konzeptsystem<br />
<br />
In der Beschreibung der Hierarchie der Kompetenzen, auf der Seite dieses Artikels, ist das folgende Zitat zu finden:<br>''"Je höher eine Position ist, desto anspruchsvoller wird die Gewichtsorganisation. Das heißt, je mehr Massen ihr Gewicht nicht selbst, sondern über eine andere Masse abgeben, desto anspruchsvoller wird es, das Gewicht so zu kontrollieren, dass man nicht das Gleichgewicht verliert und stürzt."''<br />
Quelle: KOFL<br />
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Beide Texte sprechen von einer zunehmenden Komplexität und dass die Organisation und Kontrolle des Gewichtes zunehmend differenziert und anspruchsvoller wird. <br />
<br />
In den modellhaften Beschreibungen finden sich keine expliziten Details, auch nicht in den Beschreibungen der einzelnen Grundpositionen.<br />
<br />
Soweit unsere Überlegungen. Wir finden das Thema auf jeden Fall diskussionswürdig und freuen uns auf weitere Beiträge. <br />
<br />
Dagmar Panzer und Sabine Kaserer<br />
--[[Benutzer:Dagmar Panzer|Dagmar Panzer]] ([[Benutzer Diskussion:Dagmar Panzer|Diskussion]]) 17:25, 10. Jan. 2024 (CET)<br />
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== Gewichtsorganisation im Modell Grundpositionen ==<br />
<br />
--Andrea Kister, 16.12.2023<br />
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Im Rahmen der Trainer 3 Ausbildung kam ich immer wieder ins stolpern, mit der Aussage: Je höher der Körper im Raum kommt, desto weniger Auflagefläche nutzt er zur Gewichtsorganisation.....In meiner Lerngruppe und auf Assistenzen diskutierte ich, und ja so einige gaben mir recht, das das Modell da nen kleinen Fehler hat. In meinen Augen müsste nach dieser Aussage der Einbeinstand mit dem Zweibeinstand getauscht werden.<br />
Ich versuch ,das ganze zu vermeiden, in dem ich es so nicht erwähne im Kurs, die Aussage trotzdem eine Relevanz hat.<br />
Gerne würde ich da euere Meinung dazu lesen- vielleicht mag der / die ein oder andere mit mir diskutieren.<br />
Desweitern würde ich gerne diese Möglichkeit des Austausches ausprobieren.<br />
Danke, freue mich auf Antworten oder neue Ideen.....<br />
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== Grundkompetenzen oder grundlegende Kompetenzen ==<br />
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--[[Benutzer:Stefan Marty-Teuber|Stefan Marty-Teuber]] ([[Benutzer Diskussion:Stefan Marty-Teuber|Diskussion]]) 16:10, 1. Jun. 2021 (CEST)<br />
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Marlène Richner hat am 02.05.2021 auf der TrainerInnen-Plattform/KinNetwork nach einer Definition dieser Begriffe gefragt. Für mich ergibt sich eine Definition aus dem Modell bzw. Instrument der Hierarchie der Kompetenzen. Auf jeden Fall ist die Idee der grundlegenden Kompetenzen oder Grundkompetenzen im engsten Zusammenhang mit diesem Modell um das Jahr 2000 entwickelt worden. Vor ein paar Jahren wurde dieses Thema an einer AusbilderInnen-Klausur beleuchtet. Wer alles an dieser fachlichen Entwicklung beteiligt war, lässt sich schwer sagen, weil die Idee theoretisch und praktisch schlagend war und sich sehr schnell etablierte. <br />
<br />
Aus dem Modell der Hierarchie der Kompetenzen abgeleitet, lassen sich Grundkompetenzen/grundlegende Kompetenzen als Teilaspekte der Bewegungskompetenz definieren, die jeder Grundposition und jedem Positionswechsel zugrunde liegen sowie in jeder Grundposition und bei jedem Positionswechsel ihre spezifische konkrete Ausprägung haben. Weil sich beim Weg aus der Rückenlage ins Stehen die Massen immer mehr von der Unterstützungsfläche lösen und es immer anspruchsvoller wird, die Balance zu halten und nicht zurückzuplumpsen (wie es bei Kleinkindern beobachtbar ist), wird von einer hierarchischen Stufung dieser Kompetenzen bzw. ihrer Ausprägungen gesprochen. Konkrete Beispiele für Grundkompetenzen/grundlegende Kompetenzen sind die Gewichtsabgabe und -verlagerung über die knöchernen Strukturen des Körpers oder die Unterstützung der Bewegung der zentralen Massen durch die Extremitäten. Nach meiner Meinung kann man sich bei dieser Frage durchaus am Konzeptsystem orientieren.<br />
<br />
An der gleichen AusbilderInnen-Klausur hat sich aber gezeigt, dass auch ein Verständnis der grundlegenden Kompetenzen existiert und vertreten wird, das nicht ebenso direkt mit der Hierarchie der Kompetenzen verbunden ist. Dabei geht es um Teilaspekte der Bewegungskompetenz, die Aktivitäten zugrunde liegen. Als Beispiel wurde die Grundkompetenz angeführt, sich im Sitzen mit dem Arm abstützen und die Bewegung des Brustkorbes unterstützen zu können. Der Begriff ist somit in dieser alternativen Definition konkreter gedacht.<br />
<br />
Weil die Begriffe noch in Diskussion sind, finden sich vorläufig zugehörige Texte im KOFL auf den Diskussionsseiten. Dass übrigens ein Fachbegriff unterschiedlich definiert werden kann, ist nicht ungewöhnlich; auch in anderen Wissenschaften geht es oft Jahrzehnte, bis sich eine allgemein akzeptierte Lehrmeinung zu einem neuen Fachbegriff herausbildet.<br />
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Ich hoffe, dass mein Versuch, den aktuellen Stand der Diskussion abzubilden, zu weiteren Diskussionen anregt.</div>
Dagmar Panzer
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Diskussion:Hierarchie der Kompetenzen
2024-01-10T16:22:21Z
<p>Dagmar Panzer: </p>
<hr />
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== Gewichtsorganisation im Modell Grundpositionen - was ist beschrieben? ==<br />
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Liebe Andrea, <br />
vielen Dank für deinen Beitrag mit den sehr interessanten Überlegungen und für deinen Mut, diese hier im KOFL einzustellen. <br />
<br />
Bei der von dir zitierten Aussage, ''"Je höher der Körper im Raum kommt, desto weniger Auflagefläche nutzt er zur Gewichtsorganisation..."'', können wir deine Gedanken und Fragen gut nachvollziehen. <br />
<br />
Im Kinaesthetics Konzeptsystem findet sich dazu folgender Text:<br />
''"Gewichtsabgabe: Das Gewicht der einzelnen Massen wird in jeder Position direkt oder indirekt auf die Unterstützungsfläche abgegeben. Ausgehend von der Rückenlage, ist in den höheren Grundpositionen eine Zunahme der indirekten Gewichtsabgabe bzw. der diesbezüglichen Komplexität beobachtbar."''<br />
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Quelle: Kinaestehics Konzeptsystem<br />
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In der Beschreibung der Hierarchie der Kompetenzen, auf der Seite dieses Artikels, ist das folgende Zitat zu finden: <br />
<br />
''"Je höher eine Position ist, desto anspruchsvoller wird die Gewichtsorganisation. Das heißt, je mehr Massen ihr Gewicht nicht selbst, sondern über eine andere Masse abgeben, desto anspruchsvoller wird es, das Gewicht so zu kontrollieren, dass man nicht das Gleichgewicht verliert und stürzt."''<br />
Quelle: KOFL<br />
<br />
Beide Texte sprechen von einer zunehmenden Komplexität und dass die Organisation und Kontrolle des Gewichtes zunehmend differenziert und anspruchsvoller wird. <br />
<br />
In den modellhaften Beschreibungen finden sich keine expliziten Details, auch nicht in den Beschreibungen der einzelnen Grundpositionen.<br />
<br />
Soweit unsere Überlegungen. Wir finden das Thema auf jeden Fall diskussionswürdig und freuen uns auf weitere Beiträge. <br />
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Dagmar Panzer und Sabine Kaserer<br />
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== Gewichtsorganisation im Modell Grundpositionen ==<br />
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--Andrea Kister, 16.12.2023<br />
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Im Rahmen der Trainer 3 Ausbildung kam ich immer wieder ins stolpern, mit der Aussage: Je höher der Körper im Raum kommt, desto weniger Auflagefläche nutzt er zur Gewichtsorganisation.....In meiner Lerngruppe und auf Assistenzen diskutierte ich, und ja so einige gaben mir recht, das das Modell da nen kleinen Fehler hat. In meinen Augen müsste nach dieser Aussage der Einbeinstand mit dem Zweibeinstand getauscht werden.<br />
Ich versuch ,das ganze zu vermeiden, in dem ich es so nicht erwähne im Kurs, die Aussage trotzdem eine Relevanz hat.<br />
Gerne würde ich da euere Meinung dazu lesen- vielleicht mag der / die ein oder andere mit mir diskutieren.<br />
Desweitern würde ich gerne diese Möglichkeit des Austausches ausprobieren.<br />
Danke, freue mich auf Antworten oder neue Ideen.....<br />
<br />
== Grundkompetenzen oder grundlegende Kompetenzen ==<br />
<br />
--[[Benutzer:Stefan Marty-Teuber|Stefan Marty-Teuber]] ([[Benutzer Diskussion:Stefan Marty-Teuber|Diskussion]]) 16:10, 1. Jun. 2021 (CEST)<br />
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Marlène Richner hat am 02.05.2021 auf der TrainerInnen-Plattform/KinNetwork nach einer Definition dieser Begriffe gefragt. Für mich ergibt sich eine Definition aus dem Modell bzw. Instrument der Hierarchie der Kompetenzen. Auf jeden Fall ist die Idee der grundlegenden Kompetenzen oder Grundkompetenzen im engsten Zusammenhang mit diesem Modell um das Jahr 2000 entwickelt worden. Vor ein paar Jahren wurde dieses Thema an einer AusbilderInnen-Klausur beleuchtet. Wer alles an dieser fachlichen Entwicklung beteiligt war, lässt sich schwer sagen, weil die Idee theoretisch und praktisch schlagend war und sich sehr schnell etablierte. <br />
<br />
Aus dem Modell der Hierarchie der Kompetenzen abgeleitet, lassen sich Grundkompetenzen/grundlegende Kompetenzen als Teilaspekte der Bewegungskompetenz definieren, die jeder Grundposition und jedem Positionswechsel zugrunde liegen sowie in jeder Grundposition und bei jedem Positionswechsel ihre spezifische konkrete Ausprägung haben. Weil sich beim Weg aus der Rückenlage ins Stehen die Massen immer mehr von der Unterstützungsfläche lösen und es immer anspruchsvoller wird, die Balance zu halten und nicht zurückzuplumpsen (wie es bei Kleinkindern beobachtbar ist), wird von einer hierarchischen Stufung dieser Kompetenzen bzw. ihrer Ausprägungen gesprochen. Konkrete Beispiele für Grundkompetenzen/grundlegende Kompetenzen sind die Gewichtsabgabe und -verlagerung über die knöchernen Strukturen des Körpers oder die Unterstützung der Bewegung der zentralen Massen durch die Extremitäten. Nach meiner Meinung kann man sich bei dieser Frage durchaus am Konzeptsystem orientieren.<br />
<br />
An der gleichen AusbilderInnen-Klausur hat sich aber gezeigt, dass auch ein Verständnis der grundlegenden Kompetenzen existiert und vertreten wird, das nicht ebenso direkt mit der Hierarchie der Kompetenzen verbunden ist. Dabei geht es um Teilaspekte der Bewegungskompetenz, die Aktivitäten zugrunde liegen. Als Beispiel wurde die Grundkompetenz angeführt, sich im Sitzen mit dem Arm abstützen und die Bewegung des Brustkorbes unterstützen zu können. Der Begriff ist somit in dieser alternativen Definition konkreter gedacht.<br />
<br />
Weil die Begriffe noch in Diskussion sind, finden sich vorläufig zugehörige Texte im KOFL auf den Diskussionsseiten. Dass übrigens ein Fachbegriff unterschiedlich definiert werden kann, ist nicht ungewöhnlich; auch in anderen Wissenschaften geht es oft Jahrzehnte, bis sich eine allgemein akzeptierte Lehrmeinung zu einem neuen Fachbegriff herausbildet.<br />
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Ich hoffe, dass mein Versuch, den aktuellen Stand der Diskussion abzubilden, zu weiteren Diskussionen anregt.</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Diskussion:Hierarchie_der_Kompetenzen&diff=4926
Diskussion:Hierarchie der Kompetenzen
2024-01-10T16:17:19Z
<p>Dagmar Panzer: </p>
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== Gewichtsorganisation im Modell Grundpositionen ==<br />
<br />
--Andrea Kister, 16.12.2023<br />
<br />
Im Rahmen der Trainer 3 Ausbildung kam ich immer wieder ins stolpern, mit der Aussage: Je höher der Körper im Raum kommt, desto weniger Auflagefläche nutzt er zur Gewichtsorganisation.....In meiner Lerngruppe und auf Assistenzen diskutierte ich, und ja so einige gaben mir recht, das das Modell da nen kleinen Fehler hat. In meinen Augen müsste nach dieser Aussage der Einbeinstand mit dem Zweibeinstand getauscht werden.<br />
Ich versuch ,das ganze zu vermeiden, in dem ich es so nicht erwähne im Kurs, die Aussage trotzdem eine Relevanz hat.<br />
Gerne würde ich da euere Meinung dazu lesen- vielleicht mag der / die ein oder andere mit mir diskutieren.<br />
Desweitern würde ich gerne diese Möglichkeit des Austausches ausprobieren.<br />
Danke, freue mich auf Antworten oder neue Ideen.....<br />
<br />
== Grundkompetenzen oder grundlegende Kompetenzen ==<br />
<br />
--[[Benutzer:Stefan Marty-Teuber|Stefan Marty-Teuber]] ([[Benutzer Diskussion:Stefan Marty-Teuber|Diskussion]]) 16:10, 1. Jun. 2021 (CEST)<br />
<br />
Marlène Richner hat am 02.05.2021 auf der TrainerInnen-Plattform/KinNetwork nach einer Definition dieser Begriffe gefragt. Für mich ergibt sich eine Definition aus dem Modell bzw. Instrument der Hierarchie der Kompetenzen. Auf jeden Fall ist die Idee der grundlegenden Kompetenzen oder Grundkompetenzen im engsten Zusammenhang mit diesem Modell um das Jahr 2000 entwickelt worden. Vor ein paar Jahren wurde dieses Thema an einer AusbilderInnen-Klausur beleuchtet. Wer alles an dieser fachlichen Entwicklung beteiligt war, lässt sich schwer sagen, weil die Idee theoretisch und praktisch schlagend war und sich sehr schnell etablierte. <br />
<br />
Aus dem Modell der Hierarchie der Kompetenzen abgeleitet, lassen sich Grundkompetenzen/grundlegende Kompetenzen als Teilaspekte der Bewegungskompetenz definieren, die jeder Grundposition und jedem Positionswechsel zugrunde liegen sowie in jeder Grundposition und bei jedem Positionswechsel ihre spezifische konkrete Ausprägung haben. Weil sich beim Weg aus der Rückenlage ins Stehen die Massen immer mehr von der Unterstützungsfläche lösen und es immer anspruchsvoller wird, die Balance zu halten und nicht zurückzuplumpsen (wie es bei Kleinkindern beobachtbar ist), wird von einer hierarchischen Stufung dieser Kompetenzen bzw. ihrer Ausprägungen gesprochen. Konkrete Beispiele für Grundkompetenzen/grundlegende Kompetenzen sind die Gewichtsabgabe und -verlagerung über die knöchernen Strukturen des Körpers oder die Unterstützung der Bewegung der zentralen Massen durch die Extremitäten. Nach meiner Meinung kann man sich bei dieser Frage durchaus am Konzeptsystem orientieren.<br />
<br />
An der gleichen AusbilderInnen-Klausur hat sich aber gezeigt, dass auch ein Verständnis der grundlegenden Kompetenzen existiert und vertreten wird, das nicht ebenso direkt mit der Hierarchie der Kompetenzen verbunden ist. Dabei geht es um Teilaspekte der Bewegungskompetenz, die Aktivitäten zugrunde liegen. Als Beispiel wurde die Grundkompetenz angeführt, sich im Sitzen mit dem Arm abstützen und die Bewegung des Brustkorbes unterstützen zu können. Der Begriff ist somit in dieser alternativen Definition konkreter gedacht.<br />
<br />
Weil die Begriffe noch in Diskussion sind, finden sich vorläufig zugehörige Texte im KOFL auf den Diskussionsseiten. Dass übrigens ein Fachbegriff unterschiedlich definiert werden kann, ist nicht ungewöhnlich; auch in anderen Wissenschaften geht es oft Jahrzehnte, bis sich eine allgemein akzeptierte Lehrmeinung zu einem neuen Fachbegriff herausbildet.<br />
<br />
Ich hoffe, dass mein Versuch, den aktuellen Stand der Diskussion abzubilden, zu weiteren Diskussionen anregt.<br />
<br />
Liebe Andrea, <br />
vielen Dank für deinen Beitrag mit den sehr interessanten Überlegungen und für deinen Mut, diese hier im KOFL einzustellen. <br />
<br />
Bei der von dir zitierten Aussage, ''"Je höher der Körper im Raum kommt, desto weniger Auflagefläche nutzt er zur Gewichtsorganisation..."'', können wir deine Gedanken und Fragen gut nachvollziehen. <br />
<br />
Im Kinaesthetics Konzeptsystem findet sich dazu folgender Text:<br />
''"Gewichtsabgabe: Das Gewicht der einzelnen Massen wird in jeder Position direkt oder indirekt auf die Unterstützungsfläche abgegeben. Ausgehend von der Rückenlage, ist in den höheren Grundpositionen eine Zunahme der indirekten Gewichtsabgabe bzw. der diesbezüglichen Komplexität beobachtbar."''<br />
<br />
Quelle: Kinaestehics Konzeptsystem<br />
<br />
In der Beschreibung der Hierarchie der Kompetenzen, auf der Seite dieses Artikels, ist das folgende Zitat zu finden: <br />
<br />
''"Je höher eine Position ist, desto anspruchsvoller wird die Gewichtsorganisation. Das heißt, je mehr Massen ihr Gewicht nicht selbst, sondern über eine andere Masse abgeben, desto anspruchsvoller wird es, das Gewicht so zu kontrollieren, dass man nicht das Gleichgewicht verliert und stürzt."''<br />
Quelle: KOFL<br />
<br />
Beide Texte sprechen von einer zunehmenden Komplexität und dass die Organisation und Kontrolle des Gewichtes zunehmend differenziert und anspruchsvoller wird. <br />
<br />
In den modellhaften Beschreibungen finden sich keine expliziten Details, auch nicht in den Beschreibungen der einzelnen Grundpositionen.<br />
<br />
Soweit unsere Überlegungen. Wir finden das Thema auf jeden Fall diskussionswürdig und freuen uns auf weitere Beiträge. <br />
<br />
Dagmar Panzer und Sabine Kaserer</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4736
Orientierung
2023-10-06T09:34:44Z
<p>Dagmar Panzer: /* Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch [[Orientierung#Orientierung%20im%20.E2.80.9EKinaesthetics%20.E2.80.93%20Konzeptsystem.E2.80.9C|„Kinaesthetics – Konzeptsystem“]] und stellen einen aktuellen Referenztext dar. Es folgen Zitate aus den [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EAufbaumodul%20Demenz%203:%20Die%20eigene%20Orientierung%20suchen.2C%20Arbeitsunterlagen.E2.80.9C|Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“]], wo es um die konkrete Verknüpfung mit dem Thema Demenz geht. In den Zitaten aus dem [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EKin.C3.A4sthetik-Bulletin-Nr-16.E2.80.9C|„16. Kinästhetik-Bulletin von 1990]] werden Entwicklung, Bedeutung und Anwendung des Begriffs Orientierung dargestellt.<br />
== Aktuelle Verwendung des Fachbegriffs ==<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
=== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Konzept Funktionale Anatomie“ eingebettet. Bei diesem Konzept ist grundsätzlich Folgendes von Bedeutung: <br />
<br />
: '' „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.“''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 19.</ref><br />
<br />
Nach den Unterkapiteln „[[Knochen und Muskeln]]“, „[[Massen und Zwischenräume]]“ und „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“ wird dem Fachbegriff Orientierung das vierte und letzte Kapitel gewidmet.<br />
:''<big>“2.4. Orientierung</big><br />
:''Die Entstehung des Begriffes '''Orientierung''' hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.''<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: ‚Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?‘<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: ‚In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer [[Massen und Zwischenräume|Massen]] organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?‘''<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die ‚richtige<br>Richtung‘ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich ‚oben‘ und ‚unten‘ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: ‚Oben‘ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, ‚unten‘ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. ‚Unten‘<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, ‚oben‘ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
=== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ ===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„'''<big>Die eigene Orientierung suchen</big><br> […] Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. <br />
:''Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
:''<big>Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung</big><br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Es geht darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. ''<br />
<br />
:''Eine wichtige Annahme ist, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie grundlegend für das gesamte Orientierungsvermögen ist. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz individuell und konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen.“''<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-48-2. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus den Begleittexten des Kapitels „Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
: ''<big>Orientierung – ein vielschichtiger Prozess <br></big> Beispiel: <br>Wir wollen erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen. Dabei müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an den unterschiedlichsten Dingen orientieren. Unsere Bewegung orientieren wir z. B. ununterbrochen an der Beschaffenheit und der Richtung des Weges. Wir orientieren uns an Wegweisern und Karten, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, an der Entwicklung des Wetters usw. [im Original alles kursiv]''<br />
<br />
:'' Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten oder Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. <br />
:''Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen oder wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich bei der inneren körperlichen Orientierung, wenn wir unsere Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer eigenen Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den ‚Spielregeln‘ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). <br />
:''Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:AMD3-Orientierung-Wandern.jpeg|300px|rahmenlos|zentriert]]||<br />
:''Abb. 1: Eine Wanderung erfordert fortlaufend innere körperliche Anpassungsfähigkeit im Zusammenspiel mit der ständigen Orientierung in der Umgebung. Die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) läuft sozusagen auf Hochtouren und damit einhergehend die innere körperliche Orientierung. Sie gilt in der Kinästhetik als Grundlage des Orientierungsvermögens.''<br><br><br />
|}<br />
<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können […]. Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen. ''<br />
:<br />
:''<big><big>Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens</big></big> '''<br>'''<big>Die innere körperliche Orientierung</big> ''<br> Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung und unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir – als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper und in uns selbst zurechtfinden. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. <br />
:''Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische ‚Mechanik‘, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. <br />
:''Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. <br />
:''Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden.“ ''<br />
: ''<big>Herkömmliche Unterteilungen des menschlichen Orientierungsvermögens</big>''<br> Es ist gängig, das Orientierungsvermögen des Menschen zu unterteilen, um es differenzierter zu beschreiben oder auch in Pflegedokumentationen festzuhalten. Dabei sind die folgenden Begrifflichkeiten allgemein gebräuchlich:''<br />
:*''Räumliche oder örtliche Orientierung''<br />
:*''Zeitliche Orientierung ''<br />
:*''Orientierung zur eigenen Person und zum persönlichen Beziehungsnetz (auch als soziale Orientierung bezeichnet)''<br />
:*''Situative Orientierung: Das angemessene Ausrichten des eigenen Verhaltens an einer bestimmten Situation''<br><br />
<br />
:'' Diese Unterteilung macht deutlich, dass Orientierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, aber auch ein sehr komplexes Phänomen ist. Mit ein Grund ist, dass die Aspekte, die durch diese Unterteilung unterschiedenen werden, sich im alltäglichen Leben überschneiden und kombinieren. <br />
:'' Die herkömmlichen Unterteilungen des Orientierungsvermögens vernachlässigen oft die innere körperliche Orientierung als grundlegenden Aspekt. In der Kinästhetik wird von der Annahme ausgegangen, dass die Qualität der körperlichen Orientierung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich ein Mensch am Raum, an der Zeit usw. orientieren kann.“ ''<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 12-13.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel „Teil 3: Bewegungskompetenz und lebenslange Orientierungssuche". Die vorhergehenden Absätze beleuchten das Thema Bewegungsmuster, hier wird die Bedeutung der Bewegungsmuster für Orientierung beschrieben.<br />
<br />
: ''<big>„Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz:</big> <br>[…] Für das fortlaufende Suchen ihrer Orientierung ist es von hoher Bedeutung, in welcher Qualität sie [eine Person mit Demenz, Anm. d. Red.] ihre Bewegung wahrnehmen, gestalten und sich so in sich selbst orientieren kann. ''<br />
:'' Nach dieser Grundhaltung steht im Zentrum, dass jede Unterstützung einer Person mit Demenz als ein Lernangebot verstanden und gestaltet wird. Wenn Menschen mit Demenz in ihren alltäglichen Aktivitäten eine für sie im Moment passende Unterstützung erhalten, können sie lernen, ihre Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen und an ihre aktuelle Situation anzupassen. Hier liegt ein großes Potenzial dafür vor, dass sie bis zuletzt erfolgreich ihre innere körperliche Orientierung suchen. <br />
:''Ein individuell angepasstes Unterstützungsangebot in diesem Sinn gestalten zu können, stellt hohe Anforderungen an die Bewegungskompetenz und das Bewegungsverständnis der Bezugspersonen. Sie sind insbesondere gefordert, ihre Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auf ihre eigene Bewegung zu lenken, um diese fortlaufend differenziert an die Orientierungssuche der betreffenden Person anzupassen. "<br />
<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 36 f.<br />
<br />
==Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“==<br />
===Einleitung===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
===Relevante Zitate===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
:''„4. Grundprinzipien ''<br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
:''„4.1. Wahrnehmung''<br />
:''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.''<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br>''<br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. ''<br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen? Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4735
Orientierung
2023-10-06T09:32:58Z
<p>Dagmar Panzer: /* Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch [[Orientierung#Orientierung%20im%20.E2.80.9EKinaesthetics%20.E2.80.93%20Konzeptsystem.E2.80.9C|„Kinaesthetics – Konzeptsystem“]] und stellen einen aktuellen Referenztext dar. Es folgen Zitate aus den [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EAufbaumodul%20Demenz%203:%20Die%20eigene%20Orientierung%20suchen.2C%20Arbeitsunterlagen.E2.80.9C|Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“]], wo es um die konkrete Verknüpfung mit dem Thema Demenz geht. In den Zitaten aus dem [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EKin.C3.A4sthetik-Bulletin-Nr-16.E2.80.9C|„16. Kinästhetik-Bulletin von 1990]] werden Entwicklung, Bedeutung und Anwendung des Begriffs Orientierung dargestellt.<br />
== Aktuelle Verwendung des Fachbegriffs ==<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
=== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Konzept Funktionale Anatomie“ eingebettet. Bei diesem Konzept ist grundsätzlich Folgendes von Bedeutung: <br />
<br />
: '' „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.“''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 19.</ref><br />
<br />
Nach den Unterkapiteln „[[Knochen und Muskeln]]“, „[[Massen und Zwischenräume]]“ und „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“ wird dem Fachbegriff Orientierung das vierte und letzte Kapitel gewidmet.<br />
:''<big>“2.4. Orientierung</big><br />
:''Die Entstehung des Begriffes '''Orientierung''' hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.''<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: ‚Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?‘<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: ‚In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer [[Massen und Zwischenräume|Massen]] organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?‘''<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die ‚richtige<br>Richtung‘ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich ‚oben‘ und ‚unten‘ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: ‚Oben‘ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, ‚unten‘ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. ‚Unten‘<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, ‚oben‘ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
=== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ ===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„'''<big>Die eigene Orientierung suchen</big><br> […] Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. <br />
:''Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
:''<big>Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung</big><br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Es geht darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. ''<br />
<br />
:''Eine wichtige Annahme ist, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie grundlegend für das gesamte Orientierungsvermögen ist. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz individuell und konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen.“''<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-48-2. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus den Begleittexten des Kapitels „Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
: ''<big>Orientierung – ein vielschichtiger Prozess <br></big> Beispiel: <br>Wir wollen erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen. Dabei müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an den unterschiedlichsten Dingen orientieren. Unsere Bewegung orientieren wir z. B. ununterbrochen an der Beschaffenheit und der Richtung des Weges. Wir orientieren uns an Wegweisern und Karten, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, an der Entwicklung des Wetters usw. [im Original alles kursiv]''<br />
<br />
:'' Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten oder Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. <br />
:''Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen oder wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich bei der inneren körperlichen Orientierung, wenn wir unsere Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer eigenen Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den ‚Spielregeln‘ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). <br />
:''Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:AMD3-Orientierung-Wandern.jpeg|300px|rahmenlos|zentriert]]||<br />
:''Abb. 1: Eine Wanderung erfordert fortlaufend innere körperliche Anpassungsfähigkeit im Zusammenspiel mit der ständigen Orientierung in der Umgebung. Die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) läuft sozusagen auf Hochtouren und damit einhergehend die innere körperliche Orientierung. Sie gilt in der Kinästhetik als Grundlage des Orientierungsvermögens.''<br><br><br />
|}<br />
<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können […]. Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen. ''<br />
:<br />
:''<big><big>Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens</big></big> '''<br>'''<big>Die innere körperliche Orientierung</big> ''<br> Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung und unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir – als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper und in uns selbst zurechtfinden. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. <br />
:''Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische ‚Mechanik‘, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. <br />
:''Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. <br />
:''Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden.“ ''<br />
: ''<big>Herkömmliche Unterteilungen des menschlichen Orientierungsvermögens</big>''<br />
: ''Es ist gängig, das Orientierungsvermögen des Menschen zu unterteilen, um es differenzierter zu beschreiben oder auch in Pflegedokumentationen festzuhalten. Dabei sind die folgenden Begrifflichkeiten allgemein gebräuchlich:''<br />
:*''Räumliche oder örtliche Orientierung''<br />
:*''Zeitliche Orientierung ''<br />
:*''Orientierung zur eigenen Person und zum persönlichen Beziehungsnetz (auch als soziale Orientierung bezeichnet)''<br />
:*''Situative Orientierung: Das angemessene Ausrichten des eigenen Verhaltens an einer bestimmten Situation''<br><br />
<br />
:'' Diese Unterteilung macht deutlich, dass Orientierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, aber auch ein sehr komplexes Phänomen ist. Mit ein Grund ist, dass die Aspekte, die durch diese Unterteilung unterschiedenen werden, sich im alltäglichen Leben überschneiden und kombinieren. <br />
:'' Die herkömmlichen Unterteilungen des Orientierungsvermögens vernachlässigen oft die innere körperliche Orientierung als grundlegenden Aspekt. In der Kinästhetik wird von der Annahme ausgegangen, dass die Qualität der körperlichen Orientierung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich ein Mensch am Raum, an der Zeit usw. orientieren kann.“ ''<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 12-13.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel „Teil 3: Bewegungskompetenz und lebenslange Orientierungssuche". Die vorhergehenden Absätze beleuchten das Thema Bewegungsmuster, hier wird die Bedeutung der Bewegungsmuster für Orientierung beschrieben.<br />
<br />
: ''<big>„Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz:</big> <br>[…] Für das fortlaufende Suchen ihrer Orientierung ist es von hoher Bedeutung, in welcher Qualität sie [eine Person mit Demenz, Anm. d. Red.] ihre Bewegung wahrnehmen, gestalten und sich so in sich selbst orientieren kann. ''<br />
:'' Nach dieser Grundhaltung steht im Zentrum, dass jede Unterstützung einer Person mit Demenz als ein Lernangebot verstanden und gestaltet wird. Wenn Menschen mit Demenz in ihren alltäglichen Aktivitäten eine für sie im Moment passende Unterstützung erhalten, können sie lernen, ihre Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen und an ihre aktuelle Situation anzupassen. Hier liegt ein großes Potenzial dafür vor, dass sie bis zuletzt erfolgreich ihre innere körperliche Orientierung suchen. <br />
:''Ein individuell angepasstes Unterstützungsangebot in diesem Sinn gestalten zu können, stellt hohe Anforderungen an die Bewegungskompetenz und das Bewegungsverständnis der Bezugspersonen. Sie sind insbesondere gefordert, ihre Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auf ihre eigene Bewegung zu lenken, um diese fortlaufend differenziert an die Orientierungssuche der betreffenden Person anzupassen. "<br />
<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 36 f.<br />
<br />
==Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“==<br />
===Einleitung===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
===Relevante Zitate===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
:''„4. Grundprinzipien ''<br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
:''„4.1. Wahrnehmung''<br />
:''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.''<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br>''<br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. ''<br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen? Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4734
Orientierung
2023-10-06T09:28:40Z
<p>Dagmar Panzer: /* Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch [[Orientierung#Orientierung%20im%20.E2.80.9EKinaesthetics%20.E2.80.93%20Konzeptsystem.E2.80.9C|„Kinaesthetics – Konzeptsystem“]] und stellen einen aktuellen Referenztext dar. Es folgen Zitate aus den [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EAufbaumodul%20Demenz%203:%20Die%20eigene%20Orientierung%20suchen.2C%20Arbeitsunterlagen.E2.80.9C|Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“]], wo es um die konkrete Verknüpfung mit dem Thema Demenz geht. In den Zitaten aus dem [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EKin.C3.A4sthetik-Bulletin-Nr-16.E2.80.9C|„16. Kinästhetik-Bulletin von 1990]] werden Entwicklung, Bedeutung und Anwendung des Begriffs Orientierung dargestellt.<br />
== Aktuelle Verwendung des Fachbegriffs ==<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
=== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Konzept Funktionale Anatomie“ eingebettet. Bei diesem Konzept ist grundsätzlich Folgendes von Bedeutung: <br />
<br />
: '' „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.“''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 19.</ref><br />
<br />
Nach den Unterkapiteln „[[Knochen und Muskeln]]“, „[[Massen und Zwischenräume]]“ und „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“ wird dem Fachbegriff Orientierung das vierte und letzte Kapitel gewidmet.<br />
:''<big>“2.4. Orientierung</big><br />
:''Die Entstehung des Begriffes '''Orientierung''' hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.''<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: ‚Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?‘<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: ‚In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer [[Massen und Zwischenräume|Massen]] organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?‘''<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die ‚richtige<br>Richtung‘ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich ‚oben‘ und ‚unten‘ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: ‚Oben‘ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, ‚unten‘ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. ‚Unten‘<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, ‚oben‘ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
=== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ ===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„'''<big>Die eigene Orientierung suchen</big><br> […] Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. <br />
:''Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
:''<big>Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung</big><br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Es geht darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. ''<br />
<br />
:''Eine wichtige Annahme ist, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie grundlegend für das gesamte Orientierungsvermögen ist. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz individuell und konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen.“''<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-48-2. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus den Begleittexten des Kapitels „Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
: ''<big>Orientierung – ein vielschichtiger Prozess <br></big> Beispiel: <br>Wir wollen erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen. Dabei müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an den unterschiedlichsten Dingen orientieren. Unsere Bewegung orientieren wir z. B. ununterbrochen an der Beschaffenheit und der Richtung des Weges. Wir orientieren uns an Wegweisern und Karten, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, an der Entwicklung des Wetters usw. [im Original alles kursiv]''<br />
<br />
:'' Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten oder Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. <br />
:''Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen oder wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich bei der inneren körperlichen Orientierung, wenn wir unsere Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer eigenen Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den ‚Spielregeln‘ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). <br />
:''Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:AMD3-Orientierung-Wandern.jpeg|300px|rahmenlos|zentriert]]||<br />
:''Abb. 1: Eine Wanderung erfordert fortlaufend innere körperliche Anpassungsfähigkeit im Zusammenspiel mit der ständigen Orientierung in der Umgebung. Die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) läuft sozusagen auf Hochtouren und damit einhergehend die innere körperliche Orientierung. Sie gilt in der Kinästhetik als Grundlage des Orientierungsvermögens.''<br><br><br />
|}<br />
<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können […]. Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen. ''<br />
:'' <big><big>Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens</big></big> '''<br>'''<big>Die innere körperliche Orientierung</big> ''<br> Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung und unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir – als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper und in uns selbst zurechtfinden. ''<br />
:''Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. <br />
:''Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische ‚Mechanik‘, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. <br />
:''Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. <br />
:''Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden.“ ''<br />
: '''''Herkömmliche Unterteilungen des menschlichen Orientierungsvermögens'''''<br />
: ''Es ist gängig, das Orientierungsvermögen des Menschen zu unterteilen, um es differenzierter zu beschreiben oder auch in Pflegedokumentationen festzuhalten. Dabei sind die folgenden Begrifflichkeiten allgemein gebräuchlich:<br />
:*''Räumliche oder örtliche Orientierung''<br />
:*''Zeitliche Orientierung ''<br />
:*''Orientierung zur eigenen Person und zum persönlichen Beziehungsnetz (auch als soziale Orientierung bezeichnet)''<br />
:*''Situative Orientierung: Das angemessene Ausrichten des eigenen Verhaltens an einer bestimmten Situation''<br><br />
<br />
:'' Diese Unterteilung macht deutlich, dass Orientierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, aber auch ein sehr komplexes Phänomen ist. Mit ein Grund ist, dass die Aspekte, die durch diese Unterteilung unterschiedenen werden, sich im alltäglichen Leben überschneiden und kombinieren. <br />
:'' Die herkömmlichen Unterteilungen des Orientierungsvermögens vernachlässigen oft die innere körperliche Orientierung als grundlegenden Aspekt. In der Kinästhetik wird von der Annahme ausgegangen, dass die Qualität der körperlichen Orientierung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich ein Mensch am Raum, an der Zeit usw. orientieren kann.“ ''<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 12-13.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel „Teil 3: Bewegungskompetenz und lebenslange Orientierungssuche". Die vorhergehenden Absätze beleuchten das Thema Bewegungsmuster, hier wird die Bedeutung der Bewegungsmuster für Orientierung beschrieben.<br />
<br />
: ''''' „Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz: ''' <br>[…] Für das fortlaufende Suchen ihrer Orientierung ist es von hoher Bedeutung, in welcher Qualität sie [eine Person mit Demenz, Anm. d. Red.] ihre Bewegung wahrnehmen, gestalten und sich so in sich selbst orientieren kann. <br />
:'' Nach dieser Grundhaltung steht im Zentrum, dass jede Unterstützung einer Person mit Demenz als ein Lernangebot verstanden und gestaltet wird. Wenn Menschen mit Demenz in ihren alltäglichen Aktivitäten eine für sie im Moment passende Unterstützung erhalten, können sie lernen, ihre Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen und an ihre aktuelle Situation anzupassen. Hier liegt ein großes Potenzial dafür vor, dass sie bis zuletzt erfolgreich ihre innere körperliche Orientierung suchen. <br />
:''Ein individuell angepasstes Unterstützungsangebot in diesem Sinn gestalten zu können, stellt hohe Anforderungen an die Bewegungskompetenz und das Bewegungsverständnis der Bezugspersonen. Sie sind insbesondere gefordert, ihre Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auf ihre eigene Bewegung zu lenken, um diese fortlaufend differenziert an die Orientierungssuche der betreffenden Person anzupassen. "<br />
<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 36 f.<br />
<br />
==Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“==<br />
===Einleitung===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
===Relevante Zitate===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
:''„4. Grundprinzipien ''<br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
:''„4.1. Wahrnehmung''<br />
:''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.''<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br>''<br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. ''<br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen? Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4733
Orientierung
2023-10-06T09:27:43Z
<p>Dagmar Panzer: /* Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch [[Orientierung#Orientierung%20im%20.E2.80.9EKinaesthetics%20.E2.80.93%20Konzeptsystem.E2.80.9C|„Kinaesthetics – Konzeptsystem“]] und stellen einen aktuellen Referenztext dar. Es folgen Zitate aus den [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EAufbaumodul%20Demenz%203:%20Die%20eigene%20Orientierung%20suchen.2C%20Arbeitsunterlagen.E2.80.9C|Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“]], wo es um die konkrete Verknüpfung mit dem Thema Demenz geht. In den Zitaten aus dem [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EKin.C3.A4sthetik-Bulletin-Nr-16.E2.80.9C|„16. Kinästhetik-Bulletin von 1990]] werden Entwicklung, Bedeutung und Anwendung des Begriffs Orientierung dargestellt.<br />
== Aktuelle Verwendung des Fachbegriffs ==<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
=== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Konzept Funktionale Anatomie“ eingebettet. Bei diesem Konzept ist grundsätzlich Folgendes von Bedeutung: <br />
<br />
: '' „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.“''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 19.</ref><br />
<br />
Nach den Unterkapiteln „[[Knochen und Muskeln]]“, „[[Massen und Zwischenräume]]“ und „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“ wird dem Fachbegriff Orientierung das vierte und letzte Kapitel gewidmet.<br />
:''<big>“2.4. Orientierung</big><br />
:''Die Entstehung des Begriffes '''Orientierung''' hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.''<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: ‚Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?‘<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: ‚In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer [[Massen und Zwischenräume|Massen]] organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?‘''<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die ‚richtige<br>Richtung‘ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich ‚oben‘ und ‚unten‘ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: ‚Oben‘ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, ‚unten‘ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. ‚Unten‘<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, ‚oben‘ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
=== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ ===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„'''<big>Die eigene Orientierung suchen</big><br> […] Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. <br />
:''Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
:''<big>Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung</big><br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Es geht darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. ''<br />
<br />
:''Eine wichtige Annahme ist, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie grundlegend für das gesamte Orientierungsvermögen ist. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz individuell und konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen.“''<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-48-2. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus den Begleittexten des Kapitels „Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
: ''<big>Orientierung – ein vielschichtiger Prozess <br></big> Beispiel: <br>Wir wollen erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen. Dabei müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an den unterschiedlichsten Dingen orientieren. Unsere Bewegung orientieren wir z. B. ununterbrochen an der Beschaffenheit und der Richtung des Weges. Wir orientieren uns an Wegweisern und Karten, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, an der Entwicklung des Wetters usw. [im Original alles kursiv]''<br />
<br />
:'' Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten oder Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. <br />
:''Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen oder wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich bei der inneren körperlichen Orientierung, wenn wir unsere Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer eigenen Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den ‚Spielregeln‘ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). <br />
:''Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:AMD3-Orientierung-Wandern.jpeg|300px|rahmenlos|zentriert]]||<br />
:''Abb. 1: Eine Wanderung erfordert fortlaufend innere körperliche Anpassungsfähigkeit im Zusammenspiel mit der ständigen Orientierung in der Umgebung. Die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) läuft sozusagen auf Hochtouren und damit einhergehend die innere körperliche Orientierung. Sie gilt in der Kinästhetik als Grundlage des Orientierungsvermögens.''<br><br><br />
|}<br />
<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können […]. Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen. ''<br />
:'' <big><big>Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens</big></big> '''<br>'''<big>Die innere körperliche Orientierung</big> ''<br />
:'' Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung und unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir – als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper und in uns selbst zurechtfinden. ''<br />
:''Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. <br />
:''Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische ‚Mechanik‘, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. <br />
:''Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. <br />
:''Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden.“ ''<br />
: '''''Herkömmliche Unterteilungen des menschlichen Orientierungsvermögens'''''<br />
: ''Es ist gängig, das Orientierungsvermögen des Menschen zu unterteilen, um es differenzierter zu beschreiben oder auch in Pflegedokumentationen festzuhalten. Dabei sind die folgenden Begrifflichkeiten allgemein gebräuchlich:<br />
:*''Räumliche oder örtliche Orientierung''<br />
:*''Zeitliche Orientierung ''<br />
:*''Orientierung zur eigenen Person und zum persönlichen Beziehungsnetz (auch als soziale Orientierung bezeichnet)''<br />
:*''Situative Orientierung: Das angemessene Ausrichten des eigenen Verhaltens an einer bestimmten Situation''<br><br />
<br />
:'' Diese Unterteilung macht deutlich, dass Orientierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, aber auch ein sehr komplexes Phänomen ist. Mit ein Grund ist, dass die Aspekte, die durch diese Unterteilung unterschiedenen werden, sich im alltäglichen Leben überschneiden und kombinieren. <br />
:'' Die herkömmlichen Unterteilungen des Orientierungsvermögens vernachlässigen oft die innere körperliche Orientierung als grundlegenden Aspekt. In der Kinästhetik wird von der Annahme ausgegangen, dass die Qualität der körperlichen Orientierung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich ein Mensch am Raum, an der Zeit usw. orientieren kann.“ ''<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 12-13.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel „Teil 3: Bewegungskompetenz und lebenslange Orientierungssuche". Die vorhergehenden Absätze beleuchten das Thema Bewegungsmuster, hier wird die Bedeutung der Bewegungsmuster für Orientierung beschrieben.<br />
<br />
: ''''' „Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz: ''' <br>[…] Für das fortlaufende Suchen ihrer Orientierung ist es von hoher Bedeutung, in welcher Qualität sie [eine Person mit Demenz, Anm. d. Red.] ihre Bewegung wahrnehmen, gestalten und sich so in sich selbst orientieren kann. <br />
:'' Nach dieser Grundhaltung steht im Zentrum, dass jede Unterstützung einer Person mit Demenz als ein Lernangebot verstanden und gestaltet wird. Wenn Menschen mit Demenz in ihren alltäglichen Aktivitäten eine für sie im Moment passende Unterstützung erhalten, können sie lernen, ihre Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen und an ihre aktuelle Situation anzupassen. Hier liegt ein großes Potenzial dafür vor, dass sie bis zuletzt erfolgreich ihre innere körperliche Orientierung suchen. <br />
:''Ein individuell angepasstes Unterstützungsangebot in diesem Sinn gestalten zu können, stellt hohe Anforderungen an die Bewegungskompetenz und das Bewegungsverständnis der Bezugspersonen. Sie sind insbesondere gefordert, ihre Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auf ihre eigene Bewegung zu lenken, um diese fortlaufend differenziert an die Orientierungssuche der betreffenden Person anzupassen. "<br />
<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 36 f.<br />
<br />
==Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“==<br />
===Einleitung===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
===Relevante Zitate===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
:''„4. Grundprinzipien ''<br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
:''„4.1. Wahrnehmung''<br />
:''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.''<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br>''<br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. ''<br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen? Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4732
Orientierung
2023-10-06T09:26:58Z
<p>Dagmar Panzer: /* Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch [[Orientierung#Orientierung%20im%20.E2.80.9EKinaesthetics%20.E2.80.93%20Konzeptsystem.E2.80.9C|„Kinaesthetics – Konzeptsystem“]] und stellen einen aktuellen Referenztext dar. Es folgen Zitate aus den [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EAufbaumodul%20Demenz%203:%20Die%20eigene%20Orientierung%20suchen.2C%20Arbeitsunterlagen.E2.80.9C|Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“]], wo es um die konkrete Verknüpfung mit dem Thema Demenz geht. In den Zitaten aus dem [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EKin.C3.A4sthetik-Bulletin-Nr-16.E2.80.9C|„16. Kinästhetik-Bulletin von 1990]] werden Entwicklung, Bedeutung und Anwendung des Begriffs Orientierung dargestellt.<br />
== Aktuelle Verwendung des Fachbegriffs ==<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
=== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Konzept Funktionale Anatomie“ eingebettet. Bei diesem Konzept ist grundsätzlich Folgendes von Bedeutung: <br />
<br />
: '' „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.“''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 19.</ref><br />
<br />
Nach den Unterkapiteln „[[Knochen und Muskeln]]“, „[[Massen und Zwischenräume]]“ und „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“ wird dem Fachbegriff Orientierung das vierte und letzte Kapitel gewidmet.<br />
:''<big>“2.4. Orientierung</big><br />
:''Die Entstehung des Begriffes '''Orientierung''' hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.''<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: ‚Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?‘<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: ‚In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer [[Massen und Zwischenräume|Massen]] organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?‘''<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die ‚richtige<br>Richtung‘ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich ‚oben‘ und ‚unten‘ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: ‚Oben‘ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, ‚unten‘ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. ‚Unten‘<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, ‚oben‘ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
=== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ ===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„'''<big>Die eigene Orientierung suchen</big><br> […] Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. <br />
:''Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
:''<big>Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung</big><br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Es geht darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. ''<br />
<br />
:''Eine wichtige Annahme ist, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie grundlegend für das gesamte Orientierungsvermögen ist. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz individuell und konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen.“''<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-48-2. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus den Begleittexten des Kapitels „Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
: ''<big>Orientierung – ein vielschichtiger Prozess <br></big> Beispiel: <br>Wir wollen erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen. Dabei müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an den unterschiedlichsten Dingen orientieren. Unsere Bewegung orientieren wir z. B. ununterbrochen an der Beschaffenheit und der Richtung des Weges. Wir orientieren uns an Wegweisern und Karten, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, an der Entwicklung des Wetters usw. [im Original alles kursiv]''<br />
<br />
:'' Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten oder Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. <br />
:''Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen oder wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich bei der inneren körperlichen Orientierung, wenn wir unsere Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer eigenen Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den ‚Spielregeln‘ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). <br />
:''Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:AMD3-Orientierung-Wandern.jpeg|300px|rahmenlos|zentriert]]||<br />
:''Abb. 1: Eine Wanderung erfordert fortlaufend innere körperliche Anpassungsfähigkeit im Zusammenspiel mit der ständigen Orientierung in der Umgebung. Die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) läuft sozusagen auf Hochtouren und damit einhergehend die innere körperliche Orientierung. Sie gilt in der Kinästhetik als Grundlage des Orientierungsvermögens.''<br><br><br />
|}<br />
<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können […]. Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen. ''<br />
:'' <big><big>Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens</big></big> '''<br><br>'''<big>Die innere körperliche Orientierung</big> ''<br />
:'' Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung und unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir – als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper und in uns selbst zurechtfinden. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. <br />
:''Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische ‚Mechanik‘, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. <br />
:''Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. <br />
:''Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden.“ ''<br />
: '''''Herkömmliche Unterteilungen des menschlichen Orientierungsvermögens'''''<br />
: ''Es ist gängig, das Orientierungsvermögen des Menschen zu unterteilen, um es differenzierter zu beschreiben oder auch in Pflegedokumentationen festzuhalten. Dabei sind die folgenden Begrifflichkeiten allgemein gebräuchlich:<br />
:*''Räumliche oder örtliche Orientierung''<br />
:*''Zeitliche Orientierung ''<br />
:*''Orientierung zur eigenen Person und zum persönlichen Beziehungsnetz (auch als soziale Orientierung bezeichnet)''<br />
:*''Situative Orientierung: Das angemessene Ausrichten des eigenen Verhaltens an einer bestimmten Situation''<br><br />
<br />
:'' Diese Unterteilung macht deutlich, dass Orientierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, aber auch ein sehr komplexes Phänomen ist. Mit ein Grund ist, dass die Aspekte, die durch diese Unterteilung unterschiedenen werden, sich im alltäglichen Leben überschneiden und kombinieren. <br />
:'' Die herkömmlichen Unterteilungen des Orientierungsvermögens vernachlässigen oft die innere körperliche Orientierung als grundlegenden Aspekt. In der Kinästhetik wird von der Annahme ausgegangen, dass die Qualität der körperlichen Orientierung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich ein Mensch am Raum, an der Zeit usw. orientieren kann.“ ''<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 12-13.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel „Teil 3: Bewegungskompetenz und lebenslange Orientierungssuche". Die vorhergehenden Absätze beleuchten das Thema Bewegungsmuster, hier wird die Bedeutung der Bewegungsmuster für Orientierung beschrieben.<br />
<br />
: ''''' „Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz: ''' <br>[…] Für das fortlaufende Suchen ihrer Orientierung ist es von hoher Bedeutung, in welcher Qualität sie [eine Person mit Demenz, Anm. d. Red.] ihre Bewegung wahrnehmen, gestalten und sich so in sich selbst orientieren kann. <br />
:'' Nach dieser Grundhaltung steht im Zentrum, dass jede Unterstützung einer Person mit Demenz als ein Lernangebot verstanden und gestaltet wird. Wenn Menschen mit Demenz in ihren alltäglichen Aktivitäten eine für sie im Moment passende Unterstützung erhalten, können sie lernen, ihre Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen und an ihre aktuelle Situation anzupassen. Hier liegt ein großes Potenzial dafür vor, dass sie bis zuletzt erfolgreich ihre innere körperliche Orientierung suchen. <br />
:''Ein individuell angepasstes Unterstützungsangebot in diesem Sinn gestalten zu können, stellt hohe Anforderungen an die Bewegungskompetenz und das Bewegungsverständnis der Bezugspersonen. Sie sind insbesondere gefordert, ihre Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auf ihre eigene Bewegung zu lenken, um diese fortlaufend differenziert an die Orientierungssuche der betreffenden Person anzupassen. "<br />
<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 36 f.<br />
<br />
==Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“==<br />
===Einleitung===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
===Relevante Zitate===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
:''„4. Grundprinzipien ''<br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
:''„4.1. Wahrnehmung''<br />
:''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.''<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br>''<br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. ''<br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen? Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4731
Orientierung
2023-10-06T09:19:53Z
<p>Dagmar Panzer: /* Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch [[Orientierung#Orientierung%20im%20.E2.80.9EKinaesthetics%20.E2.80.93%20Konzeptsystem.E2.80.9C|„Kinaesthetics – Konzeptsystem“]] und stellen einen aktuellen Referenztext dar. Es folgen Zitate aus den [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EAufbaumodul%20Demenz%203:%20Die%20eigene%20Orientierung%20suchen.2C%20Arbeitsunterlagen.E2.80.9C|Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“]], wo es um die konkrete Verknüpfung mit dem Thema Demenz geht. In den Zitaten aus dem [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EKin.C3.A4sthetik-Bulletin-Nr-16.E2.80.9C|„16. Kinästhetik-Bulletin von 1990]] werden Entwicklung, Bedeutung und Anwendung des Begriffs Orientierung dargestellt.<br />
== Aktuelle Verwendung des Fachbegriffs ==<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
=== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Konzept Funktionale Anatomie“ eingebettet. Bei diesem Konzept ist grundsätzlich Folgendes von Bedeutung: <br />
<br />
: '' „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.“''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 19.</ref><br />
<br />
Nach den Unterkapiteln „[[Knochen und Muskeln]]“, „[[Massen und Zwischenräume]]“ und „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“ wird dem Fachbegriff Orientierung das vierte und letzte Kapitel gewidmet.<br />
:''<big>“2.4. Orientierung</big><br />
:''Die Entstehung des Begriffes '''Orientierung''' hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.''<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: ‚Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?‘<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: ‚In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer [[Massen und Zwischenräume|Massen]] organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?‘''<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die ‚richtige<br>Richtung‘ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich ‚oben‘ und ‚unten‘ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: ‚Oben‘ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, ‚unten‘ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. ‚Unten‘<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, ‚oben‘ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
=== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ ===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„'''<big>Die eigene Orientierung suchen</big><br> […] Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. <br />
:''Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
:''<big>Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung</big><br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Es geht darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. ''<br />
<br />
:''Eine wichtige Annahme ist, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie grundlegend für das gesamte Orientierungsvermögen ist. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz individuell und konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen.“''<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-48-2. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus den Begleittexten des Kapitels „Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
: ''<big>Orientierung – ein vielschichtiger Prozess <br></big> Beispiel: <br>Wir wollen erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen. Dabei müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an den unterschiedlichsten Dingen orientieren. Unsere Bewegung orientieren wir z. B. ununterbrochen an der Beschaffenheit und der Richtung des Weges. Wir orientieren uns an Wegweisern und Karten, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, an der Entwicklung des Wetters usw. [im Original alles kursiv]''<br />
<br />
:'' Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten oder Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. <br />
:''Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen oder wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich bei der inneren körperlichen Orientierung, wenn wir unsere Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer eigenen Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den ‚Spielregeln‘ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). <br />
:''Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:AMD3-Orientierung-Wandern.jpeg|300px|rahmenlos|zentriert]]||<br />
:''Abb. 1: Eine Wanderung erfordert fortlaufend innere körperliche Anpassungsfähigkeit im Zusammenspiel mit der ständigen Orientierung in der Umgebung. Die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) läuft sozusagen auf Hochtouren und damit einhergehend die innere körperliche Orientierung. Sie gilt in der Kinästhetik als Grundlage des Orientierungsvermögens.''<br><br><br />
|}<br />
<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können […]. Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen. ''<br />
:'' <big>Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens</big> '''<br><br>'''<big>Die innere körperliche Orientierung</big> ''<br />
:'' Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung und unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir – als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper und in uns selbst zurechtfinden. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. <br />
:''Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische ‚Mechanik‘, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. <br />
:''Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. <br />
:''Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden.“ ''<br />
: '''''Herkömmliche Unterteilungen des menschlichen Orientierungsvermögens'''''<br />
: ''Es ist gängig, das Orientierungsvermögen des Menschen zu unterteilen, um es differenzierter zu beschreiben oder auch in Pflegedokumentationen festzuhalten. Dabei sind die folgenden Begrifflichkeiten allgemein gebräuchlich:<br />
:*''Räumliche oder örtliche Orientierung''<br />
:*''Zeitliche Orientierung ''<br />
:*''Orientierung zur eigenen Person und zum persönlichen Beziehungsnetz (auch als soziale Orientierung bezeichnet)''<br />
:*''Situative Orientierung: Das angemessene Ausrichten des eigenen Verhaltens an einer bestimmten Situation''<br><br />
<br />
:'' Diese Unterteilung macht deutlich, dass Orientierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, aber auch ein sehr komplexes Phänomen ist. Mit ein Grund ist, dass die Aspekte, die durch diese Unterteilung unterschiedenen werden, sich im alltäglichen Leben überschneiden und kombinieren. <br />
:'' Die herkömmlichen Unterteilungen des Orientierungsvermögens vernachlässigen oft die innere körperliche Orientierung als grundlegenden Aspekt. In der Kinästhetik wird von der Annahme ausgegangen, dass die Qualität der körperlichen Orientierung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich ein Mensch am Raum, an der Zeit usw. orientieren kann.“ ''<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 12-13.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel „Teil 3: Bewegungskompetenz und lebenslange Orientierungssuche". Die vorhergehenden Absätze beleuchten das Thema Bewegungsmuster, hier wird die Bedeutung der Bewegungsmuster für Orientierung beschrieben.<br />
<br />
: ''''' „Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz: ''' <br>[…] Für das fortlaufende Suchen ihrer Orientierung ist es von hoher Bedeutung, in welcher Qualität sie [eine Person mit Demenz, Anm. d. Red.] ihre Bewegung wahrnehmen, gestalten und sich so in sich selbst orientieren kann. <br />
:'' Nach dieser Grundhaltung steht im Zentrum, dass jede Unterstützung einer Person mit Demenz als ein Lernangebot verstanden und gestaltet wird. Wenn Menschen mit Demenz in ihren alltäglichen Aktivitäten eine für sie im Moment passende Unterstützung erhalten, können sie lernen, ihre Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen und an ihre aktuelle Situation anzupassen. Hier liegt ein großes Potenzial dafür vor, dass sie bis zuletzt erfolgreich ihre innere körperliche Orientierung suchen. <br />
:''Ein individuell angepasstes Unterstützungsangebot in diesem Sinn gestalten zu können, stellt hohe Anforderungen an die Bewegungskompetenz und das Bewegungsverständnis der Bezugspersonen. Sie sind insbesondere gefordert, ihre Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auf ihre eigene Bewegung zu lenken, um diese fortlaufend differenziert an die Orientierungssuche der betreffenden Person anzupassen. "<br />
<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 36 f.<br />
<br />
==Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“==<br />
===Einleitung===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
===Relevante Zitate===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
:''„4. Grundprinzipien ''<br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
:''„4.1. Wahrnehmung''<br />
:''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.''<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br>''<br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. ''<br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen? Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4730
Orientierung
2023-10-06T09:18:14Z
<p>Dagmar Panzer: /* Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch [[Orientierung#Orientierung%20im%20.E2.80.9EKinaesthetics%20.E2.80.93%20Konzeptsystem.E2.80.9C|„Kinaesthetics – Konzeptsystem“]] und stellen einen aktuellen Referenztext dar. Es folgen Zitate aus den [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EAufbaumodul%20Demenz%203:%20Die%20eigene%20Orientierung%20suchen.2C%20Arbeitsunterlagen.E2.80.9C|Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“]], wo es um die konkrete Verknüpfung mit dem Thema Demenz geht. In den Zitaten aus dem [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EKin.C3.A4sthetik-Bulletin-Nr-16.E2.80.9C|„16. Kinästhetik-Bulletin von 1990]] werden Entwicklung, Bedeutung und Anwendung des Begriffs Orientierung dargestellt.<br />
== Aktuelle Verwendung des Fachbegriffs ==<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
=== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Konzept Funktionale Anatomie“ eingebettet. Bei diesem Konzept ist grundsätzlich Folgendes von Bedeutung: <br />
<br />
: '' „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.“''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 19.</ref><br />
<br />
Nach den Unterkapiteln „[[Knochen und Muskeln]]“, „[[Massen und Zwischenräume]]“ und „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“ wird dem Fachbegriff Orientierung das vierte und letzte Kapitel gewidmet.<br />
:''<big>“2.4. Orientierung</big><br />
:''Die Entstehung des Begriffes '''Orientierung''' hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.''<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: ‚Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?‘<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: ‚In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer [[Massen und Zwischenräume|Massen]] organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?‘''<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die ‚richtige<br>Richtung‘ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich ‚oben‘ und ‚unten‘ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: ‚Oben‘ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, ‚unten‘ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. ‚Unten‘<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, ‚oben‘ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
=== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ ===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„'''<big>Die eigene Orientierung suchen</big><br> […] Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. <br />
:''Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
:''<big>Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung</big><br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Es geht darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. ''<br />
<br />
:''Eine wichtige Annahme ist, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie grundlegend für das gesamte Orientierungsvermögen ist. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz individuell und konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen.“''<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-48-2. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus den Begleittexten des Kapitels „Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
: '''''Orientierung – ein vielschichtiger Prozess''' <br> Beispiel: <br>Wir wollen erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen. Dabei müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an den unterschiedlichsten Dingen orientieren. Unsere Bewegung orientieren wir z. B. ununterbrochen an der Beschaffenheit und der Richtung des Weges. Wir orientieren uns an Wegweisern und Karten, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, an der Entwicklung des Wetters usw. [im Original alles kursiv]<br />
<br />
:'' Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten oder Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. <br />
:''Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen oder wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich bei der inneren körperlichen Orientierung, wenn wir unsere Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer eigenen Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den ‚Spielregeln‘ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). <br />
:''Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:AMD3-Orientierung-Wandern.jpeg|300px|rahmenlos|zentriert]]||<br />
:''Abb. 1: Eine Wanderung erfordert fortlaufend innere körperliche Anpassungsfähigkeit im Zusammenspiel mit der ständigen Orientierung in der Umgebung. Die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) läuft sozusagen auf Hochtouren und damit einhergehend die innere körperliche Orientierung. Sie gilt in der Kinästhetik als Grundlage des Orientierungsvermögens.''<br><br><br />
|}<br />
<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können […]. Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen. ''<br />
:'' '''Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens <br><br>Die innere körperliche Orientierung''' ''<br />
:'' Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung und unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir – als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper und in uns selbst zurechtfinden. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. <br />
:''Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische ‚Mechanik‘, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. <br />
:''Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. <br />
:''Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden.“ ''<br />
: '''''Herkömmliche Unterteilungen des menschlichen Orientierungsvermögens'''''<br />
: ''Es ist gängig, das Orientierungsvermögen des Menschen zu unterteilen, um es differenzierter zu beschreiben oder auch in Pflegedokumentationen festzuhalten. Dabei sind die folgenden Begrifflichkeiten allgemein gebräuchlich:<br />
:*''Räumliche oder örtliche Orientierung''<br />
:*''Zeitliche Orientierung ''<br />
:*''Orientierung zur eigenen Person und zum persönlichen Beziehungsnetz (auch als soziale Orientierung bezeichnet)''<br />
:*''Situative Orientierung: Das angemessene Ausrichten des eigenen Verhaltens an einer bestimmten Situation''<br><br />
<br />
:'' Diese Unterteilung macht deutlich, dass Orientierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, aber auch ein sehr komplexes Phänomen ist. Mit ein Grund ist, dass die Aspekte, die durch diese Unterteilung unterschiedenen werden, sich im alltäglichen Leben überschneiden und kombinieren. <br />
:'' Die herkömmlichen Unterteilungen des Orientierungsvermögens vernachlässigen oft die innere körperliche Orientierung als grundlegenden Aspekt. In der Kinästhetik wird von der Annahme ausgegangen, dass die Qualität der körperlichen Orientierung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich ein Mensch am Raum, an der Zeit usw. orientieren kann.“ ''<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 12-13.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel „Teil 3: Bewegungskompetenz und lebenslange Orientierungssuche". Die vorhergehenden Absätze beleuchten das Thema Bewegungsmuster, hier wird die Bedeutung der Bewegungsmuster für Orientierung beschrieben.<br />
<br />
: ''''' „Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz: ''' <br>[…] Für das fortlaufende Suchen ihrer Orientierung ist es von hoher Bedeutung, in welcher Qualität sie [eine Person mit Demenz, Anm. d. Red.] ihre Bewegung wahrnehmen, gestalten und sich so in sich selbst orientieren kann. <br />
:'' Nach dieser Grundhaltung steht im Zentrum, dass jede Unterstützung einer Person mit Demenz als ein Lernangebot verstanden und gestaltet wird. Wenn Menschen mit Demenz in ihren alltäglichen Aktivitäten eine für sie im Moment passende Unterstützung erhalten, können sie lernen, ihre Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen und an ihre aktuelle Situation anzupassen. Hier liegt ein großes Potenzial dafür vor, dass sie bis zuletzt erfolgreich ihre innere körperliche Orientierung suchen. <br />
:''Ein individuell angepasstes Unterstützungsangebot in diesem Sinn gestalten zu können, stellt hohe Anforderungen an die Bewegungskompetenz und das Bewegungsverständnis der Bezugspersonen. Sie sind insbesondere gefordert, ihre Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auf ihre eigene Bewegung zu lenken, um diese fortlaufend differenziert an die Orientierungssuche der betreffenden Person anzupassen. "<br />
<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 36 f.<br />
<br />
==Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“==<br />
===Einleitung===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
===Relevante Zitate===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
:''„4. Grundprinzipien ''<br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
:''„4.1. Wahrnehmung''<br />
:''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.''<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br>''<br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. ''<br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen? Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4729
Orientierung
2023-10-06T09:17:32Z
<p>Dagmar Panzer: /* Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch [[Orientierung#Orientierung%20im%20.E2.80.9EKinaesthetics%20.E2.80.93%20Konzeptsystem.E2.80.9C|„Kinaesthetics – Konzeptsystem“]] und stellen einen aktuellen Referenztext dar. Es folgen Zitate aus den [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EAufbaumodul%20Demenz%203:%20Die%20eigene%20Orientierung%20suchen.2C%20Arbeitsunterlagen.E2.80.9C|Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“]], wo es um die konkrete Verknüpfung mit dem Thema Demenz geht. In den Zitaten aus dem [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EKin.C3.A4sthetik-Bulletin-Nr-16.E2.80.9C|„16. Kinästhetik-Bulletin von 1990]] werden Entwicklung, Bedeutung und Anwendung des Begriffs Orientierung dargestellt.<br />
== Aktuelle Verwendung des Fachbegriffs ==<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
=== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Konzept Funktionale Anatomie“ eingebettet. Bei diesem Konzept ist grundsätzlich Folgendes von Bedeutung: <br />
<br />
: '' „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.“''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 19.</ref><br />
<br />
Nach den Unterkapiteln „[[Knochen und Muskeln]]“, „[[Massen und Zwischenräume]]“ und „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“ wird dem Fachbegriff Orientierung das vierte und letzte Kapitel gewidmet.<br />
:''<big>“2.4. Orientierung</big><br />
:''Die Entstehung des Begriffes '''Orientierung''' hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.''<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: ‚Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?‘<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: ‚In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer [[Massen und Zwischenräume|Massen]] organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?‘''<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die ‚richtige<br>Richtung‘ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich ‚oben‘ und ‚unten‘ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: ‚Oben‘ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, ‚unten‘ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. ‚Unten‘<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, ‚oben‘ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
=== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ ===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„'''<big>Die eigene Orientierung suchen</big><br> […] Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. <br />
:''Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
:'''''<big>Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung</big><br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Es geht darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. <br />
<br />
:''Eine wichtige Annahme ist, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie grundlegend für das gesamte Orientierungsvermögen ist. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz individuell und konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen.“''<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-48-2. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus den Begleittexten des Kapitels „Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
: '''''Orientierung – ein vielschichtiger Prozess''' <br> Beispiel: <br>Wir wollen erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen. Dabei müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an den unterschiedlichsten Dingen orientieren. Unsere Bewegung orientieren wir z. B. ununterbrochen an der Beschaffenheit und der Richtung des Weges. Wir orientieren uns an Wegweisern und Karten, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, an der Entwicklung des Wetters usw. [im Original alles kursiv]<br />
<br />
:'' Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten oder Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. <br />
:''Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen oder wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich bei der inneren körperlichen Orientierung, wenn wir unsere Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer eigenen Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den ‚Spielregeln‘ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). <br />
:''Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:AMD3-Orientierung-Wandern.jpeg|300px|rahmenlos|zentriert]]||<br />
:''Abb. 1: Eine Wanderung erfordert fortlaufend innere körperliche Anpassungsfähigkeit im Zusammenspiel mit der ständigen Orientierung in der Umgebung. Die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) läuft sozusagen auf Hochtouren und damit einhergehend die innere körperliche Orientierung. Sie gilt in der Kinästhetik als Grundlage des Orientierungsvermögens.''<br><br><br />
|}<br />
<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können […]. Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen. ''<br />
:'' '''Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens <br><br>Die innere körperliche Orientierung''' ''<br />
:'' Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung und unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir – als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper und in uns selbst zurechtfinden. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. <br />
:''Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische ‚Mechanik‘, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. <br />
:''Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. <br />
:''Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden.“ ''<br />
: '''''Herkömmliche Unterteilungen des menschlichen Orientierungsvermögens'''''<br />
: ''Es ist gängig, das Orientierungsvermögen des Menschen zu unterteilen, um es differenzierter zu beschreiben oder auch in Pflegedokumentationen festzuhalten. Dabei sind die folgenden Begrifflichkeiten allgemein gebräuchlich:<br />
:*''Räumliche oder örtliche Orientierung''<br />
:*''Zeitliche Orientierung ''<br />
:*''Orientierung zur eigenen Person und zum persönlichen Beziehungsnetz (auch als soziale Orientierung bezeichnet)''<br />
:*''Situative Orientierung: Das angemessene Ausrichten des eigenen Verhaltens an einer bestimmten Situation''<br><br />
<br />
:'' Diese Unterteilung macht deutlich, dass Orientierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, aber auch ein sehr komplexes Phänomen ist. Mit ein Grund ist, dass die Aspekte, die durch diese Unterteilung unterschiedenen werden, sich im alltäglichen Leben überschneiden und kombinieren. <br />
:'' Die herkömmlichen Unterteilungen des Orientierungsvermögens vernachlässigen oft die innere körperliche Orientierung als grundlegenden Aspekt. In der Kinästhetik wird von der Annahme ausgegangen, dass die Qualität der körperlichen Orientierung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich ein Mensch am Raum, an der Zeit usw. orientieren kann.“ ''<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 12-13.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel „Teil 3: Bewegungskompetenz und lebenslange Orientierungssuche". Die vorhergehenden Absätze beleuchten das Thema Bewegungsmuster, hier wird die Bedeutung der Bewegungsmuster für Orientierung beschrieben.<br />
<br />
: ''''' „Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz: ''' <br>[…] Für das fortlaufende Suchen ihrer Orientierung ist es von hoher Bedeutung, in welcher Qualität sie [eine Person mit Demenz, Anm. d. Red.] ihre Bewegung wahrnehmen, gestalten und sich so in sich selbst orientieren kann. <br />
:'' Nach dieser Grundhaltung steht im Zentrum, dass jede Unterstützung einer Person mit Demenz als ein Lernangebot verstanden und gestaltet wird. Wenn Menschen mit Demenz in ihren alltäglichen Aktivitäten eine für sie im Moment passende Unterstützung erhalten, können sie lernen, ihre Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen und an ihre aktuelle Situation anzupassen. Hier liegt ein großes Potenzial dafür vor, dass sie bis zuletzt erfolgreich ihre innere körperliche Orientierung suchen. <br />
:''Ein individuell angepasstes Unterstützungsangebot in diesem Sinn gestalten zu können, stellt hohe Anforderungen an die Bewegungskompetenz und das Bewegungsverständnis der Bezugspersonen. Sie sind insbesondere gefordert, ihre Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auf ihre eigene Bewegung zu lenken, um diese fortlaufend differenziert an die Orientierungssuche der betreffenden Person anzupassen. "<br />
<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 36 f.<br />
<br />
==Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“==<br />
===Einleitung===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
===Relevante Zitate===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
:''„4. Grundprinzipien ''<br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
:''„4.1. Wahrnehmung''<br />
:''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.''<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br>''<br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. ''<br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen? Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4728
Orientierung
2023-10-06T09:15:46Z
<p>Dagmar Panzer: /* Aktuelle Verwendung des Fachbegriffs */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch [[Orientierung#Orientierung%20im%20.E2.80.9EKinaesthetics%20.E2.80.93%20Konzeptsystem.E2.80.9C|„Kinaesthetics – Konzeptsystem“]] und stellen einen aktuellen Referenztext dar. Es folgen Zitate aus den [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EAufbaumodul%20Demenz%203:%20Die%20eigene%20Orientierung%20suchen.2C%20Arbeitsunterlagen.E2.80.9C|Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“]], wo es um die konkrete Verknüpfung mit dem Thema Demenz geht. In den Zitaten aus dem [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EKin.C3.A4sthetik-Bulletin-Nr-16.E2.80.9C|„16. Kinästhetik-Bulletin von 1990]] werden Entwicklung, Bedeutung und Anwendung des Begriffs Orientierung dargestellt.<br />
== Aktuelle Verwendung des Fachbegriffs ==<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
=== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Konzept Funktionale Anatomie“ eingebettet. Bei diesem Konzept ist grundsätzlich Folgendes von Bedeutung: <br />
<br />
: '' „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.“''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 19.</ref><br />
<br />
Nach den Unterkapiteln „[[Knochen und Muskeln]]“, „[[Massen und Zwischenräume]]“ und „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“ wird dem Fachbegriff Orientierung das vierte und letzte Kapitel gewidmet.<br />
:''<big>“2.4. Orientierung</big><br />
:''Die Entstehung des Begriffes '''Orientierung''' hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.''<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: ‚Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?‘<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: ‚In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer [[Massen und Zwischenräume|Massen]] organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?‘''<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die ‚richtige<br>Richtung‘ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich ‚oben‘ und ‚unten‘ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: ‚Oben‘ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, ‚unten‘ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. ‚Unten‘<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, ‚oben‘ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
=== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ ===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„'''<big>Die eigene Orientierung suchen</big><br> […] Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. <br />
:''Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
:'''''Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung''' <br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Es geht darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. <br />
<br />
:''Eine wichtige Annahme ist, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie grundlegend für das gesamte Orientierungsvermögen ist. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz individuell und konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen.“''<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-48-2. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus den Begleittexten des Kapitels „Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
: '''''Orientierung – ein vielschichtiger Prozess''' <br> Beispiel: <br>Wir wollen erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen. Dabei müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an den unterschiedlichsten Dingen orientieren. Unsere Bewegung orientieren wir z. B. ununterbrochen an der Beschaffenheit und der Richtung des Weges. Wir orientieren uns an Wegweisern und Karten, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, an der Entwicklung des Wetters usw. [im Original alles kursiv]<br />
<br />
:'' Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten oder Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. <br />
:''Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen oder wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich bei der inneren körperlichen Orientierung, wenn wir unsere Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer eigenen Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den ‚Spielregeln‘ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). <br />
:''Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:AMD3-Orientierung-Wandern.jpeg|300px|rahmenlos|zentriert]]||<br />
:''Abb. 1: Eine Wanderung erfordert fortlaufend innere körperliche Anpassungsfähigkeit im Zusammenspiel mit der ständigen Orientierung in der Umgebung. Die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) läuft sozusagen auf Hochtouren und damit einhergehend die innere körperliche Orientierung. Sie gilt in der Kinästhetik als Grundlage des Orientierungsvermögens.''<br><br><br />
|}<br />
<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können […]. Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen. ''<br />
:'' '''Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens <br><br>Die innere körperliche Orientierung''' ''<br />
:'' Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung und unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir – als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper und in uns selbst zurechtfinden. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. <br />
:''Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische ‚Mechanik‘, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. <br />
:''Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. <br />
:''Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden.“ ''<br />
: '''''Herkömmliche Unterteilungen des menschlichen Orientierungsvermögens'''''<br />
: ''Es ist gängig, das Orientierungsvermögen des Menschen zu unterteilen, um es differenzierter zu beschreiben oder auch in Pflegedokumentationen festzuhalten. Dabei sind die folgenden Begrifflichkeiten allgemein gebräuchlich:<br />
:*''Räumliche oder örtliche Orientierung''<br />
:*''Zeitliche Orientierung ''<br />
:*''Orientierung zur eigenen Person und zum persönlichen Beziehungsnetz (auch als soziale Orientierung bezeichnet)''<br />
:*''Situative Orientierung: Das angemessene Ausrichten des eigenen Verhaltens an einer bestimmten Situation''<br><br />
<br />
:'' Diese Unterteilung macht deutlich, dass Orientierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, aber auch ein sehr komplexes Phänomen ist. Mit ein Grund ist, dass die Aspekte, die durch diese Unterteilung unterschiedenen werden, sich im alltäglichen Leben überschneiden und kombinieren. <br />
:'' Die herkömmlichen Unterteilungen des Orientierungsvermögens vernachlässigen oft die innere körperliche Orientierung als grundlegenden Aspekt. In der Kinästhetik wird von der Annahme ausgegangen, dass die Qualität der körperlichen Orientierung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich ein Mensch am Raum, an der Zeit usw. orientieren kann.“ ''<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 12-13.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel „Teil 3: Bewegungskompetenz und lebenslange Orientierungssuche". Die vorhergehenden Absätze beleuchten das Thema Bewegungsmuster, hier wird die Bedeutung der Bewegungsmuster für Orientierung beschrieben.<br />
<br />
: ''''' „Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz: ''' <br>[…] Für das fortlaufende Suchen ihrer Orientierung ist es von hoher Bedeutung, in welcher Qualität sie [eine Person mit Demenz, Anm. d. Red.] ihre Bewegung wahrnehmen, gestalten und sich so in sich selbst orientieren kann. <br />
:'' Nach dieser Grundhaltung steht im Zentrum, dass jede Unterstützung einer Person mit Demenz als ein Lernangebot verstanden und gestaltet wird. Wenn Menschen mit Demenz in ihren alltäglichen Aktivitäten eine für sie im Moment passende Unterstützung erhalten, können sie lernen, ihre Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen und an ihre aktuelle Situation anzupassen. Hier liegt ein großes Potenzial dafür vor, dass sie bis zuletzt erfolgreich ihre innere körperliche Orientierung suchen. <br />
:''Ein individuell angepasstes Unterstützungsangebot in diesem Sinn gestalten zu können, stellt hohe Anforderungen an die Bewegungskompetenz und das Bewegungsverständnis der Bezugspersonen. Sie sind insbesondere gefordert, ihre Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auf ihre eigene Bewegung zu lenken, um diese fortlaufend differenziert an die Orientierungssuche der betreffenden Person anzupassen. "<br />
<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 36 f.<br />
<br />
==Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“==<br />
===Einleitung===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
===Relevante Zitate===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
:''„4. Grundprinzipien ''<br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
:''„4.1. Wahrnehmung''<br />
:''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.''<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br>''<br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. ''<br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen? Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4727
Orientierung
2023-10-06T08:29:43Z
<p>Dagmar Panzer: /* Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch [[Orientierung#Orientierung%20im%20.E2.80.9EKinaesthetics%20.E2.80.93%20Konzeptsystem.E2.80.9C|„Kinaesthetics – Konzeptsystem“]] und stellen einen aktuellen Referenztext dar. Es folgen Zitate aus den [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EAufbaumodul%20Demenz%203:%20Die%20eigene%20Orientierung%20suchen.2C%20Arbeitsunterlagen.E2.80.9C|Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“]], wo es um die konkrete Verknüpfung mit dem Thema Demenz geht. In den Zitaten aus dem [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EKin.C3.A4sthetik-Bulletin-Nr-16.E2.80.9C|„16. Kinästhetik-Bulletin von 1990]] werden Entwicklung, Bedeutung und Anwendung des Begriffs Orientierung dargestellt.<br />
== Aktuelle Verwendung des Fachbegriffs ==<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
=== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Konzept Funktionale Anatomie“ eingebettet. Bei diesem Konzept ist grundsätzlich Folgendes von Bedeutung: <br />
<br />
: '' „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.“''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 19.</ref><br />
<br />
Nach den Unterkapiteln „[[Knochen und Muskeln]]“, „[[Massen und Zwischenräume]]“ und „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“ wird dem Fachbegriff Orientierung das vierte und letzte Kapitel gewidmet.<br />
:''<big>“2.4. Orientierung</big><br />
:''Die Entstehung des Begriffes '''Orientierung''' hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.''<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: ‚Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?‘<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: ‚In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer [[Massen und Zwischenräume|Massen]] organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?‘''<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die ‚richtige<br>Richtung‘ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich ‚oben‘ und ‚unten‘ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: ‚Oben‘ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, ‚unten‘ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. ‚Unten‘<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, ‚oben‘ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
=== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ ===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„Die eigene Orientierung suchen''' <br> […] Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. <br />
:''Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
:'''''Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung''' <br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Es geht darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. <br />
<br />
:''Eine wichtige Annahme ist, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie grundlegend für das gesamte Orientierungsvermögen ist. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz individuell und konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen.“''<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-48-2. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus den Begleittexten des Kapitels „Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
: '''''Orientierung – ein vielschichtiger Prozess''' <br> Beispiel: <br>Wir wollen erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen. Dabei müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an den unterschiedlichsten Dingen orientieren. Unsere Bewegung orientieren wir z. B. ununterbrochen an der Beschaffenheit und der Richtung des Weges. Wir orientieren uns an Wegweisern und Karten, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, an der Entwicklung des Wetters usw. [im Original alles kursiv]<br />
<br />
:'' Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten oder Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. <br />
:''Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen oder wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich bei der inneren körperlichen Orientierung, wenn wir unsere Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer eigenen Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den ‚Spielregeln‘ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). <br />
:''Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:AMD3-Orientierung-Wandern.jpeg|300px|rahmenlos|zentriert]]||<br />
:''Abb. 1: Eine Wanderung erfordert fortlaufend innere körperliche Anpassungsfähigkeit im Zusammenspiel mit der ständigen Orientierung in der Umgebung. Die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) läuft sozusagen auf Hochtouren und damit einhergehend die innere körperliche Orientierung. Sie gilt in der Kinästhetik als Grundlage des Orientierungsvermögens.''<br><br><br />
|}<br />
<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können […]. Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen. ''<br />
:'' '''Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens <br><br>Die innere körperliche Orientierung''' ''<br />
:'' Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung und unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir – als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper und in uns selbst zurechtfinden. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. <br />
:''Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische ‚Mechanik‘, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. <br />
:''Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. <br />
:''Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden.“ ''<br />
: '''''Herkömmliche Unterteilungen des menschlichen Orientierungsvermögens'''''<br />
: ''Es ist gängig, das Orientierungsvermögen des Menschen zu unterteilen, um es differenzierter zu beschreiben oder auch in Pflegedokumentationen festzuhalten. Dabei sind die folgenden Begrifflichkeiten allgemein gebräuchlich:<br />
:*''Räumliche oder örtliche Orientierung''<br />
:*''Zeitliche Orientierung ''<br />
:*''Orientierung zur eigenen Person und zum persönlichen Beziehungsnetz (auch als soziale Orientierung bezeichnet)''<br />
:*''Situative Orientierung: Das angemessene Ausrichten des eigenen Verhaltens an einer bestimmten Situation''<br><br />
<br />
:'' Diese Unterteilung macht deutlich, dass Orientierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, aber auch ein sehr komplexes Phänomen ist. Mit ein Grund ist, dass die Aspekte, die durch diese Unterteilung unterschiedenen werden, sich im alltäglichen Leben überschneiden und kombinieren. <br />
:'' Die herkömmlichen Unterteilungen des Orientierungsvermögens vernachlässigen oft die innere körperliche Orientierung als grundlegenden Aspekt. In der Kinästhetik wird von der Annahme ausgegangen, dass die Qualität der körperlichen Orientierung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich ein Mensch am Raum, an der Zeit usw. orientieren kann.“ ''<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 12-13.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel „Teil 3: Bewegungskompetenz und lebenslange Orientierungssuche". Die vorhergehenden Absätze beleuchten das Thema Bewegungsmuster, hier wird die Bedeutung der Bewegungsmuster für Orientierung beschrieben.<br />
<br />
: ''''' „Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz: ''' <br>[…] Für das fortlaufende Suchen ihrer Orientierung ist es von hoher Bedeutung, in welcher Qualität sie [eine Person mit Demenz, Anm. d. Red.] ihre Bewegung wahrnehmen, gestalten und sich so in sich selbst orientieren kann. <br />
:'' Nach dieser Grundhaltung steht im Zentrum, dass jede Unterstützung einer Person mit Demenz als ein Lernangebot verstanden und gestaltet wird. Wenn Menschen mit Demenz in ihren alltäglichen Aktivitäten eine für sie im Moment passende Unterstützung erhalten, können sie lernen, ihre Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen und an ihre aktuelle Situation anzupassen. Hier liegt ein großes Potenzial dafür vor, dass sie bis zuletzt erfolgreich ihre innere körperliche Orientierung suchen. <br />
:''Ein individuell angepasstes Unterstützungsangebot in diesem Sinn gestalten zu können, stellt hohe Anforderungen an die Bewegungskompetenz und das Bewegungsverständnis der Bezugspersonen. Sie sind insbesondere gefordert, ihre Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auf ihre eigene Bewegung zu lenken, um diese fortlaufend differenziert an die Orientierungssuche der betreffenden Person anzupassen. "<br />
<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 36 f.<br />
<br />
==Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“==<br />
===Einleitung===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
===Relevante Zitate===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
:''„4. Grundprinzipien ''<br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
:''„4.1. Wahrnehmung''<br />
:''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.''<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br>''<br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. ''<br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen? Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4726
Orientierung
2023-10-06T08:28:15Z
<p>Dagmar Panzer: /* Aktuelle Verwendung des Fachbegriffs */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch [[Orientierung#Orientierung%20im%20.E2.80.9EKinaesthetics%20.E2.80.93%20Konzeptsystem.E2.80.9C|„Kinaesthetics – Konzeptsystem“]] und stellen einen aktuellen Referenztext dar. Es folgen Zitate aus den [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EAufbaumodul%20Demenz%203:%20Die%20eigene%20Orientierung%20suchen.2C%20Arbeitsunterlagen.E2.80.9C|Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“]], wo es um die konkrete Verknüpfung mit dem Thema Demenz geht. In den Zitaten aus dem [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EKin.C3.A4sthetik-Bulletin-Nr-16.E2.80.9C|„16. Kinästhetik-Bulletin von 1990]] werden Entwicklung, Bedeutung und Anwendung des Begriffs Orientierung dargestellt.<br />
== Aktuelle Verwendung des Fachbegriffs ==<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
=== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Konzept Funktionale Anatomie“ eingebettet. Bei diesem Konzept ist grundsätzlich Folgendes von Bedeutung: <br />
<br />
: '' „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.“''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 19.</ref><br />
<br />
Nach den Unterkapiteln „[[Knochen und Muskeln]]“, „[[Massen und Zwischenräume]]“ und „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“ wird dem Fachbegriff Orientierung das vierte und letzte Kapitel gewidmet.<br />
:''<big>“2.4. Orientierung</big><br />
:''Die Entstehung des Begriffes '''Orientierung''' hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.''<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: ‚Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?‘<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: ‚In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer [[Massen und Zwischenräume|Massen]] organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?‘''<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die ‚richtige<br>Richtung‘ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich ‚oben‘ und ‚unten‘ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: ‚Oben‘ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, ‚unten‘ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. ‚Unten‘<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, ‚oben‘ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
=== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ ===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„Die eigene Orientierung suchen''' <br> […] Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. <br />
:''Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
:'''''Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung''' <br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Es geht darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. <br />
<br />
:''Eine wichtige Annahme ist, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie grundlegend für das gesamte Orientierungsvermögen ist. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz individuell und konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen.“''<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-48-2. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus den Begleittexten des Kapitels „Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
: '''''Orientierung – ein vielschichtiger Prozess''' <br> Beispiel: <br>Wir wollen erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen. Dabei müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an den unterschiedlichsten Dingen orientieren. Unsere Bewegung orientieren wir z. B. ununterbrochen an der Beschaffenheit und der Richtung des Weges. Wir orientieren uns an Wegweisern und Karten, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, an der Entwicklung des Wetters usw. [im Original alles kursiv]<br />
<br />
:'' Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten oder Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. <br />
:''Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen oder wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich bei der inneren körperlichen Orientierung, wenn wir unsere Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer eigenen Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den ‚Spielregeln‘ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). <br />
:''Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
<br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:AMD3-Orientierung-Wandern.jpeg|300px|rahmenlos|zentriert]]||<br />
:''Abb. 1: Eine Wanderung erfordert fortlaufend innere körperliche Anpassungsfähigkeit im Zusammenspiel mit der ständigen Orientierung in der Umgebung. Die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) läuft sozusagen auf Hochtouren und damit einhergehend die innere körperliche Orientierung. Sie gilt in der Kinästhetik als Grundlage des Orientierungsvermögens.''<br><br><br />
|}<br />
<br />
<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können […]. Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen. ''<br />
:'' '''Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens <br><br>Die innere körperliche Orientierung''' ''<br />
:'' Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung und unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir – als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper und in uns selbst zurechtfinden. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. <br />
:''Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische ‚Mechanik‘, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. <br />
:''Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. <br />
:''Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden.“ ''<br />
: '''''Herkömmliche Unterteilungen des menschlichen Orientierungsvermögens'''''<br />
: ''Es ist gängig, das Orientierungsvermögen des Menschen zu unterteilen, um es differenzierter zu beschreiben oder auch in Pflegedokumentationen festzuhalten. Dabei sind die folgenden Begrifflichkeiten allgemein gebräuchlich:<br />
:*''Räumliche oder örtliche Orientierung''<br />
:*''Zeitliche Orientierung ''<br />
:*''Orientierung zur eigenen Person und zum persönlichen Beziehungsnetz (auch als soziale Orientierung bezeichnet)''<br />
:*''Situative Orientierung: Das angemessene Ausrichten des eigenen Verhaltens an einer bestimmten Situation''<br><br />
<br />
:'' Diese Unterteilung macht deutlich, dass Orientierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, aber auch ein sehr komplexes Phänomen ist. Mit ein Grund ist, dass die Aspekte, die durch diese Unterteilung unterschiedenen werden, sich im alltäglichen Leben überschneiden und kombinieren. <br />
:'' Die herkömmlichen Unterteilungen des Orientierungsvermögens vernachlässigen oft die innere körperliche Orientierung als grundlegenden Aspekt. In der Kinästhetik wird von der Annahme ausgegangen, dass die Qualität der körperlichen Orientierung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich ein Mensch am Raum, an der Zeit usw. orientieren kann.“ ''<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 12-13.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel „Teil 3: Bewegungskompetenz und lebenslange Orientierungssuche". Die vorhergehenden Absätze beleuchten das Thema Bewegungsmuster, hier wird die Bedeutung der Bewegungsmuster für Orientierung beschrieben.<br />
<br />
: ''''' „Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz: ''' <br>[…] Für das fortlaufende Suchen ihrer Orientierung ist es von hoher Bedeutung, in welcher Qualität sie [eine Person mit Demenz, Anm. d. Red.] ihre Bewegung wahrnehmen, gestalten und sich so in sich selbst orientieren kann. <br />
:'' Nach dieser Grundhaltung steht im Zentrum, dass jede Unterstützung einer Person mit Demenz als ein Lernangebot verstanden und gestaltet wird. Wenn Menschen mit Demenz in ihren alltäglichen Aktivitäten eine für sie im Moment passende Unterstützung erhalten, können sie lernen, ihre Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen und an ihre aktuelle Situation anzupassen. Hier liegt ein großes Potenzial dafür vor, dass sie bis zuletzt erfolgreich ihre innere körperliche Orientierung suchen. <br />
:''Ein individuell angepasstes Unterstützungsangebot in diesem Sinn gestalten zu können, stellt hohe Anforderungen an die Bewegungskompetenz und das Bewegungsverständnis der Bezugspersonen. Sie sind insbesondere gefordert, ihre Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auf ihre eigene Bewegung zu lenken, um diese fortlaufend differenziert an die Orientierungssuche der betreffenden Person anzupassen. "<br />
<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 36 f.<br />
<br />
==Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“==<br />
===Einleitung===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
===Relevante Zitate===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
:''„4. Grundprinzipien ''<br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
:''„4.1. Wahrnehmung''<br />
:''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.''<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br>''<br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. ''<br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen? Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4725
Orientierung
2023-10-06T08:16:20Z
<p>Dagmar Panzer: /* Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch [[Orientierung#Orientierung%20im%20.E2.80.9EKinaesthetics%20.E2.80.93%20Konzeptsystem.E2.80.9C|„Kinaesthetics – Konzeptsystem“]] und stellen einen aktuellen Referenztext dar. Es folgen Zitate aus den [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EAufbaumodul%20Demenz%203:%20Die%20eigene%20Orientierung%20suchen.2C%20Arbeitsunterlagen.E2.80.9C|Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“]], wo es um die konkrete Verknüpfung mit dem Thema Demenz geht. In den Zitaten aus dem [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EKin.C3.A4sthetik-Bulletin-Nr-16.E2.80.9C|„16. Kinästhetik-Bulletin von 1990]] werden Entwicklung, Bedeutung und Anwendung des Begriffs Orientierung dargestellt.<br />
== Aktuelle Verwendung des Fachbegriffs ==<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
=== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Konzept Funktionale Anatomie“ eingebettet. Bei diesem Konzept ist grundsätzlich Folgendes von Bedeutung: <br />
<br />
: '' „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.“''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 19.</ref><br />
<br />
Nach den Unterkapiteln „[[Knochen und Muskeln]]“, „[[Massen und Zwischenräume]]“ und „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“ wird dem Fachbegriff Orientierung das vierte und letzte Kapitel gewidmet.<br />
:''<big>“2.4. Orientierung</big><br />
:''Die Entstehung des Begriffes '''Orientierung''' hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.''<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: ‚Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?‘<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: ‚In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer [[Massen und Zwischenräume|Massen]] organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?‘''<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die ‚richtige<br>Richtung‘ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich ‚oben‘ und ‚unten‘ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: ‚Oben‘ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, ‚unten‘ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. ‚Unten‘<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, ‚oben‘ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
=== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ ===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„Die eigene Orientierung suchen''' <br> […] Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. <br />
:''Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
:'''''Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung''' <br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Es geht darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. <br />
<br />
:''Eine wichtige Annahme ist, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie grundlegend für das gesamte Orientierungsvermögen ist. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz individuell und konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen.“''<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-48-2. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus den Begleittexten des Kapitels „Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
: '''''Orientierung – ein vielschichtiger Prozess''' <br> Beispiel: <br>Wir wollen erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen. Dabei müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an den unterschiedlichsten Dingen orientieren. Unsere Bewegung orientieren wir z. B. ununterbrochen an der Beschaffenheit und der Richtung des Weges. Wir orientieren uns an Wegweisern und Karten, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, an der Entwicklung des Wetters usw. [im Original alles kursiv]<br />
<br />
:'' Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten oder Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. <br />
:''Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen oder wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich bei der inneren körperlichen Orientierung, wenn wir unsere Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer eigenen Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den ‚Spielregeln‘ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). <br />
:''Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
<br />
<br />
[[Datei:AMD3-Orientierung-Wandern.jpeg|300px|rahmenlos|links]]<br />
:''Abb. 1: Eine Wanderung erfordert fortlaufend innere körperliche Anpassungsfähigkeit im Zusammenspiel mit der ständigen Orientierung in der Umgebung. Die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) läuft sozusagen auf Hochtouren und damit einhergehend die innere körperliche Orientierung. Sie gilt in der Kinästhetik als Grundlage des Orientierungsvermögens.''<br />
<br />
<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können […]. Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen. ''<br />
:'' '''Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens <br><br>Die innere körperliche Orientierung''' ''<br />
:'' Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung und unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir – als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper und in uns selbst zurechtfinden. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. <br />
:''Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische ‚Mechanik‘, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. <br />
:''Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. <br />
:''Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden.“ ''<br />
: '''''Herkömmliche Unterteilungen des menschlichen Orientierungsvermögens'''''<br />
: ''Es ist gängig, das Orientierungsvermögen des Menschen zu unterteilen, um es differenzierter zu beschreiben oder auch in Pflegedokumentationen festzuhalten. Dabei sind die folgenden Begrifflichkeiten allgemein gebräuchlich:<br />
:*''Räumliche oder örtliche Orientierung''<br />
:*''Zeitliche Orientierung ''<br />
:*''Orientierung zur eigenen Person und zum persönlichen Beziehungsnetz (auch als soziale Orientierung bezeichnet)''<br />
:*''Situative Orientierung: Das angemessene Ausrichten des eigenen Verhaltens an einer bestimmten Situation''<br><br />
<br />
:'' Diese Unterteilung macht deutlich, dass Orientierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, aber auch ein sehr komplexes Phänomen ist. Mit ein Grund ist, dass die Aspekte, die durch diese Unterteilung unterschiedenen werden, sich im alltäglichen Leben überschneiden und kombinieren. <br />
:'' Die herkömmlichen Unterteilungen des Orientierungsvermögens vernachlässigen oft die innere körperliche Orientierung als grundlegenden Aspekt. In der Kinästhetik wird von der Annahme ausgegangen, dass die Qualität der körperlichen Orientierung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich ein Mensch am Raum, an der Zeit usw. orientieren kann.“ ''<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 12-13.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel „Teil 3: Bewegungskompetenz und lebenslange Orientierungssuche". Die vorhergehenden Absätze beleuchten das Thema Bewegungsmuster, hier wird die Bedeutung der Bewegungsmuster für Orientierung beschrieben.<br />
<br />
: ''''' „Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz: ''' <br>[…] Für das fortlaufende Suchen ihrer Orientierung ist es von hoher Bedeutung, in welcher Qualität sie [eine Person mit Demenz, Anm. d. Red.] ihre Bewegung wahrnehmen, gestalten und sich so in sich selbst orientieren kann. <br />
:'' Nach dieser Grundhaltung steht im Zentrum, dass jede Unterstützung einer Person mit Demenz als ein Lernangebot verstanden und gestaltet wird. Wenn Menschen mit Demenz in ihren alltäglichen Aktivitäten eine für sie im Moment passende Unterstützung erhalten, können sie lernen, ihre Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen und an ihre aktuelle Situation anzupassen. Hier liegt ein großes Potenzial dafür vor, dass sie bis zuletzt erfolgreich ihre innere körperliche Orientierung suchen. <br />
:''Ein individuell angepasstes Unterstützungsangebot in diesem Sinn gestalten zu können, stellt hohe Anforderungen an die Bewegungskompetenz und das Bewegungsverständnis der Bezugspersonen. Sie sind insbesondere gefordert, ihre Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auf ihre eigene Bewegung zu lenken, um diese fortlaufend differenziert an die Orientierungssuche der betreffenden Person anzupassen. "<br />
<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 36 f.<br />
<br />
==Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“==<br />
===Einleitung===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
===Relevante Zitate===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
:''„4. Grundprinzipien ''<br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
:''„4.1. Wahrnehmung''<br />
:''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.''<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br>''<br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. ''<br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen? Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>
Dagmar Panzer
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Datei:AMD3-Orientierung-Wandern.jpeg
2023-10-06T07:32:40Z
<p>Dagmar Panzer: AMD-Entwürfe
Arbeitsunterl_AMD 3
Stand Oktober 2023</p>
<hr />
<div>== Beschreibung ==<br />
AMD-Entwürfe<br />
Arbeitsunterl_AMD 3<br />
Stand Oktober 2023</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Kybernetik_(Begriff)&diff=4723
Kybernetik (Begriff)
2023-10-06T06:26:13Z
<p>Dagmar Panzer: /* Weiterführende Literatur und Medien */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Kybernetik. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität“.<br />
<br />
== Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet“ überschrieben.<br />
<br />
: '''''"Die Herkunft vieler Wörter bietet oft überraschende Geschichten und Zusammenhänge, die weit in die indo-europäische Sprachgeschichte zurückreichen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der European Kinaesthetics Association (EKA) und Altphilologe/Indogermanist erzählt Stefan Marty-Teuber von den Wurzeln von Wörtern, über die er bei seiner Tätigkeit stolpert.'''''<br />
<br />
: '''''Cybernetics.''''' ''Die junge Wissenschaft der Kybernetik ist eine zentrale theoretische Grundlage von Kinaesthetics. Das Kunstwort ‚cybernetics’ ist wie ‚mathematics’ (Mathematik), ‚physics’ (Physik) oder auch [[Kinaesthetics (Begriff)|Kinaesthetics]] ein Plural, der im Englischen mit dem Singular des Verbs konstruiert wird (cybernetics is beautiful). Es wurde vom amerikanischen Mathematiker N. Wiener (1894–1964) vorgeschlagen. Wie er im gleichnamigen Buch von 1948 schreibt, schien den PionierInnen der Kybernetik dieser Begriff treffend ihr gemeinsames Interesse an Steuerungs- und Regelungsvorgängen sowie an der Nachrichtentheorie zu bezeichnen. Sie hatten ihn bewusst aus dem griechischen Wort ‚kybernétes’ (Steuermann) im Sinne einer ‚Steuermannskunst, -wissenschaft’ gebildet. Der Begriff gefiel ihnen auch darum, weil der schottische Physiker J. C. Maxwell 1868 die früheste bedeutende Beschreibung der Rückkoppelungsmechanismen von ‚governors’ (Fliehkraftregler) verfasst hatte und deren Bezeichnung über das lateinische Wort ‚gubernator’ (Steuermann) auf den griechischen ‚kybernétes’ zurückgeht. Als letzten Grund für die Begriffswahl nennt N. Wiener die Tatsache, dass die Steuerungsmaschinen von Schiffen zu den ersten und am besten entwickelten [[Feedback-Control-Theorie|Feedback]]-Mechanismen gehören.''<br />
<br />
: '''''Ein Schiff steuern.''''' '' Mit großer Wahrscheinlichkeit kannten die Wissenschafter, die bei der Taufe der Kybernetik mitredeten, die griechische Wortfamilie von ‚kybernao’ (ein Schiff steuern) aus ihrer gymnasialen Ausbildungszeit, genauer aufgrund ihrer Lektüre der ‚Ilias’ und der ‚Odyssee’. Diese beiden Epen werden dem blinden Sänger Homer (8. Jahrhundert. v. Chr.) zugeschrieben, gehören zu den frühesten Zeugnissen der europäischen Literatur und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zur höheren Schulbildung. Und die ‚Odyssee’ berichtet ja hauptsächlich davon, wie es Odysseus zehn Jahre lang nicht gelingt, über das Meer seine geliebte Penelope und die Heimatinsel Ithaka anzusteuern. Vielleicht erinnerten sich die Taufpaten der Kybernetik sogar daran, dass der Steuermann Palinurus im römischen Epos ‚Aeneis’ auf Veranlassung des erzürnten Neptuns als Opfer für alle anderen mit seinem Steuerruder in die Tiefe entrissen wird. Vielleicht auch daran, dass Philosophen, Politiker und Redner die Wirksamkeit der übertragenen Verwendung – z. B. ‚den Staat sicher durch alle Stürme steuern’ u. Ä. - entdeckten und dieses Bild immer wieder gebrauchten.''<br />
<br />
: '''''Isolierte Wurzel.''''' ''Die Fähigkeit, ein Schiff bauen und sicher über ein Gewässer steuern oder gar segeln zu können, war eine zentrale Triebfeder der gesamten kulturellen Entwicklung der Menschheit. Von wem erlernten die alten Griechen diese Fähigkeit? Wenn wir den sprachlichen Wurzeln nach- gehen, stellen wir fest, dass ein eindeutiger Beleg einer Verwandtschaft in einer anderen indoeuropäischen Sprache fehlt. In dieser großen Sprachfamilie, die sich von der Westküste des heutigen Europas bis nach Indien erstreckte, verwendete niemand ein Wort, das auf dieselbe Wurzel zurückgeht. Das legt die Vermutung nahe, dass die Griechen die Steuermannskunst von Menschen lernten, die keine indo-europäische Sprache sprachen. Wer es war, ist meines Wissens unbekannt.''<br />
<br />
: '''''Schiff ahoi!''''' '' Umso klarer sind die Verhältnisse bei den Römern: Sie lernten es von den Griechen und sagten darum ‚gubernare’ (ein Schiff steuern) für ‚kybernao’ oder ‚gubernator’ für ‚kybernétes’. Sie sind es auch, die die steile Karriere der übertragenen Verwendung in der Politik nach Kräften unterstützten. Wie erfolgreich sie waren, zeigt sich heute darin, dass in außerordentlich vielen Sprachen ex-lateinische Wörter verwendet werden, die direkt mit deutsch ‚Gouverneur’, ‚Gouvernement’ oder ‚Gouvernante’ verwandt sind und anzeigen, wer das Steuerruder (tatsächlich) in den Händen hält. Müsste man den PolitikerInnen vor diesem Hintergrund vielleicht vermehrt ‚Schiff ahoi!’ zurufen, um sie an den Ursprung der Verantwortung zu erinnern, die sie tragen?''<br />
<br />
: '''''Der ‚kybernétes’ segelt weiter.''''' '' Wie erfolgreich ‚cybernetics’ ist, zeigt sich übrigens nicht nur darin, dass diese Wissenschaft längst nicht zu Ende gedacht ist, sondern auch in sprachlicher Hinsicht. Man braucht nur ‚cyber’ zu googeln und erhält vorgeführt, dass es der navigationskundige homerische ‚kybernétes’ dank der Kybernetik unter anderem geschafft hat, im Cybernet mit geheimnisvollen Wesen, die Cyborgs heißen, Cyberlearning zu praktizieren und so klammheimlich weiterzusegeln. Ich kann ihm da nur zurufen: Schiff ahoi!"''<br />
<br />
Quelle: Marty-Teuber, Stefan (2011): Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet. In: Lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. Nr. 2 (2011), S. 42. Siebnen: verlag lebensqualität. <br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
'''Wiener, Norbert (2001):''' Futurum exactum. Ausgewählte Schriften zur Kybernetik und Kommunikationstheorie. Übersetzt von C. Kassung. Herausgegeben von Bernhard Dotzler. Wien, New York: Springer. ISBN 978-3-211-83467-1. <br />
Originalausgabe der Beiträge von Norbert Wiener: Norbert Wiener. Collected Works with Commentaries. © MIT Press 1976 and 1985. <br />
<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Kybernetik_(Begriff)&diff=4722
Kybernetik (Begriff)
2023-10-06T06:25:43Z
<p>Dagmar Panzer: /* Weiterführende Literatur und Medien */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Kybernetik. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität“.<br />
<br />
== Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet“ überschrieben.<br />
<br />
: '''''"Die Herkunft vieler Wörter bietet oft überraschende Geschichten und Zusammenhänge, die weit in die indo-europäische Sprachgeschichte zurückreichen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der European Kinaesthetics Association (EKA) und Altphilologe/Indogermanist erzählt Stefan Marty-Teuber von den Wurzeln von Wörtern, über die er bei seiner Tätigkeit stolpert.'''''<br />
<br />
: '''''Cybernetics.''''' ''Die junge Wissenschaft der Kybernetik ist eine zentrale theoretische Grundlage von Kinaesthetics. Das Kunstwort ‚cybernetics’ ist wie ‚mathematics’ (Mathematik), ‚physics’ (Physik) oder auch [[Kinaesthetics (Begriff)|Kinaesthetics]] ein Plural, der im Englischen mit dem Singular des Verbs konstruiert wird (cybernetics is beautiful). Es wurde vom amerikanischen Mathematiker N. Wiener (1894–1964) vorgeschlagen. Wie er im gleichnamigen Buch von 1948 schreibt, schien den PionierInnen der Kybernetik dieser Begriff treffend ihr gemeinsames Interesse an Steuerungs- und Regelungsvorgängen sowie an der Nachrichtentheorie zu bezeichnen. Sie hatten ihn bewusst aus dem griechischen Wort ‚kybernétes’ (Steuermann) im Sinne einer ‚Steuermannskunst, -wissenschaft’ gebildet. Der Begriff gefiel ihnen auch darum, weil der schottische Physiker J. C. Maxwell 1868 die früheste bedeutende Beschreibung der Rückkoppelungsmechanismen von ‚governors’ (Fliehkraftregler) verfasst hatte und deren Bezeichnung über das lateinische Wort ‚gubernator’ (Steuermann) auf den griechischen ‚kybernétes’ zurückgeht. Als letzten Grund für die Begriffswahl nennt N. Wiener die Tatsache, dass die Steuerungsmaschinen von Schiffen zu den ersten und am besten entwickelten [[Feedback-Control-Theorie|Feedback]]-Mechanismen gehören.''<br />
<br />
: '''''Ein Schiff steuern.''''' '' Mit großer Wahrscheinlichkeit kannten die Wissenschafter, die bei der Taufe der Kybernetik mitredeten, die griechische Wortfamilie von ‚kybernao’ (ein Schiff steuern) aus ihrer gymnasialen Ausbildungszeit, genauer aufgrund ihrer Lektüre der ‚Ilias’ und der ‚Odyssee’. Diese beiden Epen werden dem blinden Sänger Homer (8. Jahrhundert. v. Chr.) zugeschrieben, gehören zu den frühesten Zeugnissen der europäischen Literatur und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zur höheren Schulbildung. Und die ‚Odyssee’ berichtet ja hauptsächlich davon, wie es Odysseus zehn Jahre lang nicht gelingt, über das Meer seine geliebte Penelope und die Heimatinsel Ithaka anzusteuern. Vielleicht erinnerten sich die Taufpaten der Kybernetik sogar daran, dass der Steuermann Palinurus im römischen Epos ‚Aeneis’ auf Veranlassung des erzürnten Neptuns als Opfer für alle anderen mit seinem Steuerruder in die Tiefe entrissen wird. Vielleicht auch daran, dass Philosophen, Politiker und Redner die Wirksamkeit der übertragenen Verwendung – z. B. ‚den Staat sicher durch alle Stürme steuern’ u. Ä. - entdeckten und dieses Bild immer wieder gebrauchten.''<br />
<br />
: '''''Isolierte Wurzel.''''' ''Die Fähigkeit, ein Schiff bauen und sicher über ein Gewässer steuern oder gar segeln zu können, war eine zentrale Triebfeder der gesamten kulturellen Entwicklung der Menschheit. Von wem erlernten die alten Griechen diese Fähigkeit? Wenn wir den sprachlichen Wurzeln nach- gehen, stellen wir fest, dass ein eindeutiger Beleg einer Verwandtschaft in einer anderen indoeuropäischen Sprache fehlt. In dieser großen Sprachfamilie, die sich von der Westküste des heutigen Europas bis nach Indien erstreckte, verwendete niemand ein Wort, das auf dieselbe Wurzel zurückgeht. Das legt die Vermutung nahe, dass die Griechen die Steuermannskunst von Menschen lernten, die keine indo-europäische Sprache sprachen. Wer es war, ist meines Wissens unbekannt.''<br />
<br />
: '''''Schiff ahoi!''''' '' Umso klarer sind die Verhältnisse bei den Römern: Sie lernten es von den Griechen und sagten darum ‚gubernare’ (ein Schiff steuern) für ‚kybernao’ oder ‚gubernator’ für ‚kybernétes’. Sie sind es auch, die die steile Karriere der übertragenen Verwendung in der Politik nach Kräften unterstützten. Wie erfolgreich sie waren, zeigt sich heute darin, dass in außerordentlich vielen Sprachen ex-lateinische Wörter verwendet werden, die direkt mit deutsch ‚Gouverneur’, ‚Gouvernement’ oder ‚Gouvernante’ verwandt sind und anzeigen, wer das Steuerruder (tatsächlich) in den Händen hält. Müsste man den PolitikerInnen vor diesem Hintergrund vielleicht vermehrt ‚Schiff ahoi!’ zurufen, um sie an den Ursprung der Verantwortung zu erinnern, die sie tragen?''<br />
<br />
: '''''Der ‚kybernétes’ segelt weiter.''''' '' Wie erfolgreich ‚cybernetics’ ist, zeigt sich übrigens nicht nur darin, dass diese Wissenschaft längst nicht zu Ende gedacht ist, sondern auch in sprachlicher Hinsicht. Man braucht nur ‚cyber’ zu googeln und erhält vorgeführt, dass es der navigationskundige homerische ‚kybernétes’ dank der Kybernetik unter anderem geschafft hat, im Cybernet mit geheimnisvollen Wesen, die Cyborgs heißen, Cyberlearning zu praktizieren und so klammheimlich weiterzusegeln. Ich kann ihm da nur zurufen: Schiff ahoi!"''<br />
<br />
Quelle: Marty-Teuber, Stefan (2011): Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet. In: Lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. Nr. 2 (2011), S. 42. Siebnen: verlag lebensqualität. <br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* '''Wiener, Norbert (2001):''' Futurum exactum. Ausgewählte Schriften zur Kybernetik und Kommunikationstheorie. Übersetzt von C. Kassung. Herausgegeben von Bernhard Dotzler. Wien, New York: Springer. ISBN 978-3-211-83467-1. <br />
Originalausgabe der Beiträge von Norbert Wiener: Norbert Wiener. Collected Works with Commentaries. © MIT Press 1976 and 1985. <br />
<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Kybernetik_(Begriff)&diff=4721
Kybernetik (Begriff)
2023-10-06T06:24:44Z
<p>Dagmar Panzer: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
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''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Kybernetik. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität“.<br />
<br />
== Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet“ überschrieben.<br />
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: '''''"Die Herkunft vieler Wörter bietet oft überraschende Geschichten und Zusammenhänge, die weit in die indo-europäische Sprachgeschichte zurückreichen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der European Kinaesthetics Association (EKA) und Altphilologe/Indogermanist erzählt Stefan Marty-Teuber von den Wurzeln von Wörtern, über die er bei seiner Tätigkeit stolpert.'''''<br />
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: '''''Cybernetics.''''' ''Die junge Wissenschaft der Kybernetik ist eine zentrale theoretische Grundlage von Kinaesthetics. Das Kunstwort ‚cybernetics’ ist wie ‚mathematics’ (Mathematik), ‚physics’ (Physik) oder auch [[Kinaesthetics (Begriff)|Kinaesthetics]] ein Plural, der im Englischen mit dem Singular des Verbs konstruiert wird (cybernetics is beautiful). Es wurde vom amerikanischen Mathematiker N. Wiener (1894–1964) vorgeschlagen. Wie er im gleichnamigen Buch von 1948 schreibt, schien den PionierInnen der Kybernetik dieser Begriff treffend ihr gemeinsames Interesse an Steuerungs- und Regelungsvorgängen sowie an der Nachrichtentheorie zu bezeichnen. Sie hatten ihn bewusst aus dem griechischen Wort ‚kybernétes’ (Steuermann) im Sinne einer ‚Steuermannskunst, -wissenschaft’ gebildet. Der Begriff gefiel ihnen auch darum, weil der schottische Physiker J. C. Maxwell 1868 die früheste bedeutende Beschreibung der Rückkoppelungsmechanismen von ‚governors’ (Fliehkraftregler) verfasst hatte und deren Bezeichnung über das lateinische Wort ‚gubernator’ (Steuermann) auf den griechischen ‚kybernétes’ zurückgeht. Als letzten Grund für die Begriffswahl nennt N. Wiener die Tatsache, dass die Steuerungsmaschinen von Schiffen zu den ersten und am besten entwickelten [[Feedback-Control-Theorie|Feedback]]-Mechanismen gehören.''<br />
<br />
: '''''Ein Schiff steuern.''''' '' Mit großer Wahrscheinlichkeit kannten die Wissenschafter, die bei der Taufe der Kybernetik mitredeten, die griechische Wortfamilie von ‚kybernao’ (ein Schiff steuern) aus ihrer gymnasialen Ausbildungszeit, genauer aufgrund ihrer Lektüre der ‚Ilias’ und der ‚Odyssee’. Diese beiden Epen werden dem blinden Sänger Homer (8. Jahrhundert. v. Chr.) zugeschrieben, gehören zu den frühesten Zeugnissen der europäischen Literatur und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zur höheren Schulbildung. Und die ‚Odyssee’ berichtet ja hauptsächlich davon, wie es Odysseus zehn Jahre lang nicht gelingt, über das Meer seine geliebte Penelope und die Heimatinsel Ithaka anzusteuern. Vielleicht erinnerten sich die Taufpaten der Kybernetik sogar daran, dass der Steuermann Palinurus im römischen Epos ‚Aeneis’ auf Veranlassung des erzürnten Neptuns als Opfer für alle anderen mit seinem Steuerruder in die Tiefe entrissen wird. Vielleicht auch daran, dass Philosophen, Politiker und Redner die Wirksamkeit der übertragenen Verwendung – z. B. ‚den Staat sicher durch alle Stürme steuern’ u. Ä. - entdeckten und dieses Bild immer wieder gebrauchten.''<br />
<br />
: '''''Isolierte Wurzel.''''' ''Die Fähigkeit, ein Schiff bauen und sicher über ein Gewässer steuern oder gar segeln zu können, war eine zentrale Triebfeder der gesamten kulturellen Entwicklung der Menschheit. Von wem erlernten die alten Griechen diese Fähigkeit? Wenn wir den sprachlichen Wurzeln nach- gehen, stellen wir fest, dass ein eindeutiger Beleg einer Verwandtschaft in einer anderen indoeuropäischen Sprache fehlt. In dieser großen Sprachfamilie, die sich von der Westküste des heutigen Europas bis nach Indien erstreckte, verwendete niemand ein Wort, das auf dieselbe Wurzel zurückgeht. Das legt die Vermutung nahe, dass die Griechen die Steuermannskunst von Menschen lernten, die keine indo-europäische Sprache sprachen. Wer es war, ist meines Wissens unbekannt.''<br />
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: '''''Schiff ahoi!''''' '' Umso klarer sind die Verhältnisse bei den Römern: Sie lernten es von den Griechen und sagten darum ‚gubernare’ (ein Schiff steuern) für ‚kybernao’ oder ‚gubernator’ für ‚kybernétes’. Sie sind es auch, die die steile Karriere der übertragenen Verwendung in der Politik nach Kräften unterstützten. Wie erfolgreich sie waren, zeigt sich heute darin, dass in außerordentlich vielen Sprachen ex-lateinische Wörter verwendet werden, die direkt mit deutsch ‚Gouverneur’, ‚Gouvernement’ oder ‚Gouvernante’ verwandt sind und anzeigen, wer das Steuerruder (tatsächlich) in den Händen hält. Müsste man den PolitikerInnen vor diesem Hintergrund vielleicht vermehrt ‚Schiff ahoi!’ zurufen, um sie an den Ursprung der Verantwortung zu erinnern, die sie tragen?''<br />
<br />
: '''''Der ‚kybernétes’ segelt weiter.''''' '' Wie erfolgreich ‚cybernetics’ ist, zeigt sich übrigens nicht nur darin, dass diese Wissenschaft längst nicht zu Ende gedacht ist, sondern auch in sprachlicher Hinsicht. Man braucht nur ‚cyber’ zu googeln und erhält vorgeführt, dass es der navigationskundige homerische ‚kybernétes’ dank der Kybernetik unter anderem geschafft hat, im Cybernet mit geheimnisvollen Wesen, die Cyborgs heißen, Cyberlearning zu praktizieren und so klammheimlich weiterzusegeln. Ich kann ihm da nur zurufen: Schiff ahoi!"''<br />
<br />
Quelle: Marty-Teuber, Stefan (2011): Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet. In: Lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. Nr. 2 (2011), S. 42. Siebnen: verlag lebensqualität. <br />
<br />
== Weiterführende Literatur und Medien ==<br />
* Wiener, Norbert (2001): Futurum exactum. Ausgewählte Schriften zur Kybernetik und Kommunikationstheorie. Übersetzt von C. Kassung. Herausgegeben von Bernhard Dotzler. Wien, New York: Springer. ISBN 978-3-211-83467-1. <br />
Originalausgabe der Beiträge von Norbert Wiener: Norbert Wiener. Collected Works with Commentaries. © MIT Press 1976 and 1985. <br />
<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Kybernetik_(Begriff)&diff=4720
Kybernetik (Begriff)
2023-10-06T06:17:25Z
<p>Dagmar Panzer: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Kybernetik. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität“.<br />
<br />
== Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet“ überschrieben.<br />
<br />
: '''''"Die Herkunft vieler Wörter bietet oft überraschende Geschichten und Zusammenhänge, die weit in die indo-europäische Sprachgeschichte zurückreichen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der European Kinaesthetics Association (EKA) und Altphilologe/Indogermanist erzählt Stefan Marty-Teuber von den Wurzeln von Wörtern, über die er bei seiner Tätigkeit stolpert.'''''<br />
<br />
: '''''Cybernetics.''''' ''Die junge Wissenschaft der Kybernetik ist eine zentrale theoretische Grundlage von Kinaesthetics. Das Kunstwort ‚cybernetics’ ist wie ‚mathematics’ (Mathematik), ‚physics’ (Physik) oder auch [[Kinaesthetics (Begriff)|Kinaesthetics]] ein Plural, der im Englischen mit dem Singular des Verbs konstruiert wird (cybernetics is beautiful). Es wurde vom amerikanischen Mathematiker N. Wiener (1894–1964) vorgeschlagen. Wie er im gleichnamigen Buch von 1948 schreibt, schien den PionierInnen der Kybernetik dieser Begriff treffend ihr gemeinsames Interesse an Steuerungs- und Regelungsvorgängen sowie an der Nachrichtentheorie zu bezeichnen. Sie hatten ihn bewusst aus dem griechischen Wort ‚kybernétes’ (Steuermann) im Sinne einer ‚Steuermannskunst, -wissenschaft’ gebildet. Der Begriff gefiel ihnen auch darum, weil der schottische Physiker J. C. Maxwell 1868 die früheste bedeutende Beschreibung der Rückkoppelungsmechanismen von ‚governors’ (Fliehkraftregler) verfasst hatte und deren Bezeichnung über das lateinische Wort ‚gubernator’ (Steuermann) auf den griechischen ‚kybernétes’ zurückgeht. Als letzten Grund für die Begriffswahl nennt N. Wiener die Tatsache, dass die Steuerungsmaschinen von Schiffen zu den ersten und am besten entwickelten [[Feedback-Control-Theorie|Feedback]]-Mechanismen gehören.''<br />
<br />
: '''''Ein Schiff steuern.''''' '' Mit großer Wahrscheinlichkeit kannten die Wissenschafter, die bei der Taufe der Kybernetik mitredeten, die griechische Wortfamilie von ‚kybernao’ (ein Schiff steuern) aus ihrer gymnasialen Ausbildungszeit, genauer aufgrund ihrer Lektüre der ‚Ilias’ und der ‚Odyssee’. Diese beiden Epen werden dem blinden Sänger Homer (8. Jahrhundert. v. Chr.) zugeschrieben, gehören zu den frühesten Zeugnissen der europäischen Literatur und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zur höheren Schulbildung. Und die ‚Odyssee’ berichtet ja hauptsächlich davon, wie es Odysseus zehn Jahre lang nicht gelingt, über das Meer seine geliebte Penelope und die Heimatinsel Ithaka anzusteuern. Vielleicht erinnerten sich die Taufpaten der Kybernetik sogar daran, dass der Steuermann Palinurus im römischen Epos ‚Aeneis’ auf Veranlassung des erzürnten Neptuns als Opfer für alle anderen mit seinem Steuerruder in die Tiefe entrissen wird. Vielleicht auch daran, dass Philosophen, Politiker und Redner die Wirksamkeit der übertragenen Verwendung – z. B. ‚den Staat sicher durch alle Stürme steuern’ u. Ä. - entdeckten und dieses Bild immer wieder gebrauchten.''<br />
<br />
: '''''Isolierte Wurzel.''''' ''Die Fähigkeit, ein Schiff bauen und sicher über ein Gewässer steuern oder gar segeln zu können, war eine zentrale Triebfeder der gesamten kulturellen Entwicklung der Menschheit. Von wem erlernten die alten Griechen diese Fähigkeit? Wenn wir den sprachlichen Wurzeln nach- gehen, stellen wir fest, dass ein eindeutiger Beleg einer Verwandtschaft in einer anderen indoeuropäischen Sprache fehlt. In dieser großen Sprachfamilie, die sich von der Westküste des heutigen Europas bis nach Indien erstreckte, verwendete niemand ein Wort, das auf dieselbe Wurzel zurückgeht. Das legt die Vermutung nahe, dass die Griechen die Steuermannskunst von Menschen lernten, die keine indo-europäische Sprache sprachen. Wer es war, ist meines Wissens unbekannt.''<br />
<br />
: '''''Schiff ahoi!''''' '' Umso klarer sind die Verhältnisse bei den Römern: Sie lernten es von den Griechen und sagten darum ‚gubernare’ (ein Schiff steuern) für ‚kybernao’ oder ‚gubernator’ für ‚kybernétes’. Sie sind es auch, die die steile Karriere der übertragenen Verwendung in der Politik nach Kräften unterstützten. Wie erfolgreich sie waren, zeigt sich heute darin, dass in außerordentlich vielen Sprachen ex-lateinische Wörter verwendet werden, die direkt mit deutsch ‚Gouverneur’, ‚Gouvernement’ oder ‚Gouvernante’ verwandt sind und anzeigen, wer das Steuerruder (tatsächlich) in den Händen hält. Müsste man den PolitikerInnen vor diesem Hintergrund vielleicht vermehrt ‚Schiff ahoi!’ zurufen, um sie an den Ursprung der Verantwortung zu erinnern, die sie tragen?''<br />
<br />
: '''''Der ‚kybernétes’ segelt weiter.''''' '' Wie erfolgreich ‚cybernetics’ ist, zeigt sich übrigens nicht nur darin, dass diese Wissenschaft längst nicht zu Ende gedacht ist, sondern auch in sprachlicher Hinsicht. Man braucht nur ‚cyber’ zu googeln und erhält vorgeführt, dass es der navigationskundige homerische ‚kybernétes’ dank der Kybernetik unter anderem geschafft hat, im Cybernet mit geheimnisvollen Wesen, die Cyborgs heißen, Cyberlearning zu praktizieren und so klammheimlich weiterzusegeln. Ich kann ihm da nur zurufen: Schiff ahoi!"''<br />
<br />
Quelle: Marty-Teuber, Stefan (2011): Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet. In: Lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. Nr. 2 (2011), S. 42. Siebnen: verlag lebensqualität. <br />
<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Kinaesthetics-Online-Fachlexikon&diff=4719
Kinaesthetics-Online-Fachlexikon
2023-10-06T06:12:20Z
<p>Dagmar Panzer: </p>
<hr />
<div>'''Willkommen in diesem redaktionell betreuten Online-Lexikon zu den Fachgebieten der Kinästhetik, Kybernetik und anderer Bezugswissenschaften!'''<br />
<br />
Das Kinaesthetics-Online-Fachlexikon (KOFL) wird von der European Kinaesthetics Association (EKA) herausgegeben, von einem Redaktionsteam betreut und von einem fachlichen Beirat unterstützt (vgl. „[[KOFL:Impressum und Haftungsausschluss]]“). Ziel dieses langfristigen, im Jahr 2017 gestarteten Projekts ist, in einem Netzwerk von interessierten Personen ein umfassendes Lexikon aufzubauen, in dessen Zentrum das junge Fachgebiet der Kinästhetik steht.<br />
<br />
Konkret will das KOFL<br />
* aus den schriftlichen Quellen die aktuelle und historische Faktenlage zu den spezifischen Themen der Kinästhetik und ihrer Bezugswissenschaften lexikalisch aufbereiten und darstellen,<br />
<br />
* aus den schriftlichen Quellen und dem Kontakt mit ThementrägerInnen das Erfahrungswissen zu den spezifischen Themen der Kinästhetik und ihrer Bezugswissenschaften lexikalisch aufbereiten und darstellen,<br />
<br />
* allen interessierten Personen die Möglichkeit bieten, sich über Fachthemen der Kinästhetik und ihrer Bezugswissenschaften zu informieren, sie zu diskutieren und zur Weiterentwicklung des KOFL beizutragen.<br />
<br />
Wie du dich für das KOFL engagieren kannst, wird auf den Seiten beschrieben, die du unter der Überschrift „Mitmachen“ in der linken Spalte der Benutzeroberfläche findest. Ausführlichere Informationen zum KOFL-Projekt sind auf der Seite „[[KOFL:Über Kinaesthetics-Online-Fachlexikon]]“ zu finden.<br />
<br />
Natürlich ist das KOFL zum aktuellen Zeitpunkt weit vom Ziel eines umfassenden Lexikons der Kinästhetik entfernt. Das Projektteam ist zuversichtlich, dass sich das KOFL in den kommenden Jahren durch eine fruchtbare Zusammenarbeit aller interessierten Personen Schritt für Schritt diesem Ziel annähern kann, und dankt allen, die sich in welcher Weise auch immer für das KOFL engagieren.<br />
<br />
Zuletzt erschienene Beiträge:<br />
* Artikel „[[Kybernetik (Begriff)]]“<br />
<br />
* Artikel „[[Erfahren (Begriff)]]“<br />
<br />
* Artikel „[[Konzept (Begriff)]]“<br />
<br />
* Artikel „[[Orientierung]]“<br />
<br />
* Artikel „[[Massen und Zwischenräume]]“<br />
<br />
* Artikel „[[Weber und Fechner]]“ <br />
<br />
* [[KOFL:Projekt_Konzeptsystembuch_00:_Projektseite|Abschluss]] der Konzeptsystembuch-Umfrage<br />
<br />
* Artikel „[[Heinz von Foerster]]“ (Biographie, in Bearbeitung)<br />
<br />
* Artikel „[[Sensitivität (innere und äußere, von Foerster)]]“ bzw. „[[1 : 100'000 (von Foerster)]]“<br />
<br />
* Artikel „[[Fachartikel, Studien und Hochschularbeiten]]“</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Kybernetik_(Begriff)&diff=4714
Kybernetik (Begriff)
2023-10-05T10:41:42Z
<p>Dagmar Panzer: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Kybernetik. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität“.<br />
<br />
== Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet“ überschrieben.<br />
<br />
: '''''"Die Herkunft vieler Wörter bietet oft überraschende Geschichten und Zusammenhänge, die weit in die indo-europäische Sprachgeschichte zurückreichen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der European Kinaesthetics Association (EKA) und Altphilologe/Indogermanist erzählt Stefan Marty-Teuber von den Wurzeln von Wörtern, über die er bei seiner Tätigkeit stolpert.'''''<br />
<br />
: '''''Cybernetics.''''' ''Die junge Wissenschaft der Kybernetik ist eine zentrale theoretische Grundlage von Kinaesthetics. Das Kunstwort ‚cybernetics’ ist wie ‚mathematics’ (Mathematik), ‚physics’ (Physik) oder auch [[Kinaesthetics (Begriff)|Kinaesthetics]] ein Plural, der im Englischen mit dem Singular des Verbs konstruiert wird (cybernetics is beautiful). Es wurde vom amerikanischen Mathematiker N. Wiener (1894–1964) vorgeschlagen. Wie er im gleichnamigen Buch von 1948 schreibt, schien den PionierInnen der Kybernetik dieser Begriff treffend ihr gemeinsames Interesse an Steuerungs- und Regelungsvorgängen sowie an der Nachrichtentheorie zu bezeichnen. Sie hatten ihn bewusst aus dem griechischen Wort ‚kybernétes’ (Steuermann) im Sinne einer ‚Steuermannskunst, -wissenschaft’ gebildet. Der Begriff gefiel ihnen auch darum, weil der schottische Physiker J. C. Maxwell 1868 die früheste bedeutende Beschreibung der Rückkoppelungsmechanismen von ‚governors’ (Fliehkraftregler) verfasst hatte und deren Bezeichnung über das lateinische Wort ‚gubernator’ (Steuermann) auf den griechischen ‚kybernétes’ zurückgeht. Als letzten Grund für die Begriffswahl nennt N. Wiener die Tatsache, dass die Steuerungsmaschinen von Schiffen zu den ersten und am besten entwickelten [[Feedback-Control-Theorie|Feedback]]-Mechanismen gehören.''<br />
<br />
: '''''Ein Schiff steuern.''''' '' Mit großer Wahrscheinlichkeit kannten die Wissenschafter, die bei der Taufe der Kybernetik mitredeten, die griechische Wortfamilie von ‚kybernao’ (ein Schiff steuern) aus ihrer gymnasialen Ausbildungszeit, genauer aufgrund ihrer Lektüre der ‚Ilias’ und der ‚Odyssee’. Diese beiden Epen werden dem blinden Sänger Homer (8. Jahrhundert. v. Chr.) zugeschrieben, gehören zu den frühesten Zeugnissen der europäischen Literatur und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zur höheren Schulbildung. Und die ‚Odyssee’ berichtet ja hauptsächlich davon, wie es Odysseus zehn Jahre lang nicht gelingt, über das Meer seine geliebte Penelope und die Heimatinsel Ithaka anzusteuern. Vielleicht erinnerten sich die Taufpaten der Kybernetik sogar daran, dass der Steuermann Palinurus im römischen Epos ‚Aeneis’ auf Veranlassung des erzürnten Neptuns als Opfer für alle anderen mit seinem Steuerruder in die Tiefe entrissen wird. Vielleicht auch daran, dass Philosophen, Politiker und Redner die Wirksamkeit der übertragenen Verwendung – z. B. ‚den Staat sicher durch alle Stürme steuern’ u. Ä. - entdeckten und dieses Bild immer wieder gebrauchten.''<br />
<br />
: '''''Isolierte Wurzel.''''' ''Die Fähigkeit, ein Schiff bauen und sicher über ein Gewässer steuern oder gar segeln zu können, war eine zentrale Triebfeder der gesamten kulturellen Entwicklung der Menschheit. Von wem erlernten die alten Griechen diese Fähigkeit? Wenn wir den sprachlichen Wurzeln nach- gehen, stellen wir fest, dass ein eindeutiger Beleg einer Verwandtschaft in einer anderen indoeuropäischen Sprache fehlt. In dieser großen Sprachfamilie, die sich von der Westküste des heutigen Europas bis nach Indien erstreckte, verwendete niemand ein Wort, das auf dieselbe Wurzel zurückgeht. Das legt die Vermutung nahe, dass die Griechen die Steuermannskunst von Menschen lernten, die keine indo-europäische Sprache sprachen. Wer es war, ist meines Wissens unbekannt.''<br />
<br />
: '''''Schiff ahoi!''''' '' Umso klarer sind die Verhältnisse bei den Römern: Sie lernten es von den Griechen und sagten darum ‚gubernare’ (ein Schiff steuern) für ‚kybernao’ oder ‚gubernator’ für ‚kybernétes’. Sie sind es auch, die die steile Karriere der übertragenen Verwendung in der Politik nach Kräften unterstützten. Wie erfolgreich sie waren, zeigt sich heute darin, dass in außerordentlich vielen Sprachen ex-lateinische Wörter verwendet werden, die direkt mit deutsch ‚Gouverneur’, ‚Gouvernement’ oder ‚Gouvernante’ verwandt sind und anzeigen, wer das Steuerruder (tatsächlich) in den Händen hält. Müsste man den PolitikerInnen vor diesem Hintergrund vielleicht vermehrt ‚Schiff ahoi!’ zurufen, um sie an den Ursprung der Verantwortung zu erinnern, die sie tragen?''<br />
<br />
: '''''Der ‚kybernétes’ segelt weiter.''''' '' Wie erfolgreich ‚cybernetics’ ist, zeigt sich übrigens nicht nur darin, dass diese Wissenschaft längst nicht zu Ende gedacht ist, sondern auch in sprachlicher Hinsicht. Man braucht nur ‚cyber’ zu googeln und erhält vorgeführt, dass es der navigationskundige homerische ‚kybernétes’ dank der Kybernetik unter anderem geschafft hat, im Cybernet mit geheimnisvollen Wesen, die Cyborgs heißen, Cyberlearning zu praktizieren und so klammheimlich weiterzusegeln. Ich kann ihm da nur zurufen: Schiff ahoi!"''<br />
<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Kinaesthetics-Online-Fachlexikon&diff=4713
Kinaesthetics-Online-Fachlexikon
2023-10-05T10:41:11Z
<p>Dagmar Panzer: </p>
<hr />
<div>'''Willkommen in diesem redaktionell betreuten Online-Lexikon zu den Fachgebieten der Kinästhetik, Kybernetik und anderer Bezugswissenschaften!'''<br />
<br />
Das Kinaesthetics-Online-Fachlexikon (KOFL) wird von der European Kinaesthetics Association (EKA) herausgegeben, von einem Redaktionsteam betreut und von einem fachlichen Beirat unterstützt (vgl. „[[KOFL:Impressum und Haftungsausschluss]]“). Ziel dieses langfristigen, im Jahr 2017 gestarteten Projekts ist, in einem Netzwerk von interessierten Personen ein umfassendes Lexikon aufzubauen, in dessen Zentrum das junge Fachgebiet der Kinästhetik steht.<br />
<br />
Konkret will das KOFL<br />
* aus den schriftlichen Quellen die aktuelle und historische Faktenlage zu den spezifischen Themen der Kinästhetik und ihrer Bezugswissenschaften lexikalisch aufbereiten und darstellen,<br />
<br />
* aus den schriftlichen Quellen und dem Kontakt mit ThementrägerInnen das Erfahrungswissen zu den spezifischen Themen der Kinästhetik und ihrer Bezugswissenschaften lexikalisch aufbereiten und darstellen,<br />
<br />
* allen interessierten Personen die Möglichkeit bieten, sich über Fachthemen der Kinästhetik und ihrer Bezugswissenschaften zu informieren, sie zu diskutieren und zur Weiterentwicklung des KOFL beizutragen.<br />
<br />
Wie du dich für das KOFL engagieren kannst, wird auf den Seiten beschrieben, die du unter der Überschrift „Mitmachen“ in der linken Spalte der Benutzeroberfläche findest. Ausführlichere Informationen zum KOFL-Projekt sind auf der Seite „[[KOFL:Über Kinaesthetics-Online-Fachlexikon]]“ zu finden.<br />
<br />
Natürlich ist das KOFL zum aktuellen Zeitpunkt weit vom Ziel eines umfassenden Lexikons der Kinästhetik entfernt. Das Projektteam ist zuversichtlich, dass sich das KOFL in den kommenden Jahren durch eine fruchtbare Zusammenarbeit aller interessierten Personen Schritt für Schritt diesem Ziel annähern kann, und dankt allen, die sich in welcher Weise auch immer für das KOFL engagieren.<br />
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Zuletzt erschienene Beiträge:<br />
* Artikel „[[Kybernetik (Begriff)]]“<br />
<br />
* Artikel „[[Erfahren (Begriff)]]“<br />
<br />
* Artikel „[[Konzept (Begriff)]]“<br />
<br />
* Artikel „[[Orientierung]]“<br />
<br />
* Artikel „[[Massen und Zwischenräume]]“<br />
<br />
* Artikel „[[Weber und Fechner]]“ <br />
<br />
* [[KOFL:Projekt_Konzeptsystembuch_00:_Projektseite|Abschluss]] der Konzeptsystembuch-Umfrage<br />
<br />
* Artikel „[[Heinz von Foerster]]“ (Biographie, in Bearbeitung)<br />
<br />
* Artikel „[[Sensitivität (innere und äußere, von Foerster)]]“ bzw. „[[1 : 100'000 (von Foerster)]]“<br />
<br />
* Artikel „[[Fachartikel, Studien und Hochschularbeiten]]“<br />
<br />
* Artikel „Autopoiese (Autopoiesis)“: ergänzt durch [[Autopoiese (Autopoiesis)#Autopoiese in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“|Fachliteratur aus „Lernen und Bewegungskompetenz“]]</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Kybernetik_(Begriff)&diff=4712
Kybernetik (Begriff)
2023-10-05T10:39:40Z
<p>Dagmar Panzer: /* Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Dagmar Panzer}}<br />
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''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Kybernetik. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität“.<br />
<br />
== Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet“ überschrieben.<br />
<br />
: '''''"Die Herkunft vieler Wörter bietet oft überraschende Geschichten und Zusammenhänge, die weit in die indo-europäische Sprachgeschichte zurückreichen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der European Kinaesthetics Association (EKA) und Altphilologe/Indogermanist erzählt Stefan Marty-Teuber von den Wurzeln von Wörtern, über die er bei seiner Tätigkeit stolpert.'''''<br />
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: '''''Cybernetics.''''' ''Die junge Wissenschaft der Kybernetik ist eine zentrale theoretische Grundlage von Kinaesthetics. Das Kunstwort ‚cybernetics’ ist wie ‚mathematics’ (Mathematik), ‚physics’ (Physik) oder auch [[Kinaesthetics (Begriff)|Kinaesthetics]] ein Plural, der im Englischen mit dem Singular des Verbs konstruiert wird (cybernetics is beautiful). Es wurde vom amerikanischen Mathematiker N. Wiener (1894–1964) vorgeschlagen. Wie er im gleichnamigen Buch von 1948 schreibt, schien den PionierInnen der Kybernetik dieser Begriff treffend ihr gemeinsames Interesse an Steuerungs- und Regelungsvorgängen sowie an der Nachrichtentheorie zu bezeichnen. Sie hatten ihn bewusst aus dem griechischen Wort ‚kybernétes’ (Steuermann) im Sinne einer ‚Steuermannskunst, -wissenschaft’ gebildet. Der Begriff gefiel ihnen auch darum, weil der schottische Physiker J. C. Maxwell 1868 die früheste bedeutende Beschreibung der Rückkoppelungsmechanismen von ‚governors’ (Fliehkraftregler) verfasst hatte und deren Bezeichnung über das lateinische Wort ‚gubernator’ (Steuermann) auf den griechischen ‚kybernétes’ zurückgeht. Als letzten Grund für die Begriffswahl nennt N. Wiener die Tatsache, dass die Steuerungsmaschinen von Schiffen zu den ersten und am besten entwickelten [[Feedback-Control-Theorie|Feedback]]-Mechanismen gehören.''<br />
<br />
: '''''Ein Schiff steuern.''''' '' Mit großer Wahrscheinlichkeit kannten die Wissenschafter, die bei der Taufe der Kybernetik mitredeten, die griechische Wortfamilie von ‚kybernao’ (ein Schiff steuern) aus ihrer gymnasialen Ausbildungszeit, genauer aufgrund ihrer Lektüre der ‚Ilias’ und der ‚Odyssee’. Diese beiden Epen werden dem blinden Sänger Homer (8. Jahrhundert. v. Chr.) zugeschrieben, gehören zu den frühesten Zeugnissen der europäischen Literatur und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zur höheren Schulbildung. Und die ‚Odyssee’ berichtet ja hauptsächlich davon, wie es Odysseus zehn Jahre lang nicht gelingt, über das Meer seine geliebte Penelope und die Heimatinsel Ithaka anzusteuern. Vielleicht erinnerten sich die Taufpaten der Kybernetik sogar daran, dass der Steuermann Palinurus im römischen Epos ‚Aeneis’ auf Veranlassung des erzürnten Neptuns als Opfer für alle anderen mit seinem Steuerruder in die Tiefe entrissen wird. Vielleicht auch daran, dass Philosophen, Politiker und Redner die Wirksamkeit der übertragenen Verwendung – z. B. ‚den Staat sicher durch alle Stürme steuern’ u. Ä. - entdeckten und dieses Bild immer wieder gebrauchten.''<br />
<br />
: '''''Isolierte Wurzel.''''' ''Die Fähigkeit, ein Schiff bauen und sicher über ein Gewässer steuern oder gar segeln zu können, war eine zentrale Triebfeder der gesamten kulturellen Entwicklung der Menschheit. Von wem erlernten die alten Griechen diese Fähigkeit? Wenn wir den sprachlichen Wurzeln nach- gehen, stellen wir fest, dass ein eindeutiger Beleg einer Verwandtschaft in einer anderen indoeuropäischen Sprache fehlt. In dieser großen Sprachfamilie, die sich von der Westküste des heutigen Europas bis nach Indien erstreckte, verwendete niemand ein Wort, das auf dieselbe Wurzel zurückgeht. Das legt die Vermutung nahe, dass die Griechen die Steuermannskunst von Menschen lernten, die keine indo-europäische Sprache sprachen. Wer es war, ist meines Wissens unbekannt.''<br />
<br />
: '''''Schiff ahoi!''''' '' Umso klarer sind die Verhältnisse bei den Römern: Sie lernten es von den Griechen und sagten darum ‚gubernare’ (ein Schiff steuern) für ‚kybernao’ oder ‚gubernator’ für ‚kybernétes’. Sie sind es auch, die die steile Karriere der übertragenen Verwendung in der Politik nach Kräften unterstützten. Wie erfolgreich sie waren, zeigt sich heute darin, dass in außerordentlich vielen Sprachen ex-lateinische Wörter verwendet werden, die direkt mit deutsch ‚Gouverneur’, ‚Gouvernement’ oder ‚Gouvernante’ verwandt sind und anzeigen, wer das Steuerruder (tatsächlich) in den Händen hält. Müsste man den PolitikerInnen vor diesem Hintergrund vielleicht vermehrt ‚Schiff ahoi!’ zurufen, um sie an den Ursprung der Verantwortung zu erinnern, die sie tragen?''<br />
<br />
: '''''Der ‚kybernétes’ segelt weiter.''''' '' Wie erfolgreich ‚cybernetics’ ist, zeigt sich übrigens nicht nur darin, dass diese Wissenschaft längst nicht zu Ende gedacht ist, sondern auch in sprachlicher Hinsicht. Man braucht nur ‚cyber’ zu googeln und erhält vorgeführt, dass es der navigationskundige homerische ‚kybernétes’ dank der Kybernetik unter anderem geschafft hat, im Cybernet mit geheimnisvollen Wesen, die Cyborgs heißen, Cyberlearning zu praktizieren und so klammheimlich weiterzusegeln. Ich kann ihm da nur zurufen: Schiff ahoi!"''<br />
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[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Kybernetik_(Begriff)&diff=4711
Kybernetik (Begriff)
2023-10-04T11:37:55Z
<p>Dagmar Panzer: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Dagmar Panzer}}<br />
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''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Kybernetik. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität“.<br />
<br />
== Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet“ überschrieben.<br />
<br />
: '''''"Die Herkunft vieler Wörter bietet oft überraschende Geschichten und Zusammenhänge, die weit in die indo-europäische Sprachgeschichte zurückreichen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der European Kinaesthetics Association (EKA) und Altphilologe/Indogermanist erzählt Stefan Marty-Teuber von den Wurzeln von Wörtern, über die er bei seiner Tätigkeit stolpert.'''''<br />
<br />
: '''''Cybernetics.''''' ''Die junge Wissenschaft der Kybernetik ist eine zentrale theoretische Grundlage von Kinaesthetics. Das Kunstwort ‚cybernetics’ ist wie ‚mathematics’ (Mathematik), ‚physics’ (Physik) oder auch Kinaesthetics ein Plural, der im Englischen mit dem Singular des Verbs konstruiert wird (cybernetics is beautiful). Es wurde vom amerikanischen Mathematiker N. Wiener (1894–1964) vorgeschlagen. Wie er im gleichnamigen Buch von 1948 schreibt, schien den PionierInnen der Kybernetik dieser Begriff treffend ihr gemeinsames Interesse an Steuerungs- und Regelungsvorgängen sowie an der Nachrichtentheorie zu bezeichnen. Sie hatten ihn bewusst aus dem griechischen Wort ‚kybernétes’ (Steuermann) im Sinne einer ‚Steuermannskunst, -wissenschaft’ gebildet. Der Begriff gefiel ihnen auch darum, weil der schottische Physiker J. C. Maxwell 1868 die früheste bedeutende Beschreibung der Rückkoppelungsmechanismen von ‚governors’ (Fliehkraftregler) verfasst hatte und deren Bezeichnung über das lateinische Wort ‚gubernator’ (Steuermann) auf den griechischen ‚kybernétes’ zurückgeht. Als letzten Grund für die Begriffswahl nennt N. Wiener die Tatsache, dass die Steuerungsmaschinen von Schiffen zu den ersten und am besten entwickelten Feedback-Mechanismen gehören.''<br />
<br />
: '''''Ein Schiff steuern.''''' '' Mit großer Wahrscheinlichkeit kannten die Wissenschafter, die bei der Taufe der Kybernetik mitredeten, die griechische Wortfamilie von ‚kybernao’ (ein Schiff steuern) aus ihrer gymnasialen Ausbildungszeit, genauer aufgrund ihrer Lektüre der ‚Ilias’ und der ‚Odyssee’. Diese beiden Epen werden dem blinden Sänger Homer (8. Jahrhundert. v. Chr.) zugeschrieben, gehören zu den frühesten Zeugnissen der europäischen Literatur und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zur höheren Schulbildung. Und die ‚Odyssee’ berichtet ja hauptsächlich davon, wie es Odysseus zehn Jahre lang nicht gelingt, über das Meer seine geliebte Penelope und die Heimatinsel Ithaka anzusteuern. Vielleicht erinnerten sich die Taufpaten der Kybernetik sogar daran, dass der Steuermann Palinurus im römischen Epos ‚Aeneis’ auf Veranlassung des erzürnten Neptuns als Opfer für alle anderen mit seinem Steuerruder in die Tiefe entrissen wird. Vielleicht auch daran, dass Philosophen, Politiker und Redner die Wirksamkeit der übertragenen Verwendung – z. B. ‚den Staat sicher durch alle Stürme steuern’ u. Ä. - entdeckten und dieses Bild immer wieder gebrauchten.''<br />
<br />
: '''''Isolierte Wurzel.''''' ''Die Fähigkeit, ein Schiff bauen und sicher über ein Gewässer steuern oder gar segeln zu können, war eine zentrale Triebfeder der gesamten kulturellen Entwicklung der Menschheit. Von wem erlernten die alten Griechen diese Fähigkeit? Wenn wir den sprachlichen Wurzeln nach- gehen, stellen wir fest, dass ein eindeutiger Beleg einer Verwandtschaft in einer anderen indoeuropäischen Sprache fehlt. In dieser großen Sprachfamilie, die sich von der Westküste des heutigen Europas bis nach Indien erstreckte, verwendete niemand ein Wort, das auf dieselbe Wurzel zurückgeht. Das legt die Vermutung nahe, dass die Griechen die Steuermannskunst von Menschen lernten, die keine indo-europäische Sprache sprachen. Wer es war, ist meines Wissens unbekannt.''<br />
<br />
: '''''Schiff ahoi!''''' '' Umso klarer sind die Verhältnisse bei den Römern: Sie lernten es von den Griechen und sagten darum ‚gubernare’ (ein Schiff steuern) für ‚kybernao’ oder ‚gubernator’ für ‚kybernétes’. Sie sind es auch, die die steile Karriere der übertragenen Verwendung in der Politik nach Kräften unterstützten. Wie erfolgreich sie waren, zeigt sich heute darin, dass in außerordentlich vielen Sprachen ex-lateinische Wörter verwendet werden, die direkt mit deutsch ‚Gouverneur’, ‚Gouvernement’ oder ‚Gouvernante’ verwandt sind und anzeigen, wer das Steuerruder (tatsächlich) in den Händen hält. Müsste man den PolitikerInnen vor diesem Hintergrund vielleicht vermehrt ‚Schiff ahoi!’ zurufen, um sie an den Ursprung der Verantwortung zu erinnern, die sie tragen?''<br />
<br />
: '''''Der ‚kybernétes’ segelt weiter.''''' '' Wie erfolgreich ‚cybernetics’ ist, zeigt sich übrigens nicht nur darin, dass diese Wissenschaft längst nicht zu Ende gedacht ist, sondern auch in sprachlicher Hinsicht. Man braucht nur ‚cyber’ zu googeln und erhält vorgeführt, dass es der navigationskundige homerische ‚kybernétes’ dank der Kybernetik unter anderem geschafft hat, im Cybernet mit geheimnisvollen Wesen, die Cyborgs heißen, Cyberlearning zu praktizieren und so klammheimlich weiterzusegeln. Ich kann ihm da nur zurufen: Schiff ahoi!"''<br />
<br />
[[Kategorie:Kybernetische Grundlagen]]</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Kybernetik_(Begriff)&diff=4710
Kybernetik (Begriff)
2023-10-04T11:33:07Z
<p>Dagmar Panzer: /* Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“ */</p>
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<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Dagmar Panzer}}<br />
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''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Kybernetik. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität“.<br />
<br />
== Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet“ überschrieben.<br />
<br />
: '''''"Die Herkunft vieler Wörter bietet oft überraschende Geschichten und Zusammenhänge, die weit in die indo-europäische Sprachgeschichte zurückreichen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der European Kinaesthetics Association (EKA) und Altphilologe/Indogermanist erzählt Stefan Marty-Teuber von den Wurzeln von Wörtern, über die er bei seiner Tätigkeit stolpert.'''''<br />
<br />
: '''''Cybernetics.''''' ''Die junge Wissenschaft der Kybernetik ist eine zentrale theoretische Grundlage von Kinaesthetics. Das Kunstwort ‚cybernetics’ ist wie ‚mathematics’ (Mathematik), ‚physics’ (Physik) oder auch Kinaesthetics ein Plural, der im Englischen mit dem Singular des Verbs konstruiert wird (cybernetics is beautiful). Es wurde vom amerikanischen Mathematiker N. Wiener (1894–1964) vorgeschlagen. Wie er im gleichnamigen Buch von 1948 schreibt, schien den PionierInnen der Kybernetik dieser Begriff treffend ihr gemeinsames Interesse an Steuerungs- und Regelungsvorgängen sowie an der Nachrichtentheorie zu bezeichnen. Sie hatten ihn bewusst aus dem griechischen Wort ‚kybernétes’ (Steuermann) im Sinne einer ‚Steuermannskunst, -wissenschaft’ gebildet. Der Begriff gefiel ihnen auch darum, weil der schottische Physiker J. C. Maxwell 1868 die früheste bedeutende Beschreibung der Rückkoppelungsmechanismen von ‚governors’ (Fliehkraftregler) verfasst hatte und deren Bezeichnung über das lateinische Wort ‚gubernator’ (Steuermann) auf den griechischen ‚kybernétes’ zurückgeht. Als letzten Grund für die Begriffswahl nennt N. Wiener die Tatsache, dass die Steuerungsmaschinen von Schiffen zu den ersten und am besten entwickelten Feedback-Mechanismen gehören.''<br />
<br />
: '''''Ein Schiff steuern.''''' '' Mit großer Wahrscheinlichkeit kannten die Wissenschafter, die bei der Taufe der Kybernetik mitredeten, die griechische Wortfamilie von ‚kybernao’ (ein Schiff steuern) aus ihrer gymnasialen Ausbildungszeit, genauer aufgrund ihrer Lektüre der ‚Ilias’ und der ‚Odyssee’. Diese beiden Epen werden dem blinden Sänger Homer (8. Jahrhundert. v. Chr.) zugeschrieben, gehören zu den frühesten Zeugnissen der europäischen Literatur und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zur höheren Schulbildung. Und die ‚Odyssee’ berichtet ja hauptsächlich davon, wie es Odysseus zehn Jahre lang nicht gelingt, über das Meer seine geliebte Penelope und die Heimatinsel Ithaka anzusteuern. Vielleicht erinnerten sich die Taufpaten der Kybernetik sogar daran, dass der Steuermann Palinurus im römischen Epos ‚Aeneis’ auf Veranlassung des erzürnten Neptuns als Opfer für alle anderen mit seinem Steuerruder in die Tiefe entrissen wird. Vielleicht auch daran, dass Philosophen, Politiker und Redner die Wirksamkeit der übertragenen Verwendung – z. B. ‚den Staat sicher durch alle Stürme steuern’ u. Ä. - entdeckten und dieses Bild immer wieder gebrauchten.''<br />
<br />
: '''''Isolierte Wurzel.''''' ''Die Fähigkeit, ein Schiff bauen und sicher über ein Gewässer steuern oder gar segeln zu können, war eine zentrale Triebfeder der gesamten kulturellen Entwicklung der Menschheit. Von wem erlernten die alten Griechen diese Fähigkeit? Wenn wir den sprachlichen Wurzeln nach- gehen, stellen wir fest, dass ein eindeutiger Beleg einer Verwandtschaft in einer anderen indoeuropäischen Sprache fehlt. In dieser großen Sprachfamilie, die sich von der Westküste des heutigen Europas bis nach Indien erstreckte, verwendete niemand ein Wort, das auf dieselbe Wurzel zurückgeht. Das legt die Vermutung nahe, dass die Griechen die Steuermannskunst von Menschen lernten, die keine indo-europäische Sprache sprachen. Wer es war, ist meines Wissens unbekannt.''<br />
<br />
: '''''Schiff ahoi!''''' '' Umso klarer sind die Verhältnisse bei den Römern: Sie lernten es von den Griechen und sagten darum ‚gubernare’ (ein Schiff steuern) für ‚kybernao’ oder ‚gubernator’ für ‚kybernétes’. Sie sind es auch, die die steile Karriere der übertragenen Verwendung in der Politik nach Kräften unterstützten. Wie erfolgreich sie waren, zeigt sich heute darin, dass in außerordentlich vielen Sprachen ex-lateinische Wörter verwendet werden, die direkt mit deutsch ‚Gouverneur’, ‚Gouvernement’ oder ‚Gouvernante’ verwandt sind und anzeigen, wer das Steuerruder (tatsächlich) in den Händen hält. Müsste man den PolitikerInnen vor diesem Hintergrund vielleicht vermehrt ‚Schiff ahoi!’ zurufen, um sie an den Ursprung der Verantwortung zu erinnern, die sie tragen?''<br />
<br />
: '''''Der ‚kybernétes’ segelt weiter.''''' '' Wie erfolgreich ‚cybernetics’ ist, zeigt sich übrigens nicht nur darin, dass diese Wissenschaft längst nicht zu Ende gedacht ist, sondern auch in sprachlicher Hinsicht. Man braucht nur ‚cyber’ zu googeln und erhält vorgeführt, dass es der navigationskundige homerische ‚kybernétes’ dank der Kybernetik unter anderem geschafft hat, im Cybernet mit geheimnisvollen Wesen, die Cyborgs heißen, Cyberlearning zu praktizieren und so klammheimlich weiterzusegeln. Ich kann ihm da nur zurufen: Schiff ahoi!"''</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Kybernetik_(Begriff)&diff=4709
Kybernetik (Begriff)
2023-10-04T11:30:26Z
<p>Dagmar Panzer: </p>
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<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Dagmar Panzer}}<br />
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''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Kybernetik. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität“.<br />
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== Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet“ überschrieben.<br />
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: '''''"Die Herkunft vieler Wörter bietet oft überraschende Geschichten und Zusammenhänge, die weit in die indo-europäische Sprachgeschichte zurückreichen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der European Kinaesthetics Association (EKA) und Altphilologe/Indogermanist erzählt Stefan Marty-Teuber von den Wurzeln von Wörtern, über die er bei seiner Tätigkeit stolpert.'''''<br />
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: '''''Cybernetics.''''' ''Die junge Wissenschaft der Kybernetik ist eine zentrale theoretische Grundlage von Kinaesthetics. Das Kunstwort ‚cybernetics’ ist wie ‚mathematics’ (Mathematik), ‚physics’ (Physik) oder auch Kinaesthetics ein Plural, der im Englischen mit dem Singular des Verbs konstruiert wird (cybernetics is beautiful). Es wurde vom amerikanischen Mathematiker N. Wiener (1894–1964) vorgeschlagen. Wie er im gleichnamigen Buch von 1948 schreibt, schien den PionierInnen der Kybernetik dieser Begriff treffend ihr gemeinsames Interesse an Steuerungs- und Regelungsvorgängen sowie an der Nachrichtentheorie zu bezeichnen. Sie hatten ihn bewusst aus dem griechischen Wort ‚kybernétes’ (Steuermann) im Sinne einer ‚Steuermannskunst, -wissenschaft’ gebildet. Der Begriff gefiel ihnen auch darum, weil der schottische Physiker J. C. Maxwell 1868 die früheste bedeutende Beschreibung der Rückkoppelungsmechanismen von ‚governors’ (Fliehkraftregler) verfasst hatte und deren Bezeichnung über das lateinische Wort ‚gubernator’ (Steuermann) auf den griechischen ‚kybernétes’ zurückgeht. Als letzten Grund für die Begriffswahl nennt N. Wiener die Tatsache, dass die Steuerungsmaschinen von Schiffen zu den ersten und am besten entwickelten Feedback-Mechanismen gehören.''<br />
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: '''''Ein Schiff steuern.''''' '' Mit großer Wahrscheinlichkeit kannten die Wissenschafter, die bei der Taufe der Kybernetik mitredeten, die griechische Wortfamilie von ‚kybernao’ (ein Schiff steuern) aus ihrer gymnasialen Ausbildungszeit, genauer aufgrund ihrer Lektüre der ‚Ilias’ und der ‚Odyssee’. Diese beiden Epen werden dem blinden Sänger Homer (8. Jahrhundert. v. Chr.) zugeschrieben, gehören zu den frühesten Zeugnissen der europäischen Literatur und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zur höheren Schulbildung. Und die ‚Odyssee’ berichtet ja hauptsächlich davon, wie es Odysseus zehn Jahre lang nicht gelingt, über das Meer seine geliebte Penelope und die Heimatinsel Ithaka anzusteuern. Vielleicht erinnerten sich die Taufpaten der Kybernetik sogar daran, dass der Steuermann Palinurus im römischen Epos ‚Aeneis’ auf Veranlassung des erzürnten Neptuns als Opfer für alle anderen mit seinem Steuerruder in die Tiefe entrissen wird. Vielleicht auch daran, dass Philosophen, Politiker und Redner die Wirksamkeit der übertragenen Verwendung – z. B. ‚den Staat sicher durch alle Stürme steuern’ u. Ä. - entdeckten und dieses Bild immer wieder gebrauchten.''<br />
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: '''''Isolierte Wurzel.''''' ''Die Fähigkeit, ein Schiff bauen und sicher über ein Gewässer steuern oder gar segeln zu können, war eine zentrale Triebfeder der gesamten kulturellen Entwicklung der Menschheit. Von wem erlernten die alten Griechen diese Fähigkeit? Wenn wir den sprachlichen Wurzeln nach- gehen, stellen wir fest, dass ein eindeutiger Beleg einer Verwandtschaft in einer anderen indoeuropäischen Sprache fehlt. In dieser großen Sprachfamilie, die sich von der Westküste des heutigen Europas bis nach Indien erstreckte, verwendete niemand ein Wort, das auf dieselbe Wurzel zurückgeht. Das legt die Vermutung nahe, dass die Griechen die Steuermannskunst von Menschen lernten, die keine indo-europäische Sprache sprachen. Wer es war, ist meines Wissens unbekannt.''<br />
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: '''''Schiff ahoi!''''' '' Umso klarer sind die Verhältnisse bei den Römern: Sie lernten es von den Griechen und sagten darum ‚gubernare’ (ein Schiff steuern) für ‚kybernao’ oder ‚gubernator’ für ‚kybernétes’. Sie sind es auch, die die steile Karriere der übertragenen Verwendung in der Politik nach Kräften unterstützten. Wie erfolgreich sie waren, zeigt sich heute darin, dass in außerordentlich vielen Sprachen ex-lateinische Wörter verwendet werden, die direkt mit deutsch ‚Gouverneur’, ‚Gouvernement’ oder ‚Gouvernante’ verwandt sind und anzeigen, wer das Steuerruder (tatsächlich) in den Händen hält. Müsste man den PolitikerInnen vor diesem Hintergrund vielleicht vermehrt ‚Schiff ahoi!’ zurufen, um sie an den Ursprung der Verantwortung zu erinnern, die sie tragen?''<br />
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: '''''Der ‚kybernétes’ segelt weiter.''''' '' Wie erfolgreich ‚cybernetics’ ist, zeigt sich übrigens nicht nur darin, dass diese Wissenschaft längst nicht zu Ende gedacht ist, sondern auch in sprachlicher Hinsicht. Man braucht nur ‚cyber’ zu googeln und erhält vorgeführt, dass es der navigationskundige homerische ‚kybernétes’ dank der Kybernetik unter anderem geschafft hat, im Cybernet mit geheimnisvollen Wesen, die Cyborgs heißen, Cyberlearning zu praktizieren und so klammheimlich weiterzusegeln. Ich kann ihm da nur zurufen: Schiff ahoi!''</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Kybernetik_(Begriff)&diff=4708
Kybernetik (Begriff)
2023-10-04T11:21:22Z
<p>Dagmar Panzer: /* Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“ */</p>
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<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Dagmar Panzer}}<br />
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''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Kybernetik. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität“.<br />
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== Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet“ überschrieben.<br />
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: '''''"Die Herkunft vieler Wörter bietet oft überraschende Geschichten und Zusammenhänge, die weit in die indo-europäische Sprachgeschichte zurückreichen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der European Kinaesthetics Association (EKA) und Altphilologe/Indogermanist erzählt Stefan Marty-Teuber von den Wurzeln von Wörtern, über die er bei seiner Tätigkeit stolpert.'''''<br />
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: '''''Cybernetics.''''' ''Die junge Wissenschaft der Kybernetik ist eine zentrale theoretische Grundlage von Kinaesthetics. Das Kunstwort ‚cybernetics’ ist wie ‚mathematics’ (Mathematik), ‚physics’ (Physik) oder auch Kinaesthetics ein Plural, der im Englischen mit dem Singular des Verbs konstruiert wird (cybernetics is beautiful). Es wurde vom amerikanischen Mathematiker N. Wiener (1894–1964) vorgeschlagen. Wie er im gleichnamigen Buch von 1948 schreibt, schien den PionierInnen der Kybernetik dieser Begriff treffend ihr gemeinsames Interesse an Steuerungs- und Regelungsvorgängen sowie an der Nachrichtentheorie zu bezeichnen. Sie hatten ihn bewusst aus dem griechischen Wort ‚kybernétes’ (Steuermann) im Sinne einer ‚Steuermannskunst, -wissenschaft’ gebildet. Der Begriff gefiel ihnen auch darum, weil der schottische Physiker J. C. Maxwell 1868 die früheste bedeutende Beschreibung der Rückkoppelungsmechanismen von ‚governors’ (Fliehkraftregler) verfasst hatte und deren Bezeichnung über das lateinische Wort ‚gubernator’ (Steuermann) auf den griechischen ‚kybernétes’ zurückgeht. Als letzten Grund für die Begriffswahl nennt N. Wiener die Tatsache, dass die Steuerungsmaschinen von Schiffen zu den ersten und am besten entwickelten Feedback-Mechanismen gehören.''<br />
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: '''''Ein Schiff steuern.''''' '' Mit großer Wahrscheinlichkeit kannten die Wissenschafter, die bei der Taufe der Kybernetik mitredeten, die griechische Wortfamilie von ‚kybernao’ (ein Schiff steuern) aus ihrer gymnasialen Ausbildungszeit, genauer aufgrund ihrer Lektüre der ‚Ilias’ und der ‚Odyssee’. Diese beiden Epen werden dem blinden Sänger Homer (8. Jahrhundert. v. Chr.) zugeschrieben, gehören zu den frühesten Zeugnissen der europäischen Literatur und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zur höheren Schulbildung. Und die ‚Odyssee’ berichtet ja hauptsächlich davon, wie es Odysseus zehn Jahre lang nicht gelingt, über das Meer seine geliebte Penelope und die Heimatinsel Ithaka anzusteuern. Vielleicht erinnerten sich die Taufpaten der Kybernetik sogar daran, dass der Steuermann Palinurus im römischen Epos ‚Aeneis’ auf Veranlassung des erzürnten Neptuns als Opfer für alle anderen mit seinem Steuerruder in die Tiefe entrissen wird. Vielleicht auch daran, dass Philosophen, Politiker und Redner die Wirksamkeit der übertragenen Verwendung – z. B. ‚den Staat sicher durch alle Stürme steuern’ u. Ä. - entdeckten und dieses Bild immer wieder gebrauchten.''<br />
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: '''''Isolierte Wurzel.''''' ''Die Fähigkeit, ein Schiff bauen und sicher über ein Gewässer steuern oder gar segeln zu können, war eine zentrale Triebfeder der gesamten kulturellen Entwicklung der Menschheit. Von wem erlernten die alten Griechen diese Fähigkeit? Wenn wir den sprachlichen Wurzeln nach- gehen, stellen wir fest, dass ein eindeutiger Beleg einer Verwandtschaft in einer anderen indoeuropäischen Sprache fehlt. In dieser großen Sprachfamilie, die sich von der Westküste des heutigen Europas bis nach Indien erstreckte, verwendete niemand ein Wort, das auf dieselbe Wurzel zurückgeht. Das legt die Vermutung nahe, dass die Griechen die Steuermannskunst von Menschen lernten, die keine indo-europäische Sprache sprachen. Wer es war, ist meines Wissens unbekannt.''</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Kybernetik_(Begriff)&diff=4707
Kybernetik (Begriff)
2023-10-04T11:19:10Z
<p>Dagmar Panzer: /* Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“ */</p>
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<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Dagmar Panzer}}<br />
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''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Kybernetik. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität“.<br />
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== Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet“ überschrieben.<br />
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: '''''"Die Herkunft vieler Wörter bietet oft überraschende Geschichten und Zusammenhänge, die weit in die indo-europäische Sprachgeschichte zurückreichen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der European Kinaesthetics Association (EKA) und Altphilologe/Indogermanist erzählt Stefan Marty-Teuber von den Wurzeln von Wörtern, über die er bei seiner Tätigkeit stolpert.'''''<br />
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: '''''Cybernetics.''''' ''Die junge Wissenschaft der Kybernetik ist eine zentrale theoretische Grundlage von Kinaesthetics. Das Kunstwort ‚cybernetics’ ist wie ‚mathematics’ (Mathematik), ‚physics’ (Physik) oder auch Kinaesthetics ein Plural, der im Englischen mit dem Singular des Verbs konstruiert wird (cybernetics is beautiful). Es wurde vom amerikanischen Mathematiker N. Wiener (1894–1964) vorgeschlagen. Wie er im gleichnamigen Buch von 1948 schreibt, schien den PionierInnen der Kybernetik dieser Begriff treffend ihr gemeinsames Interesse an Steuerungs- und Regelungsvorgängen sowie an der Nachrichtentheorie zu bezeichnen. Sie hatten ihn bewusst aus dem griechischen Wort ‚kybernétes’ (Steuermann) im Sinne einer ‚Steuermannskunst, -wissenschaft’ gebildet. Der Begriff gefiel ihnen auch darum, weil der schottische Physiker J. C. Maxwell 1868 die früheste bedeutende Beschreibung der Rückkoppelungsmechanismen von ‚governors’ (Fliehkraftregler) verfasst hatte und deren Bezeichnung über das lateinische Wort ‚gubernator’ (Steuermann) auf den griechischen ‚kybernétes’ zurückgeht. Als letzten Grund für die Begriffswahl nennt N. Wiener die Tatsache, dass die Steuerungsmaschinen von Schiffen zu den ersten und am besten entwickelten Feedback-Mechanismen gehören.''<br />
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: '''''Ein Schiff steuern.''''' '' Mit großer Wahrscheinlichkeit kannten die Wissenschafter, die bei der Taufe der Kybernetik mitredeten, die griechische Wortfamilie von ‚kybernao’ (ein Schiff steuern) aus ihrer gymnasialen Ausbildungszeit, genauer aufgrund ihrer Lektüre der ‚Ilias’ und der ‚Odyssee’. Diese beiden Epen werden dem blinden Sänger Homer (8. Jahrhundert. v. Chr.) zugeschrieben, gehören zu den frühesten Zeugnissen der europäischen Literatur und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zur höheren Schulbildung. Und die ‚Odyssee’ berichtet ja hauptsächlich davon, wie es Odysseus zehn Jahre lang nicht gelingt, über das Meer seine geliebte Penelope und die Heimatinsel Ithaka anzusteuern. Vielleicht erinnerten sich die Taufpaten der Kybernetik sogar daran, dass der Steuermann Palinurus im römischen Epos ‚Aeneis’ auf Veranlassung des erzürnten Neptuns als Opfer für alle anderen mit seinem Steuerruder in die Tiefe entrissen wird. Vielleicht auch daran, dass Philosophen, Politiker und Redner die Wirksamkeit der übertragenen Verwendung – z. B. ‚den Staat sicher durch alle Stürme steuern’ u. Ä. - entdeckten und dieses Bild immer wieder gebrauchten.''<br />
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: '''''Isolierte Wurzel.''''' ''Die Fähigkeit, ein Schiff bauen und sicher über ein Gewässer steuern oder gar segeln zu können, war eine zentrale Triebfeder der gesamten kulturellen Entwicklung der Menschheit. Von wem erlernten die alten Griechen diese Fähigkeit? Wenn wir den sprachlichen Wurzeln nach- gehen, stellen wir fest, dass ein<br />
eindeutiger Beleg einer Verwandtschaft in einer anderen indoeuropäischen Sprache fehlt.<br />
In dieser großen Sprachfamilie, die sich von der Westküste des heutigen Europas bis nach<br />
Indien erstreckte, verwendete niemand ein Wort, das auf dieselbe Wurzel zurückgeht. Das<br />
legt die Vermutung nahe, dass die Griechen die Steuermannskunst von Menschen lernten, die<br />
keine indo-europäische Sprache sprachen. Wer es war, ist meines Wissens unbekannt.''</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Kybernetik_(Begriff)&diff=4706
Kybernetik (Begriff)
2023-10-04T11:18:04Z
<p>Dagmar Panzer: </p>
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<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Dagmar Panzer}}<br />
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Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Kybernetik. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität“.<br />
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== Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet“ überschrieben.<br />
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: '''''"Die Herkunft vieler Wörter bietet oft überraschende Geschichten und Zusammenhänge, die weit in die indo-europäische Sprachgeschichte zurückreichen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der European Kinaesthetics Association (EKA) und Altphilologe/Indogermanist erzählt Stefan Marty-Teuber von den Wurzeln von Wörtern, über die er bei seiner Tätigkeit stolpert.'''''<br />
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: '''''Cybernetics.''''' ''Die junge Wissenschaft der Kybernetik ist eine zentrale theoretische Grundlage von Kinaesthetics. Das Kunstwort ‚cybernetics’ ist wie ‚mathematics’ (Mathematik), ‚physics’ (Physik) oder auch Kinaesthetics ein Plural, der im Englischen mit dem Singular des Verbs konstruiert wird (cybernetics is beautiful). Es wurde vom amerikanischen Mathematiker N. Wiener (1894–1964) vorgeschlagen. Wie er im gleichnamigen Buch von 1948 schreibt, schien den PionierInnen der Kybernetik dieser Begriff treffend ihr gemeinsames Interesse an Steuerungs- und Regelungsvorgängen sowie an der Nachrichtentheorie zu bezeichnen. Sie hatten ihn bewusst aus dem griechischen Wort ‚kybernétes’ (Steuermann) im Sinne einer ‚Steuermannskunst, -wissenschaft’ gebildet. Der Begriff gefiel ihnen auch darum, weil der schottische Physiker J. C. Maxwell 1868 die früheste bedeutende Beschreibung der Rückkoppelungsmechanismen von ‚governors’ (Fliehkraftregler) verfasst hatte und deren Bezeichnung über das lateinische Wort ‚gubernator’ (Steuermann) auf den griechischen ‚kybernétes’ zurückgeht. Als letzten Grund für die Begriffswahl nennt N. Wiener die Tatsache, dass die Steuerungsmaschinen von Schiffen zu den ersten und am besten entwickelten Feedback-Mechanismen gehören.''<br />
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: '''''Ein Schiff steuern.''''' '' Mit großer Wahrscheinlichkeit kannten die Wissenschafter, die bei der Taufe der Kybernetik mitredeten, die griechische Wortfamilie von ‚kybernao’ (ein Schiff steuern) aus ihrer gymnasialen Ausbildungszeit, genauer aufgrund ihrer Lektüre der ‚Ilias’ und der ‚Odyssee’. Diese beiden Epen werden dem blinden Sänger Homer (8. Jahrhundert. v. Chr.) zugeschrieben, gehören zu den frühesten Zeugnissen der europäischen Literatur und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zur höheren Schulbildung. Und die ‚Odyssee’ berichtet ja hauptsächlich davon, wie es Odysseus zehn Jahre lang nicht gelingt, über das Meer seine geliebte Penelope und die Heimatinsel Ithaka anzusteuern. Vielleicht erinnerten sich die Taufpaten der Kybernetik sogar daran, dass der Steuermann Palinurus im römischen Epos ‚Aeneis’ auf Veranlassung des erzürnten Neptuns als Opfer für alle anderen mit seinem Steuerruder in die Tiefe entrissen wird. Vielleicht auch daran, dass Philosophen, Politiker und Redner die Wirksamkeit der übertragenen Verwendung – z. B. ‚den Staat sicher<br />
durch alle Stürme steuern’ u. Ä. – entdeckten und dieses Bild immer wieder gebrauchten.''<br />
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: '''''Isolierte Wurzel.''''' ''Die Fähigkeit, ein Schiff bauen und sicher über ein Gewässer steuern oder gar segeln zu können, war eine zentrale Triebfeder der gesamten kulturellen Entwicklung der Menschheit. Von wem erlernten die alten Griechen diese Fähigkeit? Wenn wir den sprachlichen Wurzeln nach- gehen, stellen wir fest, dass ein<br />
eindeutiger Beleg einer Verwandtschaft in einer anderen indoeuropäischen Sprache fehlt. In dieser großen Sprachfamilie, die sich von der Westküste des heutigen Europas bis nach Indien erstreckte, verwendete niemand ein Wort, das auf dieselbe Wurzel zurückgeht. Das legt die Vermutung nahe, dass die Griechen die Steuermannskunst von Menschen lernten, die keine indo-europäische Sprache sprachen. Wer es war, ist meines Wissens unbekannt.''</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Kybernetik_(Begriff)&diff=4705
Kybernetik (Begriff)
2023-10-04T11:14:41Z
<p>Dagmar Panzer: /* Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“ */</p>
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<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Dagmar Panzer}}<br />
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''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Kybernetik. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität“.<br />
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== Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet“ überschrieben.<br />
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: '''''"Die Herkunft vieler Wörter bietet oft überraschende Geschichten und Zusammenhänge, die weit in die indo-europäische Sprachgeschichte zurückreichen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der European Kinaesthetics Association (EKA) und Altphilologe/Indogermanist erzählt Stefan Marty-Teuber von den Wurzeln von Wörtern, über die er bei seiner Tätigkeit stolpert.'''''<br />
<br />
: '''''Cybernetics.''''' ''Die junge Wissenschaft der Kybernetik ist eine zentrale theoretische Grundlage von Kinaesthetics. Das Kunstwort ‚cybernetics’ ist wie ‚mathematics’ (Mathematik), ‚physics’ (Physik) oder auch Kinaesthetics ein Plural, der im Englischen mit dem Singular des Verbs konstruiert wird (cybernetics is beautiful). Es wurde vom amerikanischen Mathematiker N. Wiener (1894–1964) vorgeschlagen. Wie er im gleichnamigen Buch von 1948 schreibt, schien den PionierInnen der Kybernetik dieser Begriff treffend ihr gemeinsames Interesse an Steuerungs- und Regelungsvorgängen sowie an der Nachrichtentheorie zu bezeichnen. Sie hatten ihn bewusst aus dem griechischen Wort ‚kybernétes’ (Steuermann) im Sinne einer ‚Steuermannskunst, -wissenschaft’ gebildet. Der Begriff gefiel ihnen auch darum, weil der schottische Physiker J. C. Maxwell 1868 die früheste bedeutende Beschreibung der Rückkoppelungsmechanismen von ‚governors’ (Fliehkraftregler) verfasst hatte und deren Bezeichnung über das lateinische Wort ‚gubernator’ (Steuermann) auf den griechischen ‚kybernétes’ zurückgeht. Als letzten Grund für die Begriffswahl nennt N. Wiener die Tatsache, dass die Steuerungsmaschinen von Schiffen zu den ersten und am besten entwickelten Feedback-Mechanismen gehören.''<br />
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: '''''Ein Schiff steuern.''''' '' Mit großer Wahrscheinlichkeit kannten die Wissenschafter, die bei der Taufe der Kybernetik mitredeten, die griechische Wortfamilie von ‚kybernao’ (ein Schiff steuern) aus ihrer gymnasialen Ausbildungszeit, genauer aufgrund ihrer Lektüre der ‚Ili- as’ und der ‚Odyssee’. Diese beiden Epen werden dem blinden Sänger Homer (8. Jahrhundert. v. Chr.) zugeschrieben, gehören zu den frühesten Zeugnissen der europäischen Literatur und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zur höheren Schulbildung. Und die ‚Odyssee’ berichtet ja hauptsächlich davon, wie es Odysseus zehn Jahre lang nicht gelingt, über das Meer seine geliebte Penelope und die Heimatinsel Ithaka anzusteuern. Vielleicht erinnerten sich die Taufpaten der Kybernetik sogar daran, dass der Steuermann Palinurus im römischen Epos ‚Aeneis’ auf Veranlassung des erzürnten Neptuns als Opfer für alle anderen mit seinem Steuerruder in die Tiefe entrissen wird. Vielleicht auch daran, dass Philosophen, Politiker und Redner die Wirksamkeit der übertragenen Verwendung – z. B. ‚den Staat sicher<br />
durch alle Stürme steuern’ u. Ä. – entdeckten und dieses Bild immer wieder gebrauchten.''</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Kybernetik_(Begriff)&diff=4704
Kybernetik (Begriff)
2023-10-04T11:09:33Z
<p>Dagmar Panzer: /* Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“ */</p>
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<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Dagmar Panzer}}<br />
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''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Kybernetik. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität“.<br />
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== Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet“ überschrieben.<br />
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: '''''"Die Herkunft vieler Wörter bietet oft überraschende Geschichten und Zusammenhänge, die weit in die indo-europäische Sprachgeschichte zurückreichen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der European Kinaesthetics Association (EKA) und Altphilologe/Indogermanist erzählt Stefan Marty-Teuber von den Wurzeln von Wörtern, über die er bei seiner Tätigkeit stolpert.'''''<br />
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: '''''Cybernetics.''''' ''Die junge Wissenschaft der Kybernetik ist eine zentrale theoretische Grundlage von Kinaesthetics. Das Kunstwort ‚cybernetics’ ist wie ‚mathematics’ (Mathematik), ‚physics’ (Physik) oder auch Kinaesthetics ein Plural, der im Englischen mit dem Singular des Verbs konstruiert wird (cybernetics is beautiful). Es wurde vom amerikanischen Mathematiker N. Wiener (1894–1964) vorgeschlagen. Wie er im gleichnamigen Buch von 1948 schreibt, schien den PionierInnen der Kybernetik dieser Begriff treffend ihr gemeinsames Interesse an Steuerungs- und Regelungsvorgängen sowie an der Nachrichtentheorie zu bezeichnen. Sie hatten ihn bewusst aus dem griechischen Wort ‚kybernétes’ (Steuermann) im Sinne einer ‚Steuermannskunst, -wissenschaft’ gebildet. Der Begriff gefiel ihnen auch darum, weil der schottische Physiker J. C. Maxwell 1868 die früheste bedeutende Beschreibung der Rückkoppelungsmechanismen von ‚governors’ (Fliehkraftregler) verfasst hatte und deren Bezeichnung über das lateinische Wort ‚guber- nator’ (Steuermann) auf den griechischen ‚kybernétes’ zurückgeht. Als letzten Grund für die Begriffswahl nennt N. Wiener die Tatsache, dass die Steuerungsmaschinen von Schiffen zu den ersten und am besten entwickelten Feedback-Mechanismen gehören.''</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Kybernetik_(Begriff)&diff=4703
Kybernetik (Begriff)
2023-10-04T11:05:16Z
<p>Dagmar Panzer: </p>
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<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Dagmar Panzer}}<br />
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''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Kybernetik. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität“.<br />
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== Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet“ überschrieben.<br />
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: '''''"Die Herkunft vieler Wörter bietet oft überraschende Geschichten und Zusammenhänge, die weit in die indo-europäische Sprachgeschichte zurückreichen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der European Kinaesthetics Association (EKA) und Altphilologe/Indogermanist erzählt Stefan Marty-Teuber von den Wurzeln von Wörtern, über die er bei seiner Tätigkeit stolpert.'''''<br />
<br />
: '''''Cybernetics.''''' ''Die junge Wissenschaft der Kybernetik ist eine zentrale theoretische Grundlage von Kinaesthetics. Das Kunstwort ‚cybernetics’ ist wie „mathematics“ (Ma- thematik), „physics“ (Physik) oder auch Kinaesthetics ein Plural, der im Englischen mit dem Singular des Verbs konstruiert wird (cybernetics is beautiful). Es wurde vom amerikanischen Mathematiker N. Wiener (1894–1964) vorgeschlagen. Wie er im gleichnamigen Buch von 1948 schreibt, schien den PionierInnen der Kybernetik dieser Begriff treffend ihr gemeinsames Interesse an Steue- rungs- und Regelungsvorgängen sowie an der Nachrich- tentheorie zu bezeichnen. Sie hatten ihn bewusst aus dem griechischen Wort „kybernétes“ (Steuermann) im Sinne einer „Steuermannskunst, -wissenschaft“ gebil- det. Der Begriff gefiel ihnen auch darum, weil der schot- tische Physiker J. C. Maxwell 1868 die früheste bedeu- tende Beschreibung der Rückkoppelungsmechanismen von „governors“ (Fliehkraftregler) verfasst hatte und deren Bezeichnung über das lateinische Wort „guber- nator“ (Steuermann) auf den griechischen „kybernétes“ zurückgeht. Als letzten Grund für die Begriffswahl nennt N. Wiener die Tatsache, dass die Steuerungsmaschinen von Schiffen zu den ersten und am besten entwickelten Feedback-Mechanismen gehören.''</div>
Dagmar Panzer
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Diskussion:Kybernetik (Begriff)
2023-10-04T10:49:05Z
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<hr />
<div>{{Diskussionsseiten|Kybernetik (Begriff)}}<br />
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Dagmar Panzer
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Kybernetik (Begriff)
2023-10-04T10:39:52Z
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<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Kybernetik. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität “<br />
<br />
== Kybernetik in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Kybernetik: Von der Steuermannskunst zum Cybernet“ überschrieben.</div>
Dagmar Panzer
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Orientierung
2023-09-20T18:00:06Z
<p>Dagmar Panzer: /* Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch [[Orientierung#Orientierung%20im%20.E2.80.9EKinaesthetics%20.E2.80.93%20Konzeptsystem.E2.80.9C|„Kinaesthetics – Konzeptsystem“]] und stellen einen aktuellen Referenztext dar. Es folgen Zitate aus den [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EAufbaumodul%20Demenz%203:%20Die%20eigene%20Orientierung%20suchen.2C%20Arbeitsunterlagen.E2.80.9C|Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“]], wo es um die konkrete Verknüpfung mit dem Thema Demenz geht. In den Zitaten aus dem [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EKin.C3.A4sthetik-Bulletin-Nr-16.E2.80.9C|„16. Kinästhetik-Bulletin von 1990]] werden Entwicklung, Bedeutung und Anwendung des Begriffs Orientierung dargestellt.<br />
== Aktuelle Verwendung des Fachbegriffs ==<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
=== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Konzept Funktionale Anatomie“ eingebettet. Bei diesem Konzept ist grundsätzlich Folgendes von Bedeutung: <br />
<br />
: '' „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.“''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 19.</ref><br />
<br />
Nach den Unterkapiteln „[[Knochen und Muskeln]]“, „[[Massen und Zwischenräume]]“ und „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“ wird dem Fachbegriff Orientierung das vierte und letzte Kapitel gewidmet.<br />
:''<big>“2.4. Orientierung</big><br />
:''Die Entstehung des Begriffes '''Orientierung''' hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.''<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: ‚Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?‘<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: ‚In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer [[Massen und Zwischenräume|Massen]] organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?‘''<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die ‚richtige<br>Richtung‘ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich ‚oben‘ und ‚unten‘ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: ‚Oben‘ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, ‚unten‘ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. ‚Unten‘<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, ‚oben‘ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
=== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen – Arbeitsunterlagen“ ===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„Die eigene Orientierung suchen''' <br> […] Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. <br />
:''Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
:'''''Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung''' <br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Es geht darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. <br />
<br />
:''Eine wichtige Annahme ist, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie grundlegend für das gesamte Orientierungsvermögen ist. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz individuell und konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen.“''<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2022) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur (CH): Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903052-48-2. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus den Begleittexten des Kapitels „Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
: '''''Orientierung – ein vielschichtiger Prozess''' <br> Beispiel: <br>Wir wollen erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen. Dabei müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an den unterschiedlichsten Dingen orientieren. Unsere Bewegung orientieren wir z. B. ununterbrochen an der Beschaffenheit und der Richtung des Weges. Wir orientieren uns an Wegweisern und Karten, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, an der Entwicklung des Wetters usw. [im Original alles kursiv]<br />
<br />
:'' Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten oder Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. <br />
:''Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen oder wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich bei der inneren körperlichen Orientierung, wenn wir unsere Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer eigenen Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den ‚Spielregeln‘ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). <br />
:''Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können […]. Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen. ''<br />
:'' '''Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens <br><br>Die innere körperliche Orientierung''' ''<br />
:'' Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung und unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir – als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper und in uns selbst zurechtfinden. <br />
:''Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. <br />
:''Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische ‚Mechanik‘, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. <br />
:''Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. <br />
:''Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden.“ ''<br />
: '''''Herkömmliche Unterteilungen des menschlichen Orientierungsvermögens'''''<br />
: ''Es ist gängig, das Orientierungsvermögen des Menschen zu unterteilen, um es differenzierter zu beschreiben oder auch in Pflegedokumentationen festzuhalten. Dabei sind die folgenden Begrifflichkeiten allgemein gebräuchlich:<br />
:*''Räumliche oder örtliche Orientierung''<br />
:*''Zeitliche Orientierung ''<br />
:*''Orientierung zur eigenen Person und zum persönlichen Beziehungsnetz (auch als soziale Orientierung bezeichnet)''<br />
:*''Situative Orientierung: Das angemessene Ausrichten des eigenen Verhaltens an einer bestimmten Situation''<br><br />
<br />
:'' Diese Unterteilung macht deutlich, dass Orientierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, aber auch ein sehr komplexes Phänomen ist. Mit ein Grund ist, dass die Aspekte, die durch diese Unterteilung unterschiedenen werden, sich im alltäglichen Leben überschneiden und kombinieren. <br />
:'' Die herkömmlichen Unterteilungen des Orientierungsvermögens vernachlässigen oft die innere körperliche Orientierung als grundlegenden Aspekt. In der Kinästhetik wird von der Annahme ausgegangen, dass die Qualität der körperlichen Orientierung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich ein Mensch am Raum, an der Zeit usw. orientieren kann.“ ''<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 12-13.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel „Teil 3: Bewegungskompetenz und lebenslange Orientierungssuche". Die vorhergehenden Absätze beleuchten das Thema Bewegungsmuster, hier wird die Bedeutung der Bewegungsmuster für Orientierung beschrieben.<br />
<br />
: ''''' „Bedeutung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz: ''' <br>[…] Für das fortlaufende Suchen ihrer Orientierung ist es von hoher Bedeutung, in welcher Qualität sie [eine Person mit Demenz, Anm. d. Red.] ihre Bewegung wahrnehmen, gestalten und sich so in sich selbst orientieren kann. <br />
:'' Nach dieser Grundhaltung steht im Zentrum, dass jede Unterstützung einer Person mit Demenz als ein Lernangebot verstanden und gestaltet wird. Wenn Menschen mit Demenz in ihren alltäglichen Aktivitäten eine für sie im Moment passende Unterstützung erhalten, können sie lernen, ihre Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen und an ihre aktuelle Situation anzupassen. Hier liegt ein großes Potenzial dafür vor, dass sie bis zuletzt erfolgreich ihre innere körperliche Orientierung suchen. <br />
:''Ein individuell angepasstes Unterstützungsangebot in diesem Sinn gestalten zu können, stellt hohe Anforderungen an die Bewegungskompetenz und das Bewegungsverständnis der Bezugspersonen. Sie sind insbesondere gefordert, ihre Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auf ihre eigene Bewegung zu lenken, um diese fortlaufend differenziert an die Orientierungssuche der betreffenden Person anzupassen. "<br />
<br />
<br />
Quelle: ebd. S. 36 f.<br />
<br />
==Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“==<br />
===Einleitung===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
===Relevante Zitate===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
:''„4. Grundprinzipien ''<br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
:''„4.1. Wahrnehmung''<br />
:''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.''<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br>''<br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. ''<br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen? Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Orientierung&diff=4699
Orientierung
2023-09-20T17:52:01Z
<p>Dagmar Panzer: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./ Sabine Kaserer, Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''' Zusammenfassung: ''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Orientierung. Die ersten Zitate stammen aus aus dem Buch [[Orientierung#Orientierung%20im%20.E2.80.9EKinaesthetics%20.E2.80.93%20Konzeptsystem.E2.80.9C|„Kinaesthetics – Konzeptsystem“]] und stellen einen aktuellen Referenztext dar. Es folgen Zitate aus den [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EAufbaumodul%20Demenz%203:%20Die%20eigene%20Orientierung%20suchen.2C%20Arbeitsunterlagen.E2.80.9C|Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“]], wo es um die konkrete Verknüpfung mit dem Thema Demenz geht. In den Zitaten aus dem [[Orientierung#Orientierung%20in%20.E2.80.9EKin.C3.A4sthetik-Bulletin-Nr-16.E2.80.9C|„16. Kinästhetik-Bulletin von 1990]] werden Entwicklung, Bedeutung und Anwendung des Begriffs Orientierung dargestellt.<br />
== Aktuelle Verwendung des Fachbegriffs ==<br />
[[Datei:Konzepticons-mit-kreis 221.png |100px|rahmenlos|rechts]]<br />
=== Orientierung im „Kinaesthetics – Konzeptsystem“ ===<br />
<br />
Das erste Zitat ist in das zweite Kapitel „Konzept Funktionale Anatomie“ eingebettet. Bei diesem Konzept ist grundsätzlich Folgendes von Bedeutung: <br />
<br />
: '' „Kinaesthetics betrachtet die Anatomie aus einer funktionalen Perspektive, d. h., die erfahrbaren und wahrnehmbaren Aspekte des Körperbaus bilden den Inhalt des Konzeptes Funktionale Anatomie.“''<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 19.</ref><br />
<br />
Nach den Unterkapiteln „[[Knochen und Muskeln]]“, „[[Massen und Zwischenräume]]“ und „Haltungs- und Transportbewegungsebenen“ wird dem Fachbegriff Orientierung das vierte und letzte Kapitel gewidmet.<br />
:''<big>“2.4. Orientierung</big><br />
:''Die Entstehung des Begriffes '''Orientierung''' hängt mit der Tatsache zusammen, dass<br>sich der Mensch – insbesondere auf seinen Reisen – seit frühester Zeit an der<br>aufgehenden Sonne (Orient, Osten) bzw. an den Himmelsrichtungen und den<br>Himmelskörpern auszurichten pflegte.''<br />
<br />
:''Orientierung kann also die Fähigkeit bezeichnen, sich im äußeren Raum und in der<br>Zeit zurechtfinden zu können. Die räumlich-zeitliche Orientierungsfähigkeit<br>beantwortet Fragen wie: ‚Wo befinden wir uns? In was für einer Umgebung befinden<br>wir uns? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?‘<br />
<br />
:''Kinaesthetics versteht unter Orientierung aber auch die Fähigkeit, sich im eigenen<br>Körper, im inneren Raum bzw. an den Sachverhalten der funktionalen Anatomie<br>orientieren zu können. Diese körperliche Orientierungsfähigkeit setzt sich mit Fragen<br>auseinander wie: ‚In welcher Position befindet sich unser Körper? Wie und mit<br>welcher Anstrengung ist dabei die Gewichtsabgabe unserer [[Massen und Zwischenräume|Massen]] organisiert? Wie<br>und in welche Richtung sollen wir unsere Körperteile bewegen, um ein Ziel zu<br>erreichen?‘''<br />
<br />
:''Kinaesthetics geht davon aus, dass diese körperlichen Orientierungsfähigkeiten<br>ständige Prozesse sind, die auf Bewegung, auf der Bewegungswahrnehmung (und<br>der gesamten Sinneswahrnehmung) beruhen. Nach dieser Annahme sind wir bewusst<br>oder unbewusst konstant damit beschäftigt, die Orientierung oder die ‚richtige<br>Richtung‘ unserer Bewegungen nicht zu verlieren. Die körperliche Orientierung stellt<br>die Grundlage dafür dar, dass ein Mensch sich im äußeren Raum und generell in der<br>Welt, z. B. in Gesellschaft und Kultur, orientieren kann.<br><br />
:''Oft macht sich dieser Prozess erst bei einem Orientierungsverlust deutlich<br>bemerkbar. Eine schwere Verletzung kann unsere körperliche Orientierung, d. h. die<br>Fähigkeit zu einer zielgerichteten Bewegung der unverletzten Glieder, sowie die<br>räumlich-zeitliche Orientierung, und damit unser Wohlbefinden im wahrsten Sinne<br> des Wortes lahmlegen.<br><br><br><br />
:'''''Oben und unten'''<br><br />
:''Die körperliche Orientierung bezüglich ‚oben‘ und ‚unten‘ basiert auf der<br>Erfahrung der spezifischen Anordnung der einzelnen Massen: ‚Oben‘ ist der Kopf,<br>dann folgt der Brustkorb und das Becken, ‚unten‘ sind die Beine bzw. die Füße. Da<br>diese Anordnung unabhängig davon ist, in welcher Position oder räumlichen Lage<br>sich ein Mensch befindet, kann die körperliche Orientierung in einem Widerspruch<br>zur räumlichen Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ stehen, die sich aus einer<br>Außenperspektive ergibt.<br><br />
<br />
:''Die räumliche Definition von ‚oben‘ und ‚unten‘ wird durch die konstante Wirkung<br>der Schwerkraft bestimmt, die unser Leben in einem hohen Ausmaß prägt. ‚Unten‘<br> definiert sich durch die Richtung der Schwerkraft, ‚oben‘ durch die Gegenrichtung.<br><br />
<br />
:''Bezüglich der räumlichen und körperlichen Orientierung fällt auf: Die Extremitäten<br>sind symmetrisch angeordnet und unterstützen in einem analogen Muster die<br>Steuerung des Gewichtes der zentralen Massen in der Schwerkraft:<br />
<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Arme sind seitlich mit dem Brustkorb verbunden und unterstützen die<br>Gewichtssteuerung des Brustkorbes. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Beine sind seitlich mit dem Becken verbunden und sind für die<br>Gewichtsverlagerung des Beckens hilfreich. <br>''<br />
:'' '''<big><big>•</big></big>''' Die Ohren sind sozusagen die nach innen gestülpten Extremitäten des Kopfes<br>und unterstützen durch den Gleichgewichtssinn im Innenohr die Steuerung des<br>Kopfes bzw. die Orientierung in der Schwerkraft. <br>''<br />
<br />
:''Für die Unterscheidung zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ kann der Mensch immer auf<br>die innere, körperliche oder auf die äußere, räumliche Orientierung zurückgreifen.<br>Diese können in einem Widerspruch zueinander stehen. Aufstehen hat aus einer<br>Innenperspektive betrachtet kaum etwas mit einem vertikalen Hochheben der<br>Massen gegen die Schwerkraft zu tun, wie man es von außen betrachtet vielleicht<br>beschreiben würde. Die Ausführung von Aktivitäten erfordert stets die Orientierung<br>an den eigenen, körperlichen und an den äußeren, räumlichen Bedingungen.<br><br />
<br />
<br />
:'''''Vorne und hinten: Vorderseiten und Rückseiten'''<br><br />
:''Kinaesthetics definiert die Vorder- und Rückseiten unserer Massen aufgrund der<br>unterschiedlich erfahrbaren Eigenschaften und Aufgaben.<br><br />
:''Die Seiten der Massen, die überwiegend als hart, knochig und stabil erfahrbar sind,<br>werden als Rückseiten bezeichnet. Hier liegen v. a. Streckmuskeln. Die Vorderseiten<br>tragen die Merkmale weich, instabil und anpassungsfähig. Hier sind hauptsächlich<br>Beugemuskeln vorhanden.<br><br />
:''Bei den zentralen Massen Kopf, Brustkorb und Becken lassen sich die Vorder- und<br>Rückseiten einfach erfahren und entsprechen der gängigen Vorstellung von vorne<br>und hinten. Bei den Extremitäten aber ist ein spiraliger Verlauf der Vorder- und<br>Rückseiten beobachtbar. Deshalb weichen hier die Definitionen z. T. von unseren<br>gängigen Vorstellungen ab.<br><br><br />
<br />
:{| <br />
|-<br />
|style="width: 30%"| [[Datei:22-detail-vorne-hinten.jpg|180px|zentriert]]||<br />
:''Bei den Rückseiten der Massen liegen die Knochen<br>ziemlich direkt und großflächig unter der Haut. Dadurch<br>eignen sich die Rückseiten eher dazu, das Gewicht zu<br>tragen und es auf eine Unterstützungsfläche abzugeben.<br>Auf den Vorderseiten sind mehr Muskeln erfahrbar. Sie<br>haben deshalb die Funktion, das Gewicht auf die<br>Rückseiten zu leiten und Anpassungen der<br>Gewichtsorganisation zu gestalten.<br><br />
:''Die Hand- und Fußflächen besitzen sowohl<br>Vorderseiten- als auch Rückseiten-Qualitäten.<br>Nur deshalb ist es möglich, unser<br>Körpergewicht in Balance zu halten, wenn wir auf den<br>Füßen stehen. Die Hand- und Fußflächen gehören zu<br>den empfindlichsten Zonen des kinästhetischen<br>Sinnessystems.<br><br />
:''Der spiralförmige Verlauf von<br>Vorder- und Rückseiten ist<br>der Hauptgrund dafür, dass Menschen grundsätzlich<br>über eine unendliche Vielfalt von<br>Bewegungsmöglichkeiten oder -varianten verfügen.<br><br><br />
|}<br />
<br />
:''Ein angepasstes Zusammenspiel der Funktionen der Vorder- und Rückseiten während<br>einer Aktivität macht es möglich, diese mit wenig Kraftaufwand und größtmöglicher<br>Kontrolle in der Schwerkraft zu gestalten.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Konzeptsystem. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-00-0. S. 26 ff.<br />
<br />
<br />
== Orientierung in „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen, Arbeitsunterlagen“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus den Arbeitsunterlagen „Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen“. Das erste Zitat ist in das erste Kapitel „Einführung in das Aufbaumodul Demenz 3“ eingebettet. Die ersten zwei Zitate sind Texte aus der „Einleitung“.<br />
:'''''„Die eigene Orientierung suchen''' <br> Die eigene Orientierung auf unterschiedlichsten Ebenen zu suchen, ist für die Menschen mit Demenz oft ein Hauptthema des Alltags. Somit muss es ein Anliegen der Pflege und Betreuung sein, sie verständnisvoll darin zu unterstützen, in ihren alltäglichen Aktivitäten die Orientierung erfolgreich zu suchen und dadurch Lebensqualität zu gewinnen. Aus biologischer Perspektive verfügen alle Lebewesen über ein Orientierungsvermögen. Es ist eine Grundbedingung des Lebens. Für das Lebewesen bedeutet es, die eigene Bewegung (inklusive des eigenen Wachstumes bei Pflanzen) an physikalischen, chemischen oder anderen Gegebenheiten und Prozessen ausrichten zu können. Die Grundlage des Orientierungsvermögens bildet die Bewegungswahrnehmung (Kinästhesie) bzw. irgendeine Form der Eigenwahrnehmung (Propriozeption).''<br />
:'''''Die Bedeutung der inneren körperlichen Orientierung''' <br>In der Kinästhetik wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch seine innere körperliche Orientierung lebenslang weiterentwickelt. Bei der Frage, ob die Entwicklung in Richtung eines differenzierteren oder zunehmend undifferenzierteren Orientierungsvermögens geht, spielen die Bewegungswahrnehmung und die Qualität der eigenen Bewegung eine zentrale Rolle. Ausgegangen wird von der Annahme, dass die Orientierung an den eigenen Bewegungsmöglichkeiten bzw. an den Eigenschaften und Funktionen der eigenen Anatomie für das gesamte Orientierungsvermögen grundlegend ist. Es geht dabei darum, ein inneres körperliches Verständnis für passende Bewegungsrichtungen im aktuellen Moment zu entwickeln. Diese Perspektive hat für professionelle Bezugspersonen von Menschen mit Demenz eine hohe Bedeutung. Sie können dadurch lernen, die alltäglichen Unterstützungsangebote orientierungsfördernd zu gestalten bzw. die einzelne Person mit Demenz konkret in ihrer Suche nach der eigenen Orientierung auf allen Ebenen zu unterstützen."''<br />
:Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientierung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 7.<br />
<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel ''„''Teil 1: Was ist Orientierung?"<br />
:'' '''„Teil 1: Was ist Orientierung?''' <br> Begleittexte <br>''<br />
: '''''Orientierung – ein vielschichtiger Prozess''' <br>Das folgende Beispiel veranschaulicht die Vielschichtigkeit und breite Bedeutung des menschlichen Orientierungsvermögens. Beispiel: Wenn wir erfolgreich und sicher auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen wollen, müssen wir uns bzw. unsere Bewegung ständig an unterschiedlichsten Dingen orientieren, so z. B. an der Beschaffenheit des Weges, daran, wie schnell wir im Verhältnis zur Gesamtstrecke vorankommen und wie fit wir noch sind, an BergsteigerInnen, die uns entgegenkommen, oder an der Entwicklung des Wetters usw. Im Allgemeinen bezeichnet Orientierung die Fähigkeit, sich selbst an unterschiedlichsten Gegebenheiten und Vorgängen ausrichten zu können, um ein Ziel zu erreichen oder eine Absicht zu verwirklichen. In unserem Alltag sind wir bewusst oder unbewusst ständig damit beschäftigt, uns auf unterschiedlichen Ebenen zu orientieren bzw. die eigene Orientierung zu suchen. Die Grundfragen dabei sind, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen wollen, wie wir unseren Weg fortsetzen können. Dies gilt im konkreten räumlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn für alle anderen Orientierungsprozesse. Diese Fragen stellen sich, wenn wir unsere eigene Bewegung bei jeder alltäglichen Aktivität an den Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie orientieren. Sie stellen sich ebenso, wenn wir unser eigenes Verhalten an äußeren räumlichen Gegebenheiten orientieren, am Fortschreiten der Zeit, an den „Spielregeln“ einer bestimmten Situation (situative Orientierung), an unseren eigenen Lebenserfahrungen oder an der Beziehung, die wir zu anderen Personen haben (Orientierung zur Person). Durch diese Orientierungsprozesse bzw. durch die fortlaufende Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Orientierung entsteht gewissermaßen eine kontinuierliche innere Spur. Sie erlaubt uns, unser Leben in unserem Umfeld stimmig und passend zu gestalten. Wenn diese innere Einheitlichkeit und Kontinuität unüberbrückbare Unterbrechungen oder Lücken aufzuweisen beginnt, wird dies schwierig. Dann sind wir damit konfrontiert, unsere Orientierung immer wieder in der aktuellen Situation suchen zu müssen. ''<br />
:'' Unabdingbare Voraussetzung aller Orientierungsprozesse ist, dass wir uns selbst in unserer Umgebung wahrnehmen können (…). Nur dadurch sind wir dazu imstande, unser Verhalten an unseren Bewegungsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgebung, an unserer aktuellen Befindlichkeit, aber auch an unserer persönlichen Erfahrungs- und Lerngeschichte zu orientieren. Diese innere körperliche Orientierung hängt eng mit der Orientierung an äußeren Umständen und Prozessen wie an der Beschaffenheit des Raumes, der Tageszeit oder am Verhalten anderer Menschen zusammen.''<br />
:'' '''Ebenen des menschlichen Orientierungsvermögens <br><br>Die innere körperliche Orientierung''' ''<br />
:''“Aus der Perspektive der Kinästhetik besteht die grundlegende Ebene des menschlichen Orientierungsvermögens darin, dass wir unsere eigene Bewegung bzw. unser ganzes Verhalten an bestimmten Gegebenheiten unseres eigenen Körpers orientieren. Diese Gegebenheiten sind die Eigenschaften und Funktionen unserer Anatomie. Es geht um die Frage, wie wir– als verkörperte Wesen in dieser Welt – uns in unserem Körper bzw. in uns selbst zurechtfinden. Diese innere körperliche Orientierungsfähigkeit ist im allgemeinen Bewusstsein weniger verankert, hat aber für die alltägliche Lebensqualität des einzelnen Menschen eine grundlegende Bedeutung. Bewusst oder unbewusst sind wir bei der Ausführung jeder alltäglichen Aktivität konstant damit beschäftigt, die richtige Richtung zu suchen, in der wir unsere Körperteile bewegen können. Die innere körperliche Orientierung entsteht dadurch, dass wir unsere Bewegung fortlaufend an passenden eigenen Bewegungsmöglichkeiten in der Schwerkraft der Erde ausrichten. Die Grundlage für die Orientierung im eigenen Körper ist die Bewegungswahrnehmung bzw. das zirkuläre Zusammenspiel von Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Nervensystem. Die körperliche Orientierung beschränkt sich somit nicht auf die motorische „Mechanik“, sondern ist ein ganzheitliches, den ganzen Menschen einbeziehendes Phänomen. Sich an den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers zu orientieren, erfordert allerdings im Vergleich mit anderen Ebenen der Orientierung in geringerem Maß kognitive Leistungen bzw. ein bewusstes Erinnerungsvermögen. Bei der Orientierung im eigenen Körper wird besonders deutlich, dass jede Art der Orientierung immer vom einzelnen Menschen geleistet werden muss und von seinen individuellen Möglichkeiten im aktuellen Moment abhängig ist. Man kann einen Menschen bei der Orientierungssuche unterstützen, aber man kann niemandem Orientierung geben. Er muss sie in sich selbst finden."''<br />
<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 12-13.<br />
<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Kapitel ''„''Teil 3: Bewegungskompetenz und lebenslange Orientierungssuche". Die vorhergehenden Absätze beleuchten das Thema Bewegungsmuster, hier wird die Bedeutung der Bewegungsmuster für Orientierung beschrieben.<br />
:''“Bedeutung für Menschen mit Demenz: Die Bewegungskompetenz von Menschen mit Demenz entwickelt sich sehr unterschiedlich und individuell. Häufig ist beobachtbar, dass ihre Bewegungsmuster gleichförmiger werden. Ihre Bewegungen werden steifer, anstrengender oder unkontrollierter. Diese Entwicklung führt zunehmend zu weniger Möglichkeiten und Fähigkeiten wie auch zu einer weniger differenzierten Wahrnehmung des eigenen Körpers. Sich ständig wiederholende Abläufe mit wenig Variation tragen dazu bei, dass die Vielfalt der Bewegungsmöglichkeiten verloren geht. Damit einher geht die Abnahme der inneren körperlichen Orientierung. Grundsätzlich ist von entscheidender Bedeutung, dass Menschen mit Demenz bis zuletzt ihre Bewegungskompetenz in Richtung von mehr oder weniger Differenziertheit und Möglichkeiten weiterentwickeln. Diesbezüglich bleibt ihre Lernfähigkeit erhalten. Allerdings sind sie auf passende Unterstützungs- oder Lernangebote angewiesen, um ihre Bewegungskompetenz bis zum Lebensende in die Richtung von mehr Möglichkeiten und Differenziertheit in ihrer aktuellen Situation zu entwickeln.<br> Für das fortlaufende Suchen ihrer Orientierung ist es von hoher Bedeutung, in welcher Qualität sie (Menschen mit Demenz AdR) ihre Bewegung wahrnehmen, gestalten und sich so in sich selbst orientieren kann. Nach dieser Grundhaltung geht es darum, dass jede Unterstützung einer Person mit Demenz als ein Lernangebot verstanden und gestaltet wird. Wenn Menschen mit Demenz in ihren alltäglichen Aktivitäten eine für sie im Moment passende Unterstützung erhalten, können sie lernen, ihre Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen und an ihre aktuelle Situation anzupassen. Hier liegt ein großes Potenzial dafür vor, dass sie bis zuletzt erfolgreich ihre innere körperliche Orientierung suchen."<br />
<br />
Aus demselben Kapitel ist der folgende Text zitiert: <br />
<br />
: ''„'''Herkömmliche Unterteilungen des menschlichen Orientierungsvermögens'''''<br />
: ''Es ist gängig, das Orientierungsvermögen des Menschen zu unterteilen, um es differenzierter zu beschreiben oder auch in Pflegedokumentationen festzuhalten. Dabei sind die folgenden Begrifflichkeiten allgemein gebräuchlich:<br />
:*''Räumliche oder örtliche Orientierung''<br />
:*''Zeitliche Orientierung ''<br />
:*''Orientierung zur eigenen Person und zum persönlichen Beziehungsnetz (auch als soziale Orientierung bezeichnet)''<br />
:*''Situative Orientierung: Das angemessene Ausrichten des eigenen Verhaltens an einer bestimmten Situation''<br><br />
<br />
:<br />
:''Diese Unterteilung macht deutlich, dass Orientierung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, aber auch ein sehr komplexes Phänomen ist. Mit ein Grund ist, dass die Aspekte, die durch diese Unterteilung unterschiedenen werden, sich im alltäglichen Leben überschneiden und kombinieren. Die herkömmlichen Unterteilungen des Orientierungsvermögens vernachlässigen oft die innere körperliche Orientierung als grundlegenden Aspekt. In der Kinästhetik wird von der Annahme ausgegangen, dass die Qualität der körperlichen Orientierung einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich ein Mensch am Raum, an der Zeit usw. orientieren kann." ''<br />
<br />
Quelle: ''' European Kinaesthetics Association (Hg.) (2021) ''': Aufbaumodul Demenz 3: Die eigene Orientieruung suchen. Arbeitsunterlagen. Unter Mitarbeit von Franziska Gysin, Christine Grasberger, Brigitte Marty-Teuber, Stefan Marty-Teuber, Sabine Siemann, Erich Weidmann. Linz (AT), Winterthur(CH): Verlag European Kinaesthetics Association. S. 12-14.<br />
<br />
==Orientierung in „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“==<br />
===Einleitung===<br />
In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik aus dem Jahr 1990 finden sich die ersten Beschreibungen von Prinzipien, die heute Konzepte genannt werden. Der Vergleich dieser Schrift mit dem heutigen Verständnis zeigt sehr deutlich die inhaltliche Entwicklung der Kinästhetik. Prinzipien, Kontexte, Anwendungsbereiche und Übungen werden innerhalb der einzelnen Texte direkt in Verbindung miteinander gebracht. <br />
<br />
===Relevante Zitate===<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kinästhetik-Bulletin-Nr-16“. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist Teil des Textes der Einführung des gesamten Beitrags von Suzanne Schmidt. <br />
<br />
:''„4. Grundprinzipien ''<br />
:''Die Prinzipien, welche wir in der Kinästhetik benützen, sollen in einem bestimmten Sinn verstanden und angewandt werden, nämlich als eine Art "Werkzeug", um Menschen zu helfen, Beziehungsmuster zu entdecken und bewusst zu erleben. Das Bewegen, das Lernen und selbst das In-Beziehung-Treten mit andern Menschen wird dadurch leichter, effektiver und klarer. [...]“''<br />
<br />
Das zweite Zitat ist ebenso in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet und ist Teil des ersten Unterkapitels „Wahrnehmung“.<br />
:''„4.1. Wahrnehmung''<br />
:''Wir sind mit verschiedenen Sinnen ausgerüstet, die uns alle auf ihre besondere Art Reize über die belebte und die unbelebte Umwelt vermitteln: Augen, Ohren, Nase, Geschmacksknospen und die Haut. Wir nehmen die sensorischen Reize auf, in dem wir sie in Bewegung umsetzen. Unter Bewegung verstehen wir die Ortsveränderung in einer gewissen Zeiteinheit (Veränderung der Rezeptoren in Bezug auf Umgebung und Veränderung der Umgebung in Bezug auf die Rezeptoren). Erst durch Bewegung können wir einen Reiz vom andern unterscheiden, Reize auswählen und Reize erzeugen. Es ist nicht so, dass die Reize in uns hineinfallen und passiv von uns aufgenommen werden.''<br />
:''Das Sinnessystem, durch welches wir uns von innen wahrnehmen können, ist der kinästhetische Sinn. Es nimmt insofern einen besonderen Platz innerhalb aller Sinnessysteme ein, als es das einzige ist, ohne das wir nicht leben könnten. Es gibt uns das Gefühl, für unser eigenes Selbst und integriert alle sensorischen Funktionen.“''<br />
<br />
Auch das dritte Zitat ist in das vierte Kapitel „Grundprinzipien“ eingebettet. Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Orientierung im Körper“ einschließlich der beschriebenen Übung „Wasch-Ritual“.<br />
:''„4.2. Orientierung im Körper''<br />
:''Orientierung hat viel zu tun mit Kontext. Unser Verhalten, und wie wir ein Erlebnis einordnen, ist abhängig von unserem Verständnis von Orientierung bei irgendeiner Aktivität. Unsere Orientierung bildet gewissermassen einen Rahmen (eben den Kontext) für unser Erleben. Sie beeinflusst, worauf wir achten mit unseren Sinnen, welchen Sinn wir dem Erlebten geben und wie wir darauf antworten.<br>Die gängige Orientierung des Menschen in unserer Kultur bezieht sich auf die Umgebung. Zum Beispiel: Erde, Fussboden sind unten - Himmel, Zimmerdecke oben. Das bedeutet, dass wenn wir eine Position verändern, wir uns danach richten. Oft entspricht dies nicht der Struktur unseres Körpers und führt zu grosser Anstrengung. Steht hingegen der eigene Körper bzw. die. menschliche Bewegung im Zentrum der Orientierung anstelle der Umgebung, können wir uns mit mehr Leichtigkeit und Grazie bewegen. Hier ein Beispiel: Wenn wir von einem Stuhl aufstehen, geht unsere Anstrengung zur Zimmerdecke hoch. Wir bewegen uns in einer geraden Linie, was nicht der menschlichen Bewegungsart entspricht. Versuchen wir hingegen, unser Gewicht über die Füsse zu bringen, was unserer Körperstrukturierung entspricht (wir stehen von unten nach oben), wird unsere Anstrengung, ins Stehen zu kommen, wesentlich kleiner.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-stehend.png|250px|zentriert]]<br />
:''Oben im Körper bedeutet der oberste Punkt unseres Körpers auf dem Scheitel - unten demnach der am weitesten entfernte Punkt am anderen Ende: Spitze der Grosszehe oder zweiten, evtl. dritten Zehe. Vorne ist immer dort wo die Vorderseite des Körpers ist, hinten dort wo die Hinterseite des Körpers ist, egal in welcher Position wir sind.''<br />
[[Datei:Bulletin-1990-Orientierung-liegend.png|400px|zentriert]]<br />
:''Die Unterscheidung vorne - hinten ist bestimmt durch die Muskelfunktion. ''<br />
:''Die vorne liegende Muskulatur umfasst alle Beugemuskeln. Sie übernehmen die Aufgabe der Anpassung an die Umwelt. Zudem ist die Vorderseite weicher, offener, verletzlicher, differenzierter. Mit ihr treffen wir die Aussenwelt (z.B. mit Handflächen oder Fusssohlen).<br>Zur hinten liegenden Muskulatur gehören alle Streckmuskeln. Sie sind verantwortlich für Stabilität und Gleichgewicht. Die Hinterseite ist runder, abgeschlossener, härter, geschützter und trägt das Gewicht.<br>Im Kopf und Rumpf ist dieses Muster leicht zu erkennen. In den Extremitäten allerdings verläuft diese Trennung zwischen vorne und hinten in einem Spiralmuster. Dies ist prägend für die Art und Weise wie wir unsere Arme und Beine benützen können.''<br />
:''Übung: Wasch - Ritual ''<br />
:''Setze dich an einen bequemen Ort. Hit deiner rechten Handfläche fährst du von der Gesichtsmitte über die linke Gesichtshälfte nach hinten oben zum Scheitel und dann nach unten über die linke Hinterhauptshälfte, dem Hals entlang bis auf die Schulter. Du kannst diese Streichung mehrmals wiederholen und dabei abwechslend deine Wahrnehmung auf das Gesicht, den Kopf, den Hals richten oder auf die Handfläche. Dann lege eine kurze Pause ein, um den Unterschied zwischen linker und rechter Kopfseite wahrzunehmen. Du spürst vielleicht Wärme, Lebendigkeit, Entspannung usw. auf der linken Seite.<br>Als nächsten Schritt fahre mit deiner rechten Handfläche von der linken Schulter über die Aussenseite (Hinterseite) des Oberarms, des Unterarms, über den Handrücken und über die linke Handfläche, Innenseite (Vorderseite) des Unterarms, Oberarms bis zu Achselhöhle. Auch diese Streichung kannst du mehrmals wiederholen mit wechselnder Aufmerksamkeit wie oben beschrieben und anschliessender Pause zum vergleichenden Wahrnehmen.<br>In einer nächsten Etappe fahre mit beiden Handflächen unter der linken Achselhöhle nach hinten zum linken Schulterblatt, fahre über deine linke Rückenhälfte nach unten, über deine linke Gesässbacke, die Aussenseite (Hinterseite) des linken Oberschenkels, das Knie, Schienbein, den Fussrücken (alles Hinterseite des Beines) zu den Zehenspitzen. Wiederhole, variiere in deiner Wahrnehmung und mache eine Pause zum Vergleichen.<br>Dann fahre mit deinen Handflächen über die linke Fussohle, Wade, Innenseite (Vorderseite) des Oberschenkels, über die linke Rumpfseite, Hals bis zum Gesicht.<br>Dann lege dich flach auf den Boden und nimm den Unterschied zwischen deiner linken und rechten Körperhälfte wahr.<br>Anschliessend gehe durch das gleiche Ritual auf der rechten Körperseite, mit der linken Hand beginnend. Diese Streichungen entsprechen gleichzeitig dem Verlauf der Muskulatur, wirken organisierend und klärend.''<br />
:''Rechts und links beziehen wir interessanterweise immer auf unseren Körper, sofern wir keinen anderen Bezugspunkt nennen. Wie, d.h. an was wir uns orientieren, ist besonders wichtig, wenn wir uns mit anderen Menschen bewegen wollen und dabei unsere Positionen im Raum verändern.<br>Wir nehmen uns selber wahr durch die Bewegung. Alles was wir erleben, erleben wir durch den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegung und der Bewegung ausserhalb von uns (lebendige wie auch nicht lebendige Umgebung). Wenn wir uns bewegen, indem wir uns im Körper orientieren - wo oben immer oben, vorne immer vorne bleibt usw. - erleben wir die Bewegung als etwas Klares, Einfaches. Wir erfahren unsere Person als klar abgegrenzt von der Umgebung. Dies wirkt sich auch auf unsere Fähigkeit aus, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.“''<br />
<br />
Das vierte Zitat ist in das fünfte Kapitel „Anwendungen“ eingebettet. Das vorausgehende Unterkapitel beleuchtet das Thema „Kinästhetik in der Rehabilitation“.Das Zitat ist der Text des zweiten Unterkapitels „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ und beleuchtet das Thema Kinästhetik und Lernen. <br />
<br />
:''„2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten? ''<br />
:''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium.<br>[...]<br>''<br />
:''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern.<br>So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird.<br>Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br>Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.<br>Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.<br>(Ayres, A.J. 1984, S.66)“''<br />
<br />
Das fünfte Zitat ist ebenso eingebettet in das fünfte Kapitel „Anwendungen“. Die vorausgehenden Unterkapitel beleuchten die Themen Kinästhetik in der Rehabilitation“ und „Kinästhetik in der Sonderpädagogik“. Das Zitat ist der Text des dritten Unterkapitels „Kinästhetik in der Krankenpflege“.<br />
<br />
:''„5.3. KINÄSTHETIK IN DER KRANKENPFLEGE ''<br />
:''[...]''<br />
:''Orientierung im eigenen Körper:''<br />
:''Wenn ein Mensch sich bewegt oder bewegt wird, indem die Richtung auf - ab, vorwärts - rückwärts, links - rechts auf seinen eigenen Körper bezogen, eingehalten wird, geschieht die Bewegung mühelos.<br>Besonders wichtig wird dieses Prinzip, wenn wir am Bett stehend gemeinsam mit dem liegenden Patienten etwas unternehmen wollen, denn sein Verhältnis zu "oben" im Raum ist nicht dasselbe wie unseres. ''<br />
:''Information statt Anstrengung ''<br />
:''Die Kenntnis der Anatomie und der Bewegungsabläufe erleichtert das Umlagern und Bewegen eines Patienten so sehr, dass der/die Pflegende den Patienten mit minimaler Anstrengung umlagern und bewegen kann: Wenn ich weiss, dass und wie mein Patient sich drehen kann, ist es mir möglich, ihn aus der Badewanne zu "führen", obwohl er sich vielleicht wegen seiner Fettleibigkeit ' nicht genügend vornüber beugen kann, um auf die Füsse zu kommen. Ich folge und entspreche seinen Möglichkeiten und führe ihn weiter, weil ich weiss, was möglich ist - so kommen wir gemeinsam zum Ziel. Das Gewicht läuft immer durch die Knochen des Patienten, ich zeige ihm mit meinen Händen die Richtung der Bewegung. Besonders wichtig ist dabei, dass ich den Patienten an seinen Massen führe. Nur so können seine Körperteile einander folgen.<br>Es ist verblüffend zu erfahren, wie leicht sich ein Patient drehen lässt, wenn ich weiss, wo ich ihn anfassen und in welche Richtung ich ziehen muss.<br>Eine wesentliche Hilfe für die Krankenpflege bietet die Einsicht, dass menschliche Fortbewegung, egal auf welcher Ebene, immer durch Gehen in Schritten stattfindet. Das heisst für die pflegende Person, dass jede Lageveränderung in kleinen Schritten geschehen kann, verbunden mit Gewichtsverlagerung. ''<br />
:''Kommunikation durch Berührung ''<br />
:''Die Sprache der Berührung versteht der Mensch zwanzigmal schneller, als Information, die durch einen anderen Sinn aufgenommen wird. Klare, bewusste Berührung ist eine sehr wirksame Art der Kommunikation und ist auch bei geistig reduzierten und schwerhörigen Patienten anwendbar. Verwirrte Patienten können zu mehr Klarheit finden durch Berührung als einziges Kommunikationsmittel.''<br />
:''Umgebung verändern - Hindernisse wegräumen ''<br />
:''Ich versuche immer, die Umgebung dem Patienten anzupassen. Beispielsweise räume ich alle möglichen Hindernisse aus dem Weg (Kissen, Möbel usw.) oder ordne sie so an, dass sie uns für unser Vorhaben dienen.<br>Das heisst auch, dass ich Kissen und Tücher benütze, um das Bett den Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br>Mit diesem Konzept ist es auch möglich, Verspannungen des Patienten zu lösen und Schmerzen zu vermeiden.“''<br />
<br />
Quelle: ''' Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Ohne ISBN. Nachdruck 2009. S. 12, 15-17, 38-39, 47-48.<br />
<br />
===Anmerkungen===<br />
Im vierten Zitat wird eine der Bedeutungen des Themas beschrieben. Es besteht eine inhaltliche Verbindung, auch wenn der Begriff Orientierung nicht explizit erwähnt wird.<br />
<br />
[[Kategorie: Konzeptsystem]]<br />
<br />
== Ausgewählte weiterführende Literatur==<br />
*'''Asmussen-Clausen, Maren (2009):''' Praxisbuch Kinaesthetics. Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-27570-8. S. 38 ff S. 130, S. 148, S. 175. S.40 und 46<br />
*'''Hatch, Frank; Maietta, Lenny (2003):''' Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. Übersetzung: Ute Villwock, Elisabeth Brock. 2., komplett überarbeitete Auflage. München, Jena: Urban und Fischer. ISBN 978-3-437-31467-4. S. 46 ff, S. 106, S. 134.<br />
*'''Maietta, Lenny; Hatch, Frank (2011):''' Kinaesthetics Infant Handling. Originalmanuskript aus dem Amerikanischen von Ute Villwock. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Bern [u. a.]: Hans Huber. ISBN 978-3-456-84987-4. S. 93 ff.<br />
<br />
==Kommentare, Auswertung und offene Fragen==<br />
Aus unserer Sicht scheint die Unterscheidung zwischen der Orientierung nach Innen (im Körper) und Orientierung nach Außen (im Raum) im Zusammenhang mit Bewegung im Kontext des Fachgebiets Kinästhetik von grundlegender Bedeutung. <br />
<br />
Dabei geht es um Fragen wie: Woran orientiere ich mich? Woran richte ich mich aus? Woran kann ich etwas messen? Womit kann ich vergleichen? Womit kann ich abgleichen? Wie kann ich die Gewichtsverlagerung in mir differenziert wahrnehmen? Wie erfahre ich die möglichen Richtungen? Kann ich merken, wann ich die Richtung ändern kann? Wie oft braucht es eine Richtungsänderung? etc.</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Erfahren_(Begriff)&diff=4698
Erfahren (Begriff)
2023-09-20T16:56:52Z
<p>Dagmar Panzer: /* Erfahren/Erfahrung in der Zeitschrift „lebensqualität“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Erfahren/ Erfahrung. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität “<br />
<br />
== Erfahren/Erfahrung in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Erfahren: Von der Piratin zur Expertin“ überschrieben.<br />
<br />
: '''''„Die eigene Bewegung bewusst und unmittelbar zu erfahren, ist in Kinaesthetics Grundlage und Ausgangspunkt des Lernens. Stefan Marty- Teuber geht der Herkunft des Wortes „erfahren“ nach und stößt auf einen wissenschaftlich kaum problematischen Blumenstrauß von Furten, Pforten und Poren, experimentellen ExpertInnen und empirischen PiratInnen.'''''<br />
<br />
: ''<big><big>‚erfahren/Erfahrung‘ heute.</big></big> Es scheint mir wichtig, an erster Stelle die aktuelle Verwendung von ‚erfahren/Erfahrung‘ zu klären. Am häufigsten verwendet die deutsche Sprache nämlich das Verb in der Bedeutung ‚Kenntnis erhalten, mitgeteilt/ zu wissen bekommen‘, und zwar besonders im Zusammenhang mit wichtigen Neuigkeiten (vgl. ‚ich habe es aus der Presse erfahren‘). Am zweithäufigsten und eher in gehobener Sprache tritt ‚erfahren‘ im Sinne von ‚an sich selbst erleben, zu spüren bekommen‘ auf. An diese Zweitbedeutung schließen in Kinaesthetics die Ausdrücke ‚die eigene Bewegung erfahren/[[Bewegungserfahrung]]‘ an. Natürlich ist das eine treffende, aber nicht allgemein gängige Kombination. Im Alltag der deutschen Sprache finden sich häufiger Fügungen wie ‚Glück/Unglück, Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit, Freude/Leid erfahren; gute und schlechte Erfahrungen‘ u. Ä. Und schließlich gibt es eine abgeschwächte Bedeutung ‚eine Veränderung mitmachen‘. So können zum Beispiel PatientInnen eine Behandlung, Bücher eine Überarbeitung und Umsätze eine Steigerung erfahren. Bemerkenswert ist, dass das Substantiv ‚Erfahrung‘, sowohl das unmittelbare Erleben (vgl. ‚das war eine bittere Erfahrung‘) als auch – nur in einem positiven Sinn – die Routine, Kenntnis oder Kompetenz bezeichnet, die man durch das vielfache Er- und Durchleben einer Sache gewonnen hat (vgl. ‚sie verfügt über viel Erfahrung, wir müssen uns ihre Erfahrung zunutze machen‘). Hier verbindet sich das (wiederholte) unmittelbare Erleben und Tun ganz eng mit der Idee des Lernens und Kompetenzgewinns. Ganz entsprechend bezeichnet das Adjektiv ‚erfahren‘ kundige, versierte und in ihrem Gebiet bewanderte Personen. Aber mit diesen Feststellungen sind wir schon mitten in der Herkunft des Wortes angelangt.''<br />
<br />
: ''<big><big>Sich fortbewegen.</big></big> Das in allen germanischen Sprachen existierende Verb ‚fahren‘ (zum Beispiel althochdeutsch faran, englisch to fare, schwedisch fara) bezeichnete ursprünglich jede Art von Fortbewegung wie gehen, reiten oder mit einem Wagen fahren. Wie immer im Herbst sind hier in der Schweiz vor kurzem die SennInnen mit dem Vieh von ihren Alpen gefahren (sogenannte Alpabfahrt, aber nicht etwa mit Fahrzeugen, sondern zu Fuß). Hierin und in anderen Ausdrücken – zum Beispiel im Blitz, der vom Himmel fährt – zeigt sich noch heute die ursprüngliche sehr breite Bedeutung von ‚fahren‘. Das zusammengesetzte Verb ‚er-fahren‘geht auf althochdeutsch irfaran zurück. Dessen Kernbedeutung kann mit ‚sich vom Anfang bis zum Schluss durch ein Gebiet fortbewegen‘ umschrieben werden. Es liegt auf der Hand, dass, wer aufmerksam durch eine Gegend dringt, am Schluss die Wege und Irrwege kennt und im wahrsten Sinn des Wortes bewandert ist (wenn er zu Fuß unterwegs war). Schon früh wurde offenbar diese ursprüngliche geografisch-räumliche Bedeutung des Verbs irfaran auf andere Kontexte übertragen, die der heutigen Verwendung von ‚erfahren‘ entsprechen; so ist ab dem 15. Jahrhundert auch das Adjektiv ‚erfahren‘ im Sinne von ‚bewandert, kundig, kompetent‘ belegt.''<br />
<br />
: ''<big><big>Back to the root.</big></big> Die Wurzel, auf die ‚fahren‘ zurückgeht, wird im Rahmen der Indogermanistik in der Form *per- rekonstruiert. Ihr Bedeutungsspektrum wird meistens mit einer Reihe von Verben angegeben, aber wenn ich mir all ihre Belege in den verschiedenen Sprachen zurechtlege, war die Grundbedeutung dieses Verbs sozusagen ‚hindurchen, hinübern‘. Mit dieser Behelfsübersetzung kann ich die drei Grundfunktionen von *per- verdeutlichen: Erstens, dass man selbst ‚hindurcht‘, d. h. sich durch etwas hindurchbewegt, zweitens, dass man etwas mit etwas ‚hindurcht‘ d. h. etwas durchbohrt oder durchsticht, und drittens, dass man etwas oder jemanden ‚hindurcht‘, nämlich hinüberbringt oder hinüberschickt. Hier schließt sich wunderbar das griechische Verb peíro ‚durchbohren, -stechen, -dringen‘ an. Mit ihm gelangen wir zu verschiedensten, heute noch gebräuchlichen ‚Durchgängen‘: Eine Ableitung, die im Wort ‚die Pore‘ weiterlebt, ist póros ‚Durchgang, Furt, Weg‘. Sie kennen sie vielleicht von der geografischen Bezeichnung ‚Bosporus‘, was nichts anderes als Ochsenfurt oder Oxford heißt. Zur gleichen Sippe wie ‚póros‘, ‚Furt‘ oder auch ‚Fjord‘ gehören die lateinischen Wörter porta ‚Tür‘, das in ‚Pforte‘ weiterlebt, portus ‚Hafen‘ als sicherer Durchgang zwischen Land und Wasser (vgl. englisch airport, italienisch il porto) und zu guter Letzt portare ‚tragen, bringen‘, das Sie aus trans-, exportieren usw. kennen.''<br />
<br />
: ''<big><big>Experimentelle ExpertInnen.</big></big> Das Lateinische besitzt aber auch ein Verb, das sich direkt von der indo-europäischen Wurzel *per- ableitet. Es ist experíri ‚erproben, versuchen, prüfen, an sich erfahren, kennenlernen usw. ‘. Es ist mit ‚ex-“ zusammengesetzt, einer inhaltlichen – nicht etymologischen – Entsprechung des ‚er-‘ im Wort erfahren. Das einfache Verb (*períri) existiert nicht; einzig ein Adjektiv perítus ‚erfahren, bewandert, sachverständig‘ ist gleichermaßen seit Beginn des Lateins belegt. Später etablierte sich im klassischen Latein dessen Partizip expértus im Sinn von ‚erfahen, kundig, erprobt‘, woher sich unser Fremdwort ‚ExpertIn‘ (Sachverständige) herleitet, und die Substantive expérientia ‚Versuch, Erfahrung‘ und experiméntum ‚Versuch, Probe‘: Ersteres lebt in englisch ‚the experience“ und in den meisten romanischen Sprachen weiter (franz. expérience, span. experiencia, ital. esperienza), letzteres in ‚Experiment‘ oder ‚experimentell‘, welche Wörter ab dem 17. Jahrhundert zur Bezeichnung von wissenschaftlichen Versuchen oder gewagten Unternehmungen ins Deutsche eindrangen.''<br />
<br />
: ''<big><big>Gefahr durch Piraterie!</big></big> Spätestens jetzt muss ich auf eine Linie hinweisen, die quer durch die Sprachen hindurchführt: ‚Hindurchen‘, d. h. intensiv durch eine Erfahrung zu gehen, ist oft auch mit einem Risiko verbunden. Dies wird im Lateinischen durch das von *per- herrührende Substantiv perículum belegt (vgl. englisch the peril, span. el peligro, französisch le péril), das ‚Gefahr‘, und zwar sowohl den gefährdeten Zustand als auch das gefahrvolle Wagnis, den riskanten Versuch bedeutet. Innerhalb des Germanischen geht das ebenso auf *per- zurückzuführende Wort ‚Gefahr‘ auf mittel- hochdeutsch gevare ‚Nachstellung, Hinterhalt; Betrug‘ zurück. Im Mittelniederdeutschen hieß vare ‚Gefahr; Furcht‘, woran sich englisch the fear anschließt. Vor diesem Hintergrund möchte ich Ihnen ein zweites, von unserer Wurzel abgeleitetes griechisches Verb nicht länger vorenthalten, das eine auffällige, jetzt aber wohl besser verständliche Blüte getrieben hat. Es ist peiráo, das in der Wortbildung genau, in den Bedeutungen hochgradig dem lateinischen Verb experíri entspricht. Wie expertus bedeutet das zugehörige Adjektiv émpeiros ‚erfahren, sachverständig‘ und begann als ‚empirisch‘ ab dem 18./19. Jahrhundert im Deutschen seine Karriere zur Bezeichnung von Dingen, die auf Erfahrung im Sinn von Beobachtung beruhen. Nun kann grundsätzlich zu jedem Verb (zum Beispiel leuchten) ein Wort, das den Täter bezeichnet (Leuchter), gebildet werden. Nach diesem Muster erblühte ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. bis heute aus peiráo das Wort peirátes, das diejenigen Leute bezeichnete, die nicht nur die gefahrvollen Meere, sondern auch – selbst eine Gefahr – die Grenze des persönlichen Eigentums durchdrangen. Die PiratInnen (schon in der Antike waren Frauen vertreten) galten im griechischen Raum sozusagen als ‚ErfahrerInnen par excellence‘, allerdings mit einem negativen Beigeschmack.''<br />
<br />
: ''<big><big>Erfahrung heißt gar nichts?</big></big> Bei meinen Nachforschungen zur Herkunft von ‚erfahren‘ begann mich schon bald eine bohrende Frage im Hinterkopf zu beschäftigen: Wird man durch Erfahrung sozusagen automatisch sachkundig? Aus sprachlicher Sicht müsste ich die Frage bejahen. Wenn ich aber an meine Erfahrungen als Gymnasiallehrer zurückdenke, könnte ich auch fragen: Ist somit jede langjährige LehrerIn eine erfahrene, sprich kompetente LehrerIn? Ist nicht eher entscheidend, wie jede(r) mit seinen Erfahrungen umgeht, ob man sie überprüft und sich verbessern will oder ob man blind in die immer gleichen Erfahrungen hineinrasselt? Der Schriftsteller Kurt Tucholsky (1890–1935) soll dazu gesagt haben: ‚Erfahrung heißt gar nichts. Man kann seine Sache auch 35 Jahre schlecht machen.‘ Eine Kehrseite meiner Fragestellung – mit der ich Sie aus dieser Leseerfahrung entlassen möchte – beleuchtet der französisch-rumänische Dramatiker Eugène Ionesco (1909–1994): ‚Wir glauben, Erfahrungen zu machen. Aber die Erfahrungen machen uns‘.“ ''<br />
<br />
Quelle: '''Marty-Teuber, Stefan (2012):''' Erfahren: Von der Piratin zur Expertin. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2012, Nr. 4. S. 34–35.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[Bewegungserfahrung]]<br />
* [[1.-Person-Methode]]<br />
<br />
[[Kategorie:Lernen]]</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Erfahren_(Begriff)&diff=4697
Erfahren (Begriff)
2023-09-20T16:56:00Z
<p>Dagmar Panzer: /* Erfahren/Erfahrung in der Zeitschrift „lebensqualität“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Erfahren/ Erfahrung. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität “<br />
<br />
== Erfahren/Erfahrung in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Erfahren: Von der Piratin zur Expertin“ überschrieben.<br />
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: '''''„Die eigene Bewegung bewusst und unmittelbar zu erfahren, ist in Kinaesthetics Grundlage und Ausgangspunkt des Lernens. Stefan Marty- Teuber geht der Herkunft des Wortes „erfahren“ nach und stößt auf einen wissenschaftlich kaum problematischen Blumenstrauß von Furten, Pforten und Poren, experimentellen ExpertInnen und empirischen PiratInnen.'''''<br />
<br />
: ''<big><big>‚erfahren/Erfahrung‘ heute.</big></big> Es scheint mir wichtig, an erster Stelle die aktuelle Verwendung von ‚erfahren/Erfahrung‘ zu klären. Am häufigsten verwendet die deutsche Sprache nämlich das Verb in der Bedeutung ‚Kenntnis erhalten, mitgeteilt/ zu wissen bekommen‘, und zwar besonders im Zusammenhang mit wichtigen Neuigkeiten (vgl. ‚ich habe es aus der Presse erfahren‘). Am zweithäufigsten und eher in gehobener Sprache tritt ‚erfahren‘ im Sinne von ‚an sich selbst erleben, zu spüren bekommen‘ auf. An diese Zweitbedeutung schließen in Kinaesthetics die Ausdrücke ‚die eigene Bewegung erfahren/Bewegungserfahrung‘ an. Natürlich ist das eine treffende, aber nicht allgemein gängige Kombination. Im Alltag der deutschen Sprache finden sich häufiger Fügungen wie ‚Glück/Unglück, Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit, Freude/Leid erfahren; gute und schlechte Erfahrungen‘ u. Ä. Und schließlich gibt es eine abgeschwächte Bedeutung ‚eine Veränderung mitmachen‘. So können zum Beispiel PatientInnen eine Behandlung, Bücher eine Überarbeitung und Umsätze eine Steigerung erfahren. Bemerkenswert ist, dass das Substantiv ‚Erfahrung‘, sowohl das unmittelbare Erleben (vgl. ‚das war eine bittere Erfahrung‘) als auch – nur in einem positiven Sinn – die Routine, Kenntnis oder Kompetenz bezeichnet, die man durch das vielfache Er- und Durchleben einer Sache gewonnen hat (vgl. ‚sie verfügt über viel Erfahrung, wir müssen uns ihre Erfahrung zunutze machen‘). Hier verbindet sich das (wiederholte) unmittelbare Erleben und Tun ganz eng mit der Idee des Lernens und Kompetenzgewinns. Ganz entsprechend bezeichnet das Adjektiv ‚erfahren‘ kundige, versierte und in ihrem Gebiet bewanderte Personen. Aber mit diesen Feststellungen sind wir schon mitten in der Herkunft des Wortes angelangt.''<br />
<br />
: ''<big><big>Sich fortbewegen.</big></big> Das in allen germanischen Sprachen existierende Verb ‚fahren‘ (zum Beispiel althochdeutsch faran, englisch to fare, schwedisch fara) bezeichnete ursprünglich jede Art von Fortbewegung wie gehen, reiten oder mit einem Wagen fahren. Wie immer im Herbst sind hier in der Schweiz vor kurzem die SennInnen mit dem Vieh von ihren Alpen gefahren (sogenannte Alpabfahrt, aber nicht etwa mit Fahrzeugen, sondern zu Fuß). Hierin und in anderen Ausdrücken – zum Beispiel im Blitz, der vom Himmel fährt – zeigt sich noch heute die ursprüngliche sehr breite Bedeutung von ‚fahren‘. Das zusammengesetzte Verb ‚er-fahren‘geht auf althochdeutsch irfaran zurück. Dessen Kernbedeutung kann mit ‚sich vom Anfang bis zum Schluss durch ein Gebiet fortbewegen‘ umschrieben werden. Es liegt auf der Hand, dass, wer aufmerksam durch eine Gegend dringt, am Schluss die Wege und Irrwege kennt und im wahrsten Sinn des Wortes bewandert ist (wenn er zu Fuß unterwegs war). Schon früh wurde offenbar diese ursprüngliche geografisch-räumliche Bedeutung des Verbs irfaran auf andere Kontexte übertragen, die der heutigen Verwendung von ‚erfahren‘ entsprechen; so ist ab dem 15. Jahrhundert auch das Adjektiv ‚erfahren‘ im Sinne von ‚bewandert, kundig, kompetent‘ belegt.''<br />
<br />
: ''<big><big>Back to the root.</big></big> Die Wurzel, auf die ‚fahren‘ zurückgeht, wird im Rahmen der Indogermanistik in der Form *per- rekonstruiert. Ihr Bedeutungsspektrum wird meistens mit einer Reihe von Verben angegeben, aber wenn ich mir all ihre Belege in den verschiedenen Sprachen zurechtlege, war die Grundbedeutung dieses Verbs sozusagen ‚hindurchen, hinübern‘. Mit dieser Behelfsübersetzung kann ich die drei Grundfunktionen von *per- verdeutlichen: Erstens, dass man selbst ‚hindurcht‘, d. h. sich durch etwas hindurchbewegt, zweitens, dass man etwas mit etwas ‚hindurcht‘ d. h. etwas durchbohrt oder durchsticht, und drittens, dass man etwas oder jemanden ‚hindurcht‘, nämlich hinüberbringt oder hinüberschickt. Hier schließt sich wunderbar das griechische Verb peíro ‚durchbohren, -stechen, -dringen‘ an. Mit ihm gelangen wir zu verschiedensten, heute noch gebräuchlichen ‚Durchgängen‘: Eine Ableitung, die im Wort ‚die Pore‘ weiterlebt, ist póros ‚Durchgang, Furt, Weg‘. Sie kennen sie vielleicht von der geografischen Bezeichnung ‚Bosporus‘, was nichts anderes als Ochsenfurt oder Oxford heißt. Zur gleichen Sippe wie ‚póros‘, ‚Furt‘ oder auch ‚Fjord‘ gehören die lateinischen Wörter porta ‚Tür‘, das in ‚Pforte‘ weiterlebt, portus ‚Hafen‘ als sicherer Durchgang zwischen Land und Wasser (vgl. englisch airport, italienisch il porto) und zu guter Letzt portare ‚tragen, bringen‘, das Sie aus trans-, exportieren usw. kennen.''<br />
<br />
: ''<big><big>Experimentelle ExpertInnen.</big></big> Das Lateinische besitzt aber auch ein Verb, das sich direkt von der indo-europäischen Wurzel *per- ableitet. Es ist experíri ‚erproben, versuchen, prüfen, an sich erfahren, kennenlernen usw. ‘. Es ist mit ‚ex-“ zusammengesetzt, einer inhaltlichen – nicht etymologischen – Entsprechung des ‚er-‘ im Wort erfahren. Das einfache Verb (*períri) existiert nicht; einzig ein Adjektiv perítus ‚erfahren, bewandert, sachverständig‘ ist gleichermaßen seit Beginn des Lateins belegt. Später etablierte sich im klassischen Latein dessen Partizip expértus im Sinn von ‚erfahen, kundig, erprobt‘, woher sich unser Fremdwort ‚ExpertIn‘ (Sachverständige) herleitet, und die Substantive expérientia ‚Versuch, Erfahrung‘ und experiméntum ‚Versuch, Probe‘: Ersteres lebt in englisch ‚the experience“ und in den meisten romanischen Sprachen weiter (franz. expérience, span. experiencia, ital. esperienza), letzteres in ‚Experiment‘ oder ‚experimentell‘, welche Wörter ab dem 17. Jahrhundert zur Bezeichnung von wissenschaftlichen Versuchen oder gewagten Unternehmungen ins Deutsche eindrangen.''<br />
<br />
: ''<big><big>Gefahr durch Piraterie!</big></big> Spätestens jetzt muss ich auf eine Linie hinweisen, die quer durch die Sprachen hindurchführt: ‚Hindurchen‘, d. h. intensiv durch eine Erfahrung zu gehen, ist oft auch mit einem Risiko verbunden. Dies wird im Lateinischen durch das von *per- herrührende Substantiv perículum belegt (vgl. englisch the peril, span. el peligro, französisch le péril), das ‚Gefahr‘, und zwar sowohl den gefährdeten Zustand als auch das gefahrvolle Wagnis, den riskanten Versuch bedeutet. Innerhalb des Germanischen geht das ebenso auf *per- zurückzuführende Wort ‚Gefahr‘ auf mittel- hochdeutsch gevare ‚Nachstellung, Hinterhalt; Betrug‘ zurück. Im Mittelniederdeutschen hieß vare ‚Gefahr; Furcht‘, woran sich englisch the fear anschließt. Vor diesem Hintergrund möchte ich Ihnen ein zweites, von unserer Wurzel abgeleitetes griechisches Verb nicht länger vorenthalten, das eine auffällige, jetzt aber wohl besser verständliche Blüte getrieben hat. Es ist peiráo, das in der Wortbildung genau, in den Bedeutungen hochgradig dem lateinischen Verb experíri entspricht. Wie expertus bedeutet das zugehörige Adjektiv émpeiros ‚erfahren, sachverständig‘ und begann als ‚empirisch‘ ab dem 18./19. Jahrhundert im Deutschen seine Karriere zur Bezeichnung von Dingen, die auf Erfahrung im Sinn von Beobachtung beruhen. Nun kann grundsätzlich zu jedem Verb (zum Beispiel leuchten) ein Wort, das den Täter bezeichnet (Leuchter), gebildet werden. Nach diesem Muster erblühte ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. bis heute aus peiráo das Wort peirátes, das diejenigen Leute bezeichnete, die nicht nur die gefahrvollen Meere, sondern auch – selbst eine Gefahr – die Grenze des persönlichen Eigentums durchdrangen. Die PiratInnen (schon in der Antike waren Frauen vertreten) galten im griechischen Raum sozusagen als ‚ErfahrerInnen par excellence‘, allerdings mit einem negativen Beigeschmack.''<br />
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: ''<big><big>Erfahrung heißt gar nichts?</big></big> Bei meinen Nachforschungen zur Herkunft von ‚erfahren‘ begann mich schon bald eine bohrende Frage im Hinterkopf zu beschäftigen: Wird man durch Erfahrung sozusagen automatisch sachkundig? Aus sprachlicher Sicht müsste ich die Frage bejahen. Wenn ich aber an meine Erfahrungen als Gymnasiallehrer zurückdenke, könnte ich auch fragen: Ist somit jede langjährige LehrerIn eine erfahrene, sprich kompetente LehrerIn? Ist nicht eher entscheidend, wie jede(r) mit seinen Erfahrungen umgeht, ob man sie überprüft und sich verbessern will oder ob man blind in die immer gleichen Erfahrungen hineinrasselt? Der Schriftsteller Kurt Tucholsky (1890–1935) soll dazu gesagt haben: ‚Erfahrung heißt gar nichts. Man kann seine Sache auch 35 Jahre schlecht machen.‘ Eine Kehrseite meiner Fragestellung – mit der ich Sie aus dieser Leseerfahrung entlassen möchte – beleuchtet der französisch-rumänische Dramatiker Eugène Ionesco (1909–1994): ‚Wir glauben, Erfahrungen zu machen. Aber die Erfahrungen machen uns‘.“ ''<br />
<br />
Quelle: '''Marty-Teuber, Stefan (2012):''' Erfahren: Von der Piratin zur Expertin. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2012, Nr. 4. S. 34–35.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[Bewegungserfahrung]]<br />
* [[1.-Person-Methode]]<br />
<br />
[[Kategorie:Lernen]]</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Erfahren_(Begriff)&diff=4696
Erfahren (Begriff)
2023-09-20T16:52:27Z
<p>Dagmar Panzer: /* Erfahren/Erfahrung in der Zeitschrift „lebensqualität“ */</p>
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<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Dagmar Panzer}}<br />
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''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Erfahren/ Erfahrung. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität “<br />
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== Erfahren/Erfahrung in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Erfahren: Von der Piratin zur Expertin“ überschrieben.<br />
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: '''''„Die eigene Bewegung bewusst und unmittelbar zu erfahren, ist in Kinaesthetics Grundlage und Ausgangspunkt des Lernens. Stefan Marty- Teuber geht der Herkunft des Wortes „erfahren“ nach und stößt auf einen wissenschaftlich kaum problematischen Blumenstrauß von Furten, Pforten und Poren, experimentellen ExpertInnen und empirischen PiratInnen.'''''<br />
<br />
: ''<big>‚erfahren/Erfahrung‘ heute.</big> Es scheint mir wichtig, an erster Stelle die aktuelle Verwendung von ‚erfahren/Erfahrung‘ zu klären. Am häufigsten verwendet die deutsche Sprache nämlich das Verb in der Bedeutung ‚Kenntnis erhalten, mitgeteilt/ zu wissen bekommen‘, und zwar besonders im Zusammenhang mit wichtigen Neuigkeiten (vgl. ‚ich habe es aus der Presse erfahren‘). Am zweithäufigsten und eher in gehobener Sprache tritt ‚erfahren‘ im Sinne von ‚an sich selbst erleben, zu spüren bekommen‘ auf. An diese Zweitbedeutung schließen in Kinaesthetics die Ausdrücke ‚die eigene Bewegung erfahren/Bewegungserfahrung‘ an. Natürlich ist das eine treffende, aber nicht allgemein gängige Kombination. Im Alltag der deutschen Sprache finden sich häufiger Fügungen wie ‚Glück/Unglück, Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit, Freude/Leid erfahren; gute und schlechte Erfahrungen‘ u. Ä. Und schließlich gibt es eine abgeschwächte Bedeutung ‚eine Veränderung mitmachen‘. So können zum Beispiel PatientInnen eine Behandlung, Bücher eine Überarbeitung und Umsätze eine Steigerung erfahren. Bemerkenswert ist, dass das Substantiv ‚Erfahrung‘, sowohl das unmittelbare Erleben (vgl. ‚das war eine bittere Erfahrung‘) als auch – nur in einem positiven Sinn – die Routine, Kenntnis oder Kompetenz bezeichnet, die man durch das vielfache Er- und Durchleben einer Sache gewonnen hat (vgl. ‚sie verfügt über viel Erfahrung, wir müssen uns ihre Erfahrung zunutze machen‘). Hier verbindet sich das (wiederholte) unmittelbare Erleben und Tun ganz eng mit der Idee des Lernens und Kompetenzgewinns. Ganz entsprechend bezeichnet das Adjektiv ‚erfahren‘ kundige, versierte und in ihrem Gebiet bewanderte Personen. Aber mit diesen Feststellungen sind wir schon mitten in der Herkunft des Wortes angelangt.''<br />
<br />
: ''<big>Sich fortbewegen.</big> Das in allen germanischen Sprachen existierende Verb ‚fahren‘ (zum Beispiel althochdeutsch faran, englisch to fare, schwedisch fara) bezeichnete ursprünglich jede Art von Fortbewegung wie gehen, reiten oder mit einem Wagen fahren. Wie immer im Herbst sind hier in der Schweiz vor kurzem die SennInnen mit dem Vieh von ihren Alpen gefahren (sogenannte Alpabfahrt, aber nicht etwa mit Fahrzeugen, sondern zu Fuß). Hierin und in anderen Ausdrücken – zum Beispiel im Blitz, der vom Himmel fährt – zeigt sich noch heute die ursprüngliche sehr breite Bedeutung von ‚fahren‘. Das zusammengesetzte Verb ‚er-fahren‘geht auf althochdeutsch irfaran zurück. Dessen Kernbedeutung kann mit ‚sich vom Anfang bis zum Schluss durch ein Gebiet fortbewegen‘ umschrieben werden. Es liegt auf der Hand, dass, wer aufmerksam durch eine Gegend dringt, am Schluss die Wege und Irrwege kennt und im wahrsten Sinn des Wortes bewandert ist (wenn er zu Fuß unterwegs war). Schon früh wurde offenbar diese ursprüngliche geografisch-räumliche Bedeutung des Verbs irfaran auf andere Kontexte übertragen, die der heutigen Verwendung von ‚erfahren‘ entsprechen; so ist ab dem 15. Jahrhundert auch das Adjektiv ‚erfahren‘ im Sinne von ‚bewandert, kundig, kompetent‘ belegt.''<br />
<br />
: ''<big>Back to the root.</big> Die Wurzel, auf die ‚fahren‘ zurückgeht, wird im Rahmen der Indogermanistik in der Form *per- rekonstruiert. Ihr Bedeutungsspektrum wird meistens mit einer Reihe von Verben angegeben, aber wenn ich mir all ihre Belege in den verschiedenen Sprachen zurechtlege, war die Grundbedeutung dieses Verbs sozusagen ‚hindurchen, hinübern‘. Mit dieser Behelfsübersetzung kann ich die drei Grundfunktionen von *per- verdeutlichen: Erstens, dass man selbst ‚hindurcht‘, d. h. sich durch etwas hindurchbewegt, zweitens, dass man etwas mit etwas ‚hindurcht‘ d. h. etwas durchbohrt oder durchsticht, und drittens, dass man etwas oder jemanden ‚hindurcht‘, nämlich hinüberbringt oder hinüberschickt. Hier schließt sich wunderbar das griechische Verb peíro ‚durchbohren, -stechen, -dringen‘ an. Mit ihm gelangen wir zu verschiedensten, heute noch gebräuchlichen ‚Durchgängen‘: Eine Ableitung, die im Wort ‚die Pore‘ weiterlebt, ist póros ‚Durchgang, Furt, Weg‘. Sie kennen sie vielleicht von der geografischen Bezeichnung ‚Bosporus‘, was nichts anderes als Ochsenfurt oder Oxford heißt. Zur gleichen Sippe wie ‚póros‘, ‚Furt‘ oder auch ‚Fjord‘ gehören die lateinischen Wörter porta ‚Tür‘, das in ‚Pforte‘ weiterlebt, portus ‚Hafen‘ als sicherer Durchgang zwischen Land und Wasser (vgl. englisch airport, italienisch il porto) und zu guter Letzt portare ‚tragen, bringen‘, das Sie aus trans-, exportieren usw. kennen.''<br />
<br />
: ''<big>Experimentelle ExpertInnen.</big> Das Lateinische besitzt aber auch ein Verb, das sich direkt von der indo-europäischen Wurzel *per- ableitet. Es ist experíri ‚erproben, versuchen, prüfen, an sich erfahren, kennenlernen usw. ‘. Es ist mit ‚ex-“ zusammengesetzt, einer inhaltlichen – nicht etymologischen – Entsprechung des ‚er-‘ im Wort erfahren. Das einfache Verb (*períri) existiert nicht; einzig ein Adjektiv perítus ‚erfahren, bewandert, sachverständig‘ ist gleichermaßen seit Beginn des Lateins belegt. Später etablierte sich im klassischen Latein dessen Partizip expértus im Sinn von ‚erfahen, kundig, erprobt‘, woher sich unser Fremdwort ‚ExpertIn‘ (Sachverständige) herleitet, und die Substantive expérientia ‚Versuch, Erfahrung‘ und experiméntum ‚Versuch, Probe‘: Ersteres lebt in englisch ‚the experience“ und in den meisten romanischen Sprachen weiter (franz. expérience, span. experiencia, ital. esperienza), letzteres in ‚Experiment‘ oder ‚experimentell‘, welche Wörter ab dem 17. Jahrhundert zur Bezeichnung von wissenschaftlichen Versuchen oder gewagten Unternehmungen ins Deutsche eindrangen.''<br />
<br />
: ''<big>Gefahr durch Piraterie!</big> Spätestens jetzt muss ich auf eine Linie hinweisen, die quer durch die Sprachen hindurchführt: ‚Hindurchen‘, d. h. intensiv durch eine Erfahrung zu gehen, ist oft auch mit einem Risiko verbunden. Dies wird im Lateinischen durch das von *per- herrührende Substantiv perículum belegt (vgl. englisch the peril, span. el peligro, französisch le péril), das ‚Gefahr‘, und zwar sowohl den gefährdeten Zustand als auch das gefahrvolle Wagnis, den riskanten Versuch bedeutet. Innerhalb des Germanischen geht das ebenso auf *per- zurückzuführende Wort ‚Gefahr‘ auf mittel- hochdeutsch gevare ‚Nachstellung, Hinterhalt; Betrug‘ zurück. Im Mittelniederdeutschen hieß vare ‚Gefahr; Furcht‘, woran sich englisch the fear anschließt. Vor diesem Hintergrund möchte ich Ihnen ein zweites, von unserer Wurzel abgeleitetes griechisches Verb nicht länger vorenthalten, das eine auffällige, jetzt aber wohl besser verständliche Blüte getrieben hat. Es ist peiráo, das in der Wortbildung genau, in den Bedeutungen hochgradig dem lateinischen Verb experíri entspricht. Wie expertus bedeutet das zugehörige Adjektiv émpeiros ‚erfahren, sachverständig‘ und begann als ‚empirisch‘ ab dem 18./19. Jahrhundert im Deutschen seine Karriere zur Bezeichnung von Dingen, die auf Erfahrung im Sinn von Beobachtung beruhen. Nun kann grundsätzlich zu jedem Verb (zum Beispiel leuchten) ein Wort, das den Täter bezeichnet (Leuchter), gebildet werden. Nach diesem Muster erblühte ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. bis heute aus peiráo das Wort peirátes, das diejenigen Leute bezeichnete, die nicht nur die gefahrvollen Meere, sondern auch – selbst eine Gefahr – die Grenze des persönlichen Eigentums durchdrangen. Die PiratInnen (schon in der Antike waren Frauen vertreten) galten im griechischen Raum sozusagen als ‚ErfahrerInnen par excellence‘, allerdings mit einem negativen Beigeschmack.''<br />
<br />
: ''<big>Erfahrung heißt gar nichts?</big> Bei meinen Nachforschungen zur Herkunft von ‚erfahren‘ begann mich schon bald eine bohrende Frage im Hinterkopf zu beschäftigen: Wird man durch Erfahrung sozusagen automatisch sachkundig? Aus sprachlicher Sicht müsste ich die Frage bejahen. Wenn ich aber an meine Erfahrungen als Gymnasiallehrer zurückdenke, könnte ich auch fragen: Ist somit jede langjährige LehrerIn eine erfahrene, sprich kompetente LehrerIn? Ist nicht eher entscheidend, wie jede(r) mit seinen Erfahrungen umgeht, ob man sie überprüft und sich verbessern will oder ob man blind in die immer gleichen Erfahrungen hineinrasselt? Der Schriftsteller Kurt Tucholsky (1890–1935) soll dazu gesagt haben: ‚Erfahrung heißt gar nichts. Man kann seine Sache auch 35 Jahre schlecht machen.‘ Eine Kehrseite meiner Fragestellung – mit der ich Sie aus dieser Leseerfahrung entlassen möchte – beleuchtet der französisch-rumänische Dramatiker Eugène Ionesco (1909–1994): ‚Wir glauben, Erfahrungen zu machen. Aber die Erfahrungen machen uns‘.“ ''<br />
<br />
Quelle: '''Marty-Teuber, Stefan (2012):''' Erfahren: Von der Piratin zur Expertin. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2012, Nr. 4. S. 34–35.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[Bewegungserfahrung]]<br />
* [[1.-Person-Methode]]<br />
<br />
[[Kategorie:Lernen]]</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Erfahren_(Begriff)&diff=4695
Erfahren (Begriff)
2023-09-20T16:50:05Z
<p>Dagmar Panzer: /* Erfahren/Erfahrung in der Zeitschrift „lebensqualität“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Erfahren/ Erfahrung. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität “<br />
<br />
== Erfahren/Erfahrung in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Erfahren: Von der Piratin zur Expertin“ überschrieben.<br />
<br />
: '''''„Die eigene Bewegung bewusst und unmittelbar zu erfahren, ist in Kinaesthetics Grundlage und Ausgangspunkt des Lernens. Stefan Marty- Teuber geht der Herkunft des Wortes „erfahren“ nach und stößt auf einen wissenschaftlich kaum problematischen Blumenstrauß von Furten, Pforten und Poren, experimentellen ExpertInnen und empirischen PiratInnen.'''''<br />
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: ''<big>‚erfahren/Erfahrung‘ heute.</big> Es scheint mir wichtig, an erster Stelle die aktuelle Verwendung von ‚erfahren/Erfahrung‘ zu klären. Am häufigsten verwendet die deutsche Sprache nämlich das Verb in der Bedeutung ‚Kenntnis erhalten, mitgeteilt/ zu wissen bekommen‘, und zwar besonders im Zusammenhang mit wichtigen Neuigkeiten (vgl. ‚ich habe es aus der Presse erfahren‘). Am zweithäufigsten und eher in gehobener Sprache tritt ‚erfahren‘ im Sinne von ‚an sich selbst erleben, zu spüren bekommen‘ auf. An diese Zweitbedeutung schließen in Kinaesthetics die Ausdrücke ‚die eigene Bewegung erfahren/Bewegungserfahrung‘ an. Natürlich ist das eine treffende, aber nicht allgemein gängige Kombination. Im Alltag der deutschen Sprache finden sich häufiger Fügungen wie ‚Glück/Unglück, Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit, Freude/Leid erfahren; gute und schlechte Erfahrungen‘ u. Ä. Und schließlich gibt es eine abgeschwächte Bedeutung ‚eine Veränderung mitmachen‘. So können zum Beispiel PatientInnen eine Behandlung, Bücher eine Überarbeitung und Umsätze eine Steigerung erfahren. Bemerkenswert ist, dass das Substantiv ‚Erfahrung‘, sowohl das unmittelbare Erleben (vgl. ‚das war eine bittere Erfahrung‘) als auch – nur in einem positiven Sinn – die Routine, Kenntnis oder Kompetenz bezeichnet, die man durch das vielfache Er- und Durchleben einer Sache gewonnen hat (vgl. ‚sie verfügt über viel Erfahrung, wir müssen uns ihre Erfahrung zunutze machen‘). Hier verbindet sich das (wiederholte) unmittelbare Erleben und Tun ganz eng mit der Idee des Lernens und Kompetenzgewinns. Ganz entsprechend bezeichnet das Adjektiv ‚erfahren‘ kundige, versierte und in ihrem Gebiet bewanderte Personen. Aber mit diesen Feststellungen sind wir schon mitten in der Herkunft des Wortes angelangt.''<br />
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: ''„<big>Sich fortbewegen.</big> Das in allen germanischen Sprachen existierende Verb ‚fahren‘ (zum Beispiel althochdeutsch faran, englisch to fare, schwedisch fara) bezeichnete ursprünglich jede Art von Fortbewegung wie gehen, reiten oder mit einem Wagen fahren. Wie immer im Herbst sind hier in der Schweiz vor kurzem die SennInnen mit dem Vieh von ihren Alpen gefahren (sogenannte Alpabfahrt, aber nicht etwa mit Fahrzeugen, sondern zu Fuß). Hierin und in anderen Ausdrücken – zum Beispiel im Blitz, der vom Himmel fährt – zeigt sich noch heute die ursprüngliche sehr breite Bedeutung von ‚fahren‘. Das zusammengesetzte Verb ‚er-fahren‘geht auf althochdeutsch irfaran zurück. Dessen Kernbedeutung kann mit ‚sich vom Anfang bis zum Schluss durch ein Gebiet fortbewegen‘ umschrieben werden. Es liegt auf der Hand, dass, wer aufmerksam durch eine Gegend dringt, am Schluss die Wege und Irrwege kennt und im wahrsten Sinn des Wortes bewandert ist (wenn er zu Fuß unterwegs war). Schon früh wurde offenbar diese ursprüngliche geografisch-räumliche Bedeutung des Verbs irfaran auf andere Kontexte übertragen, die der heutigen Verwendung von ‚erfahren‘ entsprechen; so ist ab dem 15. Jahrhundert auch das Adjektiv ‚erfahren‘ im Sinne von ‚bewandert, kundig, kompetent‘ belegt.''<br />
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: ''„<big>Back to the root.</big> Die Wurzel, auf die ‚fahren‘ zurückgeht, wird im Rahmen der Indogermanistik in der Form *per- rekonstruiert. Ihr Bedeutungsspektrum wird meistens mit einer Reihe von Verben angegeben, aber wenn ich mir all ihre Belege in den verschiedenen Sprachen zurechtlege, war die Grundbedeutung dieses Verbs sozusagen ‚hindurchen, hinübern‘. Mit dieser Behelfsübersetzung kann ich die drei Grundfunktionen von *per- verdeutlichen: Erstens, dass man selbst ‚hindurcht‘, d. h. sich durch etwas hindurchbewegt, zweitens, dass man etwas mit etwas ‚hindurcht‘ d. h. etwas durchbohrt oder durchsticht, und drittens, dass man etwas oder jemanden ‚hindurcht‘, nämlich hinüberbringt oder hinüberschickt. Hier schließt sich wunderbar das griechische Verb peíro ‚durchbohren, -stechen, -dringen‘ an. Mit ihm gelangen wir zu verschiedensten, heute noch gebräuchlichen ‚Durchgängen‘: Eine Ableitung, die im Wort ‚die Pore‘ weiterlebt, ist póros ‚Durchgang, Furt, Weg‘. Sie kennen sie vielleicht von der geografischen Bezeichnung ‚Bosporus‘, was nichts anderes als Ochsenfurt oder Oxford heißt. Zur gleichen Sippe wie ‚póros‘, ‚Furt‘ oder auch ‚Fjord‘ gehören die lateinischen Wörter porta ‚Tür‘, das in ‚Pforte‘ weiterlebt, portus ‚Hafen‘ als sicherer Durchgang zwischen Land und Wasser (vgl. englisch airport, italienisch il porto) und zu guter Letzt portare ‚tragen, bringen‘, das Sie aus trans-, exportieren usw. kennen.''<br />
<br />
: ''„<big>Experimentelle ExpertInnen.</big> Das Lateinische besitzt aber auch ein Verb, das sich direkt von der indo-europäischen Wurzel *per- ableitet. Es ist experíri ‚erproben, versuchen, prüfen, an sich erfahren, kennenlernen usw. ‘. Es ist mit ‚ex-“ zusammengesetzt, einer inhaltlichen – nicht etymologischen – Entsprechung des ‚er-‘ im Wort erfahren. Das einfache Verb (*períri) existiert nicht; einzig ein Adjektiv perítus ‚erfahren, bewandert, sachverständig‘ ist gleichermaßen seit Beginn des Lateins belegt. Später etablierte sich im klassischen Latein dessen Partizip expértus im Sinn von ‚erfahen, kundig, erprobt‘, woher sich unser Fremdwort ‚ExpertIn‘ (Sachverständige) herleitet, und die Substantive expérientia ‚Versuch, Erfahrung‘ und experiméntum ‚Versuch, Probe‘: Ersteres lebt in englisch ‚the experience“ und in den meisten romanischen Sprachen weiter (franz. expérience, span. experiencia, ital. esperienza), letzteres in ‚Experiment‘ oder ‚experimentell‘, welche Wörter ab dem 17. Jahrhundert zur Bezeichnung von wissenschaftlichen Versuchen oder gewagten Unternehmungen ins Deutsche eindrangen.''<br />
<br />
: ''„<big>Gefahr durch Piraterie!</big> Spätestens jetzt muss ich auf eine Linie hinweisen, die quer durch die Sprachen hindurchführt: ‚Hindurchen‘, d. h. intensiv durch eine Erfahrung zu gehen, ist oft auch mit einem Risiko verbunden. Dies wird im Lateinischen durch das von *per- herrührende Substantiv perículum belegt (vgl. englisch the peril, span. el peligro, französisch le péril), das ‚Gefahr‘, und zwar sowohl den gefährdeten Zustand als auch das gefahrvolle Wagnis, den riskanten Versuch bedeutet. Innerhalb des Germanischen geht das ebenso auf *per- zurückzuführende Wort ‚Gefahr‘ auf mittel- hochdeutsch gevare ‚Nachstellung, Hinterhalt; Betrug‘ zurück. Im Mittelniederdeutschen hieß vare ‚Gefahr; Furcht‘, woran sich englisch the fear anschließt. Vor diesem Hintergrund möchte ich Ihnen ein zweites, von unserer Wurzel abgeleitetes griechisches Verb nicht länger vorenthalten, das eine auffällige, jetzt aber wohl besser verständliche Blüte getrieben hat. Es ist peiráo, das in der Wortbildung genau, in den Bedeutungen hochgradig dem lateinischen Verb experíri entspricht. Wie expertus bedeutet das zugehörige Adjektiv émpeiros ‚erfahren, sachverständig‘ und begann als ‚empirisch‘ ab dem 18./19. Jahrhundert im Deutschen seine Karriere zur Bezeichnung von Dingen, die auf Erfahrung im Sinn von Beobachtung beruhen. Nun kann grundsätzlich zu jedem Verb (zum Beispiel leuchten) ein Wort, das den Täter bezeichnet (Leuchter), gebildet werden. Nach diesem Muster erblühte ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. bis heute aus peiráo das Wort peirátes, das diejenigen Leute bezeichnete, die nicht nur die gefahrvollen Meere, sondern auch – selbst eine Gefahr – die Grenze des persönlichen Eigentums durchdrangen. Die PiratInnen (schon in der Antike waren Frauen vertreten) galten im griechischen Raum sozusagen als ‚ErfahrerInnen par excellence‘, allerdings mit einem negativen Beigeschmack.'' <br />
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: ''„<big>Erfahrung heißt gar nichts?</big> Bei meinen Nachforschungen zur Herkunft von ‚erfahren‘ begann mich schon bald eine bohrende Frage im Hinterkopf zu beschäftigen: Wird man durch Erfahrung sozusagen automatisch sachkundig? Aus sprachlicher Sicht müsste ich die Frage bejahen. Wenn ich aber an meine Erfahrungen als Gymnasiallehrer zurückdenke, könnte ich auch fragen: Ist somit jede langjährige LehrerIn eine erfahrene, sprich kompetente LehrerIn? Ist nicht eher entscheidend, wie jede(r) mit seinen Erfahrungen umgeht, ob man sie überprüft und sich verbessern will oder ob man blind in die immer gleichen Erfahrungen hineinrasselt? Der Schriftsteller Kurt Tucholsky (1890–1935) soll dazu gesagt haben: ‚Erfahrung heißt gar nichts. Man kann seine Sache auch 35 Jahre schlecht machen.‘ Eine Kehrseite meiner Fragestellung – mit der ich Sie aus dieser Leseerfahrung entlassen möchte – beleuchtet der französisch-rumänische Dramatiker Eugène Ionesco (1909–1994): ‚Wir glauben, Erfahrungen zu machen. Aber die Erfahrungen machen uns‘.“ ''<br />
<br />
Quelle: '''Marty-Teuber, Stefan (2012):''' Erfahren: Von der Piratin zur Expertin. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2012, Nr. 4. S. 34–35.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[Bewegungserfahrung]]<br />
* [[1.-Person-Methode]]<br />
<br />
[[Kategorie:Lernen]]</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Erfahren_(Begriff)&diff=4694
Erfahren (Begriff)
2023-09-20T16:48:47Z
<p>Dagmar Panzer: /* Erfahren/Erfahrung in der Zeitschrift „lebensqualität“ */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Dagmar Panzer}}<br />
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''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Erfahren/ Erfahrung. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität “<br />
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== Erfahren/Erfahrung in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Erfahren: Von der Piratin zur Expertin“ überschrieben.<br />
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: '''''„Die eigene Bewegung bewusst und unmittelbar zu erfahren, ist in Kinaesthetics Grundlage und Ausgangspunkt des Lernens. Stefan Marty- Teuber geht der Herkunft des Wortes „erfahren“ nach und stößt auf einen wissenschaftlich kaum problematischen Blumenstrauß von Furten, Pforten und Poren, experimentellen ExpertInnen und empirischen PiratInnen.“ '''''<br />
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: ''„<big>‚erfahren/Erfahrung‘ heute.</big> Es scheint mir wichtig, an erster Stelle die aktuelle Verwendung von ‚erfahren/Erfahrung‘ zu klären. Am häufigsten verwendet die deutsche Sprache nämlich das Verb in der Bedeutung ‚Kenntnis erhalten, mitgeteilt/ zu wissen bekommen‘, und zwar besonders im Zusammenhang mit wichtigen Neuigkeiten (vgl. ‚ich habe es aus der Presse erfahren‘). Am zweithäufigsten und eher in gehobener Sprache tritt ‚erfahren‘ im Sinne von ‚an sich selbst erleben, zu spüren bekommen‘ auf. An diese Zweitbedeutung schließen in Kinaesthetics die Ausdrücke ‚die eigene Bewegung erfahren/Bewegungserfahrung‘ an. Natürlich ist das eine treffende, aber nicht allgemein gängige Kombination. Im Alltag der deutschen Sprache finden sich häufiger Fügungen wie ‚Glück/Unglück, Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit, Freude/Leid erfahren; gute und schlechte Erfahrungen‘ u. Ä. Und schließlich gibt es eine abgeschwächte Bedeutung ‚eine Veränderung mitmachen‘. So können zum Beispiel PatientInnen eine Behandlung, Bücher eine Überarbeitung und Umsätze eine Steigerung erfahren. Bemerkenswert ist, dass das Substantiv ‚Erfahrung‘, sowohl das unmittelbare Erleben (vgl. ‚das war eine bittere Erfahrung‘) als auch – nur in einem positiven Sinn – die Routine, Kenntnis oder Kompetenz bezeichnet, die man durch das vielfache Er- und Durchleben einer Sache gewonnen hat (vgl. ‚sie verfügt über viel Erfahrung, wir müssen uns ihre Erfahrung zunutze machen‘). Hier verbindet sich das (wiederholte) unmittelbare Erleben und Tun ganz eng mit der Idee des Lernens und Kompetenzgewinns. Ganz entsprechend bezeichnet das Adjektiv ‚erfahren‘ kundige, versierte und in ihrem Gebiet bewanderte Personen. Aber mit diesen Feststellungen sind wir schon mitten in der Herkunft des Wortes angelangt.''<br />
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: ''„<big>Sich fortbewegen.</big> Das in allen germanischen Sprachen existierende Verb ‚fahren‘ (zum Beispiel althochdeutsch faran, englisch to fare, schwedisch fara) bezeichnete ursprünglich jede Art von Fortbewegung wie gehen, reiten oder mit einem Wagen fahren. Wie immer im Herbst sind hier in der Schweiz vor kurzem die SennInnen mit dem Vieh von ihren Alpen gefahren (sogenannte Alpabfahrt, aber nicht etwa mit Fahrzeugen, sondern zu Fuß). Hierin und in anderen Ausdrücken – zum Beispiel im Blitz, der vom Himmel fährt – zeigt sich noch heute die ursprüngliche sehr breite Bedeutung von ‚fahren‘. Das zusammengesetzte Verb ‚er-fahren‘geht auf althochdeutsch irfaran zurück. Dessen Kernbedeutung kann mit ‚sich vom Anfang bis zum Schluss durch ein Gebiet fortbewegen‘ umschrieben werden. Es liegt auf der Hand, dass, wer aufmerksam durch eine Gegend dringt, am Schluss die Wege und Irrwege kennt und im wahrsten Sinn des Wortes bewandert ist (wenn er zu Fuß unterwegs war). Schon früh wurde offenbar diese ursprüngliche geografisch-räumliche Bedeutung des Verbs irfaran auf andere Kontexte übertragen, die der heutigen Verwendung von ‚erfahren‘ entsprechen; so ist ab dem 15. Jahrhundert auch das Adjektiv ‚erfahren‘ im Sinne von ‚bewandert, kundig, kompetent‘ belegt.''<br />
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: ''„<big>Back to the root.</big> Die Wurzel, auf die ‚fahren‘ zurückgeht, wird im Rahmen der Indogermanistik in der Form *per- rekonstruiert. Ihr Bedeutungsspektrum wird meistens mit einer Reihe von Verben angegeben, aber wenn ich mir all ihre Belege in den verschiedenen Sprachen zurechtlege, war die Grundbedeutung dieses Verbs sozusagen ‚hindurchen, hinübern‘. Mit dieser Behelfsübersetzung kann ich die drei Grundfunktionen von *per- verdeutlichen: Erstens, dass man selbst ‚hindurcht‘, d. h. sich durch etwas hindurchbewegt, zweitens, dass man etwas mit etwas ‚hindurcht‘ d. h. etwas durchbohrt oder durchsticht, und drittens, dass man etwas oder jemanden ‚hindurcht‘, nämlich hinüberbringt oder hinüberschickt. Hier schließt sich wunderbar das griechische Verb peíro ‚durchbohren, -stechen, -dringen‘ an. Mit ihm gelangen wir zu verschiedensten, heute noch gebräuchlichen ‚Durchgängen‘: Eine Ableitung, die im Wort ‚die Pore‘ weiterlebt, ist póros ‚Durchgang, Furt, Weg‘. Sie kennen sie vielleicht von der geografischen Bezeichnung ‚Bosporus‘, was nichts anderes als Ochsenfurt oder Oxford heißt. Zur gleichen Sippe wie ‚póros‘, ‚Furt‘ oder auch ‚Fjord‘ gehören die lateinischen Wörter porta ‚Tür‘, das in ‚Pforte‘ weiterlebt, portus ‚Hafen‘ als sicherer Durchgang zwischen Land und Wasser (vgl. englisch airport, italienisch il porto) und zu guter Letzt portare ‚tragen, bringen‘, das Sie aus trans-, exportieren usw. kennen.''<br />
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: ''„<big>Experimentelle ExpertInnen.</big> Das Lateinische besitzt aber auch ein Verb, das sich direkt von der indo-europäischen Wurzel *per- ableitet. Es ist experíri ‚erproben, versuchen, prüfen, an sich erfahren, kennenlernen usw. ‘. Es ist mit ‚ex-“ zusammengesetzt, einer inhaltlichen – nicht etymologischen – Entsprechung des ‚er-‘ im Wort erfahren. Das einfache Verb (*períri) existiert nicht; einzig ein Adjektiv perítus ‚erfahren, bewandert, sachverständig‘ ist gleichermaßen seit Beginn des Lateins belegt. Später etablierte sich im klassischen Latein dessen Partizip expértus im Sinn von ‚erfahen, kundig, erprobt‘, woher sich unser Fremdwort ‚ExpertIn‘ (Sachverständige) herleitet, und die Substantive expérientia ‚Versuch, Erfahrung‘ und experiméntum ‚Versuch, Probe‘: Ersteres lebt in englisch ‚the experience“ und in den meisten romanischen Sprachen weiter (franz. expérience, span. experiencia, ital. esperienza), letzteres in ‚Experiment‘ oder ‚experimentell‘, welche Wörter ab dem 17. Jahrhundert zur Bezeichnung von wissenschaftlichen Versuchen oder gewagten Unternehmungen ins Deutsche eindrangen.''<br />
<br />
: ''„<big>Gefahr durch Piraterie!</big> Spätestens jetzt muss ich auf eine Linie hinweisen, die quer durch die Sprachen hindurchführt: ‚Hindurchen‘, d. h. intensiv durch eine Erfahrung zu gehen, ist oft auch mit einem Risiko verbunden. Dies wird im Lateinischen durch das von *per- herrührende Substantiv perículum belegt (vgl. englisch the peril, span. el peligro, französisch le péril), das ‚Gefahr‘, und zwar sowohl den gefährdeten Zustand als auch das gefahrvolle Wagnis, den riskanten Versuch bedeutet. Innerhalb des Germanischen geht das ebenso auf *per- zurückzuführende Wort ‚Gefahr‘ auf mittel- hochdeutsch gevare ‚Nachstellung, Hinterhalt; Betrug‘ zurück. Im Mittelniederdeutschen hieß vare ‚Gefahr; Furcht‘, woran sich englisch the fear anschließt. Vor diesem Hintergrund möchte ich Ihnen ein zweites, von unserer Wurzel abgeleitetes griechisches Verb nicht länger vorenthalten, das eine auffällige, jetzt aber wohl besser verständliche Blüte getrieben hat. Es ist peiráo, das in der Wortbildung genau, in den Bedeutungen hochgradig dem lateinischen Verb experíri entspricht. Wie expertus bedeutet das zugehörige Adjektiv émpeiros ‚erfahren, sachverständig‘ und begann als ‚empirisch‘ ab dem 18./19. Jahrhundert im Deutschen seine Karriere zur Bezeichnung von Dingen, die auf Erfahrung im Sinn von Beobachtung beruhen. Nun kann grundsätzlich zu jedem Verb (zum Beispiel leuchten) ein Wort, das den Täter bezeichnet (Leuchter), gebildet werden. Nach diesem Muster erblühte ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. bis heute aus peiráo das Wort peirátes, das diejenigen Leute bezeichnete, die nicht nur die gefahrvollen Meere, sondern auch – selbst eine Gefahr – die Grenze des persönlichen Eigentums durchdrangen. Die PiratInnen (schon in der Antike waren Frauen vertreten) galten im griechischen Raum sozusagen als ‚ErfahrerInnen par excellence‘, allerdings mit einem negativen Beigeschmack.'' <br />
<br />
: ''„<big>Erfahrung heißt gar nichts?</big> Bei meinen Nachforschungen zur Herkunft von ‚erfahren‘ begann mich schon bald eine bohrende Frage im Hinterkopf zu beschäftigen: Wird man durch Erfahrung sozusagen automatisch sachkundig? Aus sprachlicher Sicht müsste ich die Frage bejahen. Wenn ich aber an meine Erfahrungen als Gymnasiallehrer zurückdenke, könnte ich auch fragen: Ist somit jede langjährige LehrerIn eine erfahrene, sprich kompetente LehrerIn? Ist nicht eher entscheidend, wie jede(r) mit seinen Erfahrungen umgeht, ob man sie überprüft und sich verbessern will oder ob man blind in die immer gleichen Erfahrungen hineinrasselt? Der Schriftsteller Kurt Tucholsky (1890–1935) soll dazu gesagt haben: ‚Erfahrung heißt gar nichts. Man kann seine Sache auch 35 Jahre schlecht machen.‘ Eine Kehrseite meiner Fragestellung – mit der ich Sie aus dieser Leseerfahrung entlassen möchte – beleuchtet der französisch-rumänische Dramatiker Eugène Ionesco (1909–1994): ‚Wir glauben, Erfahrungen zu machen. Aber die Erfahrungen machen uns‘.“ ''<br />
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Quelle: '''Marty-Teuber, Stefan (2012):''' Erfahren: Von der Piratin zur Expertin. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2012, Nr. 4. S. 34–35.<br />
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== Vergleiche auch ==<br />
* [[Bewegungserfahrung]]<br />
* [[1.-Person-Methode]]<br />
<br />
[[Kategorie:Lernen]]</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Erfahren_(Begriff)&diff=4693
Erfahren (Begriff)
2023-09-20T16:42:35Z
<p>Dagmar Panzer: /* Vergleiche auch */</p>
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<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Dagmar Panzer}}<br />
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''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Erfahren/ Erfahrung. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität “<br />
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== Erfahren/Erfahrung in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Erfahren: Von der Piratin zur Expertin“ überschrieben.<br />
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: '''''„Die eigene Bewegung bewusst und unmittelbar zu erfahren, ist in Kinaesthetics Grundlage und Ausgangspunkt des Lernens. Stefan Marty- Teuber geht der Herkunft des Wortes „erfahren“ nach und stößt auf einen wissenschaftlich kaum problematischen Blumenstrauß von Furten, Pforten und Poren, experimentellen ExpertInnen und empirischen PiratInnen.“ '''''<br />
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: ''„<big>‚erfahren/Erfahrung‘ heute.</big> Es scheint mir wichtig, an erster Stelle die aktuelle Verwendung von „erfahren/Erfahrung“ zu klären. Am häufigsten verwendet die deutsche Sprache nämlich das Verb in der Bedeutung „Kenntnis erhalten, mitgeteilt/ zu wissen bekommen“, und zwar besonders im Zusammenhang mit wichtigen Neuigkeiten (vgl. ‚ich habe es aus der Presse erfahren‘). Am zweithäufigsten und eher in gehobener Sprache tritt ‚erfahren‘ im Sinne von ‚an sich selbst erleben, zu spüren bekommen‘ auf. An diese Zweitbedeutung schließen in Kinaesthetics die Ausdrücke ‚die eigene Bewegung erfahren/Bewegungserfahrung‘ an. Natürlich ist das eine treffende, aber nicht allgemein gängige Kombination. Im Alltag der deutschen Sprache finden sich häufiger Fügungen wie ‚Glück/Unglück, Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit, Freude/Leid erfahren; gute und schlechte Erfahrungen‘ u. Ä. Und schließlich gibt es eine abgeschwächte Bedeutung ‚eine Veränderung mitmachen‘. So können zum Beispiel PatientInnen eine Behandlung, Bücher eine Überarbeitung und Umsätze eine Steigerung erfahren. Bemerkenswert ist, dass das Substantiv ‚Erfahrung‘, sowohl das unmittelbare Erleben (vgl. ‚das war eine bittere Erfahrung‘) als auch – nur in einem positiven Sinn – die Routine, Kenntnis oder Kompetenz bezeichnet, die man durch das vielfache Er- und Durchleben einer Sache gewonnen hat (vgl. ‚sie verfügt über viel Erfahrung, wir müssen uns ihre Erfahrung zunutze machen‘). Hier verbindet sich das (wiederholte) unmittelbare Erleben und Tun ganz eng mit der Idee des Lernens und Kompetenzgewinns. Ganz entsprechend bezeichnet das Adjektiv ‚erfahren‘ kundige, versierte und in ihrem Gebiet bewanderte Personen. Aber mit diesen Feststellungen sind wir schon mitten in der Herkunft des Wortes angelangt.''<br />
<br />
: ''„<big>Sich fortbewegen.</big> Das in allen germanischen Sprachen existierende Verb ‚fahren‘ (zum Beispiel althochdeutsch faran, englisch to fare, schwedisch fara) bezeichnete ursprünglich jede Art von Fortbewegung wie gehen, reiten oder mit einem Wagen fahren. Wie immer im Herbst sind hier in der Schweiz vor kurzem die SennInnen mit dem Vieh von ihren Alpen gefahren (sogenannte Alpabfahrt, aber nicht etwa mit Fahrzeugen, sondern zu Fuß). Hierin und in anderen Ausdrücken – zum Beispiel im Blitz, der vom Himmel fährt – zeigt sich noch heute die ursprüngliche sehr breite Bedeutung von ‚fahren‘. Das zusammengesetzte Verb ‚er-fahren‘geht auf althochdeutsch irfaran zurück. Dessen Kernbedeutung kann mit ‚sich vom Anfang bis zum Schluss durch ein Gebiet fortbewegen‘ umschrieben werden. Es liegt auf der Hand, dass, wer aufmerksam durch eine Gegend dringt, am Schluss die Wege und Irrwege kennt und im wahrsten Sinn des Wortes bewandert ist (wenn er zu Fuß unterwegs war). Schon früh wurde offenbar diese ursprüngliche geografisch-räumliche Bedeutung des Verbs irfaran auf andere Kontexte übertragen, die der heutigen Verwendung von ‚erfahren‘ entsprechen; so ist ab dem 15. Jahrhundert auch das Adjektiv ‚erfahren‘ im Sinne von ‚bewandert, kundig, kompetent‘ belegt.''<br />
<br />
: ''„<big>Back to the root.</big> Die Wurzel, auf die ‚fahren‘ zurückgeht, wird im Rahmen der Indogermanistik in der Form *per- rekonstruiert. Ihr Bedeutungsspektrum wird meistens mit einer Reihe von Verben angegeben, aber wenn ich mir all ihre Belege in den verschiedenen Sprachen zurechtlege, war die Grundbedeutung dieses Verbs sozusagen ‚hindurchen, hinübern‘. Mit dieser Behelfsübersetzung kann ich die drei Grundfunktionen von *per- verdeutlichen: Erstens, dass man selbst ‚hindurcht‘, d. h. sich durch etwas hindurchbewegt, zweitens, dass man etwas mit etwas ‚hindurcht‘ d. h. etwas durchbohrt oder durchsticht, und drittens, dass man etwas oder jemanden ‚hindurcht‘, nämlich hinüberbringt oder hinüberschickt. Hier schließt sich wunderbar das griechische Verb peíro ‚durchbohren, -stechen, -dringen‘ an. Mit ihm gelangen wir zu verschiedensten, heute noch gebräuchlichen ‚Durchgängen‘: Eine Ableitung, die im Wort ‚die Pore‘ weiterlebt, ist póros ‚Durchgang, Furt, Weg‘. Sie kennen sie vielleicht von der geografischen Bezeichnung ‚Bosporus‘, was nichts anderes als Ochsenfurt oder Oxford heißt. Zur gleichen Sippe wie ‚póros‘, ‚Furt‘ oder auch ‚Fjord‘ gehören die lateinischen Wörter porta ‚Tür‘, das in ‚Pforte‘ weiterlebt, portus ‚Hafen‘ als sicherer Durchgang zwischen Land und Wasser (vgl. englisch airport, italienisch il porto) und zu guter Letzt portare ‚tragen, bringen‘, das Sie aus trans-, exportieren usw. kennen.''<br />
<br />
: ''„<big>Experimentelle ExpertInnen.</big> Das Lateinische besitzt aber auch ein Verb, das sich direkt von der indo-europäischen Wurzel *per- ableitet. Es ist experíri ‚erproben, versuchen, prüfen, an sich erfahren, kennenlernen usw. ‘. Es ist mit ‚ex-“ zusammengesetzt, einer inhaltlichen – nicht etymologischen – Entsprechung des ‚er-‘ im Wort erfahren. Das einfache Verb (*períri) existiert nicht; einzig ein Adjektiv perítus ‚erfahren, bewandert, sachverständig‘ ist gleichermaßen seit Beginn des Lateins belegt. Später etablierte sich im klassischen Latein dessen Partizip expértus im Sinn von ‚erfahen, kundig, erprobt‘, woher sich unser Fremdwort ‚ExpertIn‘ (Sachverständige) herleitet, und die Substantive expérientia ‚Versuch, Erfahrung‘ und experiméntum ‚Versuch, Probe‘: Ersteres lebt in englisch ‚the experience“ und in den meisten romanischen Sprachen weiter (franz. expérience, span. experiencia, ital. esperienza), letzteres in ‚Experiment‘ oder ‚experimentell‘, welche Wörter ab dem 17. Jahrhundert zur Bezeichnung von wissenschaftlichen Versuchen oder gewagten Unternehmungen ins Deutsche eindrangen.''<br />
<br />
: ''„<big>Gefahr durch Piraterie!</big> Spätestens jetzt muss ich auf eine Linie hinweisen, die quer durch die Sprachen hindurchführt: ‚Hindurchen‘, d. h. intensiv durch eine Erfahrung zu gehen, ist oft auch mit einem Risiko verbunden. Dies wird im Lateinischen durch das von *per- herrührende Substantiv perículum belegt (vgl. englisch the peril, span. el peligro, französisch le péril), das ‚Gefahr‘, und zwar sowohl den gefährdeten Zustand als auch das gefahrvolle Wagnis, den riskanten Versuch bedeutet. Innerhalb des Germanischen geht das ebenso auf *per- zurückzuführende Wort ‚Gefahr‘ auf mittel- hochdeutsch gevare ‚Nachstellung, Hinterhalt; Betrug‘ zurück. Im Mittelniederdeutschen hieß vare ‚Gefahr; Furcht‘, woran sich englisch the fear anschließt. Vor diesem Hintergrund möchte ich Ihnen ein zweites, von unserer Wurzel abgeleitetes griechisches Verb nicht länger vorenthalten, das eine auffällige, jetzt aber wohl besser verständliche Blüte getrieben hat. Es ist peiráo, das in der Wortbildung genau, in den Bedeutungen hochgradig dem lateinischen Verb experíri entspricht. Wie expertus bedeutet das zugehörige Adjektiv émpeiros ‚erfahren, sachverständig‘ und begann als ‚empirisch‘ ab dem 18./19. Jahrhundert im Deutschen seine Karriere zur Bezeichnung von Dingen, die auf Erfahrung im Sinn von Beobachtung beruhen. Nun kann grundsätzlich zu jedem Verb (zum Beispiel leuchten) ein Wort, das den Täter bezeichnet (Leuchter), gebildet werden. Nach diesem Muster erblühte ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. bis heute aus peiráo das Wort peirátes, das diejenigen Leute bezeichnete, die nicht nur die gefahrvollen Meere, sondern auch – selbst eine Gefahr – die Grenze des persönlichen Eigentums durchdrangen. Die PiratInnen (schon in der Antike waren Frauen vertreten) galten im griechischen Raum sozusagen als ‚ErfahrerInnen par excellence‘, allerdings mit einem negativen Beigeschmack.'' <br />
<br />
: ''„<big>Erfahrung heißt gar nichts?</big> Bei meinen Nachforschungen zur Herkunft von ‚erfahren‘ begann mich schon bald eine bohrende Frage im Hinterkopf zu beschäftigen: Wird man durch Erfahrung sozusagen automatisch sachkundig? Aus sprachlicher Sicht müsste ich die Frage bejahen. Wenn ich aber an meine Erfahrungen als Gymnasiallehrer zurückdenke, könnte ich auch fragen: Ist somit jede langjährige LehrerIn eine erfahrene, sprich kompetente LehrerIn? Ist nicht eher entscheidend, wie jede(r) mit seinen Erfahrungen umgeht, ob man sie überprüft und sich verbessern will oder ob man blind in die immer gleichen Erfahrungen hineinrasselt? Der Schriftsteller Kurt Tucholsky (1890–1935) soll dazu gesagt haben: ‚Erfahrung heißt gar nichts. Man kann seine Sache auch 35 Jahre schlecht machen.‘ Eine Kehrseite meiner Fragestellung – mit der ich Sie aus dieser Leseerfahrung entlassen möchte – beleuchtet der französisch-rumänische Dramatiker Eugène Ionesco (1909–1994): ‚Wir glauben, Erfahrungen zu machen. Aber die Erfahrungen machen uns‘.“ ''<br />
<br />
Quelle: '''Marty-Teuber, Stefan (2012):''' Erfahren: Von der Piratin zur Expertin. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2012, Nr. 4. S. 34–35.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[Bewegungserfahrung]]<br />
* [[1.-Person-Methode]]<br />
<br />
[[Kategorie:Lernen]]</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Erfahren_(Begriff)&diff=4692
Erfahren (Begriff)
2023-09-20T16:41:10Z
<p>Dagmar Panzer: </p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|Stefan Marty-Teuber/Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs Erfahren/ Erfahrung. Das Zitat ist ein Artikel zum Thema aus der Zeitschrift „lebensqualität “<br />
<br />
== Erfahren/Erfahrung in der Zeitschrift „lebensqualität“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus der Zeitschrift „lebensqualität“. Es ist ein Beitrag zu einer Serie mit dem Titel „wörterwurzeln“. Er ist mit „Erfahren: Von der Piratin zur Expertin“ überschrieben.<br />
<br />
: '''''„Die eigene Bewegung bewusst und unmittelbar zu erfahren, ist in Kinaesthetics Grundlage und Ausgangspunkt des Lernens. Stefan Marty- Teuber geht der Herkunft des Wortes „erfahren“ nach und stößt auf einen wissenschaftlich kaum problematischen Blumenstrauß von Furten, Pforten und Poren, experimentellen ExpertInnen und empirischen PiratInnen.“ '''''<br />
<br />
: ''„<big>‚erfahren/Erfahrung‘ heute.</big> Es scheint mir wichtig, an erster Stelle die aktuelle Verwendung von „erfahren/Erfahrung“ zu klären. Am häufigsten verwendet die deutsche Sprache nämlich das Verb in der Bedeutung „Kenntnis erhalten, mitgeteilt/ zu wissen bekommen“, und zwar besonders im Zusammenhang mit wichtigen Neuigkeiten (vgl. ‚ich habe es aus der Presse erfahren‘). Am zweithäufigsten und eher in gehobener Sprache tritt ‚erfahren‘ im Sinne von ‚an sich selbst erleben, zu spüren bekommen‘ auf. An diese Zweitbedeutung schließen in Kinaesthetics die Ausdrücke ‚die eigene Bewegung erfahren/Bewegungserfahrung‘ an. Natürlich ist das eine treffende, aber nicht allgemein gängige Kombination. Im Alltag der deutschen Sprache finden sich häufiger Fügungen wie ‚Glück/Unglück, Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit, Freude/Leid erfahren; gute und schlechte Erfahrungen‘ u. Ä. Und schließlich gibt es eine abgeschwächte Bedeutung ‚eine Veränderung mitmachen‘. So können zum Beispiel PatientInnen eine Behandlung, Bücher eine Überarbeitung und Umsätze eine Steigerung erfahren. Bemerkenswert ist, dass das Substantiv ‚Erfahrung‘, sowohl das unmittelbare Erleben (vgl. ‚das war eine bittere Erfahrung‘) als auch – nur in einem positiven Sinn – die Routine, Kenntnis oder Kompetenz bezeichnet, die man durch das vielfache Er- und Durchleben einer Sache gewonnen hat (vgl. ‚sie verfügt über viel Erfahrung, wir müssen uns ihre Erfahrung zunutze machen‘). Hier verbindet sich das (wiederholte) unmittelbare Erleben und Tun ganz eng mit der Idee des Lernens und Kompetenzgewinns. Ganz entsprechend bezeichnet das Adjektiv ‚erfahren‘ kundige, versierte und in ihrem Gebiet bewanderte Personen. Aber mit diesen Feststellungen sind wir schon mitten in der Herkunft des Wortes angelangt.''<br />
<br />
: ''„<big>Sich fortbewegen.</big> Das in allen germanischen Sprachen existierende Verb ‚fahren‘ (zum Beispiel althochdeutsch faran, englisch to fare, schwedisch fara) bezeichnete ursprünglich jede Art von Fortbewegung wie gehen, reiten oder mit einem Wagen fahren. Wie immer im Herbst sind hier in der Schweiz vor kurzem die SennInnen mit dem Vieh von ihren Alpen gefahren (sogenannte Alpabfahrt, aber nicht etwa mit Fahrzeugen, sondern zu Fuß). Hierin und in anderen Ausdrücken – zum Beispiel im Blitz, der vom Himmel fährt – zeigt sich noch heute die ursprüngliche sehr breite Bedeutung von ‚fahren‘. Das zusammengesetzte Verb ‚er-fahren‘geht auf althochdeutsch irfaran zurück. Dessen Kernbedeutung kann mit ‚sich vom Anfang bis zum Schluss durch ein Gebiet fortbewegen‘ umschrieben werden. Es liegt auf der Hand, dass, wer aufmerksam durch eine Gegend dringt, am Schluss die Wege und Irrwege kennt und im wahrsten Sinn des Wortes bewandert ist (wenn er zu Fuß unterwegs war). Schon früh wurde offenbar diese ursprüngliche geografisch-räumliche Bedeutung des Verbs irfaran auf andere Kontexte übertragen, die der heutigen Verwendung von ‚erfahren‘ entsprechen; so ist ab dem 15. Jahrhundert auch das Adjektiv ‚erfahren‘ im Sinne von ‚bewandert, kundig, kompetent‘ belegt.''<br />
<br />
: ''„<big>Back to the root.</big> Die Wurzel, auf die ‚fahren‘ zurückgeht, wird im Rahmen der Indogermanistik in der Form *per- rekonstruiert. Ihr Bedeutungsspektrum wird meistens mit einer Reihe von Verben angegeben, aber wenn ich mir all ihre Belege in den verschiedenen Sprachen zurechtlege, war die Grundbedeutung dieses Verbs sozusagen ‚hindurchen, hinübern‘. Mit dieser Behelfsübersetzung kann ich die drei Grundfunktionen von *per- verdeutlichen: Erstens, dass man selbst ‚hindurcht‘, d. h. sich durch etwas hindurchbewegt, zweitens, dass man etwas mit etwas ‚hindurcht‘ d. h. etwas durchbohrt oder durchsticht, und drittens, dass man etwas oder jemanden ‚hindurcht‘, nämlich hinüberbringt oder hinüberschickt. Hier schließt sich wunderbar das griechische Verb peíro ‚durchbohren, -stechen, -dringen‘ an. Mit ihm gelangen wir zu verschiedensten, heute noch gebräuchlichen ‚Durchgängen‘: Eine Ableitung, die im Wort ‚die Pore‘ weiterlebt, ist póros ‚Durchgang, Furt, Weg‘. Sie kennen sie vielleicht von der geografischen Bezeichnung ‚Bosporus‘, was nichts anderes als Ochsenfurt oder Oxford heißt. Zur gleichen Sippe wie ‚póros‘, ‚Furt‘ oder auch ‚Fjord‘ gehören die lateinischen Wörter porta ‚Tür‘, das in ‚Pforte‘ weiterlebt, portus ‚Hafen‘ als sicherer Durchgang zwischen Land und Wasser (vgl. englisch airport, italienisch il porto) und zu guter Letzt portare ‚tragen, bringen‘, das Sie aus trans-, exportieren usw. kennen.''<br />
<br />
: ''„<big>Experimentelle ExpertInnen.</big> Das Lateinische besitzt aber auch ein Verb, das sich direkt von der indo-europäischen Wurzel *per- ableitet. Es ist experíri ‚erproben, versuchen, prüfen, an sich erfahren, kennenlernen usw. ‘. Es ist mit ‚ex-“ zusammengesetzt, einer inhaltlichen – nicht etymologischen – Entsprechung des ‚er-‘ im Wort erfahren. Das einfache Verb (*períri) existiert nicht; einzig ein Adjektiv perítus ‚erfahren, bewandert, sachverständig‘ ist gleichermaßen seit Beginn des Lateins belegt. Später etablierte sich im klassischen Latein dessen Partizip expértus im Sinn von ‚erfahen, kundig, erprobt‘, woher sich unser Fremdwort ‚ExpertIn‘ (Sachverständige) herleitet, und die Substantive expérientia ‚Versuch, Erfahrung‘ und experiméntum ‚Versuch, Probe‘: Ersteres lebt in englisch ‚the experience“ und in den meisten romanischen Sprachen weiter (franz. expérience, span. experiencia, ital. esperienza), letzteres in ‚Experiment‘ oder ‚experimentell‘, welche Wörter ab dem 17. Jahrhundert zur Bezeichnung von wissenschaftlichen Versuchen oder gewagten Unternehmungen ins Deutsche eindrangen.''<br />
<br />
: ''„<big>Gefahr durch Piraterie!</big> Spätestens jetzt muss ich auf eine Linie hinweisen, die quer durch die Sprachen hindurchführt: ‚Hindurchen‘, d. h. intensiv durch eine Erfahrung zu gehen, ist oft auch mit einem Risiko verbunden. Dies wird im Lateinischen durch das von *per- herrührende Substantiv perículum belegt (vgl. englisch the peril, span. el peligro, französisch le péril), das ‚Gefahr‘, und zwar sowohl den gefährdeten Zustand als auch das gefahrvolle Wagnis, den riskanten Versuch bedeutet. Innerhalb des Germanischen geht das ebenso auf *per- zurückzuführende Wort ‚Gefahr‘ auf mittel- hochdeutsch gevare ‚Nachstellung, Hinterhalt; Betrug‘ zurück. Im Mittelniederdeutschen hieß vare ‚Gefahr; Furcht‘, woran sich englisch the fear anschließt. Vor diesem Hintergrund möchte ich Ihnen ein zweites, von unserer Wurzel abgeleitetes griechisches Verb nicht länger vorenthalten, das eine auffällige, jetzt aber wohl besser verständliche Blüte getrieben hat. Es ist peiráo, das in der Wortbildung genau, in den Bedeutungen hochgradig dem lateinischen Verb experíri entspricht. Wie expertus bedeutet das zugehörige Adjektiv émpeiros ‚erfahren, sachverständig‘ und begann als ‚empirisch‘ ab dem 18./19. Jahrhundert im Deutschen seine Karriere zur Bezeichnung von Dingen, die auf Erfahrung im Sinn von Beobachtung beruhen. Nun kann grundsätzlich zu jedem Verb (zum Beispiel leuchten) ein Wort, das den Täter bezeichnet (Leuchter), gebildet werden. Nach diesem Muster erblühte ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. bis heute aus peiráo das Wort peirátes, das diejenigen Leute bezeichnete, die nicht nur die gefahrvollen Meere, sondern auch – selbst eine Gefahr – die Grenze des persönlichen Eigentums durchdrangen. Die PiratInnen (schon in der Antike waren Frauen vertreten) galten im griechischen Raum sozusagen als ‚ErfahrerInnen par excellence‘, allerdings mit einem negativen Beigeschmack.'' <br />
<br />
: ''„<big>Erfahrung heißt gar nichts?</big> Bei meinen Nachforschungen zur Herkunft von ‚erfahren‘ begann mich schon bald eine bohrende Frage im Hinterkopf zu beschäftigen: Wird man durch Erfahrung sozusagen automatisch sachkundig? Aus sprachlicher Sicht müsste ich die Frage bejahen. Wenn ich aber an meine Erfahrungen als Gymnasiallehrer zurückdenke, könnte ich auch fragen: Ist somit jede langjährige LehrerIn eine erfahrene, sprich kompetente LehrerIn? Ist nicht eher entscheidend, wie jede(r) mit seinen Erfahrungen umgeht, ob man sie überprüft und sich verbessern will oder ob man blind in die immer gleichen Erfahrungen hineinrasselt? Der Schriftsteller Kurt Tucholsky (1890–1935) soll dazu gesagt haben: ‚Erfahrung heißt gar nichts. Man kann seine Sache auch 35 Jahre schlecht machen.‘ Eine Kehrseite meiner Fragestellung – mit der ich Sie aus dieser Leseerfahrung entlassen möchte – beleuchtet der französisch-rumänische Dramatiker Eugène Ionesco (1909–1994): ‚Wir glauben, Erfahrungen zu machen. Aber die Erfahrungen machen uns‘.“ ''<br />
<br />
Quelle: '''Marty-Teuber, Stefan (2012):''' Erfahren: Von der Piratin zur Expertin. In: lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthetics. 2012, Nr. 4. S. 34–35.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[1.-Person-Methode]]<br />
* [[Bewegungserfahrung]]<br />
<br />
[[Kategorie:Lernen]]</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Erfahrung&diff=4691
Erfahrung
2023-09-20T16:36:12Z
<p>Dagmar Panzer: Weiterleitung nach Erfahren (Begriff) erstellt</p>
<hr />
<div>#WEITERLEITUNG [[Erfahren (Begriff)]]</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Bewegungserfahrung&diff=4690
Bewegungserfahrung
2023-09-20T16:32:13Z
<p>Dagmar Panzer: /* Vergleiche auch */</p>
<hr />
<div>{{Infobox|mit Fachliteratur angelegt|N. N./Dagmar Panzer}}<br />
<br />
''''' Zusammenfassung: ''''' <br><br />
Dieser Artikel ist mit Fachliteratur angelegt. Er besteht aus einschlägigen Zitaten zum Thema Bewegungserfahrung. <br />
== Bewegungserfahrung in „Kinaesthetics Lernen und Bewegungskompetenz“ ==<br />
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“, das als Arbeitsunterlage in Kinaesthetics-Aufbaukursen verwendet wird und eine grundlegende Beschreibung des Verständnisses von Lernen im Kontext von Kinästhetik und Kybernetik darstellt. Das Zitat umfasst den Beginn des ersten Kapitels „1. Lernen in Kinaesthetics-Kursen“ und zeigt Ausschnitte der Unterkapitel „1.1. Was und wie lernen Sie in Kinaesthetics-Kursen?“ „1.2. Vom Tun und der Innenperspektive zur Theoriebildung“ sowie den Text von „1.3. Die Bewegungserfahrungen“.<br />
<br />
: „'''''<big>1. Lernen in Kinaesthetics-Kursen</big>'''''<br><br />
:''In diesem Kapitel wird das Lernen in den Basiskursen in einem kurzen Überblick dargestellt und Kinaesthetics als eine [[1.-Person-Methode]] beschrieben, die von der konkreten, individuellen und subjektiven Erfahrung ausgeht. Die folgenden Unterthemen beschreiben die elementaren Kinaesthetics-Lernwerkzeuge der '''Bewegungserfahrungen''' sowie der schriftlichen und gemeinsamen Reflexion. Auf diesen Grundlagen wird zuletzt die Rolle der Kinaesthetics-TrainerIn thematisiert.''<br />
<br />
: '''''1.1. Was und wie lernen Sie in Kinaesthetics-Kursen?'''''<br><br />
:''In Kinaesthetics-Kursen werden Sie dazu angeleitet, die eigene Bewegung differenziert wahrzunehmen, zu steuern und anzupassen. Dies geschieht durch die Ausführung ganz einfacher und alltäglicher Aktivitäten: Sie drehen sich z. B. vom Liegen in der Rückenlage auf den Bauch oder Sie sitzen auf dem Boden und stehen auf, allein oder zusammen mit einer anderen Person. Diese Aktivitäten werden durch die gezielte Lenkung der Aufmerksamkeit zu bewussten '''Bewegungserfahrungen''', welche die Quelle Ihres eigenen Forschungsprozesses bilden. Mit Ihrem kinästhetischen Sinnessystem versuchen Sie zu merken, welche Unterschiede für Sie unter einem bestimmten Blickwinkel des Kinaesthetics-Konzeptsystems erfahrbar sind und welche Rolle diese in Ihrer Bewegung spielen. Auf dieser Grundlage und durch die persönliche und gemeinsame Reflexion Ihrer Erfahrungen entwickeln Sie mit Kinaesthetics die Sensibilität Ihrer Bewegungswahrnehmung, Ihre Bewegungskompetenz und ein differenziertes Verständnis der menschlichen Bewegung.''<br />
:''Das Interesse für die fein abgestufte Wahrnehmung, Steuerung und Anpassung unserer ganz alltäglichen Bewegungsmuster macht eine Besonderheit von Kinaesthetics aus. Es geht darum, ein differenziertes Bewusstsein für etwas Selbstverständliches zu entwickeln, das im Alltag meist ‚automatisch‘ und unbewusst abläuft. [...]''<br />
<br />
: ''''' 1.2. Vom Tun und der Innenperspektive zur Theoriebildung '''''<br><br />
: '' Kinaesthetics verfolgte von Anfang an eine Methode des Lehrens und Lernens, die sich grundsätzlich von traditionellen und althergebrachten Formen von Schulungen unterscheidet. Die Grundlage des Lernens in Kinaesthetics bildet stets das praktische Tun, d. h. Ihre persönliche und subjektive Bewegungswahrnehmung in '''Bewegungserfahrungen'''. Das mit diesem Grundsatz verbundene Lernverständnis und die spezifischen Lern- und Schulungsmethoden sind untrennbar mit Kinaesthetics verbunden. Daher handelt es sich um eine ‚Erfahrungswissenschaft‘ im wahrsten Sinne des Wortes: Kinaesthetics schafft Wissen durch Erfahrung. […]''<br />
<br />
: '''''1.3. Die Bewegungserfahrungen'''''<br><br />
: '''''1.3.1. Einführung'''''<br><br />
: ''Die '''Bewegungserfahrungen''' bilden die Grundlage des Lernens in Kinaesthetics. Bei dieser spezifischen Lernmethode geht es darum, dass Sie während der Ausführung einer Aktivität Ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Unterschiede lenken, die für Sie mit Ihrer Bewegungswahrnehmung erfahrbar sind. Dabei ermöglicht Ihnen ein bestimmter Fokus (lateinisch, ‚Brennpunkt‘) oder Blickwinkel der sechs Kinaesthetics-Konzepte die bewusste Lenkung der Achtsamkeit. So erforschen Sie allein oder in einer gemeinsamen Bewegung mit einer anderen Person, wie Sie z. B. den Unterschied zwischen parallelen und spiraligen Bewegungsmustern in sich selbst wahrnehmen.<br />
: ''Es ist wichtig, dass Sie sich nicht von Ihren Annahmen oder von Ihrem Denken leiten lassen, was für Sie wie oder warum erfahrbar sein wird. Versuchen Sie, auf ein vorausgehendes oder gleichzeitiges Denken und Reflektieren zu verzichten, um möglichst tief und differenziert in die Erfahrung Ihrer Bewegung zu gehen. Versuchen Sie ebenso, die Erfahrung eines Unterschiedes nicht gleichzeitig zu werten (‚So geht es besser, so schlechter‘). Lenken Sie in '''Bewegungserfahrungen''' unvoreingenommen Ihre volle Achtsamkeit darauf, wie Sie die Unterschiede, die Sie durch Ihre eigene Bewegung hervorbringen, wahrnehmen.<br />
: ''Diese Methode der differenzierten Auseinandersetzung mit der eigenen Bewegung ist ein über viele Jahre entwickeltes und erprobtes Instrument zur Sensibilisierung der Bewegungswahrnehmung im Tun und zur Entwicklung der individuellen Bewegungskompetenz. Vielleicht konnten Sie schon in Ihrem Grundkurs feststellen, dass ein Kurstag mit vielen '''Bewegungserfahrungen''' eine direkte Wirkung auf Ihr körperliches Befinden und Ihr ganzes ,Körperbewusstsein‘ hat.<br />
: ''Kinaesthetics unterscheidet zwischen den beiden, im Folgenden beschriebenen Arten von '''Bewegungserfahrungen '''.<br />
<br />
: '''''1.3.2. Die Einzelerfahrungen'''''<br><br />
: ''In einer Einzelerfahrung werden Sie von der Kinaesthetics-TrainerIn angeleitet, mit einem bestimmten Fokus/Blickwinkel des Kinaesthetics-Konzeptsystems auf die Unterschiede zu achten, die Sie mit Ihrem kinästhetischen Sinn erfahren und wahrnehmen können. Sie führen dabei in oder ausgehend von irgendeiner Position eine alltägliche Aktivität aus. Die Unterschiede ergeben sich aus Ihrer individuellen Ausführung und Ihren Variationen der Aktivität. Das heißt, Sie sensibilisieren Ihre Bewegungswahrnehmung und erhöhen Ihre Bewegungskompetenz in Einzelerfahrungen dadurch, dass Sie lernen, unter den verschiedenen Blickwinkeln der sechs Kinaesthetics-Konzepte Unterschiede immer feiner und möglichst im ganzen Körper zu produzieren und wahrzunehmen.<br />
<br />
: '''''1.3.3. Die Partnererfahrungen'''''<br><br />
: ''Die Partnererfahrungen sind ein wichtiges Element von Kinaesthetics, da sie Lernprozesse erlauben, die in der Einzelerfahrung nicht möglich sind.<br />
: ''In der Partnererfahrung achten Sie wie in der Einzelerfahrung mit einem bestimmten Fokus auf die eigene Bewegung und führen dabei Aktivitäten in einer gemeinsamen Bewegung mit einer PartnerIn aus. Solche Bewegungsinteraktionen mit anderen Menschen sind deswegen eine hervorragende Lernmöglichkeit, weil die InteraktionspartnerInnen fortlaufend in irgendeiner Form Anpassungen an das Verhalten des Gegenübers vollziehen müssen. Die Partnererfahrungen stellen somit Ihre Bewegungskompetenz vor Herausforderungen, die sich nicht stellen, wenn Sie sich allein bewegen.<br />
: ''Die gemeinsame Bewegung mit einem anderen Menschen und die daraus entstehenden Unterschiede zu den eigenen, gewohnten Bewegungsmustern helfen auch, diese überhaupt oder leichter zu erkennen. Zusätzlich können Sie dadurch Varianten erfahren, die Ihnen ungewohnt sind. Darum sind Partnererfahrungen ein ausgezeichnetes Mittel zur Erweiterung und zu einem vertieften Verständnis des persönlichen Handlungsspielraumes.“'' <br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Erfahrung/Wahrnehmung und Wertung trennen'''“:<br />
: ''„In Kinaesthetics steht die präzise Wahrnehmung und Beschreibung der '''Bewegungserfahrungen''' im Vordergrund. Dabei wird das ‚Gewahrwerden‘ der eigenen Bewegung und seine Beschreibung von der Wertung der Erfahrung (richtig – falsch, besser – schlechter) getrennt. Kinaesthetics geht nicht davon aus, dass es eine bestimmte ‚richtige‘ Art und Weise gibt, wie jeder Mensch sich allein oder mit anderen Menschen zusammen bewegen sollte. Die Bewertung der Ausführung einer Aktivität ergibt sich nur aus einem konkreten Kontext und besonders aus den Absichten der Beteiligten. So ist z. B. ein paralleles Bewegungsmuster richtig bzw. passend für ein gezieltes Training bestimmter Muskeln, aber unpassend zum Aufsitzen nach einer Bauchoperation.“''<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „'''Innen und außen'''“:<br />
: '' „Es ist eine große Herausforderung, sich während einer Partnererfahrung v. a. auf die Qualität der eigenen Bewegung zu konzentrieren. Wenn wir im Alltag mit einem anderen Menschen Körperkontakt haben, richten wir unsere Aufmerksamkeit meistens viel stärker auf diesen und nach außen als nach innen und auf die eigene Bewegung(swahrnehmung). Genau durch sie können wir aber sehr präzise Rückmeldungen über die Bewegungsmöglichkeiten eines anderen Menschen erhalten, wenn wir ihn in seiner Bewegung unterstützen wollen.''<br />
: ''Kinaesthetics geht davon aus, dass die Qualität und das Lernpotenzial einer Bewegungsinteraktion wesentlich dadurch bestimmt wird, wie gut und differenziert die InteraktionspartnerInnen auf ihre eigene Bewegung achten und sie an die gemeinsame Absicht anpassen können. ''<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 8 ff.''<br />
<br />
Im Unterkapitel 2.2.1. „Der [[Lernzyklus]]“ findet sich eine Beschreibung der Bedeutung von '''Bewegungserfahrungen''' innerhalb der einzelnen Aktivitäten des Kinaesthetics-Lernzyklus.<br />
<br />
[...]<br />
[[Datei:Lernzyklus-color DE.jpg|500px|zentriert]]<br />
''Der Lernzyklus<br>Der Aufbau, die Teile und Schwerpunkte des Lernzyklus''<br />
<br />
:'''''Einstiegsaktivitäten'''''<br><br />
: ''Im Einstieg wird Ihnen das Thema vorgestellt und es erfolgt eine Einführung mithilfe der Sprache oder auch mit kurzen '''Bewegungserfahrungen'''. Dabei ist wichtig zu klären, in welchem Kontext und mit welcher Absicht das Thema untersucht wird, welche Bedeutung es in diesem Kontext haben kann und welche Anknüpfungspunkte es zu anderen Themen bietet.<br />
: ''Der Einstieg dient auch der Bestimmung Ihrer persönlichen Ausgangslage bezüglich des Themas. Dies kann durch die Ausführung und Dokumentation einer geeigneten '''Bewegungserfahrung''' geschehen oder durch irgendeine andere Erfahrung, die Ihnen z. B. Aufschluss über Ihre aktuellen Annahmen gibt. Diese ,Vergleichsaktivität (A1)‘ wird am Ende des Lernzyklus als ,Vergleichsaktivität (A2)‘ wieder aufgenommen, um einen Vergleich vorzunehmen. Das schriftliche Dokumentieren der Vergleichsaktivitäten erlaubt Ihnen dabei einen zuverlässigeren Vergleich Ihrer Erfahrungen oder Annahmen.''<br />
:'''''Lernaktivitäten'''''<br><br />
:[...] ''In einem Lernzyklus zu einem Kinaesthetics-Konzept werden v. a. die Einzel- und Partnererfahrungen (vgl. Kapitel 1.3.) als Lernaktivitäten verwendet. Für diese Bewegungserfahrungen wird jeweils ein Fokus des Konzeptsystems festgelegt und erklärt.<br />
: ''Das hauptsächliche Lernthema ist die Entwicklung einer differenzierten Bewegungswahrnehmung, -steuerung und -anpassung durch die Erforschung und Analyse Ihrer grundsätzlichen Bewegungsmöglichkeiten.[...]<br />
:'''''Ausstiegsaktivitäten'''''<br><br />
: ''Im Ausstiegsteil führen Sie die Vergleichsaktivität des Einstiegs erneut aus und beschreiben, wie Sie diese jetzt wahrnehmen und was Ihr aktueller Standort in Bezug auf das Thema ist. Der Vergleich zwischen der Ausgangslage und dem aktuellen Standort erleichtert es Ihnen, Ihre Lernfortschritte zu erkennen und auszuwerten. Achten Sie bei der Auswertung Ihres Lernprozesses darauf, welche Erfahrungen, Erkenntnisse und Ideen aus dem ganzen Lernzyklus für Sie eine besondere Bedeutung haben, aber auch darauf, wo für Sie noch offene Fragen bestehen.“<br />
''<br />
<br />
Im Unterkapitel 2.2.2. „Die [[Lernspirale]]“ findet sich die Beschreibung dieser Methode, '''Bewegungserfahrungen''' strukturiert zur Bearbeitung einer konkreten Problemstellung zu nutzen. <br />
[[Datei:Lernspirale-color DE.jpg|500px|zentriert]]<br />
: „'''''2.2.1. Die Lernspirale'''''<br><br />
: ''Die ,Lernspirale‘ ist eine Methode, die Sie anwenden lernen, um konkrete Problemstellungen aus Ihrem beruflichen oder privaten Alltag mit Kinaesthetics zu bearbeiten. Sie geht von der Erfahrung der Situation im Tun aus und kann in der Form einer Spirale über die Schritte des Reflektierens, Variierens, Entscheidens und erneuten Tuns beliebig fortgesetzt werden.<br />
: ''Die Lernspirale durchbricht das gängige Muster, dass beim Auftreten eines Problems geradlinig nach seiner Lösung und Behebung gesucht wird. Ihr Motto heißt: Es geht nicht darum, das Problem zu lösen, sondern sich vom Problem zu lösen.<br />
: ''Die Analyse und Reflexion der Situation aus der Innenperspektive Ihrer '''Bewegungserfahrungen''', die Beschäftigung mit vielen möglichen Varianten und die Auswertung Ihrer Erfahrungen lenken Ihre Aufmerksamkeit weg von der Suche nach Lösungen. Mit diesem Vorgehen achten Sie vielmehr auf das Lern- und Entwicklungspotenzial der Situation und loten es differenziert und in aller Breite aus. Der spiralförmige Aufbau der Methode führt dazu, dass Sie die ,Lösungen‘ des Problems stets wieder mit demselben Vorgehen der Entwicklung der Situation anpassen können. Dadurch wird eine nachhaltige Bearbeitung von Problemstellungen möglich.[...]<br />
<br />
: '''''Reflektieren'''''<br>''Sie reflektieren die Erfahrung der Ausgangslage, indem Sie mit eigenen '''Bewegungserfahrungen''' die Aktivitäten der Situation nachvollziehen. Wenn mehrere Personen in die Situation einbezogen sind, begeben Sie sich in alle Rollen. Es ist sinnvoll die Zahl der Aktivitäten, die Sie analysieren wollen, zu beschränken. Zudem lohnt es sich, auf die Schlüsselstellen der Situation zu achten, wo es ‚klemmt‘ oder spannend wird, und besonders die damit verbundenen Aktivitäten zu untersuchen. Verwenden Sie für Ihre Einzel- und Partnererfahrungen die verschiedenen Blickwinkel des Kinaesthetics-Konzeptsystems. Dokumentieren Sie Ihre Erfahrungen z. B. mit dem [[Konzept-Raster]] und achten Sie dabei darauf, Ihre Beobachtungen und nicht die Bewertung derselben zu beschreiben. Überlegen Sie sich, welche Blickwinkel des Konzeptsystems Ihnen für die Situation besonders bedeutsam erscheinen.''<br />
<br />
: ''Dieser Teil der Lernspirale ermöglicht es Ihnen, aus der Bewegungs- und Innenperspektive die ausgewählten Aktivitäten der Praxissituation differenziert zu analysieren und Konzeptblickwinkel zu finden, die für die Schlüsselstellen bedeutsam sind.<br />
<br />
: '''''Variieren'''''<br>''Im nächsten Schritt gilt es – ohne sich an der Lösung des Problems zu orientieren – die Aktivitäten der Schlüsselstellen, die Sie beim Reflektieren untersucht haben, in '''Bewegungserfahrungen''' möglichst breit zu variieren. Sie benutzen dazu die auf der Grundlage der Reflexion ausgewählte Blickwinkel des Konzeptsystems, um die [[Unterschied|Unterschiede]] in der Gestaltung der Aktivität präzise wahrnehmen, beschreiben und vergleichen zu können. Gehen Sie feinen, kleinen Unterschieden nach, suchen Sie aber auch nach ungewöhnlichen oder ,verrückten‘ Varianten. Nicht selten zeigt sich in ihnen die zugrunde liegende Problematik in aller Schärfe oder es tut sich überraschenderweise ein gangbarer Weg auf. Gleichzeitig besteht für Sie die Möglichkeit, die eigene Kreativität in der Bewegung auf diese Weise spielerisch zu entwickeln.[...]<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2023):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7. S. 20 ff.'''<br />
<br />
== Bewegungserfahrung in „Kybernetik und Kinästhetik“ ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „Kybernetik und Kinästhetik“ und bieten uns konkrete Anleitungen für Bewegungserfahrung. Das erste Zitat ist in das vierte Kapitel „K. U. Smith: Die Verhaltenskybernetik“ eingebettet. Das zweite Zitat ist Teil des Unterkapitels 4.3.4. „Wahrnehmung und Bewegung “.<br />
<br />
Der Text der zugehörigen Infobox „''Wir können nicht stehen!''“:<br />
: ''„Um darzustellen, wie das menschliche Verhalten funktioniert, wird oft eine Computer-Metapher verwendet. Dementsprechend wäre z. B. die Fähigkeit ,Stehen‘ im Gehirn gespeichert, würde bei Bedarf von dieser ,Festplatte‘ abgerufen und von der Motorik ausgeführt. K. U. Smith konnte nachweisen, dass eine solche lineare Computer-Metapher die Verhaltensregulation unzutreffend beschreibt. Aus einer kybernetischen Perspektive ist es vielmehr so, dass durch das zirkuläre Zusammenspiel zwischen der motorischen Aktivität, der Sinneswahrnehmung und der Verarbeitung dieser Wahrnehmung durch das Nervensystem ein Regelkreis entsteht, der das Stehen steuert, oder treffender formuliert: durch fortlaufende Fehlerkorrektur das Umfallen verhindert. Smith prägte hierfür den Begriff ,Feedback Control‘ (Rückkoppelungskontrolle).<br />
: ''Eine kleine '''Bewegungserfahrung'''. Probieren Sie es selbst aus. Stehen Sie auf ein Bein und schließen Sie dabei die Augen. Anfänglich beschreiben Sie diese Erfahrung vielleicht als Unsicherheit. Achten Sie auf Ihre eigene Bewegung. Nun erfahren Sie, was grundsätzlich für die Verhaltensregulation gilt, solange Sie leben: Sie korrigieren ständig ,Fehler‘, die Sie durch ihre eigene Bewegung erzeugen und wahrnehmen. Wenn Sie das Experiment weiterführen, können Sie feststellen, dass Sie auch in allen anderen Positionen ständig damit beschäftigt sind, mit ihrer eigenen, aktiven Bewegung ihre Position in der Schwerkraft zu kontrollieren und zu korrigieren.“'' <br />
<br />
Das zweite Zitat ist in das sechste Kapitel „Kinästhetik ist praktische Kybernetik“ eingebettet und fungiert dort als Grundlage für die Formulierung grundsätzlicher und weiterführender Fragestellungen, sowie für das Unterthema 6.2. Selbstregulation und persönliches Lernen.<br />
<br />
: ''„'''Bewegungserfahrung'''<br />
: ''Nehmen Sie sich zu Beginn der Lektüre dieser Zeilen ein paar Minuten Zeit, um die folgende Anleitung zu einer für die Kinästhetik typischen Bewegungserfahrung auszuführen (genauer: Einzelerfahrung; European Kinaesthetics Association 2020b<ref>'''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kinaesthetics. Lernen und Bewegungskompetenz. Linz, Winterthur: Verlag European Kinaesthetics Association. ISBN 978-3-903180-01-7.</ref>, S. 10 f.). Dies wird Ihnen zum nötigen Anknüpfungspunkt für die Fortsetzung Ihrer Lektüre verhelfen und Ihnen das Verständnis der sich anschließenden Themen erleichtern.''<br />
: ''Setzen Sie sich auf die Vorderkante eines Stuhles. Schließen Sie die Augen und beobachten Sie, wie Sie Ihr Sitzen wahrnehmen. Was ist für Sie mit Ihrem kinästhetischen Sinnessystem (vgl. Infobox S. 56) erfahrbar? Achten Sie besonders auf Ihre Spannung und auf die kleinen Anpassungsbewegungen, die es Ihnen ermöglichen, in dieser Position zu bleiben. Heben Sie anschließend Ihre Beine so an, dass die Füße den Boden nicht mehr berühren. Beschreiben Sie wieder für sich, wie Sie jetzt Ihr Sitzen, Ihre Spannung und die damit verbundenen Anpassungsbewegungen wahrnehmen. Erforschen Sie dann die Unterschiede, die Ihnen mit Ihrer Bewegungswahrnehmung erfahrbar sind, je nachdem, wie Sie die Position Ihrer Füße, Arme usw. im Sitzen verändern.“''<br />
<br />
Quelle: '''European Kinaesthetics Association (Hg.) (2020):''' Kybernetik und Kinästhetik. Unter Mitarbeit von Stefan Marty-Teuber und Stefan Knobel. Linz, Winterthur, Siebnen: Verlag European Kinaesthetics Association, verlag lebensqualität. ISBN: 978-3-903180-22-2 (Verlag European Kinaesthetics Association) ISBN: 978-3-906888-02-6 (verlag lebensqualität). S. 35 und S. 56.<br />
<br />
== Bewegungserfahrung im 16. Kinästhetik-Bulletin von 1990 ==<br />
Die folgenden Zitate stammen aus dem Heft Kinästhetik Bulletin Nr.16 von 1990. In dieser ersten zusammenhängenden Veröffentlichung zur Kinästhetik wird im zweiten Kapitel unter der Überschrift „Kinästhetisches Lehrmodell“ die „Grundüberzeugung“ beschrieben, „dass Bewegung- und Wahrnehmungserfahrung die Grundlage allen Lernens ist“. <ref>'''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):''' Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 8.</ref>. <br />
: „'''''Das Lehrmodell'''''<br><br />
: ''Das Grundsätzliche war nicht immer Ausgangspunkt für die Entwicklung unserer Methode. Diese ergab sich viel eher aus einem Zickzack-Prozess, bei dem wir das eine Mal Ideen übernahmen und im eigenen Körper erlebten, und ein anderes Mal von ''' Bewegungserfahrungen ''' ausgingen, die wir dann zu erklären versuchten. Im Verlauf der Jahre fassten wir diese Grundsätze des menschlichen Lebens und die Art zu lernen in ein Lehrmodell, bei dem Lehrer und Schüler gemeinsam lernen. Es ist unsere Grundüberzeugung, dass ''' Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrung ''' die Grundlage allen Lernens ist. Daraus haben sich viele weitere Grundsätze ergeben, woraus wir Übungen entwickelten, die den Leuten helfen, Beziehungen und Muster in der eigenen Bewegung zu erkennen. Durch strukturierte '''Bewegungserfahrungen''' entwickelt ein Teilnehmer im Kinästhetik-Unterricht differenziertere sensomotorische Fähigkeiten, die Grundlage aller menschlichen Fähigkeiten überhaupt. Er lernt dabei, seine Erfahrungen einzuordnen, indem er ihre Muster und Beziehungen analysiert. Es ist wichtig für den Lernprozess, zwischen Erfahrung und deren Formulierung hin- und herzugehen. Sie sind zugleich Metaphern, die uns helfen, komplexere kognitive Ebenen von Lernen und Kommunikation zu verstehen.<br />
<br />
: ''Wer einen Kinästhetik-Kurs oder eine Einzelsitzung besucht, wird unter vielen Gesichtspunkten - sei es in der Bewegung allein oder mit anderen - Beziehungen erforschen. Im eigenen Körper erfahrene Themen begegnen ihm auch in anderen Situationen: bei der Arbeit, in der Schule oder in sozialen Begegnungen usw. Die zentrale Rolle eines Kinästhetik-Kurses ist die persönliche Erfahrung der Bewegung und deren Bewusstwerdung.<br />
: ''Frank Hatch, Lenny Maietta, 17. Juni 1989 (Übers. Brigitte Huber)."''<br />
<br />
Im fünften Kapitel „Anwendungen“, „5.2. Kinästhetik in der Sonderpädagogik“ (verfasst von Hugo Krakau), finden sich unter „2. Was hat Kinästhetik der Sonderschule zu bieten?“ Beschreibungen des Verständnisses und der Bedeutung von Bewegungserfahrung für die Lernfähigkeit. Das folgende Zitat umfasst die ersten beiden Unterkapitel „2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium“ und „2.2. Orientierung an den Fähigkeiten des Kindes“ sowie „3. Führen und Folgen als Metapher für schulisches Lernen“.<br />
<br />
: „'''''2.1. Bewegung und Berührung als zentrales Arbeitsmedium'''''<br><br />
: ''Die theoretische Grundannahme der Kinästhetik geht davon aus, dass die Lernfähigkeit des Menschen in seiner Bewegungs- und Wahrnehmungsfähigkeit begründet liegt.<br />
: ''Deshalb ist die Basis der Kinästhetik die eigene '''Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrung'''.<br />
: ''Alle Sinne des Menschen sind Systeme, die Bewegungsmustern folgen und damit auf seiner Bewegungsfähigkeit basieren. Ohne Bewegung gibt es keine Wahrnehmung (Poincaré 1904<ref>'''Poincaré, Henri (1904):''' Wissenschaft und Hypothese. Übersetzt von E. und H. Weber. Leipzig: B. G. Teubner. Originaltitel: La science et l'hypothèse.</ref>). Weder Hören, Sehen, Riechen, Schmecken noch Tasten sind möglich ohne zumindest minimale Bewegungen. Somit fällt beim menschlichen Wahrnehmungsprozess dem kinästhetischen Sinn eine zentrale Rolle zu.<br />
: ''Ebenso zentral und elementar ist das Phänomen der Berührung für die menschliche Entwicklung. Für Piaget hat die frühkindliche senso-motorische Wahrnehmung des Kindes nicht nur eine Schlüsselfunktion für seine intellektuelle, sondern für die gesamte Entwicklung (vgl. Piaget, 1984<ref>'''Piaget, Jean (1984):''' Psychologie der Intelligenz. Mit e. Einf. von Hans Aebli. 8. Aufl. in d. vollst. überarb. Übers. d. 2. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta. ISBN 978-3-12-936360-7. Originaltitel: La psychologie de l'intelligence.</ref>).<br />
: ''Das taktile System hat einen besonderen Stellenwert innerhalb des Sinnessystems. Berührung ist die Sinneserfahrung, die die unmittelbarste Form von Interaktion und den direktesten Kontakt zu einem anderen Menschen erlaubt. Berührung stellt ferner die direkteste Verbindung zur Bewegung des anderen Menschen her. Die Rückmeldung über Berührung ist schneller und präziser als das Feedback aller anderen Sinnessysteme (vgl. Smith, K. U. 1972<ref>'''Smith, K. U. (1972): '''Social Tracking and Social Feedback Control: The Experimental Foundation of Social Cybernetics. Madison, Wisconsin: Behavioral Cybernetics Laboratory.</ref>).<br />
: ''Die Kinästhetik benützt Bewegung und Berührung als entscheidende Medien, um Lernen zu unterstützen und zu fördern<br />
: ''So erhalten sie für die Förderung behinderter Schüler einen Stellenwert, wie er bislang in der Schule kaum gesehen wird: ''<br />
: '',Ein Kind hat grosse Schwierigkeiten, lesen zu lernen, wenn ihm nicht alle seine sensorischen Systeme behilflich sind, um die Schriftzeichen auf der Lesebuchseite zu verarbeiten. Je mehr seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr kann es quantitativ lernen, und desto leichter fällt es ihm.<br />
: ''Das Lernen beginnt mit der Schwerkraft und dem Körper. In aufrechter Stellung zu sitzen oder aber eine Rassel zu schütteln oder Treppen abwärts zu gehen oder einen Bleistift zu halten, fördern die Aufnahmefähigkeit des Gehirns, um komplexere Dinge lernen zu können.: ''<br />
: ''Mit der auf dem sensomotorischen Niveau entwickelten Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist das Kind dann besser vorbereitet zu lernen, wie man zwei Zahlen addiert oder wie man einen Satz schreibt, aber auch wie man Beziehungen zu Freunden aufnimmt.‘<br />
: ''(Ayres, A.J. 1984, S.66<ref>'''Ayres, A. Jean (1984):''' Bausteine der kindlichen Entwicklung. Die Bedeutung der Integration der Sinne für die Entwicklung des Kindes. Mit Unterstützung von Jeff Robbins; aus dem Amerikan. übers. von I. Flehmig und R.-W. Flehmig. Berlin: Springer. ISBN 3-540-13303-8. Originaltitel: Sensory integration and the child.</ref>)<br />
<br />
: '''''2.2. Orientierung an den Fähigkeiten des Kindes'''''<br><br />
: ''Kinästhetik bietet in dieser vierjährigen berufsbegleitenden Zusatzausbildung ein Handlungskonzept, das sich nicht primär an den Defiziten der Schüler orientiert, an der Frage, was er nicht kann, wie es zum Beispiel im Sonderschulaufnahmeverfahren üblich ist, sondern sie orientiert sich an den Fähigkeiten des Kindes, an dem, was es kann. Um beim Beispiel des Schülers zu bleiben, dessen Lese-Schreib-Lehrgang bisher ohne grossen Lernerfolg blieb: Die Arbeit des kinästhetisch denkenden Lehrers beginnt mit der Stützung und mit dem Ausbau der Bewegungsfähigkeiten, die für den Lese-Schreib-Prozess von Bedeutung sind und die der Schüler kann, wie etwa:<br />
: ''Spielerisches Ausführen von vertikalen und horizontalen Augenbewegungen, Differenzierung von Augenbewegung und Kopfbewegung, Unterstützung der Augen- bzw. Kopfbewegung durch andere Körperteile wie Hand, Arm, Finger, Füsse usw.: ''<br />
: ''Die Aufmerksamkeit des kinästhetisch orientierten Lehrers liegt auf den senso-motorischen Komponenten dieses komplexen Lernvorgangs.<br />
: ''Von der Plattform seiner Fähigkeiten ausgehend, macht der Schüler neue '''Bewegungserfahrungen''' und erweitert damit seine Fähigkeiten, die bald dazu führen, dass er die Defizite, die zu seinem Versagen im Lese-Schreib- Lehrgang geführt haben, abgebaut hat, ohne durch frustrierendes Schreiben und Lesen-Oben noch mehr entmutigt worden zu sein.<br />
: ''Die Orientierung der Kinästhetik an den Fähigkeiten der Schüler ist nicht neu. Neu jedoch ist das methodische Konzept, der Theoriehintergrund, der die Brücke schlägt zwischen der Theorie und dem praktischen sonderpädagogischen Handeln über die motorische und taktile Lernbahn.<br />
<br />
: ''[...]<br />
<br />
: '''''3. Führen und Folgen als Metapher für schulisches Lernen'''''<br><br />
: ''Aus kinästhetischer Sicht lässt sich Lernen als Interaktionsprozess von Führen und Folgen beschreiben, der in seiner optimalen Form die Rollenverteilung von Führen (Lehren) und Folgen (Lernen) nicht festschreibt und den idealen Lernprozess im Bild des Tanzes beschreibt, bei dem die Führung zwischen den Tanzenden hin und her wechselt bzw. beide Tanzpartner führen oder beide folgen.: ''<br />
: ''Ich möchte im folgenden den Versuch machen, am praktischen Beispiel kinästhetische Arbeit zu dokumentieren, wohl wissend, dass Sprache, und noch mehr Schriftsprache, das nicht geeignete Medium ist, '''Bewegungserfahrung''' zu vermitteln. Beschreibung und Bilddokumentation werden ein unangemessener Übermittlungsversuch bleiben, weil Bewegungserfahrung nicht über Sprache, sondern nur über Bewegungserfahrung vermittelbar ist.<br />
: ''In der Kinästhetik wird der eigene Körper als die entscheidende Lern-Metapher benutzt. Du bist dein Körper. Du lernst so, wie dein Körper ist. Die Beherrschung unterschiedlicher körperlicher Funktionen führt zu unterschiedlichen Arten des Lernens und zu differenzierter Qualität von Wahrnehmung.<br />
: ''Eine wesentliche funktionale Grunderfahrung menschlicher Bewegung ist, dass bei Bewegungen ein Körperteil die Führung übernimmt und im laufenden Bewegungsprozess der "Restkörper" durch Skelett-, Muskel- und Sehnenapparat verbunden, folgt. Wenn ich gehe, so verlagere ich mein Gewicht auf das Standbein, lasse das andere Bein die Führung übernehmen und organisierte meinen gesamten ,Restkörper‘ so, dass über Gewichtsverlagerung, Gleichgewichthalten und Folgen der anderen Körperteile der Schritt nach vorne gelingt. Diese Bewegungserfahrung des Führens und Folgens ist in beliebigen Bewegungsabläufen nachvollziehbar und wird besonders dann deutlich, wenn Menschen miteinander in eine Bewegungsinteraktion eintreten.<br />
: ''Da in der Schule Lernen in einer Gruppe stattfindet, halte ich es für wichtig, am Beispiel des Führens und Folgens den interaktionalen Bewegungsaspekt - als Metapher schulischen Lernens - zu dokumentieren.<br />
: ''Indem Schüler lernen, einen anderen Schüler möglichst mit geschlossenen Augen durch einen Raum zu führen, machen sie auf der Bewegungsebene so grundsätzliche Erfahrungen, die in ihren Einzelheiten nur punktuell zu beschreiben sind.<br />
: ''Sie bringen Vertrauen in den Interaktionsprozess mit ein, sie lassen Körperkontakt zu, sie machen neue Erfahrungen im taktilen und motorischen Bereich sowie in ihrer Bewegungswahrnehmung, sie differenzieren ihre Bewegung, sie passen sich an, sie orientieren sich, sie entdecken neue Bewegungen, sie agieren und reagieren, sie kommunizieren in wechselseitigem Führen und Folgen. Nahtstelle der Kommunikation ist die Art und Weise des Berührungskontaktes, die Qualität und Intensität der feinmotorischen Kontaktebene, die immer neu verändert und variiert wird.<br />
: ''Ein solches Lernen differenziert nicht nur die Bewegungs- und Wahrnehmungsfähigkeit der Schüler, sondern macht ihnen auch sehr viel Spass; es schafft Nähe und Vertrauen und fördert ein Lernklima, in dem sich der einzelne Schüler verstanden fühlt. ''<br />
: ''Lernen die Schüler ihre Körper differenzierter und beweglicher zu benutzen und wahrzunehmen, werden sie nicht nur auf der körperlichen Ebene gelenkiger, sondern sie werden ganzheitlich beweglicher, d.h. sie erweitern und differenzieren über diese Körperarbeit auch ihre kognitiven, emotionalen und sprachlichen Fähigkeiten, ohne diese Lernbahnen für diese Lernprozesse überhaupt benutzt zu haben."'' <br />
<br />
Quelle: '''Verein für Kinästhetik (Hg.) (1990):'''Kinästhetik. 16. Bulletin. Januar 1990. Sonderausgabe. Dritte Auflage. Zürich: Verein für Kinästhetik. Nachdruck 2009. S. 10 und S. 39ff<br />
<br />
== Kommentare, Auswertung und offene Fragen ==<br />
Im Buch „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“ findet der Begriff Bewegungserfahrung weitere Erwähnung als grundlegendes Werkzeug im Zusammenhang mit den Themen [[Lernmodell]], [[Feedback-Control-Theorie]], Lernen und Lernen, Erfahrung und Denken.<br />
<br />
Mit den Quellenangaben aus dem Originaltext, des Heftes Kinästhetik Bulletin Nr.16 von 1990, konnten die angegebenen Zitate nicht einfach gefunden werden. Die Angaben in den Einzelnachweisen entsprechen aktuellen Recherchen.<br />
<br />
Zu den Texten von K. U. Smith waren nur Spuren auffindbar.<br />
<br />
== Vergleiche auch ==<br />
* [[1.-Person-Methode]]<br />
* [[Feedback-Control-Theorie]]<br />
* [[Lernspirale]]<br />
* [[Lernzyklus]]<br />
* [[Erfahren (Begriff)]]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Lernen]]</div>
Dagmar Panzer
https://wiki.kinaesthetics.de/index.php?title=Kinaesthetics-Online-Fachlexikon&diff=4656
Kinaesthetics-Online-Fachlexikon
2023-08-20T11:12:19Z
<p>Dagmar Panzer: </p>
<hr />
<div>'''Willkommen in diesem redaktionell betreuten Online-Lexikon zu den Fachgebieten der Kinästhetik, Kybernetik und anderer Bezugswissenschaften!'''<br />
<br />
Das Kinaesthetics-Online-Fachlexikon (KOFL) wird von der European Kinaesthetics Association (EKA) herausgegeben, von einem Redaktionsteam betreut und von einem fachlichen Beirat unterstützt (vgl. „[[KOFL:Impressum und Haftungsausschluss]]“). Ziel dieses langfristigen, im Jahr 2017 gestarteten Projekts ist, in einem Netzwerk von interessierten Personen ein umfassendes Lexikon aufzubauen, in dessen Zentrum das junge Fachgebiet der Kinästhetik steht.<br />
<br />
Konkret will das KOFL<br />
* aus den schriftlichen Quellen die aktuelle und historische Faktenlage zu den spezifischen Themen der Kinästhetik und ihrer Bezugswissenschaften lexikalisch aufbereiten und darstellen,<br />
<br />
* aus den schriftlichen Quellen und dem Kontakt mit ThementrägerInnen das Erfahrungswissen zu den spezifischen Themen der Kinästhetik und ihrer Bezugswissenschaften lexikalisch aufbereiten und darstellen,<br />
<br />
* allen interessierten Personen die Möglichkeit bieten, sich über Fachthemen der Kinästhetik und ihrer Bezugswissenschaften zu informieren, sie zu diskutieren und zur Weiterentwicklung des KOFL beizutragen.<br />
<br />
Wie du dich für das KOFL engagieren kannst, wird auf den Seiten beschrieben, die du unter der Überschrift „Mitmachen“ in der linken Spalte der Benutzeroberfläche findest. Ausführlichere Informationen zum KOFL-Projekt sind auf der Seite „[[KOFL:Über Kinaesthetics-Online-Fachlexikon]]“ zu finden.<br />
<br />
Natürlich ist das KOFL zum aktuellen Zeitpunkt weit vom Ziel eines umfassenden Lexikons der Kinästhetik entfernt. Das Projektteam ist zuversichtlich, dass sich das KOFL in den kommenden Jahren durch eine fruchtbare Zusammenarbeit aller interessierten Personen Schritt für Schritt diesem Ziel annähern kann, und dankt allen, die sich in welcher Weise auch immer für das KOFL engagieren.<br />
<br />
Zuletzt erschienene Beiträge:<br />
<br />
* Artikel „[[Erfahren (Begriff)]]“<br />
<br />
* Artikel „[[Konzept (Begriff)]]“<br />
<br />
* Artikel „[[Orientierung]]“<br />
<br />
* Artikel „[[Massen und Zwischenräume]]“<br />
<br />
* Artikel „[[Weber und Fechner]]“ <br />
<br />
* [[KOFL:Projekt_Konzeptsystembuch_00:_Projektseite|Abschluss]] der Konzeptsystembuch-Umfrage<br />
<br />
* Artikel „[[Heinz von Foerster]]“ (Biographie, in Bearbeitung)<br />
<br />
* Artikel „[[Sensitivität (innere und äußere, von Foerster)]]“ bzw. „[[1 : 100'000 (von Foerster)]]“<br />
<br />
* Artikel „[[Fachartikel, Studien und Hochschularbeiten]]“<br />
<br />
* Artikel „Autopoiese (Autopoiesis)“: ergänzt durch [[Autopoiese (Autopoiesis)#Autopoiese in „Kinaesthetics – Lernen und Bewegungskompetenz“|Fachliteratur aus „Lernen und Bewegungskompetenz“]]</div>
Dagmar Panzer